Das Krüppelchen

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Autor: Karl Theodor Schultz
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Titel: Das Krüppelchen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40–42, S. 653–656, 673–676, 693–698
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[653]
Das Krüppelchen.
Erzählung von Karl Theodor Schultz.


1.

Der schwere Verdeckwagen bog in die Chaussee ein und rollte nun leiser, bald auch langsamer die kleine Anhöhe vor Barten hinan. Die Insassen des Wagens, welche bisher, in ihre Ecken zurückgelehnt, geschwiegen, da die Erlebnisse des Abends sie noch beschäftigten, auch das Knirschen und Mahlen der Räder in dem frisch aufgeschütteten Kiese des Landweges jede Unterhaltung erschwert hätte, richteten sich jetzt auf, und eine der Damen, welche im Fond saßen, rief mit einem Seufzer der Erleichterung:

„Endlich die Chaussee!“

„Ja!“ bestätigte gleichsam der ihr gegenüber sitzende Herr, „selbst ein aufgebesserter ostpreußischer Landweg hat seine Mucken.“

„Dieser Burgsdorfer war doch stets einer unserer besten!“ vertheidigte die andere Dame im Fond den eben zurückgelegten Landweg.

„Erst kommen aber unsere Bartener, der nach Werkersheim allenfalls ausgenommen,“ erklärte die Dame, welche vorher den Seufzer ausgestoßen hatte. Der Herr verbeugte sich leicht. „Dann,“ fuhr dieselbe fort, „darf eine ganze Weile nichts kommen – und zum Schlusse meinetwegen diese Burgsdorfer Mole!“ Sie sah zum Fenster hinaus. „Das Licht muß in Försters Saale sein, nicht wahr?“

„Die schwarzen Massen links sind der Park? Gewiß!“ erwiderte der Herr sich verbeugend. „Uebrigens ein vortreffliches Orientirungsvermögen!“

„Das lernt sich beim Zeichnen,“ antwortete die Dame. „Aber seht nur die Weidenstümpfe längs des Weges! Hocken sie nicht wie Gespenster da?“

„Die Weide ist ein alter Unheilsbaum,“ sagte der Heer sinnend. „Denken Sie an Ophelia – Desdemona:

„Heiß rollt ihr die Thrän’ und erweicht das Gestein, Singt Weide, Weide, Weide!“

„Nun so bald fahre ich ja den Weg nicht mehr.“ „Aber warum nicht?“ fiel der Herr ein, „der armen Weiden wegen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Hat Dir etwa Frau Förster in ihrer Häuslichkeit weniger gefallen?“ fragte die andere Dame, sich ihr zuwendend.

„O nein!“ rief die Angeredete, indem sie sich so tief zurücklehnte, daß man ihr Gesicht kaum aus der Umrahmung des weiten Schwanpelzwerks hervorschimmern sah. „Ich ertrage das Krüppelchen nicht.“

„Wieder die ganze Else,“ sagte die Dame im Tone des Tadels zu ihrem Gegenüber.

„Nun, Hemmingen wenigstens wird mir nachfühlen …“

„Nein, beste Schwägerin!“ unterbrach dieser: „Neulich sprachen wir im halben Scherze darüber; wenn Sie jedoch im Ernste –“

„Im vollen Ernste!“ trotzte Else. „Für mich ist dieser vielgeliebte Rudi ein krüppliges Kind, wie unser Großpaschchen zu sagen pflegte.“

„Vergeben Sie mir,“ entgegnete Herr von Hemmingen, „ich stehe hier aber vor etwas Unbegreiflichem. Sie machen Ihr Gouvernantenexamen, damit Sie sich, wenn es Ihnen einmal belieben sollte, sogar ganz der Erziehung widmen können, und nun erscheint Ihnen gerade ein Kind, welches Aller Mitleid in so hohem Grade –“

„Das ist es ja eben! Ich würde todtkrank, wenn ich dieses Stapfen seiner Krücke oft hören müßte: und das rückt immer an, tapp, tapp – wie ein kleiner Comthur. Außerdem hat man bei der grenzenlosen Verzogenheit des Kindes auch noch sonstige unangenehme Gefühle, kurz, mich bekommt Ihr nicht zu Försters.“

Hemmingen sah seine Gattin an und erwiderte mißbilligend :

„Dann ist Mitleid doch wohl kaum einer Ihrer besonderen Vorzüge? Daß dieses unglückliche, seit Jahren leidende Geschöpfchen in gewissem Sinne verzogen ist, sollte bei einer Beurtheilung desselben wirklich nicht in’s Gewicht fallen.“

„O, was einmal da ist, ist eben da,“ wehrte Else ab. „Ich mindestens kann an dem, was mir widrig, nie vorbei, ohne es zu bemerken – sehr zu bemerken. So plaudere ich mit Förster allerliebst über Königsberg ; wir tauschen unsere Erinnerungen aus – und er will gerade etwas Interessantes erzählen, das in der Königshalle passirt ist, da stapft dieser kleine Unhold auf uns zu – ich hörte ihn schon durch drei Zimmer – und briselt und maut, bis der Vater schwach genug ist, mit ihm zu gehen. Dabei guckt mich das Kind ordentlich höhnisch an.“

„Könnte mich durchaus nicht wundern,“ versetzte Hemmingen. „Kinder wissen ja immer gleich, wer ein Herz für sie hat oder sie nur duldet, und nun gar Sie mit Ihrer ausgesprochenen Abneigung!“

„Heute war Förster übrigens besonders schwach,“ warf Hemmingen’s Gattin hin, „und Rudi merkwürdig erregt. Daß er uns auch um des Vaters Singen brachte –“

„Nicht wahr, Doris?“ fiel Else ein. „Ganz unerträglich! Ich hatte um dieses einzige Lied gebeten, freute mich so darauf – [654] das Kind war und war nicht abzuschütteln. Und die Großmutter! Ihr ewiges Sorgen für Rudichen; sie werden den Jungen noch zu einem völlig unleidlichen Geschöpfe machen.“

„Das Kind ist vierjährig und momentan so kränklich,“ entschuldigte Hemmingen, „darum wollte es Förster wohl nicht aufregen. Sonst – Du weißt es auch, Doris – gestattet er ihm keineswegs allen Willen. Zudem dürften hier mit der wachsenden Vernunft ganz andere Empfindungen in den Vordergrund treten, als unliebenswürdig-egoistische. Doctor Harder vermag eben keinerlei Hoffnung zu geben, daß die Krücke je wieder entbehrlich würde.“

„Das ist durchaus ein schweres Geschick,“ erwiderte Else, „ich kann es aber trotzdem nicht billigen, seine Bekannten nun fortwährend in Mitleidenschaft zu ziehen. Von diesem reizenden Hans spricht Niemand; Rudi ist geradezu Alles geworden. Ich habe von der Großmutter schon an dem einen Nachmittag beinahe jede Phase seiner Leidensgeschichte vom Sturze an gehört; ja, zum Schluß, als wir uns anzogen und diese Frau Hannisch die Mäntel umgab, fing die sogar davon an. Ich beeilte mich natürlich, was ich konnte, und nun will meine Kapuze nicht sitzen.“

Frau von Hemmingen half, und so bekam die nur im Eifer verschobene Kapuze wieder den richtigen Sitz.

Es wurde einige Augenblicke lang still im Wagen. Else wie Hemmingen sahen in die winterliche Landschaft hinaus, welche sich bei dem leichten Nebel wie umschleiert hinbreitete. Unabsehbar Acker an Acker, nur selten von der Silhouette eines Baumes oder Gehöftes unterbrochen. Die Oede der Gegend schien Else plötzlich anzufrösteln; sie lehnte sich wieder in ihre Ecke zurück und schloß die Augen.

Irgendwo in der Ferne schlugen Hunde an; Hemmingen sah zerstreut nach der Richtung, dann sagte er wie aus Gedanken heraus: „Ob man wirklich das Recht hätte, von seinen nächsten Bekannten zu fordern, daß sie uns mit ihren Leiden, großen wie kleinen, verschonten? Hieße das dem Egoismus nicht völlig Thür und Thor öffnen? Und was bliebe von aller Unterhaltung? Immerfort kann uns doch auch nicht das Metier beschäftige – weder die Kunst noch die Wissenschaft, selbst im weitesten Sinne gefaßt. Wir wollen und müssen auch direct von uns und unseren Nächsten leben; da gilt dann freilich oft das alte Losungswort: Leben – Leiden.“

Else hatte sich bald, nachdem er begonnen, lebhaft aufgerichtet und erwiderte nun:

„Sie wissen, darauf höre ich gar nicht. Das Leben ist zur Freude da, für mich nur zum Genießen, und zwar von meiner lieben Doris knusprigen Morgenbrödchen an bis zum letzten müden Blick, der an den Spitzen des Kopfkissens verdämmert. Nicht charmant gesagt? Bester Schwager, machen Sie nicht ein so finsteres Gesicht! Ja, ja!“ fahr sie auf eine lässige Handbewegung Hemmingen’s fort, „es ist so. Nun, für das große Allgemeine muß ich es Ihnen ja so wie so zugeben – niemals aber für mich, wenigstens für jetzt – nein niemals! Mir sind entre nous die beiden Jahre in Königsberg entsetzlich lang geworden, und hätte ich nicht damals meinen Kopf darauf gesetzt, ich wäre längst aus der Lehre gelaufen. Jetzt ist das aber vorüber; ich habe das Zeugniß der Reife in der Tasche, nein, im Koffer. Nun will ich auch meine Jugend – neunzehn Jahre und drei Monate nennen Sie hoffentlich noch jung? – genießen, ach, nichts als genießen.“

Sie zog die Schwester an sich heran und küßte sie rasch auf Wange und Mund.

„Wildfang!“ wehrte diese.

„Wir sind bereits wieder ehrbar,“ begann Else in so tiefen Tönen, wie sie ihr zu Gebote standen „sonst wird Monsieur Hemmingen wirklich böse. Die Geschichte vom Krüppelchen lasse ich mir aber trotzdem nicht zum dritten Mal erzählen; ob man auch zu Egoismus und Hartherzigkeit verurtheilt wird, es bleibt dabei – nach Burgsdorf fahrt Ihr künftig allein. – O, da ist unsere Gartenmauer schon! Wie Brillant heute bellt! Und Bergmännchen, Waldine – das reine Concert!“

Der Wagen kam nun auf Steinpflaster; noch einige Minuten, dann hielt er vor der Hauptthür eines langen, einstöckigen Hauses, an welchem sich nur der Mittelvorsprung durch reicheren Schmuck von Sandstein-Ornamenten auszeichnete. Ein Diener und ein Mädchen, die bereits wartend auf der Rampe gestanden, halfen beim Aussteigen; Else begrüßte zärtlich die beiden Bracken, dann verabschiedet sie sich gleich für heute bei den Ihrigen, da sie von der schwierigen Vertheidigung angegriffen sei, wie sie dem Schwager auf’s Ernsthafteste versicherte.

Dieser, welcher seinen Pelz dem Diener überlassen warf sich im Wohnzimmer in einen Sessel und sah vor sich nieder. Als das Mädchen, mit Doris’ Mantel und sonstigen Umhängen beladen, gegangen war, sagte er in einer Art verzweifelten Humors:

„Was soll das nun geben? Förster will morgen um Else anhalten?“

Doris, die sich am Spiegel ihr Haar ordnete, drehte sich erschrocken um, antwortete aber im ersten Moment nicht.

„Er glaubt ihrer Neigung bereits sicher zu sein,“ fuhr Hemmingen fort. „Ich konnte ja weder zu- noch abreden; was weiß ich, wie die Beiden mit einander stehen!“

„O, das ist schlimm,“ versetzte Doris.

„Hast Du denn in letzter Zeit bei ihr ein wärmeres Interesse für Förster bemerkt?“

„Jedenfalls ist er ihr nicht gleichgültig.“

„Und dabei diese Lieblosigkeit, ja Härte gegen das Kind!“

Doris trat zu dem Gatten heran und legte ihre Hand wie besänftigend auf seinen Arm:

„Je strenger wir urtheilen, um so mehr fühle wir mitunter. Es war ein unglücklicher Zufall, daß wir gerade heute hingefahren sind; selbst ich habe das Kind noch nie so unliebenswürdig gesehen.“

Eine Pause entstand.

