Critik der reinen Vernunft (1781)/Des Canons der reinen Vernunft Erster Abschnitt. Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft.
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Des Canons der reinen Vernunft Zweiter Abschnitt. Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft. » | |||
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Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst blosser Ideen zu den äussersten Gränzen aller Erkentniß hinaus zu wagen und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem vor sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden. Ist nun diese Bestrebung blos auf ihr speculatives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr practisches Interesse gegründet?
Ich will das Glück, welches die reine Vernunft in speculativer Absicht macht, iezt bey Seite setzen und frage nur nach denen Aufgaben, deren Auflösung ihren lezten Zweck ausmacht, sie mag diesen nun erreichen oder nicht, und in Ansehung dessen alle andere blos den Werth der Mittel haben. Diese höchste Zwecke werden, nach der Natur| der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasienige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern.Practisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkühr aber empirisch sind, so kan die Vernunft dabey keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klugheit, die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäfte der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine andere als pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reine Gesetze, völlig a priori bestimt, liefern kan. Dagegen würden reine practische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist und die nicht empirischbedingt, sondern schlechthin gebieten, Producte der reinen Vernunft seyn. Dergleichen aber sind die moralische Gesetze, mithin gehören diese allein zum practischen Gebrauche der reinen Vernunft, und erlauben einen Canon.
Die ganze Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kan, ist in der That nur auf die drey gedachten Probleme gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nemlich, was zu thun sey, wenn der Wille frey, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser| Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrift, so ist die lezte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bey der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellet.Es ist aber Behutsamkeit nöthig, um, da wir unser Augenmerk auf einen Gegenstand werfen, der der transscendentalen Philosophie fremd[1] ist, nicht in Episoden auszuschweifen und die Einheit des Systems zu verletzen, anderer Seits auch, um, indem man von seinem neuen Stoffe zu wenig sagt, es an Deutlichkeit oder Ueberzeugung nicht fehlen zu lassen. Ich hoffe beides dadurch zu leisten, daß ich mich so nahe als möglich am Transscendentalen halte und das, was etwa hiebey psychologisch, d. i. empirisch seyn möchte, gänzlich bey Seite setze.
Und da ist denn zuerst anzumerken: daß ich mich voriezt des Begriffs der Freiheit nur im practischen Verstande bedienen werde und den, in transscendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen| empirisch vorausgesezt werden kan, sondern selbst ein Problem vor die Vernunft ist, hier, als oben abgethan, bey Seite setze. Eine Willkühr nemlich ist blos thierisch (arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d. i. pathologisch bestimt werden kan. Dieienige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmet werden kan, heißt die freie Willkühr (arbitrium liberum) und alles, was mit dieser, es sey als Grund, oder Folge zusammenhängt, wird Practisch genant. Die practische Freiheit kan durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht blos das, was reitzt, d. i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimt die menschliche Willkühr, sondern wir haben ein Vermögen durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernete Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Ueberlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese giebt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. obiective Gesetze der Freiheit seyn und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch practische Gesetze genant werden.
- ↑ Alle practische Begriffe gehen auf Gegenstände des Wolgefallens, oder Mißfallens, d. i. der Lust und Unlust, mithin, wenigstens indirect, auf Gegenstände unseres Gefühls. Da dieses aber keine Vorstellungskraft der Dinge ist, sondern ausser der gesamten Erkentnißkraft liegt, so gehören die Elemente unserer Urtheile, so fern sie sich auf Lust oder Unlust beziehen, mithin der practischen, nicht in den Inbegriff der Transscendentalphilosophie, welche lediglich mit reinen Erkentnissen a priori zu thun hat.
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