Das Menschenopfer und die Grabesnachfolge
Das Menschenopfer und die Grabesnachfolge.
Aus dem lichten Bilde, welches uns die Geschichte des erfinderischen phönicischen Volkes bietet, ragt düster ein ehernes Standbild hervor, das aller Menschlichkeit spottet. Ueberall an den Küsten des mittelländischen Meeres finden wir im grauen Alterthum die Tochterstädte von Tyr und Sidon, Pflanzstätten der Kultur in barbarischen Ländern; in den Häfen zahllose Ruderschiffe, darin unerschrockene Seefahrer; in den Städten reiche Kaufmannshäuser mit fleißigen frohen Menschen; Glück und Reichthum schirmen das Volk. Und doch wenden wir mit tiefem Schmerz unser Antlitz von dieser Kultur ab, die eine unheimliche Gottheit beschützt. Dort vor dem prachtvollen Tempel steht ihre Bildsäule – wie ein zürnender Dämon. Eine menschliche Riesengestalt aus Erz, einen Stierkopf auf dem Nacken, streckt sie opferverlangend die gewaltigen Arme aus. Und an gewissen Tagen naht das Volk im feierlichen Aufzuge zum Tempel seines mächtigsten Gottes, dessen Leib sich von den entfachten Flammen röthet, und nun legen die Priester das verlangte Opfer auf die emporgestreckten glühenden Arme – lebende Kinder und Jünglinge sind es, die der Grausame langsam in seinen heißen Schlund hinabgleiten läßt. Kein Klageton läßt sich vernehmen, denn, alle menschlichen Laute erstickend, schallt jetzt der wilde Lärm der Pfeifen und Pauken. Nur in dem Herzen der daneben stehenden Mutter, die ihr Kind opfern mußte, bäumt sich wild der Schmerz, regt sich das Menschlichkeitsgefühl und rüstet sich zum Kampfe gegen den grausamen Gott Moloch!
[391] Es dauerte aber lange, bis die Macht des Schrecklichen gestürzt wurde.
Ueberallhin, wo die Macht der Phönicier vordrang, wo sie sumpfige Länder in lachende blühende Felder verwandelte, wohin sie den Reichthum des Handels und Wandels brachte, folgte ihr auf der Spur der grausame Molochkultus. Aber an den Gestaden des mittelländischen Meeres gab es auch Völker, die berufen waren, eine bessere, edlere Kultur zu schaffen, höhere Geistesgüter zu erwerben, dem Menschenrecht in der Weltgeschichte Geltung zu verschaffen, und diese Völker wurden auch zu Feinden des Menschenopfers, welches sie erfolgreich bekämpften.
In grauer Vorzeit vollzog sich dieser gewaltige Streit, dessen Schlußakte noch in die Epoche der ersten Geschichtschreiber unserer Kulturwelt hineinreichen. Das mosaische Gesetz verdammt noch das Menschenopfer, und eine griechische Gesetzessammlung, über die uns Herodot berichtet, enthielt gleichfalls eine Abwehr gegen die grausame Sitte.
Phönicische Machthaber herrschten in Böotien und errichteten dem griechischen Moloch, dem Zeus Laphystios (dem „Verschlinger“) Opferaltäre, aber das Volk vertrieb die grausamen Herrscher, und lange noch bestand in der Stadt Halos das Gesetz, daß jeder Nachkomme der menschenopfernden Athamaniden, sobald er in die Stadt heimkehrte, mit dem Opfertod bestraft werden sollte. Auch die Sage der Hellenen befaßte sich mit dem Sturze der Molochherrschaft und kleidete den großen kulturgeschichtlichen Vorgang in ein poetisches Gewand. Auf der Insel Kreta lebte nach ihrer Ueberlieferung in einem Labyrinth ein Ungeheuer mit einem menschlichen Körper und einem Stierkopfe, welches Minotaurus hieß und welchem Verbrecher preisgegeben wurden. Minos, der König von Kreta, hatte den Athenern den schimpflichen Tribut auferlegt, alljährlich sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge als Opfer für den Minotaurus nach Kreta zu senden. Zweimal war schon das schwarzbeflaggte Schiff mit der theuren Last nach Kreta abgegangen, beim dritten Mal aber beschloß der Held Theseus die Befreiung seiner Vaterstadt von dem Schimpf zu wagen. Er ging mit den zum Opfer Auserwählten nach Kreta, und mit Hilfe der schönen Ariadne, der Tochter des Minos, gelang es ihm, mit einem gefeiten Schwerte das Ungeheuer zu tödten und Athen von dem Tribut zu befreien.