„Alles in Allem,“ fuhr dann Hemminge auf, „wollen wir den Zufall jedoch eher einen glücklichen nennen. Nun ist keine Illusion möglich; sie weiß, was ihrer wartet, und kann sich also genau prüfen, ob für sie bei dem gebotenen Glück Licht oder Schatten überwiegt. Denn für ein Glück wäre dieser Antrag immerhin zu erachten, natürlich nach menschlichem Ermessen.“

Doris nickte.

„Förster ist ein so durch und durch nobler Mensch. In so mancher delicaten Lage haben wir seinen Tact ja geradezu bewundert. Sein Reichthum dabei, die distinguirte Erscheinung –“

„O, viel mehr als distinguirt!“ unterbrach ihn Doris, „wir rechnen Förster zu den schönen Männern.“

„Meinetwegen auch zu den schönen! Um so mehr des Glückes also, wenn es ein Glück ist, einen schönen Mann zu besitzen. Das mußt Du doch am besten wissen?“

„Es ist ein Glück.“ Dabei beugte sich Doris zu ihm herab und küßte seine Stirn. Beide mußten lächeln.

„Ich habe morgen ja Termin,“ begann Hemmingen von Neuem, „kann Förster also nicht einmal einen Wink gebe.“

„Wäre das überhaupt richtig?“ fragte Doris zweifelnd. „Einer von beiden Theilen muß da wohl unbefangen bleibe.“

„So willst Du Else darauf vorbereiten?“

„Besonders nach dem, was wir eben von ihr gehört haben, halte ich es für Pflicht. Sie könnte bei ihrer Neigung, nur dem augenblicklichen Impuls zu folgen, etwas ablehnen, was sie später vielleicht lebenslang bedauerte. Else hat bei all ihrer Wärme und Lebhaftigkeit jetzt oft etwas Scheues, in sich Zurückgezogenes; auch scheint es mir Interesse zu beweisen, daß sie niemals mit mir über Förster spricht, ihm hier und da sogar aus dem Wege geht. Heute hat sie nur der Aerger über Rudi und Dein Widerspruch gereizt, so viel von jenem Hause zu sprechen.“

„Nun, Förster kommt erst gegen Abend; so habt Ihr vollkommen Zeit, darüber einig zu werde. Ich werde bis Sechs zurück sein und Friedrich ein paar Fläschchen kalt stellen lassen?“

Doris zuckte leicht die Achseln. „Ich wage nichts Bestimmtes zu sagen – wie Du denkst,“ meinte sie.

„Schaden kann es ja nie. Kommt es zu Nichts, so trinken wir wenigstens Alle zusammen einen Kummertropfen. Weißt Du, wie es immer bei Euch eine Kummertorte gab, wenn Jemand fortreiste? Weigert sich Else übriges entschieden, so müßte Förster wohl darauf vorbereitet werden? Dann heiße ihn mich nur erwarten – das wird er schon verstehen. Mache Deine Sache gut! Man wird sich doch zu etwas so Aeußerem, wie solchem Kinde stellen können! Das Geschöpfchen ist ja noch wie Wachs, jedem Einfluß zugänglich. Stelle ihr das nur richtig vor – die großen Vorzüge der Partie drängen sich schon von selbst auf. Ich hoffe nun eigentlich doch das Beste.“

Damit erhob er sich, nahm die Lampe und ging seiner Gattin nach dem Schlafzimmer voran.




[655]
2.

Es war ein gar traulicher Raum, den Else von Düchau seit zwei Monaten wieder bewohnte. Eine ältere Cousine hatte sich denselben, da sie jahraus, jahrein aus längere Zeit nach Barten zu kommen pflegte, vollständig nach ihrem Geschmack eingerichtet, und von diesem war es in der ganzen Familie bekannt, daß er selbst mit einfachen Dingen die freundlichsten Wirkungen hervorbrachte. Hier konnte weder der purpurne Plüschbezug der Meubles, noch die birkenen Etageren, Tische und Stühle auf irgend welche Eleganz mehr Anspruch machen, wohin sie aber gestellt waren, unter welchen Bildern sie standen, selbst durch welche der zahllosen Nippes sie geziert wurden – diese Anordnungen brachten ein reizvolles Ganzes hervor.

Else hatte sich nach der Verheirathung der Cousine für ihre Besuche in Barten ebenfalls diesen Raum zum Bewohnen ausgebeten; nur einige Kleinigkeiten waren hinzugefügt, nichts Wesentliches umgestellt, so war er geblieben, was er immer gewesen, der volle Ausdruck einer weichen, sinnigen Persönlichkeit. Obwohl gerade der Ausdruck für Else wenig paßte, fühlte sie sich doch in dieser Umgebung wohl und versicherte gern, daß sie das Zimmer nur gewählt habe, um so ihrer lieben Hertha rascher ähnlich zu werden. Natürlich trat dabei schon in der bloßen Art und Weise, wie sie dergleichen hinwarf, der tiefe Gegensatz zu Tage, der zwischen ihrem Wesen und dem ihres Ideals lag.

Eben freilich hätte Niemand, der sie nicht kannte, ihren Bewegungen, ihrer Haltung die sonstige Lebhaftigkeit zugetraut. Sie war immer wieder nachdenklich stehen geblieben hatte nur einmal wie verstohlen gelacht, ja die Blätter der Fächerpalme in so schmeichelnd zarter Weise gestreichelt, daß diese unter der ganz ungewohnten Liebkosung gleichsam erschauern mußten. Und jetzt stand sie schon eine Weile vor den beiden kleinen Oelbildern, welche über dem Sopha hingen: rechts die Rosenlaube mit all den Sonnenfunken, die golden auf der Erde lagen, schien sie am meisten zu fesseln, obwohl sie auch dem Wasserfall im Mondschein dann und wann einen Blick gönnte. „Froloff“ las sie mechanisch auf einer Rosenranke und versuchte sich nun darauf zu besinnen, was ihr die Cousine von dem Maler erzählt hatte: war es nicht Eigenthümliches gewesen?

Doch was kümmerte sie im Grunde dieser Maler! Hatte sie nicht an so viel Anderes zu denken? Es wurde schon dunkler; die Sonne mußte im Untergehen sein – jede Minute konnte Förster kommen. Wie er eigentlich aussah? Und würde seine Liebe tief genug sein, um das Opfer zu bringen? Wenn nicht, wenn nicht? Wäre das aber denkbar?

Sie richtete sich hoch auf: so voll empfand sie ihren Werth, daß sich der kleine Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog. Und damit schwand auch das bisherige Träumerische ihres Wesens. Unruhig begann sie von einem Zimmer in’s andere zu gehen, trat hier an’s Fenster – dann dort, schlug auch ein paar Accorde auf dem Pianino an, doch blos, um gleich wieder aufzuhören, und war schließlich bereits im Begriffe zur Schwester hinüberzugehen, als sie deutlich Schlittengeläute hörte. Da kam er: noch rasch in’s Wohnzimmer, ihn dort an Doris’ Seite zu empfangen.

Sie ließ jedoch die Thürklinke, welche sie schon gefaßt hatte, wieder los. Wie Absicht könnte das aussehen, beinahe als würde er erwartet, von ihr erwartet. Das durfte nicht sein.

Nachlässig ging sie von Neuem bis an’s Fenster und sah scheinbar ruhig dem Tanze wirbelnder Flocken zu; dabei hörte sie aber genau, daß der Schlitten hielt und dann seitwärts nach der Remise fuhr. Recht lange dauerten die paar Minuten sogar, bis der Bediente „das gnädige Fräulein“ herüberbat.

Ganz als „Gnädige“ trat sie über die Schwelle des Wohnzimmers, doch flog sofort, ehe sie Förster recht angesehen, ein Rosenschimmer (es konnte allerdings noch ein Abglanz von ihrem vorherigen Studium der Rosenlaube sein) über ihre Wangen, und sie eilte nun in ihrer natürlichen Weise einem Stuhl in der Nähe von Doris zu, die eben von ihrem Mißfallen an dem eingetretenen Schneewetter gesprochen hatte.

Förster wandte sich gleich an Else:

„Schon Ihrer Frau Schwester drückte ich meine Freude aus, daß sich unser neuer Weg bei seiner gestrigen Einweihung so manierlich aufgeführt und selbst Ihrem schweren Wagen keine Schwierigkeiten bereitet hat. Wir waren recht in Sorge.“

„O, der Weg ist sogar alles Lobes würdig!“ scherzte Else.

„So lange wir ihn passirten, vertrugen wir uns auf’s Beste, da wir schweigen mußten; sobald die Chaussee erreicht war, ging auch der Streit los.“

„Du bist aber –“

„Nein – nein!“ unterbrach Else die Schwester, „glauben Sie mir nur – wir haben uns sehr ernstlich gezankt. Selbstverständlich Hemmingen und ich; Doris schlummerte sanft oder stand mir bei.“

„Und worüber – wenn die Frage nicht indiscret ist – waren die Meinungen so getheilt?“

Else hob ein wenig die Schultern und antwortete, Förster endlich voll ansehend:

„Diesmal kann ich Sie nicht zu meinem Ritter bekehren, wie neulich, wenigstens für jetzt nicht; ich muß noch über Alles schweigen – Familienangelegenheiten!“

„Verzeihen Sie!“

Doris machte eine Bewegung der Ungeduld und sagte:

„Else bemüht sich den Kobold zu spielen; also –“

„Davon weiß ich nichts,“ fiel Förster ein.

„Danke schönstens!“ rief Else und fuhr zu Doris gewendet fort: „Siehst Du, so gehen Verleumdungen zu Schanden. Ihr allein habt blos immer Tausenderlei an mir auszusetzen – ja; die theure Familie! Doch nun wieder gut sein, Dorette! Auch ich vergebe Dir.“

Damit sprang sie auf und ging nach einem seitwärts stehenden Schränkchen.

„Wir haben die Photogramme, von denen wir gestern sprachen, hervorgesucht. Hier sind beide Bilder von meinem lieben, lieben Starnberger und da – der unheimliche Königssee!“

Sie legte die Blätter vor Förster auf den Tisch.

„Habe ich nun nicht Recht? Hier Alles – Leben, Glanz, gleichsam nichts als Glück; da finsterer Ernst, selbst bei Sonnenschein – ein Frösteln nahe.“

„Doch wie charaktervoll!“ versetzte Förster. „Leider habe ich beide nicht gesehen, würde aber nach dem Bilde glauben, daß der Königssee eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Urnersee haben müßte. Und ich kenne nichts, was mich so bis in das Innerste berührst ja ergriffen hätte, als der erste Blick nach Flühen hinüber. Ganz unvergeßlich!“

„Gewiß!“ erwiderte Doris, „die beiden Seen gleichen sich. Der Urner liegt nur noch freier: man hat doch die Rütlipartie, das grüne Urier Thal; am Königssee – Felsen an Felsen; hier das Stückchen Land mit Sanct Bartholomae“ – sie zeigte auf die betreffende Stelle des Photogramms – „bemerkt man kaum.“

„Unvergeßlich, sagten Sie vorher?“ warf Else ein, „unsere Rückfahrt über den Königssee bleibt mir gleichfalls unvergeßlich. Es stieg ein Gewitter, hier über den Watzmann, auf, mit einer Schnelligkeit, in so schauerlicher Wolken – der Athem stockte uns. O, Doris auch, nicht blos mir! Die Schiffer mußten rudern, was in ihren Kräften stand; das Wasser kräuselte sich schon und sah wirklich aus wie König Watzmann’s Blut.“

„Aber Else!“ sagte Doris lächelnd, indem sie aufstand und nach ihrem Nähtisch ging.

„Ich kann mir nicht helfen,“ rief diese. „Wie Blut sah es aus. Irgendwo mag noch eine rothe Wolke am Himmel gewesen sein – der Wiederschein! Damals dachte ich das schon. Was hat man nun an einer solchem Erinnerung? Noch heute empfinde ich ein Grauen, sobald ich mich da wieder hineindenke.“

„Ein Gewitter –“ meinte Förster.

