Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Vierter Abschnitt. Von den transscendentalen Aufgaben der reinen Vernunft, in so fern sie schlechterdings müssen aufgelöset werden können.

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Der
Antinomie der reinen Vernunft
Vierter Abschnitt.
Von den
Transscendentalen Aufgaben der reinen
Vernunft, in so fern sie schlechterdings müssen
aufgelöset werden können.
Alle Aufgaben auflösen und alle Fragen beantworten zu wollen, würde eine unverschämte Großsprecherey und ein so ausschweifender Eigendünkel seyn, daß man dadurch sich sofort um alles Zutrauen bringen müßte. Gleichwol giebt es Wissenschaften, deren Natur es so mit sich bringt, daß eine iede darin vorkommende Frage, aus dem was man weiß, schlechthin beantwortlich seyn muß, weil die Antwort aus denselben Quellen entspringen muß, daraus die Frage entspringt, und wo es keinesweges erlaubt ist, unvermeidliche Unwissenheit vorzuschützen, sondern die Auflösung gefodert werden kan. Was in allen möglichen Fällen Recht oder Unrecht sey, muß man der Regel nach wissen können, weil es unsere Verbindlichkeit betrift und wir zu dem, was wir nicht wissen können, auch keine Verbindlichkeit haben. In der Erklärung der| Erscheinungen der Natur muß uns indessen vieles ungewiß und manche Frage unauflöslich bleiben, weil das, was wir von der Natur wissen, zu dem, was wir erklären sollen, bey weitem nicht in allen Fällen zureichend ist. Es frägt sich nun: ob in der Transscendentalphilosophie irgend eine Frage, die ein der Vernunft vorgelegtes Obiect betrift, durch eben diese reine Vernunft unbeantwortlich sey und ob man sich ihrer entscheidenden Beantwortung dadurch mit Recht entziehen könne, daß man es, als schlechthin ungewiß (aus allen dem, was wir erkennen können) demienigen beyzählt, wovon wir zwar so viel Begriff haben, um eine Frage aufzuwerfen, es uns aber gänzlich an Mitteln oder am Vermögen fehlt, sie iemals zu beantworten.

 Ich behaupte nun, daß die Transscendentalphilosophie unter allem speculativen Erkentniß dieses Eigenthümliche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrift, vor eben dieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sey und daß kein Vorschützen einer unvermeidlichen Unwissenheit und unergründlichen Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit frey sprechen könne, sie gründlich und vollständig zu beantworten; weil eben derselbe Begriff, der uns in den Stand sezt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muß, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand ausser dem Begriffe gar nicht angetroffen wird (wie bey Recht und Unrecht).