Die Größe dieser That schildert vortrefflich das unserem Artikel beigegebene Bild (S. 380 und 381), welches den Augenblick darstellt, wo Theseus mit den sieben Jungfrauen an dem düstern Eingange des Labyrinths erscheint. Welches Los erwartet die Unglücklichen? Auf den Stufen der breiten Pforte liegt ein Gerippe, neben welchem der Geier sitzt, ein schreckliches Symbol des Todes, dem die zum wirklichen Leben kaum Herangereiften entgegengehen. Wohl schmücken Rosen das Schiff – aber nicht Rosen der Freude sind es – es ist der letzte Opferkranz. Und in stummer Verzweiflung bricht die eine der Jungfrauen am Rande des Schiffes zusammen, die Andere birgt ihr Antlitz an der Brust der Leidensgefährtin, während aus dem dunklen Hintergrunde uns ein ernstes Antlitz entgegenschaut. An den Augen dieser Geweihten zog jetzt ihr früheres Leben vorüber – Freuden der Jugend, Hoffnungen der Liebe … das Alles wird bald in die dunkle Todesnacht versinken. Stumm, gefaßt nimmt sie Abschied vom Leben. Erschrocken schauen die Anderen in die dunklen Gänge des Labyrinths, die ein rother Fackelschein beleuchtet und in denen dunkle Gestalten erscheinen. Nur Eine hebt hoch das Haupt, stolz aufgerichtet steht sie in dem Kahne; in ihren Adern fließt Heldenblut und sie schrecken weder der gewaltige Stierkopf an der Wand, noch der Geier und das blasse Gerippe, noch die dunkle, Unheil verkündende Pforte. Sie ist bereit zu sterben, wie es einer Heldin geziemt. Oder beschleicht eine Hoffnung ihr Herz? Wie klingt jetzt das Horn des Helden, der am Bug des Schiffes steht? So meldet kein Verzweifelter seine Ankunft; kein Feigling ist er, der die Töchter seiner Heimath preisgeben will. Wie eine Herausforderung zum Kampfe schmettert der Ton durch die dunklen Gänge, ein weit verzweigtes Echo im Labyrinth weckend, nicht den Tod der Opfer, das Ende des Ungeheuers scheint er zu verkünden. – –
Nach Jahrtausenden noch erfaßt uns das Mitleid mit dem Schicksale der Opfer dieses grausamen Wahnes, und wir schrecken vor dem Gedanken zurück, daß Hunderttausende hingeschlachtet und verbrannt werden mußten, bis sich die geknechtete und mit Füßen getretene Menschheit zu lichteren Sitten emporrang.
Was uns das Bild vorführt, ist im Lichte der Geschichte keine Fabel. Der Menschenleben heischende Minotaurus, das Ungethüm mit einem Stierkopf, bestand wirklich; es war die Bildsäule Moloch’s, dem auch die Athener Opfer darbrachten. Und uns, deren Kultur auf derjenigen Griechenlands aufgebaut ist, darf auch Theseus als Erlöser von einer tiefen Schmach gelten. Denn das Ideal der Menschheit, das wir heute hochhalten, ist nur das Werk europäischer Kultur.
Ein Blick in die Vergangenheit unseres eigenen Volkes und eine Rundschau der Religionssitten der Völker, die außerhalb unserer Civilisation stehen, zeigen uns dies deutlich genug. Keines Volkes Geschichte war ursprünglich frei von dem Schandfleck des Menschenopfers.
In den ersten Zeiten der römischen Republik kamen Menschenopfer alljährlich vor. Später wurden sie zwar vom Senat verboten, allein noch zu Cäsar’s Zeiten werden dergleichen erwähnt. Augustus ließ 300 Senatoren auf dem Altar des Jupiter Cäsar tödten und Sextus Pompejus Menschen ins Meer werfen, um sie dem Neptun zu opfern.
Zu derselben Zeit bestand bei den Galliern die Sitte, aus Weidenruthen geflochtene Götzenbilder mit Menschen zu füllen und dann anzuzünden. Auch die Germanen opferten an bestimmten Festtagen ihren Göttern Angehörige, Sklaven und Kriegsgefangene. Bei den Slaven begegnen wir derselben Sitte, und selbst dann noch, als die Stämme zum Christenthume bekehrt waren, forderte der abergläubische Wahn Menschenleben. Wenn der schwarze Tod verheerend durch das Land einherschritt, suchte man die zürnende Gottheit dadurch zu versöhnen, daß man eine Jungfrau lebendig begrub!