„O für den See,“ unterbrach ihn Else, „ist Gewitter eine beinahe gleichgültige Zugabe. Herzbeklemmend bliebe er immer: und wenn man seine Felsen über und über mit Alpenrosen bestecken könnte, sie starrten doch wie das Unglück selbst drein. – Ich liebe nun einmal dergleichen Eindrücke nicht und suche sie noch viel weniger: überall Licht, Lachen und Freude! Nach unserm gestrigen Gespräch glaube ich übrigens, wäre das auch Ihr Geschmack – nicht wahr?“

„Für mein Haus, meine nächste Umgebung vermöchte ich mir nichts Reizenderes zu denken,“ erwiderte Förster warm. „Wie sich im Leben aber nicht Alles fortscherzen läßt, ja unser Herz, wenn auch vielleicht kaum bewußt, nach langer Helle wieder seine Schmerzen ersehnt, so möchte ich solche ernste Bilder nicht unter meinen Erinnerungen missen. Laube sagt einmal vom Drama: es solle nicht blos unterhalten, sondern auch schrecken und erschüttern, [656] weil Schreck vor dem Gewaltigen die gesunden Nerven der Seele kräftige und jene tiefsten Regungen belebe, die unter den Alltagseindrücken im Schlummer bleiben und so allmählich verkümmern. Was da vom Drama gefordert wird, legt uns das Leben ganz ungefordert auf, ob mir uns nun davor wehren oder nicht: und da dürfte es schon für das Ertragen gar nöthig sein, daß man auch von jenem Anderen, nicht blos vom Lachen weiß. Aber welcher Mensch wüßte nur davon, kaum ein Kind! Sie haben mit Absicht übertrieben, um Ihre Schauer vor dem See –“

„Sie irren durchaus!“ fiel Else ein. „Vor der Hand mindestens habe ich keine Spur von Sinn für die Leiden der Welt. Ich habe in Königsberg genug gelitten, nicht wahr, Dorette?“ Sie sah sich um – ihre Schwester war verschwunden. Sofort in tiefer Befangenheit aufstehend, rief sie nach der Thür des Nebenzimmers: „Doris!“

Förster trat rasch auf sie zu und bat, seine Hand aus die ihrige legend:

„Lassen Sie Ihre Schwester! Ich glaube Ihnen ja. Ob es überhaupt Etwas gäbe, was ich Ihnen nicht glauben würde, Fräulein Else? Wo mein Verstand selbst nicht mitwollte, dürfte das Herz sehr tyrannisch werden können. O, Sie ahnen nun schon, weshalb ich heute gekommen bin? Ich fühle es an dem Beben Ihrer Hand – und darf ich wirklich hoffen? Else! sprechen Sie ein Wort!“

Sie wandte den Kopf noch weiter ab: jetzt mußte gesagt werden, was so kalt war. Wohl bloßer Egoismus, wie es auch Doris genannt? Doch nein! Wollte sie bleiben, was er gestern als sein Höchstes hingestellt halle, die Frohnatur, die an Allem, was ihn betraf, lebendig Theil nahm, ihm das Schwere erleichterte, das Schöne doppelt schön machte, so durfte sie nicht fortdauernd das Häßliche vor Augen haben – sein Kind. Und hatte sie nicht auch eben gehört, wie er ihr Alles glauben müßte? So trat sie einen Schritt zurück und sagte mit zitternder Stimme:

„Ihren Wunsch muß ich ahnen, weil Doris davon zu mir gesprochen hat, und – –“.

„Und –?“ .

„Sie hielt das für nothwendig, da ich gestern – behauptet hatte –“.

„Was? – Was?“

„Ich könnte mit Rudi – niemals zusammenleben.“

Sie hatte die letzte Worte heftig herausgestoßen, und stand nun da – bleich und leblos wie eine Statue.

Ueber Förster’s Gesicht zuckte etwas hin: war es bloßes Weh oder ein Auflachen des Hohns? Dabei faßte er nach dem Tische und stützte sich auf denselben. Kein Laut unterbrach die Stille – für einen Moment lebte Nichts in dem Zimmer als die Blicke der Beiden, und die sprachen schon kaum noch von Liebe, nur von Trotz und Stolz. Else wuchs gleichsam unter diesen Blicken; Förster stützte sich nicht mehr und fragte nun sogar mit einer Art von Verbindlichkeit:

„Was Sie gestern behauptet haben, gilt natürlich auch heute noch?“

„Ja!“

„Und was verstehen Sie unter diesem Zusammenleben? Schon die bloße Anwesenheit des Kindes im Vaterhause? Vergeben Sie, wenn ich so ausführlich bin; das Gespräch scheint Sie zu quälen –“

„Ich fühle mich nur müde; gestatten Sie, daß ich mich setze!“

Sie nahm auf dem nächste Stuhl Platz.

„Nur müde!“ sagte Förster langsam. Dann fuhr er, starr auf Else blickend, fort: „Es ist wohl die Pflicht des älteren Mannes, keine Unklarheit bestehen zu lassen, wenn er so weit gegangen ist, wie ich. Sie haben mir noch nicht geantwortet.“

Else sah zu ihm empor.

„Ob die bloße Anwesenheit des armen –“

„Bei meinem besten Willen,“ unterbrach sie hastig. „ich vermöchte es nicht, dieses immerwährende Leiden mit anzusehen. Ich würde selbst krank dabei; nichts von dem, was Ihnen an mir Freude machte, wie Sie gestern sagten – nichts könnte ja bleiben. Wie sollte ich in einem Hause lachen können, wo mich immerfort Etwas marterte?“

„Die Gewohnheit, das Muß ist eine grausame Lehrerin –“

„Nicht für mich!“ rief Else. „Ich bin nicht zur Geduld geschaffen; ein Krankenzimmer macht mich schon leiden, und ich will nicht leiden. Jeden Augenblick brauche ich meine liebe Sonne: nur in ihr bin ich, wozu ich glaube bestimmt zu sein. O , und es darf Frauen geben, die ihren Platz neben dem Manne suchen, mit ihm streben und vorwärts gehen, die nicht blos ihren kleinen Lebensberuf darin finden, für sein Haus zu sorgen. Dazu sind seine Dienstboten.“

„Im Krankenzimmer – Dienstboten? Muß ich Sie an all die edlen Fürstinnen erinnern, die für ihr Liebstes –“

„Für ihr Liebstes!“ fiel sie wie bestätigend ein.

„Sie haben ganz Recht,“ entgegnete er mit halber Verbeugung. „Das heißt darin Recht, einen unbegründeten Anspruch zurückzuweisen: nur mir ist das Kind etwas Liebstes.“

„Ich glaube,“ flammte Else auf, „Sie können einfach sagen, überhaupt Ihr Lieb–“ sie stockte und sah, glühend roth geworden, zu Boden.

„Else!“ rief Förster in erschütterndem Tone. „Um Gotteswillen , Fräulein. Else ! Ich darf nichts von dem vergessen, was ich eben gehört habe: und das ist Schweres, läßt sich nicht beschwören wie irgend ein Vorurtheil, weil es mit uns verwachsen ist – tief, allzu tief!“ Er strich sich über die Stirn; dann fuhr er wie in Selbstironie fort: „Früher gab man uns körperliche Thaten zu Ehren der Geliebten auf; heute werden seelische gefordert. Ob sie leichter zu vollbringen sind? Nun! Der Augenblick wenigstens soll über nichts entscheiden – dazu stehen wir wohl zu hoch: und vielleicht fänden Sie auch – nach einem Tage der Sammlung, meine ich – daß Sie zu Schweres gefordert?“

Sie blieb regungslos. So sagte er denn nur leise, indem er sie noch einmal schmerzlich ansah:

„Leben Sie wohl!“

Die Thür war bereits hinter ihm zugegangen, als Else mit einem krampfhaften Aufschluchzen ihren Kopf in den Händen verbarg.

[673]
3.

Wie die Trakehner jagten und der leichte Schlitten flog! Schneegeflock darüber und ringsum und hinterher; dann und wann auch ein lustiger Peitschenknall von der Pritsche nieder, wenn Ludwig dachte, die Braunen könnten scheuen oder gar ausbiegen wollen. Förster selbst fuhr: er starrte nur vor sich hin und hielt die Zügel mechanisch fest.

Mit welchem Träumen im Herzen er hier noch vor einer Stunde gefahren war, nur auf Weichstes, Bestes sinnend für Else und Rudi, für sich wie – die Mutter! Wie würde es die kränken, die immer so für Else gesprochen hatte! Wie schön diese aber gewesen! Bestrickend schön! Und als sie sich verrathen! Wenn ihr ganzes Widerstreben nichts wäre, als das eifersüchtige Gefühl, Niemand neben sich dulden zu können, auch das Kind nicht?

Er lachte auf und sah um sich. Da stand die vom Blitz getroffene Pappel. Mit dieser hatte sich Rudi, als sie kürzlich hier spazieren gefahren, auf’s kindlich Lebhafteste beschäftigt: das fiel dem Vater natürlich ein, und seine Gedanken erhielten damit eine andere Richtung. Nicht mehr dem, was gewesen – allein der Zukunft wandten sie sich zu. Und da löste sich nach und nach aus einem Gewoge von Gefühlen, ja Qualen, etwas unerbittlich los, vor dem jedes selbstsüchtige Hoffen schwinden mußte – die Nothwendigkeit, sein Glück der Pflicht zum Opfer zu bringen. Der Vater gehörte zuerst dem Kinde, gerade diesem Kinde, das so ganz auf seine Liebe angewiesen, dessen Leben sich überhaupt nur im Bereiche des Vaterhauses leidlich gestalten ließ. Welche Herbigkeit, welche Härte des Charakters also, etwas an sich schon so Unglückseliges von da, wo sich sein kümmerliches Dasein noch am leichteste trug, vertrieben wissen zu wollen! Und weshalb vertrieben? Weil der Anblick von Leide die gute Laune trüben konnte! – Zwar meinte sie, dabei nur an ihn zu denken. Wie lebensgern hätte er aber auf alle Laune und Geist verzichtet, hätte sie nur nach der einfachen Stellung in seinem Hause getrachtet, die sie so verachtungsvoll einem Dienstboten zugewiesen! Konnte er ihr wirklich etwas sein, von Herzen sein? Ihr offenbares Kämpfen mit sich, selbst ihr jähes Erröthen, als ihre Eifersucht hervorgebrochen – schienen sie nicht auch nur Beweise dafür zu sein? War sie nicht eine durch und durch egoistische Natur? Es war also zu seinem Glücke, daß sie sich in ihrer Herzensarmuth schon jetzt gezeigt, wo er noch zurücktreten konnte. Und das hätte er gleich thun müssen. Warum noch der Aufschub? Würde sie bei ihrem Fordern bleiben, dann gäbe es keine Lösung. Was sollte sie aber davon abbringen? Daß sie nun vielleicht ahnte, welch eine Entsagung sie ihm auferlegen wolle? Dieses kalte, eigenwillige Naturell verhärtete sich wohl eher und erstickte noch das Wenige von Interesse, das er ihr eingeflößt hatte.

Er hob den Kopf, als ob er Luft entbehre. Ein paar tiefe Athemzüge brachten ihn dann auch völlig zu sich, und als er bald darauf die erleuchteten Fenster seines Hauses sah, überkam ihn sogar das warme, sichere Gefühl, wie Großes ihm noch geblieben sei. Die Mutter – seine Kinder! Und Else hatte recht gesehen: ob er Hans auch väterlich liebte, dem armen Rudi gehörte ein Stück seines Herzens.

Als der Schlitten hielt, warf Förster dem Kutscher die Zügel zu, besichtigte aber nicht die Pferde, wie gewöhnlich nach einer Ausfahrt, sondern eilte gleich die Freitreppe empor. An der geöffneten Hausthür stand, wie immer, wenn der Vater zurückkam, Rudi und stapfte ihm nun in seiner unbeholfenen Weise entgegen. Mit einem Schmerzenslaut nahm Förster das Kind in die Arme und drückte es so heftig an sich, daß es seine Krücke fallen ließ, die polternd auf den Fliesen ausschlug. Hans, der eben kam, sah den Vater erschrocken an; dieser achtete jedoch auf nichts und preßte Rudi nur immer wieder an sich. Mit ganz großen Augen, die sich nach und nach mit Thränen füllten – ob vor Schmerz über die stürmische Zärtlichkeit, oder schon in dem Ahnen, daß seinem „Vaterchen“ etwas fehlen müsse, – sah das Kind unverwandt auf den erregten Heimgekehrten.

