Das Geheimnis der Bücherlaus

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Textdaten
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Autor: Hermann Löns
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Titel: Das Geheimnis der Bücherlaus
Untertitel:
aus: Der zweckmäßige Meyer. Ein schnurriges Buch, S. 117–123
Herausgeber:
Auflage: 1.–4. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Sponholtz
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Erscheinungsort: Hannover
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Quelle: Google-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
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[117] Das Geheimnis der Bücherlaus.

Die anderen sprachen über den Kometen, und ich hörte nicht zu, wenn ich auch so tat. Habe ich einen tiefen Klubsessel und eine sehr gute Zigarre, so bin ich unglaublich duldsam.

Also sie redeten von dem Kometen, einer mit demselben Sachverständnis wie der andere; es verstand nämlich keiner von ihnen etwas davon. Sie sprachen von fixen und weniger fixen Sternen, von elliptischen Flugbahnen, den Marskanälen, der Periodizität der Kometen und anderen mir höchst gleichgültigen Vorgängen außerhalb unseres Privatplaneten, worauf sie auf Gedankenmetastase, Transsubstation, Unterbewußtsein und Doppelbewußtsein kamen.

Infolgedessen nickte jener Teil meines Bewußtseins, den ich für gewöhnlich fest in der Hand habe, ein. Meine Züge nahmen den Ausdruck völliger Ausdruckslosigkeit an, meine Seele befreite sich völlig von meinem Willen und tat, was sie wollte, und meine Augen durchdrangen das Wesen der Dinge, wie Hittorfsche Strahlen. Längere Zeit suchten sie nach einem geeigneten Objekt, bis sie schließlich auf einem Sonnenstrahl haften blieben, der dünn und bescheiden und blau durch den Spalt der Vorhänge kam, sich aber allmählich immer breiter machte, auf ganz unverschämte Weise die Zimmerluft in zwei Hälften teilte und sich schließlich als großer gelber Fleck auf der schwarzen Wassereichenplatte des Rauchtisches festsetzte und ein winziges Etwas, das dort hin- und herspazierte, mit einem riesigen Nimbus versah.

[118] Ich drehte so lange an der Mikrometerschraube meines Sehnervs, bis ich ihn auf besagtes Geschöpf eingestellt hatte und erkannte, daß es eine Bücherlaus war. Anfangs dachte ich, es sei eine junge Atropos, dann aber stellte ich fest, daß es ein uralter Troctes war, denn es war fast einen ganzen Millimeter lang und hatte den lichten Elfenbeinton der Jugend bereits mit der Zigarrenkistenfarbe des Alters vertauscht. Ruhig und besonnen ging es auf der schwarz in schwarz gemaserten Holzplatte seiner Nahrung nach, führte sich zuerst einen Influenzabazillus zu Gemüte, nahm dann drei Schnupfenerreger zu sich und beschloß seine Mahlzeit mit dem Coccus der Zahnwurzelhautentzündung, worauf es sich mit den Vorderfüßen die Mandibeln putzte und sich dann der Verdauung hingab und träumerisch den Sonnenstäubchen lauschte, die munter auf- und abflogen und lustig dabei summten und säuselten.

Wie es kam, weiß ich nicht, aber mit einem Male war ich wieder zwanzig Jahre alt. Das war eine schöne Zeit. Ich dachte bloß an Holz- und Bücherläuse und schätzte junge Mädchen nur, wenn sie diesen Tieren, die ich als rücksichtsvoller junger Mann in Damengesellschaft Psociden nannte, genügend Verständnis entgegenbrachten. Ich hatte früher Goethe und Bismarck sehr verehrt; als ich aber in ihren Schriften nicht das geringste Anzeichen dafür fand, daß sie den Holzläusen Beachtung geschenkt hatten, setzte ich diese Männer in mir ab und erhöhte vor meiner Seele die wie Mac Lachlan, de Selys-Longchamps, Brauer, Rostock, Stephens, Bertkau und Hagen aus diesen Tieren ein Sonderstudium gemacht hatten, und als ich H. J. Kolbe kennen lernte, erstarb ich in Ehrfurcht, denn er hatte ein Dutzend unbeschriebener Arten entdeckt und die Monographie der deutschen Psociden geschrieben, ein Werk, das ich für den Gipfel der Weltliteratur hielt. Fünf Jahre lang sammelte, studierte und bestimmte ich Holzläuse und fand das reinste Glück bei dieser Beschäftigung, und [119] als ich eine unbeschriebene Art entdeckte, erfüllte Größenwahn mein Gemüt bis zum Rande.