Zu solchen Gräuelthaten veranlaßte die Menschen ein falsch verstandenes Gottheitsideal. Aber nicht dieses allein bildet die Quelle des Menschenopfers. Auch eine andere Idee, welche heute Millionen von Herzen erhebt, die Idee von der Unsterblichkeit der Seele, verleitete die Völker zu blutigen Orgien. In der Ueberzeugung, daß es ein Jenseits giebt, wurzelt die Sitte der Grabesnachfolge.
In dem märchenhaften Indien, wo noch vor Kurzem Hunderte von Büßern sich in religiöser Ekstase unter die Räder des Götterwagens in Dschaggernat warfen, um den erlösenden Tod zu finden, wo noch heute in den „reinigenden“ Fluthen des heiligen Ganges alljährlich das Leben von Hunderten Bethörter erlischt, besteht, obwohl in Abnahme begriffen, die Sitte, daß die Frauen nach dem Tode ihres Mannes den brennenden Scheiterhaufen besteigen. Noch unter der Herrschaft der Engländer sollen sich jährlich 30
000 Frauen freiwillig dem Flammentode geweiht haben. Ihre Söhne zündeten die Scheiterhaufen an, und sie umarmten die Leiche des Gatten und erklärten sich bereit, als Sühnopfer für die Sünden des Mannes zu sterben, um mit ihm die Seligkeit des Himmels genießen zu dürfen.Um den verstorbenen Inka in der anderen Welt zu bedienen, wurden in Peru oft über tausend Gattinnen und Sonnenjungfrauen des Herrschers dem Tode geweiht – und sie gingen willig zum Scheiterhaufen, weil die Verweigerung dieses Liebesdienstes einem Ehebruche gleichgehalten wurde. Die Mexikaner schlachteten bei ähnlichen Gelegenheiten an 20
000 Menschen auf einmal ab. Schädelmauern zeugen noch heute von diesen furchtbaren Gebräuchen der amerikanischen Völker. Freilich mit Menschenschädeln gezierte Stadtmauern kann man noch wo anders sehen, in Abome, der Hauptstadt des Schreckensreiches Dahome, wo noch heute die „große Sitte“ der Menschenschlächterei in Kraft besteht.Aber auch den Frauen europäischer Urvölker war der Heroismus der freiwilligen Grabesnachfolge nicht fremd. So wird bei der Leichenfeier Baldr’s, des Sohnes von Odin, nicht nur sein Roß, sondern auch seine Gattin mitverbrannt, so wird in der eddischen Sage Sigurd und Brynhild ein gemeinschaftlicher Scheiterhaufen errichtet, so erklärt schon in geschichtlicher Zeit Niall’s Frau Bergthora, als man sie aus dem brennenden Hause retten wollte: „Ich bin dem Niall jung vermählt worden und habe ihm gelobt, daß ein Schicksal über uns beide ergehen solle.“ Sie wich nicht aus dem Hause und ließ sich mit verbrennen. Auch bei den Wenden galt die Frau für lobenswerth, welche sich selbst tödtete, um des Scheiterhaufens mit ihrem Gatten theilhaftig zu werden, und in einer Urkunde von 1249, worin die neubekehrten Preußen mit dem deutschen Orden vertragen werden, geloben sie, ihre Todten nicht ferner zu verbrennen oder mit Pferden und Menschen zu beerdigen.
Wie schauerlich auch die Grabesnachfolge erscheint, so entbehrt sie nicht eines gewissen Trostes, sobald ihre Ausübung auf freiwilligem Entschluß beruht, teuflisch grausam wird sie aber, wenn Religionsvorschriften und Gesetze beim Tode eines Menschen das gewaltsame Opfer Anderer verlangen.
Der Seelenglaube vieler Naturvölker zeitigte in dieser Hinsicht abscheuliche Blüthen.
Starb eine Mutter, so wurde das noch lebende Kind mitbegraben, „weil beide zusammengehörten“. Starb ein Häuptling, so wurden erstgeborene Kinder getödtet, damit ihre Seelen den Geist des Häuptlings stärkten; starb ein Kind, so wurde die erste beste Person ermordet, damit sie das Kind im Jenseits beschütze!