Im Hausflur trat ihnen Frau Förster entgegen und suchte gespannt die Blicke ihres Sohnes; als dieser nur flüchtig winkte und mit Rudi nach seinem Zimmer, nicht dem Wohnzimmer ging, wußte sie, daß etwas Anderes gekommen wäre, als sie gedacht hatten. Nur nicht abgewiesen! Ihr Bernhard abgewiesen! Es war ja undenkbar: was konnte aber sonst dazwischen getreten sein?

Doch kein Grübeln half. So öffnete sie nach einer Weile die Thür zu ihres Sohnes Zimmer und fragte hinein:

„Bist Du noch nicht umgezogen? Ich ängstige mich.“

„Komme nur!“ antwortete dieser.

Während sie hereintrat, ließ er Rudi mit einem letzten Kuß von den Knieen nieder und brachte ihn bis auf den Flur, wo er von Frau Hannisch in Empfang genommen wurde.

Die Mutter hatte sich wie erschöpft auf dem Sopha niedergelassen; Förster setzte sich zu ihr und sagte, indem er ihre Hände in die seinigen nahm:

[674] „Du brauchst Dich nicht zu ängstigen. Ich hoffe bereits überwunden zu haben.“

„Sie konnte Dich wirklich –“

„Nicht mir gerade,“ siel er ein, „galt die Absage – unserm Kleinen.“

„Das verstehe ich nicht,“ versetzte Frau Förster, rathlos zum Sohne aufblickend.

„Ist im Grunde auch nicht so einfach!“ erwiderte derselbe bitter. „Besonders von einem Weibe nicht! Sie glaubt, Rudi nicht ertragen zu können.“

„Bernhard!“

Dieser war bei seinen letzten Worten aufgestanden und ging nun im Zimmer auf und nieder:

„Ja, ja! Das habe ich hören müssen: Dieses Kind nicht zu ertragen! Und wüßte sie, welche Fülle von Liebe trotz all seiner Leiden gerade in dem kleinen Herzen Raum hat! Nicht wahr? – Aber es ist wohl besser, gar nicht mehr darüber zu sprechen; die Thatsache ändert sich doch nicht.“

„Noch weiß ich ja von gar nichts,“ klagte die Mutter.

„Verzeihe!“ rief Förster, vor ihr stehen bleibend. „Mit ihren eigenen Worten denn: sie vermöchte nie mit Rudi zusammen zu leben. Denke es nur: ich müßte das Kind aus dem Hause stoßen, Margarethe’s Kind. Nein! Wir bleiben zusammen. Wer weiß, ob sie sich überhaupt in unseren einfachen Verhältnissen je glücklich gefühlt hätte; ihr Kopf ist von allen möglichen Ideen erfüllt.“

Frau Förster hatte die Hände im Schooße gefaltet und sagte nur, vor sich hinnickend:

„Es war mir schon gestern so, als hätte sie kein Herz für Rudi.“

„Und er nicht für sie. Ich konnte ihn gar nicht in’s Zimmer bekommen.“

Die Mutter sah den Sohn an, schien dabei aber auch irgend einen Gedanken zu verfolgen. Er strich ihr über den weißen Scheitel und sagte mit herzlichem Vorwurf:

„Sieh mich doch nicht so erbarmungsvoll an! Zu helfen ist nichts; da heißt es darüber eben fortzukommen: das wird Einem aber viel leichter, wenn man die gewohnte resolute Mutti vor sich sieht. Habe heute mit lauter verkehrter Welt zu thun! Statt daß ich gleich beide Hände bereit fände, wie Du so bestimmt wußtest, gab es eine Bedingung, ja statt wenigstens von Bedenkzeit gesprochen zu bekommen, mußte ich davon sprechen, und nun –“

„O, dann ist es also noch nicht ganz zu Ende?“ rief Frau Förster mit einem Ausdruck der Freude, welcher etwas Rührendes hatte.

Der Sohn vermochte sich dieser Empfindung am wenigsten zu entziehen und sagte in demselben weichen Tone wie bisher:

„Bedenkzeit hatte ich freilich genommen: es kam Alles so unerwartet, und lieb, sehr lieb war sie mir einmal. Ob es auch wohl bloße Schwäche gewesen – ich konnte ihr trotz der Grausamkeit nicht hart, oder wenn Du willst, nur gerecht begegnen. Nun liegt Alles hinter mir – ich werde gleich schreiben.“

Die Mutter erhob sich hastig und bat, seine Hände ergreifend:

„Nein, Bernhard, das thust Du mir nicht an! Ich weiß am besten, was Dir geschehen: Else ist aber jung, und Jugend ist selbstsüchtig. Wenn Tage darüber vergehen, so kommt sie wohl zur Erkenntniß.“

Er schüttelte den Kopf.

Die Mutter ließ jedoch nicht davon ab:

„Glaube mir, wenn wir Frauen erst wissen, daß uns Einer so recht lieb hat, da ändert sich gar Manches in uns. Du hast es ihr doch offen gezeigt? Bist nicht zu scheu gewesen? Du sprichst eben nicht gern von –“

„Ich habe Alles gesagt, was nöthig war.“

„Nur was nöthig war?“ wiederholte sie vorwurfsvoll.

„Sollte ich betteln? Sollte sie mich noch verachten lernen?“

„Nicht doch, mein Sohn, wie könnte ich das fordern! Eins mußt Du mir aber versprechen, nur das Eine: nicht heute zu schreiben, auch nicht morgen – wir wollen damit bis nach meinem Geburtstag warten. Du brauchst mir dann auch nichts weiter zu schenken.“

Er konnte nicht mitlächeln.

„Das wären noch über vierzehn Tage.“

„Eine anständige Bedenkzeit, wie sie hier in meiner Jugend allgemein im Gebrauch war, darf nicht viel kürzer sein. Auch Deine Mutti hat sich fast so lange bedacht, obgleich sie mit Freuden sofort ‚Ja‘ gesagt hätte. Du sagst nun auch ‚Ja‘?“

Förster kämpfte mit sich; endlich erwiderte er, die Stirn runzelnd:

„Wir thun etwas Falsches.“

„Ich übernehme alle Verantwortung,“ beschwichtigte die Mutter. „Durchaus möchte ich Else nicht blos vertheidigen, die Wahrheitsliebe und Offenheit des Charakters aber, die sie heute gezeigt hat, nimmt mich, je mehr ich darüber nachdenke, nur mehr für sie ein. Und nach der Art, in welcher sie sich an den beiden Tagen, wo ich sie längere Zeit gesehen habe, gab – danach möchte ich an ein wirkliches Nichtkönnen glauben. Auch daß ihr Reichthum gleichgültig ist, gefällt mir. Sie hat nur eine sehr bescheidene Rente; hundert andere Mädchen in ihren Verhältnissen würden viel schlimmere Dinge als Rudi in den Kauf nehmen, um sich in’s Burgsdorfer Schloß zu setzen. Das müssen wir mindestens ehren, und also verdiente sie’s schon, um Bedenkzeit angegangen zu werden. Einen Tag aber nennt man keine Bedenkzeit – darum! Ist es nicht recht häßlich von Dir, die alte Mutti so bitten zu lassen? Du hast Niemand etwas vorzuwerfen – auch das ist verkehrte Welt.“ Sie wandte sich schmollend ab, und ihre schwere Seidenrobe rauschte und wogte gleichsam mitentrüstet hinter ihr her.

Alles, was sie eben betont hatte, war Förster so noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen, und doch mußte er der Mutter im Grunde Recht geben, es sogar in einer Art von Freude thun, welche ihm das Blut in’s Gesicht trieb. Oder war das Scham über seine Schwäche? Trotzdem ging er ihr nach und gab das Versprechen, jede Antwort bis nach ihrem Geburtstag hinauszuschieben. – – –

Wenn Frau Förster wirklich gehofft hatte, daß bei so langer Frist von Barten her irgend eine Annäherung ausgehen würde, so hatte sie den Eigenwillen Else’s unterschätzt. Alles blieb stumm; nicht einmal zufällig, wie sonst in der Regel, waren sich die beiden Männer begegnet. Darüber schien das Mutterherz endlich zu zürnen; gelegentliche Bemerkungen über Else wurden schärfer, und Förster nahm im Stillen an, daß die Mutter es wohl schon bedauerte, seinem anfänglichen Entschluß entgegen gewesen zu sein. Aber das schien nur so, lag nur wie ein verhüllender Reif über dem, was nach und nach in Frau Förster keimte. Zu solchem Ausbruch von Unzufriedenheit kam es eben blos, wenn ihr bei irgend einer Gelegenheit das Aussehen ihres Sohnes, sein offenbares Leiden Sorgen wachrief, welche dieser Zustand der Ungewißheit doch allein verschuldete.

So waren die beiden Wochen fast vergangen. Die Mutter hatte gerade in den letzten Tagen dem Sohn gegenüber mit keiner Silbe mehr das Kommende erwähnt, wurde von ihm aber in steten Unterredungen mit Rudi’s Kinderfrau betroffen. Das fiel ihm allerdings auf; da sich Frau Hannisch jedoch zu einer halben Freundin des Hauses herangedient hatte, so nahm er einfach an, daß sich seine Mutter, um ihn nicht noch mehr zu erregen, zu dieser aussprach. Das war auch der Fall; Frau Förster war eine zu resolute Natur, um blos unthätig klagen zu mögen und die Hülfe vom lieben Gott ohne eigenes Zuthun zu erwarten.

Heute hatte sie, wie stets vor ihrem Geburtstage, Einkäufe in Königsberg gemacht, und diesmal auch Rudi nebst Frau Hannisch mitgenommen; theils, wie sie gestern zum Sohne gemeint, um dem Kinde eine Freude zu machen, theils um es gleich wieder dem Doctor vorzustellen, der ja längere Zeit nicht zu ihnen herausgekommen wäre.

Eben führ der Schlitten in den Hof; Förster half seinen Lieben selbst aus den Fußsäcken und Pelzen heraus und schritt nun mit Rudi auf einem Arme, der Mutter am anderen, zum ersten Male seit der ganzen bösen Zeit wieder lachend dem Wohnzimmer zu. Rudi plauderte ununterbrochen, hatte Hans wie Väterchen immer noch Neues zu erzählen und mußte schließlich beinahe mit Gewalt zur Ruhe gebracht werden.

Als die Kinder gegangen, rückte sich Frau Förster einen Stuhl dicht an den ihres Sohnes und sagte ohne weitere Vorrede: „Ich habe mir in Königsberg eine Wohnung gemiethet.“

Erstaunt drehte sich der Sohn um, sie fuhr aber, scheinbar ohne ihn zu beachten, fort:

„Eine recht hübsche Wohnung in der Münzstraße; zwei Treppen, drei Zimmer nach der Fronte, zwei nach hinten. Und wir können schon am ersten März einziehen.“

[675] „Wir? Jetzt wolltest Du nach der Stadt? Ich bin freilich – – Aber habe ein wenig Geduld, es soll nun wieder besser werden.“

„Das hoffe ich – viel besser! Unter dem ‚wir‘ verstand ich übrigens nur mich, die Hannisch und Rudi.“

Förster sah sie mit weit offenen Augen all. Sie begann unbeirrt von Neuem:

„Entschuldige, daß ich so auf eigene Faust gehandelt, doch Dr. Harder ist auch sehr dafür, das Kind eine Weile beobachten zu können. Die Hüfte ist wieder geschwollen – es muß endlich etwas Ernstliches geschehen.“

„Mutter!“

Ein Zittern war in seiner Stimme, sprechender als die beredtesten Worte. Sie nahm seine Hand und sagte blos, indem sie dieselbe streichelte :

„Das ist also abgemacht.“

„Nein!“ rief Förster aufspringend. „Ist Rudi hier auch nicht unter den Augen eines Arztes, so sind wir doch um ihn, und Dr. Harder versicherte mir selbst, das Kind könnte sich in keiner besseren Pflege befinden. Ich danke Dir ja zu tausend Malen: Deine große Güte! Glaube nicht, daß ich nicht Alles begriffe, nicht glücklich bin, solch eine Mutter mein zu nennen!“ Er beugte sich über ihre Hände. „Das Opfer aber nehme ich nicht an, weil sie dessen nicht würdig –“