|  Es sind aber in der Transscendentalphilosophie keine andere, als nur die cosmologischen Fragen, in Ansehung deren man mit Recht eine genugthuende Antwort, die die Beschaffenheit des Gegenstandes betrift, fodern kan, ohne daß dem Philosophen erlaubt ist, sich derselben dadurch zu entziehen, daß er undurchdringliche Dunkelheit vorschüzt, und diese Fragen können nur cosmologische Ideen betreffen. Denn der Gegenstand muß empirisch gegeben seyn und die Frage geht nur auf die Angemessenheit desselben mit einer Idee. Ist der Gegenstand transscendental und also selbst unbekant, z. B. ob das Etwas, dessen Erscheinung (in uns selbst) das Denken ist (Seele) ein an sich einfaches Wesen sey, ob es eine Ursache aller Dinge insgesamt gebe, die schlechthin nothwendig ist u. s. w., so sollen wir zu unserer Idee einen Gegenstand suchen, von welchem wir gestehen können, daß er uns unbekant, aber deswegen doch nicht unmöglich sey[1]. Die cosmologischen| Ideen haben allein das Eigenthümliche an sich, daß sie ihren Gegenstand und die zu dessen Begriff erfoderliche empirische Synthesis, als gegeben voraussetzen können und die Frage, die aus ihnen entspringt, betrift nur den Fortgang dieser Synthesis, so fern er absolute Totalität enthalten soll, welche leztere nichts Empirisches mehr ist, indem sie in keiner Erfahrung gegeben werden kan. Da nun hier lediglich von einem Dinge als Gegenstande einer möglichen Erfahrung und nicht als einer Sache an sich selbst die Rede ist, so kan die Beantwortung der transscendenten cosmologischen Frage, ausser der Idee sonst nirgend liegen, denn sie betrift keinen Gegenstand an sich selbst, und in Ansehung der möglichen Erfahrung so wird nicht nach demienigen gefragt, was in concreto in irgend einer Erfahrung gegeben werden kan, sondern was in der Idee liegt, der sich die empirische Synthesis blos nähern soll: also muß sie aus der Idee allein aufgelöset werden können; denn diese ist ein blosses Geschöpf der Vernunft, welche also die Verantwortung nicht von sich abweisen und auf den unbekanten Gegenstand schieben kan.
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|  Es ist nicht so ausserordentlich, als es anfangs scheint: daß eine Wissenschaft in Ansehung aller in ihren Inbegriff gehörigen Fragen (quaestiones domesticae) lauter gewisse Auflösungen fodern und erwarten könne, ob sie gleich zur Zeit noch vielleicht nicht gefunden sind. Ausser der Transscendentalphilosophie giebt es noch zwey reine Vernunftwissenschaften, eine, blos speculativen, die andere practischen Inhalts: reine Mathematik und reine Moral. Hat man wol iemals gehört: daß, gleichsam wegen einer nothwendigen Unwissenheit der Bedingungen, es vor ungewiß sey ausgegeben worden, welches Verhältniß der Durchmesser zum Kreise ganz genau in Rational- oder Irrationalzahlen habe. Da es durch erstere gar nicht congruent gegeben werden kan, durch die zweite aber noch nicht gefunden ist, so urtheilte man: daß wenigstens die Unmöglichkeit solcher Auflösung mit Gewißheit erkant werden könne und Lambert gab einen Beweis davon. In den allgemeinen Principien der Sitten kan nichts Ungewisses seyn, weil die Sätze entweder ganz und gar nichtig und sinnleer sind, oder blos aus unseren Vernunftbegriffen fliessen müssen. Dagegen giebt es in der Naturkunde eine Unendlichkeit von Vermuthungen, in Ansehung deren niemals Gewißheit erwartet werden kan, weil die Naturerscheinungen Gegenstände sind, die uns unabhängig von unseren Begriffen gegeben werden, zu denen also der Schlüssel nicht in uns und unserem reinen Denken, sondern ausser uns liegt und eben darum in vielen Fällen nicht aufgefunden,| mithin kein sicherer Aufschluß erwartet werden kan. Ich rechne die Fragen der transscendentalen Analytik, welche die Deduction unserer reinen Erkentniß betreffen, nicht hieher, weil wir iezt nur von der Gewißheit der Urtheile in Ansehung der Gegenstände und nicht in Ansehung des Ursprungs unserer Begriffe selbst handeln.
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 Wir werden also der Verbindlichkeit einer wenigstens critischen Auflösung der vorgelegten Vernunftfragen dadurch nicht ausweichen können: daß wir über die enge Schranken unserer Vernunft Klagen erheben, und mit dem Scheine einer demuthsvollen Selbsterkentniß, bekennen: es sey über unsere Vernunft, auszumachen, ob die Welt von Ewigkeit her sey, oder einen Anfang habe; ob der Weltraum ins Unendliche mit Wesen erfüllet, oder innerhalb gewisser Gränzen eingeschlossen sey; ob irgend in der Welt etwas einfach sey, oder ob alles ins Unendliche getheilt werden müsse; ob es eine Erzeugung und Hervorbringung aus Freiheit gebe, oder ob alles an der Kette der Naturordnung hänge; endlich ob es irgend ein gänzlich unbedingt und an sich nothwendiges Wesen gebe, oder ob alles seinem Daseyn nach bedingt und mithin äusserlich abhängend und an sich zufällig sey. Denn alle diese Fragen betreffen einen Gegenstand, der nirgend anders, als in unseren Gedanken gegeben werden kan, nemlich die schlechthin unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen. Wenn wir darüber aus unseren eigenen Begriffen nichts gewisses| sagen und ausmachen können, so dürfen wir nicht die Schuld auf die Sache schieben, die sich uns verbirgt; denn es kan uns dergleichen Sache (weil sie ausser unserer Idee nirgends angetroffen wird) gar nicht gegeben werden, sondern wir müssen die Ursache in unserer Idee selbst suchen, welche ein Problem ist, das keine Auflösung verstattet und wovon wir doch hartnäckig annehmen, als entspreche ihr ein wirklicher Gegenstand. Eine deutliche Darlegung der Dialectik, die in unserem Begriffe selbst liegt, würde uns bald zur völligen Gewißheit bringen, von dem, was wir in Ansehung einer solchen Frage zu urtheilen haben.
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 Man kan eurem Vorwande der Ungewißheit in Ansehung dieser Probleme zuerst diese Frage entgegensetzen, die ihr wenigstens deutlich beantworten müsset: Woher kommen euch die Ideen, deren Auflösung euch hier in solche Schwierigkeit verwickelt? Sind es etwa Erscheinungen, deren Erklärung ihr bedürft und wovon ihr, zufolge dieser Ideen, nur die Principien, oder die Regel ihrer Exposition zu suchen habt? Nehmet an, die Natur sey ganz vor euch aufgedekt; euren Sinnen, und dem Bewustseyn alles dessen, was eurer Anschauung vorgelegt ist, sey nichts verborgen: so werdet ihr doch durch keine einzige Erfahrung den Gegenstand eurer Ideen in concreto erkennen können (denn es wird, ausser dieser vollständigen Anschauung, noch eine vollendete Synthesis und das Bewustseyn ihrer absoluten| Totalität erfodert, welches durch gar kein empirisches Erkentniß möglich ist), mithin kan eure Frage keinesweges zur Erklärung von irgend einer vorkommenden Erscheinung nothwendig und also gleichsam durch den Gegenstand selbst aufgegeben seyn. Denn der Gegenstand kan euch niemals vorkommen, weil er durch keine mögliche Erfahrung gegeben werden kan. Ihr bleibt mit allen möglichen Wahrnehmungen immer unter Bedingungen, es sey im Raume, oder in der Zeit, befangen und komt an nichts Unbedingtes, um auszumachen, ob dieses Unbedingte in einem absoluten Anfange der Synthesis, oder einer absoluten Totalität der Reihe, ohne allen Anfang, zu setzen sey. Das All aber in empirischer Bedeutung ist iederzeit nur comparativ. Das absolute All der Grösse (das Weltall), der Theilung, der Abstammung, der Bedingung des Daseyns überhaupt, mit allen Fragen: ob es durch endliche, oder ins unendliche fortzusetzende Synthesis zu Stande zu bringen sey, gehet keine mögliche Erfahrung etwas an. Ihr würdet z. B. die Erscheinungen eines Cörpers nicht im mindesten besser, oder auch nur anders erklären können, ob ihr annehmet, er bestehe aus einfachen, oder durchgehends immer aus zusammengesezten Theilen; denn es kan euch keine einfache Erscheinung und eben so wenig auch eine unendliche Zusammensetzung, iemals vorkommen. Die Erscheinungen verlangen nur erklärt zu werden, so weit ihre Erklärungsbedingungen in der Wahrnehmung gegeben sind, alles aber, was iemals an ihnen gegeben werden mag, in| einem absoluten Ganzen zusammengenommen, ist selbst eine Wahrnehmung. Dieses All aber ist es eigentlich, dessen Erklärung in den transscendentalen Vernunftaufgaben gefodert wird.