Nun, nach mehr denn zwanzig Jahren, saß der Troctes vor mir, sah mich mit seinen altmodischen Augen an und schraubte meine Erinnerung um zwei Jahrzehnte zurück. Wie aus weiter Ferne klang das, was meine Freunde über Okkultismus sprachen. Ich mußte lachen. Okkultismus! Braucht es dazu somnambuler Medien, Trancezustände und Geisterschrift? Hier, diese Bücherlaus, knapp einen Millimeter lang, ist ein eben so großes Geheimnis, wie die Seele des Menschen. Wer das Geheimnis von Troctes kennt, dem ist Anfang und Ende aller Dinge vollkommen klar; er weiß alles. Und er weiß natürlich auch gar nichts, denn so ist es: je mehr wir wissen, um so mehr erkennen wir, wie wenig es ist. Die steinerne Sphinx der Wüste ist nicht so furchtbar, wie die Bücherlaus. Hätte Ramses der Große sie gekannt, er hätte ihr Bildnis, riesenhaft vergrößert, aus grauem Granit meißeln lassen und darunter die Worte gefügt: „Sie ist schrecklich; sie ist der Schlüssel zu allem Nichtwissen.“

Nicht umsonst nannte sie der große Zoologe Müller Troctes divinatorius, die weissagende Bücherlaus. Er tat das nicht, weil man ihr nachsagte, sie verursache ein Klopfgeräusch, was übrigens nicht wahr ist, und sie verkünde damit das Sterben eines Menschen, sondern aus dem Humor einer tiefen Weltweisheit heraus, die an einem Insekt von Millimetergröße ebensoviel lernt, wie an einem Mammut. Und wahrhaftig, der Troctes kann weissagen; wer sich ihn genau ansieht, der findet die ganze Evolutionstheorie in ihm und die Lehre von der Konvergenz der Gattungen ist deutlich in ihm ausgesprochen. Er braucht nur die andere Bücherlaus, die hübsche, rotgepunkte Atropos, dagegen zu halten, um die Lehre von der ursprünglichen Einheit aller Dinge zu begreifen, um Monist oder Pantheist oder Materialist oder Deist oder Mono- oder Polytheist oder was er sonst will, zu werden, um [120] die Höhe der modernen Wissenschaft zu erklimmen, oder den Sprung in die Tiefen des Buddhismus zu tun, um die Weisheit mit Löffeln schöpfen zu können oder mit Dubois-Reymond sagen zu müssen: „Ignoramus, ignorabimus“. Mit Sophokles wird er sagen können: „Nichts ist gewaltiger als der Mensch,“ und mit dem Dichter des Hohenliedes in die Klage einstimmen, daß alles menschliche Wissen eitel sei, denn Atropos und Troctes haben weiter nichts miteinander gemeinsam, als den Gruppennamen. Sonst ähneln sie sich so, wie eine Kuh und ein Pferd.

