Das Scherenrecht

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Autor: Otto Sigl
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Titel: Das Scherenrecht
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18–19, S. 297–302, 313–316
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Scherenrecht.

Erzählung von Otto Sigl.0 Mit Illustrationen von J. Watter.

Von den vielen im Jahre 1780 in Deutschland regierenden Häuptern war Aebtissin Mathilde wohl das geringste an Machtfülle, gewiß aber das liebreizendste. Sie stammte aus fürstlichem Geschlecht und regierte seit wenigen Monaten ein reichsunmittelbares adeliges Stift am Bodensee. Wer sich eine Aebtissin nur als gestrenge Matrone in düsterer Ordenstracht vorstellen konnte, mochte nicht wenig überrascht sein, wenn ihm die Gebieterin des Stiftes vor Augen trat. Zählte doch die [298] weltliche Aebtissin und Stiftsmutter Mathilde erst einundzwanzig Jahre und trug weltliches Gewand, das sich in dunklen Falten um ihre anmuthige und vornehme Gestalt schmiegte. Die jugendliche Klosterfürstin herrschte nicht etwa über weltentsagende Nonnen, sondern über ein Dutzend altadeliger Fräulein, deren klösterliche Verpflichtungen keineswegs drückend waren. Sie hatten lediglich zu bestimmten Zeiten in den Chor zu gehen und ihre Andacht gemeinsam zu verrichten, gehörten aber keinem religiösen Orden an.

Das kleine Reich der Aebtissin umfaßte ein Kloster mit Park zunächst einer Reichsstadt sowie einige Güter am Ufer des Sees mit ihren Bewohnern. Innerhalb dieses Gebietes regierte Frau Mathilde unumschränkt, sogar als Herrin über Leben und Tod mit dem Blutbann ausgestattet. Von diesem verantwortungsvollen Fürstenrecht wurde aber bei der friedsamen Art des Stiftsvolkes seit Menschengedenken kein Gebrauch gemacht. Im Uebrigen verstand die Prinzessin vortrefflich, ihre Würde zu entfalten, wenn sie an der Spitze ihrer Edelfräulein zum Chor schritt oder den Amtsbürgermeister der Nachbarstadt in feierlicher Audienz empfing. Nicht umsonst hatte sie einige Wochen am Hofe Maria Theresia’s verweilt und von deren zugleich patriarchalischer und majestätischer Haltung ihren Theil abgesehen, der nun der jungen Stiftsmutter allerliebst zu Gesicht stand.

So war es gekommen, daß Frau Mathilde trotz ihrer Jugend und gewinnenden Anmuth doch sich bei allen Stiftsdamen in gebührendem Respekt erhielt.

Wenn aber die schöne Aebtissin frohgemuth mit ihren geputzten Fräulein in stattlichen Karossen über Land oder in vergoldetem Schiffe auf dem See spazieren fuhr, mochte wohl Jedermann sie nicht nur als das liebreizendste, sondern auch als das sorgenloseste aller regierenden Häupter preisen.

An einem herrlichen Sommertage jedoch zeigten die Züge der Aebtissin nicht den geringsten heitern Ausdruck. Frau Mathilde saß im Erker eines Gemaches voll weicher, großblumiger Polstermöbel und vergoldeter Gueridons; die bis auf den Boden reichenden Damastvorhänge waren zurückgezogen und gestatteten einen weiten Ausblick über den See und seine reizvollen Ufer. An jenem Tage aber streifte der Blick der Fürstin kaum flüchtig das ihr sonst so liebe Landschaftsbild. Eben so hörte sie nur zerstreut auf die munteren Reden der ihr gegenüber sitzenden Stiftsdame.

Fräulein Benigna von Elmenau war die Aelteste des Stifts. Ihr Haar glänzte ohne Puder silberweiß; an jugendlicher Frische jedoch that es Benigna ihren jüngsten Gefährtinnen zuvor. Stets gleiche sonnige Heiterkeit und milde verständige Ruhe hatten ihr bald das Vertrauen ihrer neuen Oberin erworben. In allen Fragen, welche außer dem Bereich des rechtskundigen Kanzleidirektors und des hochwürdigen Stiftsvikars lagen, holte Mathilde den Rath der mütterlichen Freundin ein. Benigna galt insbesondere als Staatssekretärin für weibliche Angelegenheiten – bei einem Dutzend zusammen hausender Edelfräulein mit ihren nach Rang und Alter steigenden Ansprüchen und Launen wahrlich keine Sinekure! Außerdem wär Fräulein von Elmenau auch das Arrangement der Vergnügungen des kleinen Hofes anvertraut.