 Da also selbst die Auflösung dieser Aufgaben niemals in der Erfahrung vorkommen kan, so könnet ihr nicht sagen: daß es ungewiß sey, was hierüber dem Gegenstande beyzulegen sey. Denn euer Gegenstand ist blos in eurem Gehirne und kan ausser demselben gar nicht gegeben werden, daher ihr nur davor zu sorgen habt, mit euch selbst einig zu werden und die Amphibolie zu verhüten, die eure Idee zu einer vermeintlichen Vorstellung eines empirisch Gegebenen und also auch nach Erfahrungsgesetzen zu erkennenden Obiects macht. Die dogmatische Auflösung ist also nicht etwa ungewiß, sondern unmöglich. Die critische aber, welche völlig gewiß seyn kan, betrachtet die Frage gar nicht obiectiv, sondern nach dem Fundamente der Erkentniß, worauf sie gegründet ist.



  1. Man kan zwar auf die Frage, was ein transscendentaler Gegenstand vor eine Beschaffenheit habe, keine Antwort geben, nemlich was er sey, aber wol daß die Frage selbst nichts sey, darum, weil kein Gegenstand derselben gegeben worden. Daher sind alle Fragen der transscendentalen Seelenlehre auch beantwortlich und wirklich beantwortet; denn sie betreffen das transsc. Subiect aller inneren Erscheinungen, welches selbst nicht Erscheinung ist und also nicht als Gegenstand gegeben ist, und worauf keine der Categorien (auf welche doch eigentlich die Frage gestellt [479] ist) Bedingungen ihrer Anwendung antreffen. Also ist hier der Fall, da der gemeine Ausdruck gilt: daß keine Antwort auch eine Antwort sey, nemlich daß eine Frage nach der Beschaffenheit desienigen Etwas, was durch kein bestimtes Prädicat gedacht werden kan, weil es gänzlich ausser der Sphäre der Gegenstände gesezt wird, die uns gegeben werden können, gänzlich nichtig und leer sey.


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