Die Holz- und Bücherläuse, von der Wissenschaft Psociden genannt, gehören nämlich zu den Gradflüglern oder Orthopteren, und sind mit den Heuschrecken, Grillen, Wasserjungfern, Eintagsfliegen, Köcherfliegen, Ohrwürmern, Küchenschwaben und ähnlichem Geziefer verwandt. Sie sind im allgemeinen, darwinistisch geredet, junge Insekten, und stehen als scheinbar fest abgesonderte Gruppe da. Nimmt man sich aber einen Troctes vor, so sieht man zu seiner Verblüffung, daß er viele Merkmale der uralten Insekten, der Apterygoten, besitzt, die völlige Flügellosigkeit, die altmodischen Augen, die primitive Ringelung, die einfachen Mundwerkzeuge, daß er also nach den Silberfischchen und Springschwänzen, diesen lebendigen Versteinerungen unter den Kerbtieren, hinneigt. Zudem führt jede Troctesart ein ganz anderes Leben, als die anderen; Troctes divinatorius lebt in Büchern, Troctes silvarum unter Kiefernrinde, Troctes formicarius bei Ameisen; ein Beweis, daß die Arten der Gattung sich schon in Urzeiten verschiedenen Berufsarten zuwandten. Die ganze Gattung Troctes aber spielt in der Systematik ungefähr die Rolle, wie der Rechtsfreisinn in der Parteibildung; sie verbindet die alten mit den neuen Insekten, oder tut wenigstens so.

Das ist aber noch gar nichts. Wer erst alle fünfzig bis sechzig bekannten deutschen Holzläuse studiert und das wenige, was aus Europa und den übrigen Erdteilen von dieser [121] Gruppe noch bekannt ist, auch die betrachtet, die uns der Bernstein und das Harz der Kopalfichten überlieferten, der schlägt sämtliche Hände über der Glatze zusammen und weiß nicht mehr, was er sagen soll. Im Bernstein fossil und in den Tropen lebend, finden sich Psociden, die beschuppte Flügel und Stacheln an den Beinen haben, also, ginge es allein danach, Motten, also Schmetterlinge sein müßten. Mithin liegt hier also wieder eine Brücke zu einer hochmodernen Insektengruppe vor. Außerdem findet sich in dem preußischen Bernstein eine Holzlaus, die Flügeldecken und ein Schildchen, wie die Käfer hat, und eine südeuropäische Art, Embidopsocus, ist sogar sehr verdächtig, verwandtschaftliche Beziehungen zu den Termiten zu unterhalten. Mit einem Worte: die Holzläuse sind unsichere Kantonisten, unzuverlässige Kandidaten, gehören, systematisch genommen, zur Fraktion Drehscheibe, hängen den Mantel nach dem Winde, tragen den Baum auf beiden, ja auf noch mehr Achseln, können den Systematiker zum Heulen und den Deszendenztheoretiker zum Hurraschreien bringen.

Da ist z. B. der Pseudopsocus, ein ganz verdächtiger Bruder, wie schon der Name andeutet. Jede anständige Holzlaus besitzt ein gerades zweites Fühlerglied; seins ist natürlich krumm. Jede Holzlaus, die etwas auf sich hält, hat einen gemessenen Gang; er wimmelt selbstverständlich so würdelos herum, wie eine Ameise. Da ist der Neopsocus, die Bertkauia und die Cäcilia, Psociden, von denen wir die Männchen nicht kennen, und die Kolbia, deren Männchen Flügel haben, während die Weibchen, wahrscheinlich aus Mangel an Nadelgeld, es dazu nicht bringen und noch als Mütter im Backfischröckchen, von den Entomologen Nymphentracht genannt, zum Skandal der Leute herumlaufen. Einmal ist allerdings auch ein geflügeltes Weibchen der Kolbia gefunden, und daß in dem Busch bei Münster, wo es erbeutet wurde, noch kein Denkmal steht, und daß der Entdecker nicht einen hohen Orden bekam, [122] das verdrießt mich über alle Maßen, denn der Mann, dem dieser welterschütternde Fund glückte, das war niemand anders als ich. Meine Freunde behaupten zwar, ich hätte die Natur bestochen, daß sie mir dieses eine Exemplar, das ein Kabinettstück des königlichen zoologischen Museums in Berlin bildet, eigens anfertigen ließ. Das ist aber nackte Verleumdung, denn so gut stehe ich mit der Natur nun doch nicht.

