Clara Erichs

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Textdaten
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Autor: H. Seeger
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Titel: Clara Erichs
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 63–64
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
vergl. Berichtigung in Heft 11
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[63] Clara Erichs. Eine Holsteiner Erinnerung. Von Niew-Diep nach Stettin segelnd wurde unsere Brigg von einem heftigen Sturm überrascht, welcher uns zwang, in einer Bucht der Insel Aggeroe an der Südküste Norwegens vor Anker zu gehen.

Um elf Uhr des Nachts wurden Bemm, ein Wolliner, und ich zur Ablösung der Wache gepurt (geweckt). Auf Deck auf- und abgehend glaubte ich, in der Entfernung Jemand singen zu hören, ich machte Bemm darauf aufmerksam, wir horchten – richtig, ich hatte mich nicht getäuscht. Der Gesang kam näher, und ich konnte leicht die Melodie eines mir bekannten deutschen Liedes erkennen, ohne jedoch die Sängerin, eine solche mußte es nach der vollen und doch weichen Stimme sein, gewahr zu werden. Plötzlich sah ich eine weiße Gestalt hinter einem Felsblock hervortreten. Da ich wegen der Entfernung nur ihre Umrisse erkennen konnte, holte ich aus dem Windfang das Nachtfernrohr des Capitains und sah nun ihre Figur und Züge ganz deutlich. Es mußte eine Frau oder ein Mädchen in den zwanziger Jahren sein; ihre Erscheinung hatte aber etwas Gespenstiges, daß man sie eher für eine überirdische Erscheinung als für ein lebendes Wesen hielt. Ihr aufgelöstes, dunkles Haar contrastirte seltsam mit dem weißen, einem Leichentuch ähnlichen Gewande. Sie verstummte, knieete nieder auf den harten Felsen und schien eifrig zu beten. Gespannt die merkwürdige Erscheinung betrachtend, sah ich zwei Männer in der Tracht der Norweger Bauern auf sie zuschreiten. Kaum wurden diese von der Betenden bemerkt, als sie zu fliehen versuchte, sie sank aber, sei es aus Schreck oder Erschöpfung, zusammen. Die Männer traten rasch näher, wechselten in deutscher Sprache einige Worte, worauf der Eine das zusammengesunkene Weib aufrichtete, der Andere eine dunkle Decke oder Mantel über ihre Schultern hing, und Beide sie fortführten. Als sie hinter einem Felsblock meinen Blicken entschwanden, nahm ich mir vor, am nächsten Morgen zu forschen, wer und was es wohl gewesen. Meine Aufmerksamkeit war durch das Geschehene im höchsten Grade erregt.

Am folgenden Morgen erbat ich vom Capitain die Erlaubiß, an’s Land gehen zu dürfen. Den Weg verfolgend, welchen ich die Drei in der vergangenen Nacht gehen sah, gewahrte ich bald die Blockhäuser eines Bauernhofes. Ein zottiger, bösaussehender Hund war der Erste, welcher mir beim Betreten des Hofes eben nicht sehr freundlich entgegenkam, er machte sogar Miene, mich sein Gebiß näher kennen lernen zu lassen, als mir und meinen neuen Hosen lieb sein konnte. Noch frühzeitig genug wurde er von diesem Vorsatze abgebracht, ein Mann erschien auf dem Hof, brachte den zähnefletschenden Köter durch einen Pfiff zur Ruhe und kam mir freundlich grüßend entgegen, mich sogleich in’s Haus führend. Wie erstaunte ich, als ich anstatt der dunkelen räucherigen Stube eines Bauers ein mit Geschmack und Eleganz möblirtes Zimmer fand, wie man es wohl bei reichen Städtern gewohnt, das ich aber am allerwenigsten hier, in dem aus rohen Stämmen aufgeführten Haus erwartet hatte. Ich drückte darüber offen mein Erstaunen aus und bemerkte, daß sich der Besitzer des Hauses, da ihm die von der Natur wahrhaft stiefmütterlich behandelte Gegend so sehr wenig Erfreuliches biete, in diesem freundlichen und wohnlichen Raum um so glücklicher fühlen müsse. „So glücklich, wir sich ein Unglücklicher im Exil fühlen kann,“ antwortete er bitter lächelnd. „Im Exil?“ fragte ich erstaunt. „Ja, ja, im Exil, es ist mir schmerzlich, Vergangenes zu berühren, doch wenn Sie wünschen, erzähle ich Ihnen gern die traurige Geschichte, warum ich aus meinem Vaterlande verbannt wurde.“ Er holte aus einem Schrank eine Flasche, die, von der Etiquette auf den Inhalt zu schließen, Rheinwein enthielt, nebst zwei Gläsern und setzte sie auf den Tisch. Ich hatte hierbei Gelegenheit, ihn einige Augenblicke ungestört zu beobachten. Er war ein großer, kräftig gebauter Mann mit einem offenen, ehrlichen Gesicht, seine Tracht war die eines Norweger Bauers. Er schenkte die Gläser voll. „Lassen Sie uns,“ sprach er, „ehe ich erzähle, ein Glas auf Deutschlands Einheit trinken, die just meinem speciellen Vaterlande sehr nützen würde.“ Freudig stieß ich an auf diesen Toast und leerte mein Glas bis zur Nagelprobe. Als unsere Gläser auf’s Neue gefüllt, begann er:

„Mein Vater war Kaufmann in der holstein’schen Stadt S. Er lernte meine Mutter, eine Norwegerin, auf einer Geschäftsreise in ihrem Vaterlande kennen. Die Eltern meiner Mutter bewohnten dieses Gut und hatten außer ihr noch einen Sohn, der, als sie starben, das Gut übernahm. Meine Jugendjahre enthalten sehr wenig Bemerkenswerthes, weshalb ich sie übergehen will. Ich wurde zum Kaufmann herangebildet und übernahm, als der Tod meinen Vater abrief – meine Mutter war kurz nach meiner Geburt gestorben – dessen Geschäft. Da ich jetzt selbständig war und auch nothwendig der Hausfrau bedurfte, warb ich um die Hand meiner jetzigen Frau, welche ich noch bei Lebzeiten meines Vaters in Stettin kennen gelernt; sie beschenkte mich in dem ersten Jahre unserer Ehe mit einer Tochter, die mit zärtlicher Sorgfalt erzogen wurde. Clara, so heißt meine Tochter, wuchs heran, sie besuchte von ihrem vierzehnten Jahre an ein preußisches Pensionat, und als sie an ihrem achtzehnten Geburtstag in’s elterliche Haus zurückkehrte, waren wir über ihre vortheilhafte Veränderung erstaunt und erfreut; sie konnte als Musterbild eines schönen und gut erzogenen Mädchens auftreten. Meine Frau und ich waren stolz auf sie.

„Zwischen Clara und meinem Buchhalter entspann sich bald ein zärtliches Verhältniß. Er, ein armer, aber durchaus ehrlicher und braver Mann, hielt es nicht für recht, hinter meinem Rücken ein ernstes Verhältniß mit meiner Tochter einzugehen und erklärte sich mir, offen um Clara’s Hand werbend. Da ich ihn, durch jahrelanges Zusammensein, als ihrer Hand würdig kannte, gab ich von Herzen gern meinen Segen zu ihrer Verbindung. [64] Es war in dem unglücklichen Jahre 1849, als wir eines Abends traulich beisammen saßen. Meine Frau und ich sonnten uns an dem Glück unserer Kinder, deren Hochzeit in einigen Wochen sein sollte, und die schon jetzt die schönsten Pläne für die Zukunft schmiedeten. Plötzlich wurden wir durch ein heftiges Klopfen an die Hausthür erschreckt. Der Diener meldete, daß dänische Soldaten draußen seien, die dringend Einlaß begehrten. Wir Männer gingen in ein anstoßendes Zimmer, von wo man auf die Straße sehen konnte, mein Buchhalter ergriff ein Paar geladene Pistolen, öffnete das Fenster und frug die Untenstehenden, was sie wollten. „Macht auf, deutsche Hunde“, schrie der Officier, der die Rotte führte, „wenn Ihr den Strick um den Hals habt, werde ich Euch sagen, was wir wollen.“ Obgleich wir uns frei wußten von jedem Vergehen gegen die Dänen, erschraken wir doch, denn in der letzten Zeit waren häufig Gewaltthätigkeiten gegen ganz unschuldige, friedliebende Bürger verübt worden. Mein zukünftiger Schwiegersohn beugte sich aus dem Fenster und erklärte ihnen, sie möchten bis morgen warten, in der Nacht werde Niemand in’s Haus gelassen. Ein Schuß war die Antwort, – ein unglückseliger Schuß! Mein Buchhalter sank, ohne einen Schrei auszustoßen, mit zerschmettertem Kopf entseelt in’s Zimmer. Die durch den Schuß aufgeschreckten Frauen eilten herbei, mit einem Blick hatten sie Alles überschaut und Clara warf sich laut weinend über den Körper ihres Bräutigams. „Hermann!“ rief sie, „Hermann, Du bist nicht todt, nein! nein! nein! Das bräche Deiner armen Clara das Herz. Wach auf! ich bin es, Deine Clara – Deine Braut. – Gott! – lieber Gott – er will nicht hören – er kennt seine Braut nicht mehr!“