„Bernhard,“ flehte sie, „mein Sohn, nie mehr ein solches Wort! Du dachtest nur an mich – deshalb überlegtest Du nicht. Jedes Opfers ist Else würdig; denn sie hat Charakter. Und heute, wo nirgends von einem Festhalten an seiner Ueberzeugung die Rede ist, wo sich die Liebe verkauft wie alle andere Waare, da ist jeder Charakter doppelter Ehre werth. Ich muß Else achten, darum gönne ich ihr meinen Bernhard, und Dein Gemüth, Dein liebes Gemüth wird ihr mit der Zeit geben, was ihr noch fehlt. Auch um das Opfer, das ich etwa bringe, sorge nicht! Man gewöhnt sich an Vieles, und außerdem, wenn eine Mutter etwas für ihr Kind thun kann – das verstehst Du trotz Deiner Vaterschaft nicht – so bedeutet selbst das Schwerste gar nichts für sie. In die Stadt zu ziehen und dabei Rudi um sich zu haben, ist aber noch lange, lange nicht das Schwerste.“

„Was willst Du aus mir machen?“

„Etwas sehr Schönes, woran Gott und die Menschen Freude haben – einen so recht glücklichen Ehemann. Und sieh, wäre die alte Mutti nicht immer zur Hinterthür hinausgegangen, wenn vorn das junge Frauchen einzog? Sogar früher, damit die Junge hier Alles auch jung und hübsch fände. Muß ich Dir darum nicht eigentlich danken, wenn Du Dich von etwas so Liebem trennst, um es mir zur Gesellschaft mitzugeben? Fass’ es doch so! Es kommt gar viel darauf an, wie man sich etwas zurecht legt Ein Dutzend Jährchen, denke ich, stehen Einem wohl noch zu. Und wenn mir nicht, so doch wohl der Hannisch – dann ist Rudi erwachsen. Wollte mich aber Schwester Anna bei sich haben – das Kleeblatt ist unzertrennlich.“

Er sah der Mutter tief in die Augen – da zog es ihn mit Allgewalt vor ihr nieder. Und sie legte die Hand wie segnend auf sein Haupt, und ihre Lippen bewegten sich leise – im Gebete.



4.

Auch über Barten hatte in all der Zeit Schwüle gelegen. Zwar sprach Hemmingen über das Vergangene nicht; gerade sein Schweigen aber und ein leicht hervorbrechender Ton von Gereiztheit bei an sich geringfügigen Veranlassungen bewiesen seiner Gattin, wie wenig er mit dieser Wendung der Dinge einverstanden sei. Die Schwester hatte Else gegenüber kein Geheimniß daraus gemacht; auch fühlte diese bald selbst, welche andere Aufnahme jetzt ihr scheinbar sich immer gleich gebliebener Uebermuth fand. Früher stimmten Schwager wie Schwester in Alles gern ein, erhöhten eher noch durch lauten Beifall die Temperatur der Unterhaltung; nun schien der Ernst besonders von Hemmingen’s Gesicht nicht fortzuscherzen. So hatte auch sie nach einigen Tagen vergeblichen Bemühens, die gewohnte Art und Weise festzuhalten, ihrem Wesen Zwang aufgelegt, wodurch vor Allem die Abende in Barten kaum mehr den Abglanz ihres bisherigen Reizes boten. Man war plötzlich daran gewöhnt, sich früh zu trennen, las auch selten noch zusammen oder hörte wenigstens bald wieder auf; kurz, es existirte eigentlich nichts mehr von dem sonstigen harmlosen und doch immer von Neuem anregenden Verkehr.

Else litt am meisten darunter: von den Gatten hatte jeder seine Geschäfte und müßigte sich eben nicht wie früher ganze Stunden der Erholung ab. Dennoch war Else gerecht genug, Niemand als sich die Schuld beizumessen – wenn es Schuld heißen konnte, seiner innersten Ueberzeugung zu folgen. Sie vermochte es einmal nicht, das Ganze anders anzusehen, hatte noch immer denselben Widerwillen davor, jene schwere Pflicht auf sich zu nehmen – so trug sie lieber, was daraus auch entstehen sollte, und wäre das, wenn ihr Hemmingen nicht vergeben konnte, selbst ein Verlassen ihres Asyls. Viel eher in die Fremde, als an eine Stelle, welcher sie sich nicht gewachsen wußte!

Der Kampf wurde ihr nicht leicht. Ihr Zimmer sah manches ruhelose Auf- und Niedergehen bis in die Nacht hinein, ein gleichsam ewiges Erwarten und ein Stillwerden, erst wenn der Tag zur Rüste ging.

Einer Jagd wegen war eines Tages wieder später gegessen worden; man saß noch mit mehreren benachbarten Gutsbesitzern beim Nachtisch, als Else bemerkte, daß Hemmingen etwas gemeldet wurde. Mit einem, wie es ihr schien, freudigen Blick nach ihr hinüber stand er auf und eilte hinaus. Sie hörte nun doch nicht, welche besondere Fährlichkeit ihr Nachbar als Johanniter in Frankreich bestanden hatte, obgleich sie gefällig lächelte – ihre Blicke blieben unverwandt auf die offene Thür gerichtet. Das Pochen des Herzens schien ja zu wissen, es wäre eine Botschaft von Förster oder er selber.

Und da winkte Hemmingen aus dem Nebenzimmer. Sie vermochte vor Erregung kaum ihm zuzunicken – hörte aber noch die Geschichte des Nachbars zu Ende: fassen mußte sie sich erst, bevor sich ihr Schicksal entschied – so oder so.

Nach ein paar Minuten verließ sie den Tisch und ging in ihr Zimmer; da stand sie dann mitten in dem Raum, die Hand an die Brust gedeckt, und erwartete, daß es an der Thür klopfe. Schon? Nein! Doch jetzt – ruhig und fest!

Ebenso ruhig klang ihr „Herein“.

Mit dem ersten Blick auf Förster erkannte sie, daß Veränderungen an demselben vorgegangen waren. Die Augen schienen wie umrändert; ein unruhiges Feuer lohte darin; um die Lippen hatten sich Züge voll Schärfe eingestanden. Dennoch kam er ihr schöner vor – noch männlicher als sonst.

In seiner angenehmen Würde trat er auf sie zu und sagte mit nur leichtem Vibriren der Stimme:

„Hoffentlich zeihen Sie mich ein wenig der Ungalanterie, die mir gewährte Bedenkzeit so hinausgedehnt zu haben?“

Else hatte Alles eher, als solchen halben Scherz erwartet; so fand sie augenblicklich kein passendes Wort der Erwiderung und schlug verwirrt die Augen nieder. Diese bei ihr seltene Hülflosigkeit machte auf Förster den Eindruck, als fühle sie sich gekränkt. Er fügte darum rasch hinzu:

„Sie mißverstehen mich nicht? Was Sie mir aufgegeben hatten, forderte die ganze Kraft des Mannes heraus – und allein wäre die Probe auch kaum bestanden worden, wenigstens von mir nicht“

Sie sah zu ihm auf. Er nickte leicht und fuhr fort: „Ich habe eine Mutter.“

Nochmals hielt er inne, während er vor sich hin, doch gleichsam in die Weite blickte.

„Hätten Sie die Liebe solcher Mutter gekannt, Sie hätten es mir wohl nie so schwer gemacht, an Ihre Neigung zu glauben. Ich wage nicht von Liebe – – Fräulein Else! Sie werden heute schon vergeben müssen, wenn Liebe mit Schmerz wechseln; noch vermag ich beide kaum zu trennen. Doch nein! Nun ich Sie wieder vor mir sehe, deren Anblick ich entbehrt, entbehrt wie noch nie etwas auf Erden, nun glaube ich dennoch, wenn Sie mir ein wenig Zeit ließen, dürfen Sie wahrlich nicht fürchten, je das Geringste zu vermissen – denn ich muß Sie ja lieben, und was hätte vor der Liebe Bestand? Die Mutter nimmt Rudi zu sich – so ist mein Haus gerüstet, Sie zu empfangen. Else, habe ich genug gethan? Darf ich nun sagen – meine Else?“

Sie überließ ihm ihre Hände; er zog sie leidenschaftlich an die Brust, und ihr seit Wochen gequältes Herz entlud sich in einem Thränenstrom. Glückselig sah er auf sie nieder, küßte ihr immer voll Neuem die Stirn, das Haar: bald auch ein Stammeln von [676] Liebeslauten – ganz Hingebung, kein Hauch der Reue mehr, nur voller, süßester Besitz.

Else löste sich endlich aus der Umarmung und sagte mit glücklichem Lächeln:

„Sie böser Mann!“

„Noch immer ‚Sie‘? Habe ich mir denn die reine Walküre erkoren?“ rief er mit komischem Pathos. „Am Ende ist auf das liebe, ehrliche, holde ,Du’ auch noch eine Bedingung gesetzt? Sprich, sprich! Ich bin auf Alles gefaßt. Wenn der Mann einmal angefangen hat sich zu ergeben findet er so leicht keine Grenze darin.“

„Und Sie glauben – Du könntest glauben,“ verbesserte sich Else leise, „daß ich nach solchem grenzenlosen Manne Verlangen trüge? O nein! Nur das, wovon ich tief innen fühlte, daß es mir nicht gegeben – das mußte ich Dir doch vorher eingestehen. Du hättest ja eine ganz Andere in Dein Haus geführt, als die Du erwähltest. Täuschen kann ich nicht, aber fügen, nun mich in Alles fügen, was Du über uns bestimmst, das kann ich, weil – weil ich Dich grenzenlos liebe, und Dir heute und immer nur vergelten will, was Du mir zum Opfer gebracht hast.“

Eine Wahrhaftigkeit, eine Hoheit war in ihrer Haltung, daß Förster nur ihre Hände an die Lippen führen und ihr mit stummem Blick danken konnte. Der Blick legte ihr freilich sein Herz zu Füßen.


5.

Die nächsten Wochen brachten für die jungen Brautleute nichts als jenes Glück, das schier so alt wie die Menschheit ist - mindestens die deutsche Menschheit. Förster fuhr beinahe an jedem Nachmittage nach Barten hinüber, und Else überschüttete ihn mit Allem, was ihr von Laune und Zärtlichkeit und sinnigen Capricen zu eigen war. Sie blühte in dieser neuen, nun jedes Zwanges freien Atmosphäre, gleich einer Blume über Nacht – auf einmal auf; ihr Wesen schien oft wie verkörperter Duft: dann schwer, dann nur von Hauches Stärke, jetzt war sie ganz Seele, gleich darauf trotzte sie auf ihr Recht, ihren Willen. Förster nahm Alles mit Entzücken hin und hatte selbst fern von ihr kaum einen andern Gedanken als sie, kaum einen anderen Wunsch, als daß die Stunden beflügelt würden, die ihn täglich von ihr trennten.

Auch seine Mutter theilte voll, natürlich in weniger erregter Weise, sein Glück und fand nun das tiefste Genügen darin die Liebe des Sohnes so richtig beurtheilt zu haben. Bei ihrer Herzensgüte quälte sie momentan eigentlich nur die eine Sorge, wie sie ihn am leichtesten über die Trennung hinwegzuführen vermöchte: dieses Scheiden mit seinen unerbittlichen Consequenzen fürchtete sie seit Tagen.

Doch ob in Glück, ob in Sorge – die Stunden gehen und gehen; so wurde es denn auch im Burgsdorfer Schlosse einmal sehr früh lebendig; der erste März war da, und der mächtige Möbelwagen, der bereits am Abend vorher aus Königsberg angekommen, fuhr an der Freitreppe vor.

Förster erwachte dadurch aus einem Traume, der ihm Else am blauen Meere der Adria gezeigt hatte. Anfangs, da es im Zimmer noch dämmerig war, vermochte er sich durchaus nicht klar zu werden, was das viele Gehen bedeutete. Das Oeffnen von Thüren so früh am Morgen? Dann fiel es ihm plötzlich auf’s Herz: sie geht ja heute, die Mutter – Rudi.

Wie wenig er den Kleinen in letzter Zeit gesehen! Wenn er heimgekommen, hatte er allerdings schon geschlafen: doch den Vormittag über? War es wirklich möglich gewesen – hatte er des Kindes bereits vergessen können? jetzt schon? Und Rudi? Ob er das nicht empfunden?