Allerdings, einige Geheimnisse habe ich ihr doch abgelauscht; ich kann nämlich Psociden herstellen, und zwar lebendige Psociden. Als H. J. Kolbe in meiner Sammlung die von ihm neu beschriebene Pterodela quercus in vielen Stücken fand, war er sehr erschüttert und fragte: „Woher haben Sie die?“ Aber das Gesicht, das er machte, als ich antwortete: „Mach’ ich selber!“ das können Sie sich denken. Ich habe es ihm vorgemacht. Ich knickte an einer Wallhecke frische Eichenzweige ein, so daß das Laub grüntrocken wurde, und einige Wochen nachher war das seltene Tier zu Tausenden darauf zu finden, denn gewisse Pilze oder Algen, die auf grüntrockenem Eichenlaube leben und von denen es sich nährt, die es aber sonst selten findet, waren massenhaft da und erlaubten es ihm, sich bis an die Barrieren der Unmöglichkeit zu vermehren.

Das ist natürlich ein großer Erfolg, aber so stolz, wie auf mein geflügeltes Kolbiaweibchen bin ich doch nicht darauf, denn damit bewies ich die von mir aufgestellte Theorie, daß die ungeflügelten Kolbiaweibchen nur deswegen keine Flügel haben, weil sie bei uns in schlechten Verhältnissen leben und vor Haushaltssorgen nicht an die Vervollständigung ihrer Garderobe denken können. Als ich diese Theorie aufstellte, wurde ich ausgelacht. Da war die Natur so gütig, mir ein geflügeltes Weibchen herzustellen, ich trat die demonstratio ad bestiam an und stand groß da vor mir und allen Menschen, die in der Psocidologie den Gipfel des menschlichen Wissens sehen. Und das ist mein Trost: ich werde nicht vergessen [123] werden. Noch nach Äonen wird mein Name hell leuchten als der des Entdeckers des einen einzigen geflügelten Kolbiaweibchens!

Als ich diese Entdeckung gemacht hatte, zog ich mich aus der Psocidologie zurück. Es war ein guter Abgang, einer mit bengalischer Beleuchtung und Fanfarenklängen. Ich tat wohl daran, denn auch alle übrigen Holzlausspezialisten taten dasselbe und wandten sich anderen Gruppen zu. Die Psociden boten zu viel Schwierigkeiten. Schon die Tatsache, daß die Gruppe auf drei oder mehr Wurzeln beruht, daß sie die schärfsten systematischen Gegensätze in sich vereinigt, genügte, um den Blick der Forscher zu verwirren. Stammen die Holz- und Bücherläuse von den Silberfischen, den Motten oder den Käfern ab? Oder ist es umgekehrt: haben sie die Tendenz, Käfer oder Motten oder Silberfische zu werden? Handelt es sich um eine Erscheinung der Konvergenz oder der Divergenz, um eine zentrifugale oder zentripetale Tendenz? Nix Genaues weiß man nicht. Die Psocidologie ist und bleibt eine okkulte Wissenschaft; man tappt im Dustern bei ihr. Denn es ist unergründlich für Menschensinne, das Geheimnis der Bücherlaus.

„Was halten Sie von dem Okkultismus?“ fragte mich der junge Bankier, der als Geschäftsmann von den Raubvögeln, als Privatmensch von den Apollofaltern abzustammen scheint, denn er ist ein ganz gefährlicher Kalijobber, schwärmt aber für tausend ätherische Ismen.

„Jawohl“, sprach ich, und er war zufrieden. Er meinte aber Trancezustände und ich Bücherläuse.

Schließlich ist das auch dasselbe.