So hatte Benigna eben für den verlockenden Nachmittag einen Ausflug auf eines der Stiftsgüter vorgeschlagen.

„Ich bin durchaus nicht in der Stimmung zu einer frohen Fahrt, liebe Elmenau. Es wird wohl am besten sein, ich verlasse heute und in den nächsten Tagen die schützenden Mauern des Klosters nicht,“ erwiederte Frau Mathilde mit einem Seufzer.

„Sie sprechen in Räthseln, gnädigste Frau; es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen?“ fragte das Fräulein besorgt.

„O, nichts von Bedeutung,“ versetzte die Aebtissin mit einem Versuch, zu lächeln. „Eine Kindergeschichte im buchstäblichen Sinn, die nur etwas unkindlich ausging und die ich für immer abgethan glaubte. Doch Sie sollen Alles erfahren; wem anders könnte ich hier mein Herz ausschütten, als meiner theuren Elmenau!“

„Hm, hm – was werde ich zu hören bekommen, am Ende gar einen kleinen vorstiftlichen Roman einer erlauchten Aebtissin?“ scherzte das Fräulein.

Eine flüchtige Röthe überzog die Wangen der Fürstin.

„Sie sind auf der richtigen Fährte und doch wieder nicht ganz, meine kluge Benigna. Romane finden wenigstens einen Abschluß – aber ich schulde Ihnen ja den Anfang. Wie ich Ihnen schon erzählt, schwärmte mein Vater seit seinem Pariser Aufenthalt für Rousseau und dessen Naturevangelium. Diesem Umstande verdanken wir Geschwister, daß wir in unserem idyllischen Sommerschlößchen Walding erzogen wurden. Als das einzige Mädchen unter drei lebhaften Knaben wuchs ich in der Ungebundenheit des Landlebens ein Bischen wild in die Höhe. Am liebsten jedoch schloß ich mich beim Spielen einem Genossen meiner Brüder an. Es war dies Franz Werner, der Sohn des Schloßgärtners, dessen Frau meine Amme gewesen. Da Franz, ein hübscher aufgeweckter Junge, sich höchst lernbegierig erwies, so ließ ihn mein gütiger Vater vollständig am Unterricht seiner Kinder theilnehmen. Als mein ältester Bruder, der Erbprinz, mit einem Hofmeister die Hochschule bezog, durfte Franz seine Studien theilen und ihn sogar später auf seinen großen Reisen begleiten. So währte es drei Jahre, bis ich wieder in Walding mit meinem Bruder zusammentraf – und mit Franz Werner …“

„Dem Helden des unkindlichen Romans?“ schaltete Benigna neckend ein.

„Sein Aeußeres wäre wohl dazu angethan gewesen! Bald aber überzeugte ich mich, daß sein Charakter sich nicht eben so vortheilhaft entwickelt hatte. So mancher Zug, dessen Keim schon im Knaben hervorgetreten, hatte sich zum Schlimmen entfaltet: vor Allem ungestümes Wesen und romanhafte Exaltation. Werner’s ganzes Empfinden war so maßlos wie jede Aeußerung desselben. So übertrieb er auch eine gewisse vornehme Manier, welche er sich im Verkehr mit den jungen Edelleuten angeeignet [299] hatte. Schon in der Art, sich völlig wie ein Kavalier zu kleiden, mit Sporen und Reitpeitsche zu paradiren, verkündete sich der Hang, sich über seine gesellschaftliche Stellung zu erheben. Unser Beisammensein gestaltete sich sonach ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Schon beim ersten Wiedersehen leuchtete aus seinen flammenden Blicken für mich die Erkenntniß, daß unsere harmlosen Jugendbeziehungen mit einem Schlag sich geändert hatten. Binnen Kurzem mußte ich es mit Schrecken erkennen: Franz Werner war in sinnloser Leidenschaft zu mir entbrannt!“

„Und die jugendliche Prinzessin war wirklich nur erschrocken darüber?“ meinte das alte Fräulein lächelnd.