Der Alte schwieg und trocknete eine Thräne, die seine bleiche Wange herab rollte.

Nach einer Weile fuhr er fort: „Den Kolbenschlägen der Soldaten konnte die Hausthüre nicht lange widerstehen, die wilde Rotte drang in’s Zimmer, blieb aber beim Anblick des sich ihr darbietenden Schauspiels erschreckt stehen. Aber auch nur einen Augenblick; der Officier, der des Patentes eines Schandbuben würdiger gewesen wäre, befahl das Mädchen von der Leiche zu entfernen, und den Todten und mich zur Wache zu bringen, denn nur auf die Verhaftung der Männer erstrecke sich sein Befehl. Zwei Teufel, in den Röcken der dänischen Soldaten, leisteten diesem Befehl lachend Folge. Kaum jedoch berührten sie den Todten, als die noch immer weinende Clara wie eine wüthende Löwin aufsprang. In der Hand die Pistolen, die dem Todten entfallen, stürzte sie auf die Soldaten; zwei Schüsse knallten – der Officier und ein Soldat stürzten getroffen zu Boden. Die hierdurch gereizten Soldaten bewältigten rasch den schwachen Widerstand. Clara und ich wurden geknebelt und befanden uns bald auf dem Wege zur Wache. Durch die Schüsse erschreckt, waren die Bewohner der Stadt herbeigeeilt, das Gerücht meiner Verhaftung hatte sich schnell verbreitet, und trotz aller Mühe gelang es den Soldaten nicht, die von allen Seiten herbeiströmenden und eine drohende Haltung annehmenden Bürger abzuwehren, mehrere drängten sich sogar mit bis zur Wache. Wir wurden dort verhört. Als ich dem wachthabenden Officier meinen Namen „Erichs“ nannte, fuhr er erstaunt und erschrocken zurück. „Es ist nicht möglich,“ rief er. Man hatte einen Anderen verhaften wollen, der trunkene Officier hatte die Häuser verwechsel und hierdurch mein Unglück und seinen Tod herbeigeführt. Als die mitgekommenen Bürger dies vernahmen, brachen sie in ein Wuthgeschrei aus, der Officier ließ die Wache in’s Gewehr treten und drohte, wenn sie sich nicht ruhig entfernten, auf sie zu schießen. Sie zerstreuten sich, vorher jedoch drückte mir Mancher die Hand und versprach, mich zu retten. Der Officier ließ Clara und mich abführen, weil wir, wie er sagte, an dem Tode zweier braver Soldaten schuldig seien. Unsere Haft war nicht von langer Dauer: noch in derselben Nacht wurden wir von meinen Freunden befreit. Meine Frau, Clara und ich verließen sofort als Flüchtlinge unsere Vaterstadt, um sie nie wieder zu sehen. Unser nächster Zufluchtsort war Hamburg, wo wir zwei Monate verweilten. In dieser Zeit wurde es bei uns zur Gewißheit, daß Clara’s Geisteskraft gestört und ein stiller Wahnsinn sich ihrer bemächtigt habe. Vergebens nahmen wir Rath und Hülfe der besten Aerzte in Anspruch, alle schüttelten bedenklich den Kopf und erklärten, daß nur ein Ereigniß, welches meine Tochter auf’s Neue heftig erschüttere, die ihren Geist umfangenhaltenden Bande zu lösen im Stande wäre.

