Das Mädchen aus der Fremde (Die Gartenlaube 1893)
[496] Das Mädchen aus der Fremde. Das „liebliche Räthsel“, welches Schiller in dem genannten Gedichte dem deutschen Volke geschenkt hat, scheint noch heutzutage die Gemüther der aufmerksamen Leser unseres großen Dichters lebhaft zu beschäftigen. Das beweisen uns u. A. auch drei Briefe, die wir in letzter Zeit erhalten haben und in welchen eine und dieselbe Frage an uns gestellt wird: „wen Schiller in diesem Gedichte mit der Persönlichkeit des Mädchens gemeint hat?“ Den Neugierigen könnten wir einfach den Rath ertheilen, in dem Werke: „Schiller’s lyrische Gedichte. Erläutert von Heinrich Düntzer“ (Leipzig, Ed. Wartig 1874) den betreffenden Abschnitt nachzuschlagen. Da wir aber nicht annehmen können, daß dieses rein wissenschaftliche Werk Jedem leicht zugängig ist, so glauben wir den Inhalt der Düntzer’schen Erklärung hier in aller Kürze wiedergeben zu dürfen.
Das Gedicht erschien demnach auf dem ersten schon Ende Juli 1796 abgedruckten Bogen des Musenalmanachs aus 1797, und ist wahrscheinlich während Goethe’s Anwesenheit zu Jena, im Anfange des Monats, entstanden; das Mädchen repräsentirt die Dichtkunst, und diese Beziehung hat Schiller selbst dadurch angedeutet, daß er mit „dem Mädchen aus der Fremde“ die erste Sammlung seiner Gedichte eröffnete. Wie in einem anderen Gedichte Schiller’s der Frühling als schöner Jüngling auftritt, so hier die Dichtung als ein Mädchen, dessen höheren Ursprung der erste Theil (Strophe 1 bis 3), wie der letzte ihre lieblichen Gaben darstellt, die sie jedem gern darbietet. Das Ganze wird märchenhaft eingekleidet, als eine Sage aus vergangener Zeit.