„Wie sollte ich nicht! Werner war mir stets ein lieber Jugendgespiele, nicht mehr. Durch steigende Zurückhaltung suchte ich seine unziemliche Gluth abzukühlen – vergebens! So mußte denn kommen, was unausbleiblich war. Als mich Werner eines Nachmittags allein im Park traf, erdreistete er sich, mir eine stürmische Liebeserklärung zu machen. Maßlose Phantasie und blindes Vertrauen auf seine Unwiderstehlichkeit rissen ihn über alle Schranken der Vernunft hinweg. Entfliehen sollte ich mit ihm in ferne Lande, wo kein Unterschied des Ranges zwei Herzen trennte, die für einander geschaffen. Er hatte sogar schon einen abenteuerlichen Plan ausgedacht, wie die Flucht ins Werk gesetzt werden könnte.

Eine Weile blieb ich sprachlos vor Bestürzung; Zorn und Schmerz über den Verblendeten erstickten mir das Wort. Bald aber gewann der erstere die Oberhand und gab mir die Sprache wieder. Mein Blut wallte übermächtig auf, in diesem Moment erschien alle schwesterliche Liebe für Werner und unsere gemeinsam verlebte glückliche Jugendzeit wie ausgelöscht.

Bebend vor Entrüstung stieß ich den Verwegenen, der meine Hand ergriffen, von mir.

‚Fort, fort von hier, Undankbarer,‘ rief ich aus, ‚sonst wäre ich gezwungen, Ihnen durch meinen Vater Ihre Stellung im fürstlichen Hause klar machen zu lassen. Wagen Sie es nie mehr, mir vor Augen zu treten!‘“

„O, so hart konnte unsere herzensgute Fürstin sein! Fanden Sie gar keinen Milderungsgrund für das romantische Verbrechen?“ fragte Benigna.

„In jenem Augenblicke nicht, später freilich urtheilte ich milder! Franz Werner war kreidebleich geworden und rang vergebens nach Worten.

‚Also so ist’s gemeint, so bitter ernst,‘ brachte er endlich hervor. ‚Nun gut – durchlauchtigste Prinzessin sollen von dem Anblick meiner plebejischen Person nie mehr belästigt werden.‘

Dabei machte er mir eine ceremoniöse Verbeugung und entfernte sich wankenden Schrittes. Ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen.“

„Und damit hatte der Jugendroman ein jähes Ende gefunden?“ forschte Fräulein von Elmenau.

„So hoffte ich. Aber denken Sie sich meine Bestürzung, liebe Benigna, als mir heute früh ein Brief gebracht wurde, den ein junger Mann an der Pforte abgegeben. Der Ueberbringer bemerkte, daß er sich gestatten würde, Nachmittags wieder vorzusprechen, um gnädigen Bescheid auf seine Bittschrift zu holen. Fürwahr, eine seltsame Bittschrift! Doch lesen Sie selbst, Benigna, und rathen Sie mir, was ich thun oder lassen soll.“

Neugierig nahm das alte Fräulein den Brief entgegen. Derselbe lautete, nach Weglassung der Titulaturen, welche sorgfältig eingehalten waren, folgendermaßen:

„Fürchten Sie nicht, daß ich abermals mich erkühne, die Schranken meiner Niedrigkeit zu übersteigen. Die Lektion, welche Sie mir ertheilt, war nur allzu deutlich. War ich doch so thöricht, unter dem Banne holden Zaubers einen Moment die Fürstenkrone auf Ihrem Haupt zu vergessen. Noch hallen in meiner Seele die Worte nach, womit Sie mich auf immer aus Ihrem Angesicht verbannten. Und dennoch wage ich jetzt die Bitte, nur einmal noch, nur auf wenige Minuten Sie wiedersehen zu dürfen. An einer Wende meines Lebens angelangt, hege ich den heißen Wunsch, Ihre Verzeihung und – wäre es nicht allzu kühn – Ihre Freundschaft wieder zu erringen. Ich bin im Begriff, mich nach Indien in Englands Dienst anwerben zu lassen. Schon Manchem ist es geglückt, mit dem Degen in der Faust zu ungeahnten Ehren aufzusteigen. Da mich die Reise zum Werbebureau nahe an den Mauern vorbeiführte, darin Sie als Gebieterin walten, wäre es übermenschliches Entsagen, wenn ich Ihnen nicht noch einmal ins Auge sehen dürfte. Ein versöhnend Wort, ein beseligender Blick als Wegzehrung, und ich fühle mich gestählt, nach den höchsten Zielen zu streben. O, versagen Sie die letzte Bitte Ihrem einstigen Jugendgespielen nicht! Sie dürfen es unbesorgt: nicht ein Wort soll über meine Lippen kommen, das Sie verletzen könnte.