„So war denn eine so kurze Zeit hinreichend, meine Tochter wahnsinnig und zur Mörderin, aus den glücklichsten Menschen unglückliche heimathlose Flüchtlinge zu machen. Das in Hamburg damals durch die Einquartierung fremder Soldaten erhöhte unruhige Leben ward uns zur Last, wir sehnten uns nach Ruhe, allein wohin? Diese Frage suchte ich mir lange vergebens zu beantworten. Da erinnerte ich mich meines Onkels in Norwegen. Sogleich war mein Entschluß gefaßt. Wir reisten hierher und kamen gerade noch früh genug, dem Onkel die letzte Ehre erweisen zu können, – ihn zum Grabe zu geleiten. Er war unverheirathet gestorben und hatte mich, als seinen nächsten Verwandten, zum Universalerben eingesetzt. Unsere neue Wohnung suchte ich so wohnlich als möglich einzurichten, und so leben wir nun seit fünf Jahren in stiller Abgeschiedenheit und verkehren, außer dem Arzt aus Aggeroe, mit keinem Fremden. Sie sind der Erste, der dieses Zimmer betreten, der Einzige, dem ich meine Geschichte erzählt. Und wissen Sie, was mich dazu bewog? Eine merkwürdige Aehnlichkeit, die Sie mit dem so unglücklich umgekommenen Bräutigam meiner Tochter haben. Gleich im ersten Augenblick fiel mir dieselbe auf und zog mich zu Ihnen hin. Sie werden bald meine Frau kennen lernen, auch diese wird, ohne daß ich sie darauf aufmerksam mache, die auffallende Aehnlichkeit bemerken. Sie ist jetzt bei unserer armen Clara, die vergangene Nacht, ohne daß wir es wußten, nur in ein leichtes Tuch gehüllt, das Haus verlassen hat und in den Bergen umhergewandert ist; sie hat sich dabei tüchtig erkältet und liegt in Folge dessen zu Bett.“

Mit Aufmerksamkeit hatte ich der Erzählung des alten Erichs zugehört. Sein wechselvolles trübes Leben hatte den gewiß einst geraden Nacken gebeugt, seine Haare gebleicht und seinem Gesicht den Stempel des Kummers aufgedrückt.

Die Zimmerthüre ging auf; eine schlanke Frau mittler Größe trat ein. Die gramvoll gefurchten Züge ließen mich wohl nicht in Zweifel, daß sie Erichs’ Frau sei. Wie unter einer schweren Last gebeugt, kam sie auf mich zu, blieb aber einige Schritte vor mir und sah mich mit großen Augen an. „Stehen die Todten auf, oder täuscht mich mein vom vielen Weinen getrübtes Auge? Hermann?“ fragte sie mit zitternder Stimme. Ich ging auf sie zu und faßte die welke Hand der armen Frau „Wohl ein Hermann,“ sagte ich, „leider nicht der, den Sie meinen, nur ihm ähnlich. Ihr Mann hat mir erzählt, wie hart das Schicksal eine Familie mitgenommen, die ganz gewiß eines besseren Looses werth wäre. Sollte es wohl bloßer Zufall sein, daß unser Schiff hier Schutz suchen mußte, wo sonst nie ein Kauffahrer anlegt? Könnte diese Aehnlichkeit nicht einen wohlthätigen Einfluß auf Ihre Tochter ausüben?“. Ein Strahl der Hoffnung erhellte die Gesichter der armen alten Leute. „Das walte Gott!“ sagte Frau Erichs und schüttelte mir gerührt die Hand.

Wir saßen noch lange beisammen und schließlich wurde festgestellt, daß Clara, sobald es ihre Gesundheit erlaube, mich sehen solle. Da die Zeit meines Urlaubs verstrichen, verabschiedete ich mich, mußte jedoch versprechen, so oft es mein Dienst erlaube, die alten Leute zu besuchen.

Fünf Tage waren verstrichen, jeden Tag hatte ich Erichs besucht; Clara’s Gesundheitszustand war, statt sich zu bessern, mit jedem Tage bedenklicher geworden, so daß der Arzt ernstlich für ihr Leben fürchtete.