Mit seltsam gemischten Gefühlen, ganz anderen als in den jüngsten Tagen, stand er rasch auf, zog sich ebenso hastig an und ging nach dem Wohnzimmer. Die Mutter empfing ihn mit ihrem wärmsten Blicke und machte ihm sogar scherzhafte Vorwürfe, warum er so früh aufgestanden wäre, da er ja nirgends helfen sollte. Er kam sich trotzdem wie ein Schuldiger vor; sonst hat er der Mutter schon bei der einfachsten Packerei für einen Bade-Aufenthalt oder irgend einen Besuch geholfen – gerade dabei waren sie stets so heiter gewesen, und diesmal, wo es eine Umwälzung des ganzen Hausstandes galt, hatte er sie völlig sich selbst überlassen?

„Wie schnell ist dieser Erste herangekommen!“ sagte er gleichsam zur Entschuldigung.

„Das findest Du!“ lachte die Mutter herzlich auf. „Wir Uebrigen unterschrieben es kaum. Das ist aber immer so; wirst es auch dereinst erleben, wenn der Hans den Kopf von gewissem Anderem voll haben wird; da sehen eben die Alten nach dem Rechten. Wozu wären die sonst noch da? Hier!“ sie stellte eine Tasse Kaffee vor ihn hin. „Werde Dir lange keine mehr einschenken.“

Ihre Stimme war auf einmal sehr weich geworden, bekam jedoch beim Fortfahren wieder ihren Polterton, den sie immer hatte, wenn Frau Förster gerührt war und es nicht zeigen wollte.

[693] „Da thue ich, als ging’ es nach Brasilien, und es sind nur drei Meilen,“ sagte Frau Förster, indem sie im Packen fortfuhr.

„Ja, solche Alten!“

Der Sohn, welcher ihre Hand noch festhielt, erwiderte:

„Und meinst Du, mir würde es leicht? Besinne ich mich bei all dem Glück einmal auf das, was gewesen, so werde ich die Empfindung eines – Unrechts nicht los.“

„Sprich mir so was nicht!“ fiel sie zärtlich ein. „Wenn Du dabei an mich denkst, so habe ich Dir schon neulich gesagt, daß davon keine Rede sein kann. Und selbst Rudi! Nun, da der Hans am Vormittag seine Stunden hat, überhaupt ganz beim Candidaten wohnen soll, bliebe das Kind sehr allein. Du hast keine Zeit für ihn; die junge Frau müßte sich doch auch erst einleben; er ist wirklich bei mir am besten untergebracht. Im Herbst fangen wir mit seinen Stunden an, für die Zukunft aber? Du weißt, auf fünfundzwanzig Jahre hinaus mag ich nicht sorgen. Und nun das Bräutigamsgesicht gemacht! Hier die Falten fort, wieder Dein altes Lachen! Gerade so will ich Dich in Erinnerung behalten. Ach, es sind aber und dürfen ja auch nur Gedanken sein, wie sie beim Abschied kommen und mit ihm gehen! Die Mutti hört dergleichen wohl und denkt sich das Ihrige – Jemand anders dürfte es nicht hören. Unrecht? wenn die Hochzeit schon bestimmt wird! Seid Ihr gestern denn einig geworden?“

„Ja!“ versetzte Förster lebhafter. „Diesmal ist mein Wille durchgedrungen: es wird nun doch Anfang April. Ende des Monats würde uns auch für Italien zu spät. Aber Hemmingens lassen es sich nicht nehmen, die Hochzeit auszurichten.“

„Im Ganzen ist das ja nur natürlich. Und da braucht hier mit Nichts geeilt zu werden. bis Juli läßt sich Alles bequem einrichten. O, dann ist keine Sorge. Die vier oder fünf Wochen hast Du nun aber zu thun. Wie gut also, daß ich fest war – schon jetzt zu gehen. Es kann wenigstens mit dem Tapeziren angefangen werden. Willst Du wirklich morgen schon sehen, wo wir geblieben sind?“

Er nickte. „Ich bespreche auch gleich alles Nöthige mit dem Baurath.“

„Ja, man wird Burgsdorf kaum wiedererkennen,“ sagte sie wie mit leisem Bedauern.

„Gefallen Dir meine Pläne nicht? Wünschest Du irgend Etwas anders?“

„Nichts, Bernhard,“ erwiderte sie rasch. „Es ist Alles ja so wohl überlegt und wird sich auch vortrefflich machen. Mein Seufzer galt nur dem Gewesenen: mit Deinem Vater, mit Dir! Ich war sehr glücklich in den alten Räumen. Doch wir vergehen ja – welches Recht also hätte unsere Umgebung, fortzubestehen?“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür; höchst aufgeregt, mit ganz rothen Bäckchen trat Rudi aus die Schwelle und rief mit von Thränen erstickter Stimme: „Jetzt haben sie mein Bettchen genommen.“

„Lieber Rudi!“ wehrte die Großmutter ab, indem sie erschrocken auf den Sohn sah.

Das Kind, welches den Ausdruck von Tadel in ihrer Betonung empfinden hatte, besann sich auch sofort, was es unterlassen, und sagte, indem es eilig aus den Vater zustapfte: „Guten Morgen, liebes Vaterchen!“

Dieser küßte es ungestüm. „Wo hast Du denn eigentlich immer gesteckt?“

Rudi sah die Großmutter an, dann den Vater – wischte sich dabei die Tropfen aus den Augen und erwiderte nun energisch: „Du hast ja wo anders gesteckt. Ich bin blos hier gewesen. Und wenn ich zu Dir kommen wollte, hat mich die Großmutter nicht gelassen. Du hast ja sehr viel zu arbeiten gehabt – ja! Das hat sie immer gesagt. Jetzt komm’ aber – sie haben es gewiß schon im Wagen.“

Frau Förster wollte mit ihm gehen; er ließ sich jedoch nicht beruhigen und rief schließlich in einer Erregtheit, der man es anhörte, daß die Thränen bereits wieder im Anzuge waren; „Ich will blos heute noch mit meinem lieben Vaterchen gehen.“

Sein Vaterchen mußte das rührend finden; denn er willfahrte ihm, und Beide zusammen gingen nun, um zu sehen, wo das Bettchen untergebracht war. Das stand zu Beider Zufriedenheit; Rudi wollte nun aber bei dem Aufladen bleiben, hatte bald in den Zimmern, bald am Wagen sehr Wichtiges zu zeigen, und Förster vermochte es nicht, sich heute von dem Kinde vergeblich um etwas bitten zu lasten. Sie gingen zuletzt auch durch die Ställe; der kleine Landwirth hatte alle möglichen Thiere in sein großes Herz geschlossen, und von allen mußte er Abschied nehmen. Daß sein Vaterchen in solchem wichtigen Augenblicke bei ihm war, schien ganz selbstverständlich.

So wurde es Elf; der Möbelwagen war bereits fort und der elegante Landauer angespannt. Die Aussicht, in seinem Lieblingswagen zu fahren und gar nach der Stadt, bewog dann Rudi freilich, sobald der Landauer heranrollte – jeden Trennungsschmerz vor der Hand unnöthig zu finden. Ganz in derselben [694] Weise, die Augen fortwährend auf die Pferde gerichtet, gab er Hans, wie Vaterchen, wie dem Wirthschaftsfräulein seine Küsse und bettelte nur, rasch in den Wagen gehoben zu werden. Unter fröhlichem Gejauchze des Kindes fuhren sie ab.

Förster sah dem Wagen nach, so lange er ihn sehen konnte. An der Ecke des Gartens wehte ein Taschentuch heraus, bald auch ein kleineres daneben – dann verschwand der Wagen.

In sein Zimmer zurückgekehrt, trieb es Förster noch einmal durch die eben verlassenen Räume. Ueberall stiegen Erinnerungen auf: an die Eltern, an Rudi – an seine verstorbene Frau. Zu dem Bilde der Todten, seiner auch einst geliebten Margarethe, wagte er kaum hinaufzusehen; doch sie hatte darauf ja immer gelächelt, mußte also auch heute lächeln, wo ihr Krüppelchen aus dem Vaterhause gestoßen worden. O, nicht gestoßen – nur das nicht!

Da trat das Wirthschaftsfräulein herein und überreichte ihm einen Brief.

Müde fragte er: „Woher?“

„Aus Barten!“ antwortete dieselbe und ging wieder.

Zitternd – warum, wußte er nicht – öffnete er das Couvert, doch nur Rosenblätter fielen ihm entgegen, und er las mit aufleuchtenden Augen die Worte: „Ich bin bei Dir.“



6.

Völlig nach Wunsch war der Frühling und ein Theil des Sommers vergangen. Einem glänzenden Polterabend, bei dem die ganze Nachbarschaft erschienen, war eine stillste Hochzeitsfeier mit einer Trauung in der alten Dorfkirche gefolgt, der sich dann nach schlechter, trotzdem aber von Else protegirter Sitte sofort die Hochzeitsreise angeschlossen. Ueber Prag und Wien eilten die Neuvermählte direct nach Italien. Schon von Venedig aber vermochten sie sich kaum zu trennen, noch weniger von Florenz und Rom; so blieben für Neapel nur wenige Tage, da bereits Anfang Juni eine wahrhafte Glühhitze die Reisenden über den Brenner zurücktrieb. Das Innthal mit einigen Seitenthälern und schließlich Partien im Salzkammergut erfrischten geradezu nach all der italienischen Anstrengung, und so langte das junge Paar, von dem Erlebten und Gesehenen tief befriedigt, in der ersten Hälfte des Juli in Burgsdorf an.

Die nächste Zeit verging im freudigen Einleben in die neuen Verhältnisse; später machte man auf Else’s Anregung viel Besuche in der Umgegend, empfing die Gegenbesuche und hielt außerdem den regsten Verkehr nach Barten aufrecht. Förster beschränkte Else’s Leben nach außen somit in keiner Weise, empfand bei diesem ungewohnten und für seinen Geschmack allzu bewegten Treiben jedoch eine gewisse Leere, die sich mehr und mehr steigerte. Seine hauptsächlichste Erholung wurden Fahrten nach Königsberg, welche er in der Regel bei Morgengrauen antrat, um der Mutter und Rudi so lange wie möglich gehören zu können.

Diese Ausflüge, die sich nach und nach alle vierzehn Tage wiederholten, fanden bei Else keine besondere Befürwortung; nachdem sie aber einmal umsonst gebeten hatte, solche Fahrt einer Partie wegen, die sie an dem Tage unternehmen wollte, aufzugeben, war sie klug und tactvoll genug, nie mehr ein Wort gegen dieselben zu äußern. Doch in ihrem Innern häufte sich allmählich eine Art von Groll auf, der sich über Alles erstreckte, was mit Königsberg zusammenhing; es verletzte sie geradezu, niemals zur Mitfahrt aufgefordert zu werden, obgleich sie bei anderer Stimmung dafür wieder dankbar war, da sie bei ihrer Heimkehr Rudi gegenüber noch die gleiche unangenehme Empfindung gehabt hatte, obwohl das Kind ihr viel weniger launenhaft erschienen war. Selbst einmal um Mitnahme zu bitten, hätte Else’s Stolz nicht zugelassen obgleich sie ahnen mußte, welche Freude sie damit bereitet hätte. Vielleicht wurde eine solche Bitte längst erwartet, und nur um dieses steten Umsonst willen ließen die Fahrten oft einen wenn auch vorübergehenden, so doch sehr nachdenklichen Ernst bei Förster zurück.

Weihnachten kam heran, mit ihm die Erfüllung eines süßen Hoffens; nun wurde der laute Verkehr von selbst eingeschränkt, und die Gatten gehörten sich beinahe allein. Förster hatte aus zärtlicher Sorge für Else die regelmäßigen Fahrten zu den Seinigen unterbrochen und schien nur täglich auf Neues zu sinnen, was er ihr zu Liebe oder zur Erleichterung thun könnte. Und so durfte er denn auch in der Mitte des Januar den Verwandtenkreis wie die teilnehmende Umgegend mit der „frohen Botschaft“ überraschen: ein neuer Sproß!

Der momentan jüngste Sproß des Hauses concentrirte, wie das ja so zu sein pflegt, bald alle Gedanken und Sorgen – man konnte hier dreist behaupten, des ganzen Rittergutes Burgsdorf – auf seine erlauchte Person. Die junge Mutter, kaum ein wenig erholt, nahm die Hauptpflege des kleinen Herrn in die Hand und war darum am Tauftage ihres Karl, wie er nach seinem Pathen Hemmingen genannt wurde, der Gegenstand eines wahrhaften Cultus.

