Critik der reinen Vernunft (1781)/2. Hauptstück. Der Canon der reinen Vernunft

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Der
Transscendentalen Methodenlehre
Zweites Hauptstück.
Der Canon der reinen Vernunft.

Es ist demüthigend vor die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und so gar noch einer Disciplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu verhüten. Allein anderer Seits erhebt es sie wiederum und giebt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disciplin selbst ausüben kan und muß, ohne eine andere Censur über sich zu gestatten, imgleichen, daß die Gränzen, die sie ihrem speculativen Gebrauche zu setzen genöthigt ist, zugleich die vernünftelnde Anmassungen iedes Gegners einschränken und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Foderungen übrig bleiben möchte, gegen alle Angriffe sicher stellen könne. Der größte und vielleicht einzige Nutze aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wol nur negativ; da sie nemlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disciplin, zur Gränzbestimmung dient und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu verhüten.

 Indessen muß es doch irgendwo einen Quell von positiven Erkentnissen geben, welche ins Gebiete der reinen Vernunft gehören und die vielleicht nur durch Mißverstand| zu Irrthümern Anlaß geben, in der That aber das Ziel der Beeiferung der Vernunft ausmachen. Denn welcher Ursache solte sonst wol die nicht zu dämpfende Begierde, durchaus über die Gränze der Erfahrung hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen, zuzuschreiben seyn. Sie ahndet Gegenstände, die ein grosses Interesse vor sie bey sich führen. Sie tritt den Weg der blossen Speculation an, um sich ihnen zu näheren; aber diese fliehen vor sie. Vermuthlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nemlich dem des practischen Gebrauchs, besseres Glück vor sie zu hoffen seyn.
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 Ich verstehe unter einem Canon den Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkentnißvermögen überhaupt. So ist die allgemeine Logik in ihrem analytischen Theile ein Canon vor Verstand und Vernunft überhaupt, aber nur der Form nach, denn sie abstrahirt von allem Inhalte. So war die transscendentale Analytik der Canon des reinen Verstandes; denn der ist allein wahrer synthetischer Erkentnisse a priori fähig. Wo aber kein richtiger Gebrauch einer Erkentnißkraft möglich ist, da giebt es keinen Canon. Nun ist alle synthetische Erkentniß der reinen Vernunft in ihrem speculativen Gebrauche, nach allen bisher geführten Beweisen, gänzlich unmöglich. Also giebt es gar keinen Canon des speculativen Gebrauchs derselben (denn dieser ist durch und durch dialectisch), sondern alle transscendentale Logik ist in dieser Absicht nichts als Disciplin. Folglich, wenn es| überall einen richtigen Gebrauch der reinen Vernunft giebt, in welchem Fall es auch einen Canon derselben geben muß, so wird dieser nicht den speculativen, sondern den practischen Vernunftgebrauch betreffen, den wir also iezt untersuchen wollen.


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