Ich hatte von 11 bis 1 Uhr des Nachts Wache am Deck und hatte mir’s vorne am Spill zwischen den Fockstangen bequem gemacht. Ruhig überdachte ich das aus Aggeroe Erlebte. Da legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. In dem Glauben, es sei einer der Matrosen, der sich einen Spaß machen wolle, blieb ich ruhig sitzen und frug nur ohne mich umzudrehen: was giebts? „Pst! Pst! still, er ist nicht todt, er schläft.“ Erschreckt wandte ich mich um. Die Wahnsinnige in einem schwarzen Kleide, um den Kopf ein weißes Tuch geschlungen, stand neben mir. Noch nachdenkend, wie sie wohl an Bord gekommen, und wie ich mich ihr gegenüber benehmen sollte, trat plötzlich der Mond hinter den Wolken, die ihn bis jetzt versteckt gehalten, hervor und beleuchtete uns Beide hell. Ich wollte mein Gesicht schnell verbergen, – zu spät, sie schaute mich starr an, ein tiefer Seufzer hob ihre Brust mit dem Ausrufe: „Gott, Hermann!“ sank sie zusammen. Einen Augenblick stand ich regungslos neben ihr und schaute in das bleiche, aber nichts desto weniger sehr schöne Gesicht. Armes Mädchen, wie wird Dein Erwachen sein! Aber ich durfte nicht säumen, schnell lud ich die nicht schwere Bürde auf meine Schultern, schritt vorsichtig über die Bohle, welche vom Schiff bis an’s Land gelegt war, und in ganz kurzer Zeit war ich bei Erichs. Hier war Alles in großer Aufregung; die Magd, welche an Clara’s Bett gewacht, war eingeschlafen, und hatte Clara’s Abwesenheit erst kurz vor meiner Ankunft bemerkt. Mit wenigen Worten erzählte ich das Vorgefallene und legte die ohnmächtige Clara auf’s Sopha, wo man sich lange vergebens bemühte, sie ins Leben zurückzurufen. Endlich öffnete sie die Augen und ließ sie suchend umherschweifen. Sie blieben auf mir ruhen, jeder Muskel ihres Gesichtes zuckte. Nie werde ich diesen Augenblick vergessen, Vorwurf, Hoffnung, Schmerz, Liebe, alles lag in dem einen Blick. Sie stand auf, wankte auf mich zu und schlang ihre Arme um mich. Mit einer Stimme, in welcher keine Spur von Wahnsinn mehr lag, sprach sie: „Jetzt, Hermann, laß uns sterben.“ Krampfhaft zog sie mich an sich. Thränen traten in Aller Augen, es herrschte ein feierliches Schweigen, nur das Schluchzen der Anwesenden unterbrach die Stille. Ich wollte die arme Dulderin sanft von mir losmachen, um sie zum Sopha zu geleiten, – vergebens, sie hielt mich fest, als fürchte sie, ich werde ihr entrissen. „Clara!“ rief ich, „fasse Dich!“ Keine Antwort. – Ich legte meine Hand auf ihre weiße Stirn – sie war eiskalt. – Ich schaute in ihre halbgeschlossenen Augen, sie waren gebrochen. – Der freudige Schreck hatte die schwachflackernde Lebensflamme verlöscht. – Ich hielt eine Leiche in den Armen. – Erlaßt es mir, den Jammer der alten Eltern zu beschreiben, als sie sahen, daß Clara’s Geist dem Körper entflohen. Drei Tage später ging ich hinter dem Sarge der Wahnsinnigen zum Friedhofe.

Tags darauf hatte sich der Sturm gelegt, eine frische Brise begünstigte unser Ausgehen. Nach Verlauf dreier Tage lag unsere Brigg auf der Oder in Grabow bei Stettin. Ich nahm meinen Abschied, ich bedurfte der Ruhe, um mich zu erholen, aber noch heute, nachdem ich lange Zeit an der Folge der Aufregung krank gelegen, steht das Bild der unglücklichen Wahnsinnigen vor mir und sieht mich an mit den thränenden Augen, die so schön und lieb unter den dunklen Wimpern lagen.

H. Seeger.