Besonders schwer wurde Else dabei die Erfüllung ihrer Pflichten nicht gemacht: der kleine Karl war in dem weißen Mäntelchen und der weißen Mütze das lieblichste Kind auf Erden, sobald er nicht schrie. Große, braune, glänzende Augen. dunkle Seidenhaare, ein Mäulchen, klein wie ein Pfennig, das süß lachen und noch süßer krahlen konnte, Grübchen im Kinn, rosige Hände und stets zappelnde Beinchen – das war Role oder der Burrgmeister mit doppeltem, schnarrenden „r“, wie ihn der Pathe seiner behaglichen Fülle wegen zu nennen pflegte.

Else hatte die liebende Sorge ihres Gatten, dieses unablässige Wachen über sie mit heißer Befriedigung hingenommen: Das, wovon sie unharmonisch oder weh berührt worden, schien ihr nun ausgelöscht. Sie nahm sich auch vor, späterhin allen zu regen Verkehr nach außen hin einzustellen, um sich ihrem Gatten, dessen Mißbehagen daran sie wohl empfunden hatte, recht dankbar zu beweisen. An der Wiege ihres Kindes dämmerte nach und nach etwas heraus, das sich wie ein Begreifen dessen ausnahm, was – Pflicht heißt. Das hatte ihr aber bisher vollständig gefehlt, da sie bis heute stets nur aus Eigenwillen, nicht aus dem Gefühle des Rechtes zu handeln pflegte.

In jeder Lage hielten die guten Vorsätze übrigens noch nicht Stand. Als eines Tages, wo Förster wieder von des Morgens an in Königsberg bei Mutter und Kind war, Role plötzlich vom Keuchhusten befallen wurde, der bereits einmal so gefährlich aufgetreten, und sich der Schlüssel zur Hausapotheke nirgends finden ließ kämpfte sie einen harten Kampf. Sie tadelte den Gatten schwer; er gehörte jetzt einmal zu ihr, zu dem Kinde, nicht immer zu den Anderen: sterbe konnte ihr Kind daran.

Erst spät in der Nacht, wie gewöhnlich, kehrte Förster heim. Else hatte sich gleich von Barten das nöthige Medicament holen lassen, und der Kleine schlief nun unter den Augen der Mutter sanft und ruhig. Als sie den Wagen kommen hörte, trat sie in das Wohnzimmer. Gespannt sah ihr Förster in die Augen und fragte, ihre Hand ergreifend:

„Es ist doch Nichts vorgefallen?“

Sie entzog ihm die Hand, während sie mit mühsam unterdrückter Erregung antwortete:

„Der Keuchhusten war wieder im Anzuge.“

„Laß mich sehen –“

„Nein!“ wehrte Else, indem sie sich vor die Thür zu ihrem Schlafzimmer stellte, „er schläft jetzt. – Und das Säftchen mußte ich mir aus Barten holen lassen. Du hattest natürlich in Deinem Eifer, wenn es nach Königsberg geht, den Schlüssel zur Apotheke bei Dir behalten. Was bedeuten wir auch – “

„Ich habe den Schlüssel nicht,“ unterbrach sie Förster, ging aber nach seinem Zimmer und öffnete ein Fach des Schreibtisches. Da lag der Schlüssel. „Verzeihe!“ sagte er zurückkehrend. „Wer denkt immer an das Aergste! Seien wir zufrieden, daß es so glücklich vorübergegangen!“

„Wer weiß, ob es das schon ist!“

„Wenn er ruhig schläft?“ Er war an den Sessel getreten, in welchen sie sich geworfen hatte, und versuchte ihren Blicken zu begegnen. Sie wandte sich ab und versetzte schroff:

„Wenn Du wüßtest, was Einem für Gedanken kommen, wenn man immer allein mit seinem Kinde bleiben muß!“

„Immer allein?“ fragte Förster in ebenfalls schärferem Tone. „Doch,“ fuhr er sich beherrschend fort, „Du hast heute einen schweren Tag gehabt; ich will nicht um Worte rechten. Ist Etwas für mich angekommen?“

„Die Postsache liege in Deinem Zimmer.“

Er war schon im Begriffe, dorthin zu gehen, kehrte aber wieder um.

„Du regtest da Etwas an,“ sagte er mit einer gewissen Hast, „worüber ich mir längst vorgenommen hatte mit Dir zu sprechen. [695] Wer sich so genau kennt wie wir, fühlt dem Andern natürlich nach, wenn Der mit Diesem oder Jenem nicht einverstanden ist. Ich glaube aber, sobald ich Dich bitte, Deine Wünsche in bestimmte Form zu fassen, wird es Dir zum Bewußtsein kommen – was Du eigentlich verlangst.“

„Worauf beziehst Du –“

„Nein, Else! Wir wollen von vornherein ehrlich zu Werke gehen. Du weißt genau, was ich meine – nun sprich Dich aus!“

Eine jähe Blutwelle flog bis in ihre Stirn empor, doch antwortete sie mit nur anfangs gepreßter, bald wieder freier Stimme:

„Kannst Du’s mir verdenken, daß ich mich an solchen Tagen wie heute schmerzlich nach Deiner Gegenwart sehne? Und dabei kommst Du gerade von dort immer verstimmt, trübe nach Hause; man wagt dann schon mit Nichts mehr lästig zu fallen. Richtig ist das unbedingt nicht.“

„Und das nicht Richtige läge blos an mir?“

Sie schlug die Augen unwillkürlich vor seinem Blicke nieder.

„Ich will zugeben, daß ich vielleicht viel fordere, Du hast mich aber verwöhnt. Auch könnte meine Forderung nichts Anderes beweisen, als –“

Sie stockte.

„Nun?“

Aufspringend rief sie:

„Das möchtest Du hören. Doch warum auch nicht? Ich sollte ja ehrlich sein: Es beweist einfach, daß ich Dich viel zu lieb habe.“

Sie ging mit raschen Schritten durch’s Zimmer.

„Wenn Du mich wirklich so lieb hättest –“

„Was dann?“ fragte sie, plötzlich stehen bleibend, in herausfordernder Weise. Förster machte jedoch eine Bewegung der Abwehr.

„Wozu an Unmögliches rühren?“ fragte er. „Du hast meinen Wunsch, Bestimmtes zu fordern, noch nicht erfüllt.“

Sie schwieg und nahm ihr Gehen wieder auf.

„Du siehst, wie Recht ich hatte. – Darf ich es Dir erleichtern?“

Von Neuem blieb sie stehen und sagte nur:

„Ich bin begierig, was Du mir andichten wirst.“

„Ich brauche nichts zu dichten; ich fühle deutlich, daß Du mir die Fahrten zu meinem Kinde, meinem armen Kinde – ich will ein mildes Wort wählen – verdenkst. Und das ist so unrecht. Ich meine, Du dürftest längst wissen, was Du mir bist, habe ich doch nie ein Hehl daraus gemacht. Um so eher müßtest Du die paar Stunden denen gönnen, denen ich einst ganz gehörte. Daß ich in der letzten Zeit öfters hingefahren und ernst zurückgekommen bin? Rudi war recht krank – ich habe Dir nichts davon gesagt, weil Du nicht darnach gefragt hast.“

„Er ist nun aber auf dem Wege der Besserung?“

Förster nickte.

„Hättest Du mir gesagt daß Rudi krank gewesen –“

„So wäre heute allerdings kein bitteres Wort gefallen, darum jedoch Dein Unbehagen über diese Fahrten, das ja lange vorher bestanden hat, nicht aufgehoben worden. Gebietet es aber nicht schon die einfache Pflicht, seine Mutter, sein Kind dann und wann wiederzusehen? Und gar ein Kind, das vor Sehnsucht ganz träumerisch geworden ist! Ich schränke die Besuche nun ja auf’s geringste Maß ein. Du wußtest auch, ehe Du mein wurdest, daß ich kein völlig freier Mann war.“

„Bernhard!“ sagte Else wie beschämt.

„Trotzdem,“ fuhr dieser fort, „begreife ich Deine Empfindung bis zu einer gewissen Grenze. Ja, wir haben Dich alle verwöhnt; man verwöhnt Dich ja so gern. Wie Du aber bereits eingesehen hast, daß ich neben Dir und dem Vergnügen noch die Leitung unserer großen Wirtschaft in der Hand zu behalten habe, so müßtest Du auch einsehen, daß wir Gefühle, welche die Natur in uns gelegt, niemals los werden können. Ich hoffte sogar, Du würdest es, wenn Du recht darüber dächtest, gar nicht wünschen: eines Menschen, der das vermöchte, wäre ja Niemand sicher. Nicht wahr, Du lässest mir meine Art? Wirst sogar versuchen mich zu versöhnen?“

Sie sah ihn an.

„Und versuchen, gerade Dein allerfreundlichstes Gesicht zu machen, wenn ich von dort komme? Es wäre mitunter nöthig.“ Else schüttelte den Kopf

„Das verspreche ich noch nicht,“ sagte sie, „aber ich danke Dir für das immerhin Gute und Liebe, was ich eben gehört habe. Fahre nur – ich will mich nun schon gewöhnen. Und das ist nicht schwer, wenn man glauben darf, nicht vergessen zu –“

Sie brach ab und horchte. Ihr eben noch lächelndes Gesicht bekam einen Zug der Sorge; nach der Thür des Schlafzimmers eilend, rief sie angstvoll:

„Hörst Du den Husten?“

Der Anfall war jedoch vorüber, als nun auch Förster an die Wiege trat, und bald schlief Role wieder einen gesunden Schlaf. Dieser Friede war im Burgsdorfer Schlosse.



7.

Einige Tage darauf – Förster war nach einem benachbarten Gute gefahren, um eine Probe lebender Bilder mit anzusehen, die man am silbernen Hochzeitsfeste eines Bruders von Hemmingen stellen wollte – saß Else nach ihrer Gewohnheit vor der Wiege ihres Lieblings und hatte eben die letzten Stiche an einer Stickerei gethan. Leise aufstehend ging sie an ein Fenster, brachte ihre Stickarbeit in’s volle Licht und schien mit herzlicher Befriedigung – ihr Gesicht nahm seinen kindlichsten Ausdruck an – prüfend auf die gestickten Mohnblüthen zu sehen, die wohl irgend eine innere Seite eines Notizbuches schmücken sollten. Bald wurden ihre Mienen aber gedankenvoller; sie legte die Stickerei fort und nahm wieder ihren vorigen Platz ein. Ein linder Luftzug strich aus dem geöffneten Fenster bis zu ihr hinüber; sorglich ließ sie noch den jenseitigen Vorhang der Wiege nieder; dann versank sie in ein Halbträumen.

Die ruhigen Atemzüge des Kindes störten sie nicht; ihre Empfindungen wurden immer traumhafter, immer unbestimmter. Zuletzt erfüllte sie nur das Gefühl tiefen Wohlseins, mit weicher Müdigkeit gemischt.

Da stieg auf einmal, mitten aus solchen behaglichen Empfindungen heraus und wie durch den Lufthauch zum Fenster hereingeweht – ein Gedanke in ihr auf, der ihr augenblicklich alles Träumen verscheuchte. Hastig schloß sie das Fenster; der eindringende Erdgeruch, so kräftig er war, wie gern sie ihn sonst gehabt, heute machte er sie frösteln – sonderbar: sie hatte an den Tod denken müssen – plötzlich, sie wußte nicht, warum. Solcher Gedanke war selbst in ihrer schweren Stunde nicht gekommen; was wollte der Gedanke jetzt? Sterben! Sterben müssen?

Sie schritt das Zimmer auf und ab, hob den Kopf, als hätte sie sich von Umstrickendem zu befreien, ging rascher, gleichsam ihre Kraft erprobend; dann setzte sie sich mit halbem Auflachen über ihr törichtes Gebahren von Neuem nieder.

Doch höchstes Lebensgefühl und Tod müssen irgendwie geheimnißvoll zusammen hängen – vielleicht weil sie Zwillingsbrüder sind?