Manche afrikanische Negerkönige verpflichten noch heute ihren ganzen Hofstaat zur Grabesnachfolge; um sie im Jenseits zu bedienen und zu belustigen, werden unzählige Frauen, Diener, Sänger und Soldaten erwürgt. Falschen Begriffen von einem Leben nach dem Tode, das in allen seinen Einzelheiten durchaus dem irdischen entspreche, hat auch die afrikanische Seelenpost ihr Dasein zu verdanken. Es werden nämlich bei einigen Negerstämmen immer wieder Menschen getödtet, welche den Auftrag erhalten, irgend einem Fürsten in der „andern Welt“ Nachrichten über die neuesten Begebnisse auf Erden zu überbringen.
Unter den Stämmen der Südsee herrscht die grausame Sitte, daß man alte und schwache Leute tödtet, um sie eher zu den Freuden des Jenseits gelangen zu lassen – eine Sitte übrigens, welcher früher auch die heidnischen Völker Europas gehuldigt haben.
Die Grabesnachfolge wurde in manchen Gebieten Afrikas von klugen Häuptlingen als Mittel zur Befestigung ihrer Herrschaft benutzt. Bei dem Tode eines Walunguhäuptlings wird stets der Hauptmann desselben getödtet und mit ihm bestattet. Aus diesem Grunde wagt es kein Walunguhäuptling, sich gegen das Leben des Fürsten zu verschwören, da er damit sein eigenes Todesurtheil unterzeichnen würde, und er wacht im eigensten Interesse für die Sicherheit seines Herrn. Gleichzeitig werden auch sämmtliche Frauen des Walunguhäuptlings getödtet und mitverbrannt, bis auf eine einzige, der ein weit schlimmeres Los bevorsteht. Man gräbt ein Loch, welches gerade hinreicht, sie aufzunehmen. In dieses wird sie gestellt und dann mit Erde überschüttet, wobei man nur eine schmale Oeffnung läßt, durch welche sie athmen kann. Auch wird ihr ein Speer in die Hand gegeben. Stellt es sich nach zwei Tagen heraus, daß sie das schreckliche Gefängniß überlebte und den Speer in ihrer Hand behalten hat, so nimmt man sie heraus und gestattet ihr zu leben.
Die Reihe der Gründe, welche Völker zum Menschenopfer trieben, ist damit keineswegs erschöpft. Die Anbetung der Thiere brachte es mit sich, daß man den für heilig gehaltenen Wesen Menschen vorwarf oder dieselben mit Menschenfleisch fütterte. So wurden in Centralamerika Schlangen, die als Geister der Fruchtbarkeit galten, Menschenopfer dargebracht. Der Glaube an böse Geister und Dämonen sowie an Schutzgeister führte zu der früher weitverbreiteten Sitte, daß man Kinder und Frauen, selten auch Männer in die Fundamente neuer Gebäude vermauerte. –
Eine erfreuliche Wahrnehmung ist es, daß die meisten Völker aus eigenem Antriebe diesen grausamen Kultus aufgaben und an die Stelle des Menschenopfers das Thier- und Fruchtopfer setzten. In Japan, wo man beim Tode des Herrn früher seine Diener geopfert hatte, legt man heute als Ersatz für dieselben Puppen von Thon oder Holz ins Grab. [392] In China werden dagegen beim Begräbniß nur Papierfiguren als Symbole verbrannt. Dieses billige Opfer ist auch als wirthschaftlicher Fortschritt der Sitte gegenüber zu betrachten, nach welcher bei einem südamerikanischen Volksstamm große Viehherden geschlachtet werden, damit ihr einstiger Besitzer auch im Jenseits Viehzucht treiben könne.
Selbst bei den wildesten Völkern dämmert heute die Ueberzeugung von der Unwürdigkeit und Nutzlosigkeit des Menschenopfers auf, und die Menschenschlächtereien haben in den letzten Jahrzehnten in erfreulicher Weise überall abgenommen. So sind die Tage der abscheulichen Verirrungen gezählt, und die beste Gewähr für die vollständige Ausrottung derselben giebt uns das unaufhaltsame Vordringen europäischer Civilisation in die dichtesten Urwälder und die fernsten Inseln, vor Allem aber die welterobernde Kraft des Christenthums, welches kein blutiges Opfer kennt, zu einem barmherzigen Gott betet und das hohe Evangelium der Nächstenliebe predigt.