Critik der reinen Vernunft (1781)/Des Canons der reinen Vernunft Erster Abschnitt. Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft.

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Des
Canons der reinen Vernunft
Erster Abschnitt.
Von dem lezten Zwecke des reinen Gebrauchs
unserer Vernunft.

Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst blosser Ideen zu den äussersten Gränzen aller Erkentniß hinaus zu wagen und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem vor sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden. Ist nun diese Bestrebung blos auf ihr speculatives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr practisches Interesse gegründet?

 Ich will das Glück, welches die reine Vernunft in speculativer Absicht macht, iezt bey Seite setzen und frage nur nach denen Aufgaben, deren Auflösung ihren lezten Zweck ausmacht, sie mag diesen nun erreichen oder nicht, und in Ansehung dessen alle andere blos den Werth der Mittel haben. Diese höchste Zwecke werden, nach der Natur| der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasienige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern.
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 Die Endabsicht, worauf die Speculation der Vernunft im transscendentalen Gebrauche zulezt hinausläuft, betrift drey Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Daseyn Gottes. In Ansehung aller dreien ist blos speculative Interesse der Vernunft nur sehr gering, und in Absicht auf dasselbe würde wol schwerlich eine ermüdende, mit unaufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit transsc. Nachforschung, übernommen werden, weil man von allen Entdeckungen, die hierüber zu machen seyn möchten, doch keinen Gebrauch machen kan, der in concreto, d. i. in der Naturforschung, seinen Nutzen bewiese. Der Wille mag auch frey seyn, so kan dieses doch nur die intelligibele Ursache unseres Wollens angehen. Denn, was die Phänomene der Aeusserungen desselben, d. i. die Handlungen betrift, so müssen wir, nach einer unverletzlichen Grundmaxime, ohne welche wir keine Vernunft in empirischem Gebrauche ausüben können, sie niemals anders als alle übrige Erscheinungen der Natur, nemlich nach unwandelbaren Gesetzen derselben erklären. Es mag zweitens auch die geistige Natur der Seele (und mit derselben ihre Unsterblichkeit) eingesehen werden können, so kan darauf doch, weder in Ansehung der Erscheinungen dieses Lebens, als einen Erklärungsgrund, noch| auf die besondere Beschaffenheit des künftigen Zustandes Rechnung gemacht werden, weil unser Begriff einer unkörperlichen Natur blos negativ ist und unsere Erkentniß nicht im mindesten erweitert, noch einigen tauglichen Stoff zu Folgerungen darbietet, als etwa zu solchen, die nur vor Erdichtungen gelten können, die aber von der Philosophie nicht gestattet werden. Wenn auch drittens das Daseyn einer höchsten Intelligenz bewiesen wäre: so würden wir uns zwar daraus das Zweckmässige in der Welteinrichtung und Ordnung im Allgemeinen begreiflich machen, keinesweges aber befugt seyn, irgend eine besondere Anstalt und Ordnung daraus abzuleiten, oder, wo sie nicht wahrgenommen wird, darauf kühnlich zu schliessen, indem es eine nothwendige Regel des speculativen Gebrauchs der Vernunft ist, Naturursachen nicht vorbey zu gehen und das, wovon wir uns durch Erfahrung belehren können, aufzugeben, um etwas, was wir kennen, von demienigen abzuleiten, was alle unsere Kentniß gänzlich übersteigt. Mit einem Worte, diese drey Sätze bleiben vor die speculative Vernunft iederzeit transscendent und haben gar keinen immanenten, d. i. vor Gegenstände der Erfahrung zulässigen, mithin vor uns auf einige Art nüzlichen Gebrauch, sondern sind an sich betrachtet ganz müssige und dabey noch äusserst schwere Anstrengungen unserer Vernunft.
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 Wenn demnach diese drey Cardinalsätze uns zum Wissen gar nicht nöthig seyn und uns gleichwol durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden: so wird ihre| Wichtigkeit wol eigentlich nur das Practische angehen müssen.

 Practisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkühr aber empirisch sind, so kan die Vernunft dabey keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klugheit, die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäfte der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine andere als pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reine Gesetze, völlig a priori bestimt, liefern kan. Dagegen würden reine practische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist und die nicht empirischbedingt, sondern schlechthin gebieten, Producte der reinen Vernunft seyn. Dergleichen aber sind die moralische Gesetze, mithin gehören diese allein zum practischen Gebrauche der reinen Vernunft, und erlauben einen Canon.

 Die ganze Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kan, ist in der That nur auf die drey gedachten Probleme gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nemlich, was zu thun sey, wenn der Wille frey, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser| Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrift, so ist die lezte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bey der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellet.

 Es ist aber Behutsamkeit nöthig, um, da wir unser Augenmerk auf einen Gegenstand werfen, der der transscendentalen Philosophie fremd[1] ist, nicht in Episoden auszuschweifen und die Einheit des Systems zu verletzen, anderer Seits auch, um, indem man von seinem neuen Stoffe zu wenig sagt, es an Deutlichkeit oder Ueberzeugung nicht fehlen zu lassen. Ich hoffe beides dadurch zu leisten, daß ich mich so nahe als möglich am Transscendentalen halte und das, was etwa hiebey psychologisch, d. i. empirisch seyn möchte, gänzlich bey Seite setze.

 Und da ist denn zuerst anzumerken: daß ich mich voriezt des Begriffs der Freiheit nur im practischen Verstande bedienen werde und den, in transscendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen| empirisch vorausgesezt werden kan, sondern selbst ein Problem vor die Vernunft ist, hier, als oben abgethan, bey Seite setze. Eine Willkühr nemlich ist blos thierisch (arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d. i. pathologisch bestimt werden kan. Dieienige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmet werden kan, heißt die freie Willkühr (arbitrium liberum) und alles, was mit dieser, es sey als Grund, oder Folge zusammenhängt, wird Practisch genant. Die practische Freiheit kan durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht blos das, was reitzt, d. i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimt die menschliche Willkühr, sondern wir haben ein Vermögen durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernete Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Ueberlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese giebt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. obiective Gesetze der Freiheit seyn und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch practische Gesetze genant werden.
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|  Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimt sey und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit leist, in Ansehung höherer und entfernetern wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur seyn möge, das geht uns im Practischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an, sondern ist eine blos speculative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Thun oder Lassen gerichtet ist, bey Seite setzen können. Wir erkennen also die practische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nemlich eine Caussalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transscendentale Freiheit, eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Caussalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fodert und so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider zu seyn scheint und also ein Problem bleibt. Allein vor die Vernunft im practischen Gebrauche gehört dieses Problem nicht, also haben wir es in einem Canon der reinen Vernunft nur mit zwey Fragen zu thun, die das practische Interesse der reinen Vernunft angehen und in Ansehung deren ein Canon ihres Gebrauchs möglich seyn muß, nemlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben? Die Frage wegen der transscendentalen Freiheit betrift blos das speculative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig bey Seite setzen können, wenn es um das| Practische zu thun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist.



  1. Alle practische Begriffe gehen auf Gegenstände des Wolgefallens, oder Mißfallens, d. i. der Lust und Unlust, mithin, wenigstens indirect, auf Gegenstände unseres Gefühls. Da dieses aber keine Vorstellungskraft der Dinge ist, sondern ausser der gesamten Erkentnißkraft liegt, so gehören die Elemente unserer Urtheile, so fern sie sich auf Lust oder Unlust beziehen, mithin der practischen, nicht in den Inbegriff der Transscendentalphilosophie, welche lediglich mit reinen Erkentnissen a priori zu thun hat.


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