„Thörichter Gedanke!“ sagte sie zu sich selbst, und mit unsagbar anmuthiger Bewegung streckte sie die Arme nach dem Kinde aus; ihre Lippen flüsterten Zärtlichkeiten. Nein! hier war sie nöthig, und Gott wäre grausam, könnte er jetzt, nachdem sie die schwere Stunde überwunden, welche ihr dieses Kleinod schenkte, könnte er jetzt noch die Mutter von dem Kinde nehmen. O, der Gedanke, der sich ihrer so sonderbar bemächtigt, hatte nichts weiter gesollt, als ihr einmal recht herzensnahe zu bringen, was sie besaß. Fühlt sich das doch niemals klarer, als wenn ein Fürchten Alles in Frage stellt.

„Gott kann aber grausam sein,“ dachte sie weiter, „wie viele junge Mütter sterben! Hat nicht vielleicht hier, in demselben Zimmer, auch die andere Mutter an der Wiege gesessen und solche Gedanken gehegt? Und sie mußte sterben.“

Eiskalt überlief es Else. Sie entsann sich nicht, gehört zu haben, daß die Kinder in diesem Zimmer geschlafen hätten. Wahrscheinlich aber!

Dämmerung hatte sich unterdessen in die Ecken gelagert – grau und breit, gleichwie von unheimlichen Behagens; der Wind mußte noch mehr abgenommen haben; denn nur wie Seufzen rann es die Fenster nieder; über den ganzen Raum war etwas Bedeckendes gebreitet; selbst des Kindes Atem schien schwerer zu gehen. Und es wurde kaum besser, als sie nun eine Lampe anzündete und dieselbe so stellte, daß ein matter Schein auf die Züge des Kindes fiel.

[696] Sie vermochte es nicht wie sonst, sich dieses Anblicks zu freuen – immer mußte sie noch an die andere Mutter denken, an die todte Mutter. Sie hatte sie nicht gekannt, bei Doris aber Bilder von ihr gesehen; solche krankhaft zarte Erscheinung – Rudi das ganze Ebenbild! Und wie schwer mochte die Trennung von den Kindern gewesen sein! Was erzählte Doris nicht Alles! – Nicht weniger hatte auch Bernhard gelitten; dennoch waren kaum drei Jahre vergangen daß er eine Andere in sein Haus geführt, und diese Andere war sie, sie selbst. Stürbe nun auch sie – was dann? „Er bedarf einer Frau,“ sagte sie sich, „so führte er wohl –? Wenn die Neue aber – des Vaters Sache ist es nicht, für ein Kind zu sorgen – würde die Andere mein Kind lieben, wie ich es geliebt?“

Zu Worten war ihr Denken geworden; sie beugte sich mit ungestümer Bewegung über die Wiege, doch plötzlich zurückschreckend – rang sich ein Name von ihren Lippen; eine kleine bleiche Gestalt stand gleichsam faßbar da und sah mit den großen Augen anklagend zu ihr auf. Hatte denn sie Erbarmen gehabt – sie selbst? Hatte sie nicht das Kind aus dem Vaterhause gestoßen? Warum sollte Die, welche vielleicht nach ihr kam, nicht auch mit ihrem Kinde ebenso thun? Das – das hatten die Gedanken, die Todesgedanken, bedeutet.

„Rächen kann Gott an meinem Kinde, was ich an dem der Todten gesündigt, und das sollte ich wissen, ehe ich gehe, damit ich nicht in Verzweiflung gehe.“

Erschöpft lehnte sich Else zurück. Wirr, allzu wirr wurden ihre Gedanken aber aus dem Wirrsal rang es sich los, wie siegende Klarheit.

„Eines sühnt,“ sagte sie, „Eines: die Reue!“

Und wie leicht fiel ihr jetzt die Reue! Ist sie denn noch dieselbe, die sie früher gewesen? Erst so kurze Zeit – und so ganz anders ihr Empfinden? Mutterglück – wie läuterst Du die Herzen! – –

Als Förster heimkehrte, schlief Alles schon; selbst Else, welche sonst immer hören mußte, wie es ihm ergangen. So winkte er denn nur in stillem Segnen der geschlossenen Thür ihres Schlafgemachs einen Gruß zu.


8.

Bereits früh am Nachmittage war Förster von Hause aufgebrochen, da er noch einen befreundeten Gutsbesitzer zu dem Hemmingen’schen Feste abzuholen hatte. Umsonst hatte er Else zugeredet, ihn zu begleiten: sie lehnte freundlich dankend ab. Er sollte, meinte sie dagegen, bleiben, so lange es ihm gefiele. Würde es ihr zu spät, dann hörte sie morgen einen um so genaueren Bericht. Damit hatte sie von ihm Abschied genommen.

Kaum war er jedoch eine halbe Stunde fort, so fuhr der Landauer vor; Else schärfte dem Wirthschaftsfräulein noch zum zweiten und dritten Male Warnungen und allerlei Aufträge ein, die sich meistens auf Role bezogen; dann fuhr sie gleichfalls, aber in der Richtung nach Königsberg, ab – nach dem ihr sonst so verhaßten Königsberg.

Der Weg wurde ihr diesmal ein wenig lang: an den Rappen lag das aber nicht, deren Leistung jeden Sportsmann befriedigt hätte.

Ehe der Wagen noch vor dem Hause in der Münzstraße hielt, hatte ihn Rudi aus dem Seitenfenster entdeckt und jubelnd Lärm geschlagen. So sah ihn Else denn auch, als sie die Treppe zum zweiten Stock betrat, neben Frau Förster am Treppenabsatz stehen. Mit Verwunderung, ja Schrecken hatte diese die Emporsteigende erkannt, doch Else rief ihr schon von unten zu, daß Alle, Alle wohl wären und sie nur herüber gekommen, sich einmal nach ihrem Ergehen zu erkundigen.

Als die beiden Damen später allein im Salon saßen, mußte wohl auch noch Anderes, weniger Alltägliches zur Sprache gekommen sein; denn Beide wurden mit der Zeit sehr erregt, bis Frau Förster auf Else’s Ausruf: „Ich will endlich Bernhard glücklich, ganz glücklich sehen“ dieselbe sogar in die Arme schloß.

Hatte Frau Förster so an Else Freude erlebt, so gewann sich Rudi dafür ein großes Stück von Else’s Herz. Ihr war gleich bei Rudi’s erstem schüchternem Gruße auf’s angenehmste die Veränderung aufgefallen, welche mit ihm vorgegangen. Ruhiger, sinniger besonders, blieb jede seiner Aeußerungen und von dem, was ihr allein noch Sorge gemacht und ihr Vorhaben sehr erschwert hätte – war nicht der kleinste Zug zu finden: Man mußte über sie nur Gutes zu ihm gesprochen haben; denn er hatte sie gleich „Mutter“ genannt – wie das klang! O, wenn es Role erst sagen würde! –

Auch Frau Förster hatte Alles, was ihr nach dem Gespräche mit Else nöthig erschienen, in der kürzesten Zeit besorgt oder besorgen lassen, und so konnte der Landauer, von ihren wärmsten Wünschen begleitet, schon gegen Acht wieder das Königsthor der alten Königsstadt passiren

Vor Mitternacht war Else zu Hause. Ein Stündchen blieb ihr noch zu Anordnungen und stillen, lieblichen Gedanken; dann kam auch Förster heim. Es wunderte ihn natürlich nicht, sie noch wach zu finden; nur schloß er aus ihren glänzenden Augen, daß er etwas Neues über Role erfahren würde.

Sie setzten sich; Förster berichtete dies und das, ohne wie sonst eine besondere Theilnahme dafür zu finden; nur was ihm persönlich begegnet, fand lauteren Widerhall. Endlich war er mit dem Erzählen zu Ende und fragte nun gleich direct:

„Was hat Role denn wieder angegeben? Ich fange ernstlich an zu fürchten, daß er seinen Vater noch ganz verdrängen wird. Ob er da überhaupt sehr zu drängen hätte?“

Else sah ihn ebenfalls lächelnd an, erwiderte aber trotz der scherzhaften Wendung in ernstem Tone:

„Nach meinem Gedenken – sehr!“

„Hat er denn noch immer nicht ,Vaterchen’ gesagt?“ fragte Förster und zeigte dabei auf die Thür zum Nebenzimmer, wo Role schlief.

„Du verlangst zu viel. Anderswo habe ich heute freilich ,Vaterchen’ sagen hören.“

Da sie Rudi’s Stimme nachgeahmt hatte, wurde Förster aufmerksam, fragte jedoch nur zweifelnd: „Anderswo?“

„Gewiß!“

„So wärst Du ausgefahren?“

Sie hob leicht die Achseln.

„Es schien mir,“ fuhr er sie gespannt ansehend fort, „als sollte das Rudi’s Stimme bedeuten – wie wäre das aber möglich?“

„Vielleicht doch!“

„Wie Du grausam scherzen kannst! Und dennoch: ich bin Dir dankbar.“

„Wofür?“

„Es war zum ersten Mal, daß Du – wenn auch nur im Scherz, an das Kind dachtest.“

„Und wenn das nun eine ganz abscheuliche Unwahrheit wäre?“ rief Else in vollem Eifer. „Ja, Du Erzvertheidiger der Wahrheit! Wenn ich nun seit vorgestern, o bereits, seit ich neulich Nachts mit Dir gesprochen, wo ich nichts fühlen und hören mußte, als wie Du an Rudi hängst – wenn ich von da an immerfort an das Kind gedacht hätte?“

„Else!“

„Bernhard, keine Ruhe hat es mir gelassen. Was ich auch dachte und that, ich fand keine Ruhe. Bis in den Tod hat es mich geängstigt. Als Du vorgestern fort warst, saß ich an der Wiege – und mir war so wohl, so unendlich wohl. Da auf einmal wurde mir – ich weiß noch heute nicht, was es war – als sollte ich von Euch gehen. Und nun kamen Gedanken, Bernhard, als hätte plötzlich Alles Stimmen bekommen, was mir von Anfang an im Herzen gelegen von Anfang an; denn ob Du mir es auch nicht glaubst – ganz, ganz tief innen lag das wohl schon immer: ich empfand das auch. Da schenkte uns Gott – unsern Role. Ach, Keine von uns soll vorher sagen, wie sie ihr Leben sich einrichten will: mit dem ersten Schrei ihres Kindes wird ja doch Alles anders. Auch ich bin keine Ausnahme meines Geschlechts; o mit Stolz, mit wahrem Herzensvergnügen nahm ich auf mich – Du weißt es – was für ihn täglich und stündlich zu thun. Was galt es jetzt, was das Mädchen früher beglückt hatte? Nichts – nichts! Dort in dem kleinen Raum wohnt mir nun Geist und Glück und alle Freude.“

Sie waren aufgestanden; Förster zog sie stürmisch an die Brust, vermochte aber vor Erschütterung kein Wort zu sprechen.

„Von dieser Erkenntniß,“ fuhr sie fort, „konnte der Schritt bis zu Rudi nur klein sein. Sah ich doch, wie schwer Du noch immer an dieser Trennung trugst. Ich sah, daß selbst Deine Mutter, die liebe, gute Mutter, litt – und Alles nur um meinetwillen! So fuhr ich heute nach Königsberg.“

„Du –“

[698] „Ja! ich mußte ihn doch erst wiedersehen! Und wie rührend war Dein Rudi vom ersten Augenblick an! Selbst, daß ich sein Krückchen nicht mehr hörte – warum habt Ihr das nicht längst polstern lassen? Selbst das, o Alles und Jedes rührte mich so, daß ich –“ sie machte sich los und winkte ihm , „komm’ , aber leise – leise!“

Nun öffnete sie die Thür zu ihrem Schlafzimmer, und Förster sah hinter Role’s Wiege, an der gegenüberliegenden Wand, ein Bett stehen, das dort vorher nicht gestanden, und darin lag ein Schläfer.

„Nur bis morgen!“ flüsterte Else. „Dann, denke ich, zieht er zu Frau Hannisch in’s blaue Zimmer.“

„Mein Weib! Mein einziges Weib!“

„Es ist ja gar nichts!“ lachte und weinte Else. „Ich mußte doch einmal erfahren, daß es auch Pflichten giebt, nicht blos Scherz und Lachen.“

Die Glücklichen hatten es nicht bemerkt, wie sich der kleine Mann im Bette aufgerichtet und nun schlaftrunken um sich sah. Plötzlich erkannte er aber den Vater und rief in seinen hellsten Jubeltönen:

„Mein Vaterchen! Mein liebes Vaterchen!“