Das Neueste über Irrlichter

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Das Neueste über Irrlichter
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 12, S. 234–236
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[234] Das Neueste über Irrlichter. – Der Volksaberglaube hält bekanntlich jene kleinen Flämmchen, die einzeln oder zu mehreren auf Moorboden, Wiesen, Kirchhöfen und Sümpfen beobachtet worden sind, für die Seelen ungetauft gestorbener Kinder, die tückisch andere Menschen ins Verderben locken wollen. Daher auch ihre Bezeichnung als „Tückbolde“ oder „Lüchtemännekens“.

Der Name „Irrlicht“ – weil die Flämmchen angeblich hüpfend weiterwandern – ist neueren Datums. Der erste zuverlässige Beobachter der Irrlichter war der Astronom Bessel, der am 2. Dezember 1807 gegen Morgen bei großer Dunkelheit und regnerischem Wetter nahe bei Bremen über einem ausgegrabenen Moorgrund Irrlichter sah. Die Farbe der zahlreichen Lichterscheinungen war bläulich, ihre Leuchtkraft jedoch so gering, daß der Boden von ihnen nicht erhellt wurde. Die Dauer der Flämmchen, die, mehrere Schritte voneinander entfernt, stets von neuem auftauchten, betrug ungefähr durchschnittlich zwanzig Sekunden.

Später sind Irrlichter dann noch von verschiedenen anderen glaubwürdigen Personen gesehen und beschrieben worden. Alle diese Beobachter stimmen darin überein, daß von einer hüpfenden Bewegung der Flämmchen keine Rede sein kann und daß der Eindruck einer Fortbewegung nur durch das plötzliche Erlöschen eines Irrlichts und das gleichzeitige Erscheinen eines zweiten an anderer Stelle hervorgerufen wird.

Über die Entstehungsursache der Irrlichter war man bis in die letzten Jahre in der Gelehrtenwelt recht uneinig. Man deutete sie bald als sich selbst entzündende Erdgase, bald als elektrische Lichterscheinungen, konnte aber keine völlig sichere Erklärung finden. Erst die neuesten Untersuchungen einiger französischer Forscher haben hierüber endlich einen durch wissenschaftliche Belege gesicherten Aufschluß gegeben.

Schon der 1884 verstorbene französische Chemiker André Dumas hatte zur Prüfung der Irrlichterfrage nachts in seinem Garten unter Wasser einen Schwefelwasserstoffapparat in Gang gesetzt, in den ein wenig Phosphorkalzium gebracht wurde, so daß ein Gemisch beider Chemikalien durch das Wasser in die Luft emporstieg. Sobald dieses Gasgemenge die Luft erreichte, [235] entstand eine bläuliche Flamme, ähnlich einem Irrlicht. Dumas vertrat nun die Ansicht, daß die natürlichen Irrlichter ganz ebenso entstehen, und zwar nur an solchen Orten, wo Menschen- oder Tierleichen im Sumpf liegen, deren Organe, hauptsächlich Gehirn und Rückenmark, reich an Schwefel und Phosphor sind und bei ihrer Verwesung genau dasselbe Gasgemenge hervorbringen, das er in seinem Garten künstlich darstellte. Zu einer weiteren Untersuchung dieser seiner Theorie über die Entstehung der Irrlichter kam er jedoch nicht, da ihn der Tod mitten aus seinen Arbeiten herausriß.

Auf diesen grundlegenden Gedanken baute dann 1906 der Pariser Chemiker Mestrelle seine weiteren Experimente auf. Am 17. Oktober 1905 hatte er in einem Moor bei Rouen eines Nachts drei Irrlichter beobachtet, die wohl eine Stunde lang immer wieder an derselben Stelle auftauchten. Mestrelle bohrte seinen Spazierstock, an den er sein Taschentuch gebunden hatte, an dem betreffenden Orte in das Moor, um die interessante Stelle am nächsten Morgen sicher wiederzufinden. Durch Arbeiter ließ er dann dort nachgraben. In drei Meter Tiefe stieß man auf den halbverfaulten Kadaver eines Hirsches. Nachdem dieser entfernt war, haben sich an jener Stelle nie wieder Irrlichter gezeigt, trotzdem jene Örtlichkeit wegen der häufig erscheinenden bläulichen Flämmchen bei der Landbevölkerung in sehr schlechtem Rufe gestanden hatte.

Hiernach vergrub Mestrelle, um der Sache völlig auf den Grund zu gehen, in einem Torfbruch bei Versailles im Frühjahr 1906 den Kadaver eines wegen Seuchenverdachtes geschlachteten Rindes. Die betreffende Stelle wurde dann durch einen in der Nähe wohnenden Feldhüter ständig beobachtet. Aber erst drei Jahre später, im Hochsommer 1909, zeigten sich Irrlichter, die besonders zahlreich nach einer längeren Hitzeperiode auftraten.

Mestrelle war für seine Person nach diesem Versuch bereits vollkommen überzeugt, daß die Annahme seines verstorbenen Kollegen Dumas über die Entstehungsursache der Irrlichter hier die volle Bestätigung gefunden habe. Um jedoch ganz sicher zu gehen, wiederholte er das Experiment insofern, als er den Kadaver des Rindes wieder ausgraben und hundert Meter [236] entfernt wieder einscharren ließ. Dieser Versuch gelang ebenso vollständig. An dem alten Platze, wo das Rind zuerst gelegen hatte, blieben jetzt die Irrlichter aus, tauchten dafür aber an der neuen Stelle bereits nach einem halben Jahre wieder auf.

Als Mestrelle diese Resultate in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichte, stieß er bei den meisten Fachkollegen auf lebhaften Widerspruch, obgleich er für seine Untersuchungen und Beobachtungen genug Zeugen anführen konnte. Der Pariser Physiker Lormand war es dann, der, um Mestrelles Behauptungen nachzuprüfen, in einem Moor die Gehirne von ungefähr dreißig Rindern eingraben ließ in der Voraussetzung, daß diese am meisten phosphorhaltigen Körperteile ein besonders starkes Irrlichtererscheinen hervorrufen müßten, falls eben Dumas und Mestrelle ihre Angaben auf Tatsachenmaterial gestützt hätten. Schon nach elf Monaten war Lormand völlig bekehrt. Denn die Irrlichter tauchten an dem fraglichen Orte tatsächlich auf, wodurch alle Zweifel an der vollen Wissenschaftlichkeit der Mestrelleschen Experimente beseitigt wurden.

Die Frage nach der Herkunft der unheimlichen bläulichen Flämmchen dürfte hiermit endgültig gelöst sein. Nicht elektrische Kräfte, nicht Sumpfgase lassen sie aufleuchten, sondern die sich unter besonderen Bedingungen an der Luft entzündenden Verwesungsgase tierischer Körper.

W. K.