In frohester Hoffnung harrt auf beglückenden Bescheid
 Durchlauchtigster gefürsteter Aebtissin
  unterthänigster Franz Werner.“

Kopfschüttelnd legte Fräulein von Elmenau das Schreiben aus der Hand, das sie mit höchster Aufmerksamkeit durchgelesen, während die junge Fürstin unruhig im Zimmer auf und ab geschritten war.

„Ihre Schilderung war nur zu treffend,“ nahm Benigna das Wort. „Ein exaltirter Kopf – welches Königreich im Mond denkt er sich wohl zu erkämpfen! Und beabsichtigen Sie, seine Bitte zu erfüllen, Gnädigste?“

„Das frage ich mich ja immer und immer wieder, ohne zu einem Entschluß zu gelangen,“ erwiederte die Prinzessin erregt. „Empfange ich Werner nicht, so ist zu befürchten. daß er sich zu einem unüberlegten Schritt hinreißen, vielleicht gar ein Wiedersehen zu erzwingen versucht. Eben so gewagt scheint es mir, seinen Besuch anzunehmen. Sagen Sie selbst, nachdem Sie den Brief gelesen, liebste Elmenau, ob ich trotz aller Versprechungen beruhigt sein darf, daß er seine Leidenschaftlichkeit zügelt! Welche Gefahr in diesen Mauern, wo jedes unbedachte Wort nur zu willige Lauscherinnen findet; denken Sie an unser Dutzend, liebste Benigna!“

„Nun, nun – Eine dürfen gnädigste Aebtissin doch ausnehmen,“ bemerkte das alte Fräulein mit einem feinen Lächeln. „Und diese Eine hat vielleicht sogar schon guten Rath zur Hand.“

Gespannt blickte Frau Mathilde auf. „Und der wäre? – Geschwind heraus damit!“

„Ich meine, Sie sollen Werner unbedingt vorlassen. Was ist denn Auffälliges dabei, wenn Sie einen Unterthan Ihres Vaters empfangen, um ihm auf seine Bittschrift Bescheid zu geben? Um unberufene Ohren und Augen fernzuhalten, nehmen Sie den Besuch im Basteigarten an, den Ihre Vorgängerin von der Stadt angekauft. Ich begleite Sie und lasse Sie wohl auch auf einige Minuten allein, wenn Sie dem Tollkopf ins Gewissen reden wollen. Natürlich bleibe ich für alle Fälle als Schutzengel in der Nähe. Ist Ihnen mein Vorschlag genehm, gnädigste Frau?“

„O, gewiß wird’s so am besten sein, meine kluge Geheimräthin. Wenn ich Sie zur Seite weiß, bin ich ja beruhigt – und doch gäbe ich viel darum, wenn die Audienz vorüber wäre!“ erwiederte die Aebtissin mit einem Seufzer.

Benigna schaute betroffen auf ihre jugendliche Gebieterin … „So bangt Ihnen doch vor dieser Begegnung? Sollte am Ende der junge Mann Ihnen mehr, als Sie zugestehen “

„Ich weiß, was Sie sagen wollen“ fiel ihr Frau Mathilde ins Wort. „Nein, nein, Sie dürfen unbesorgt sein, meinem Herzen ist Franz Werner völlig fremd. Wohl gab es eine Zeit, wo auch dies Herz sich stürmisch geregt,“ setzte sie wie gedankenverloren hinzu. „Doch nur zu bald mußte es unter dem Machtspruch der Staatsklugheit verstummen. Aber lassen wir die Vergangenheit, liebste Benigna! Ich habe längst wieder Frieden gefunden, und die Erinnerung kann mir keine Erdenmacht rauben!“




Im Basteigarten, der von den übrigen Gärten durch eine Hecke geschieden war, weilte am Nachmittag Frau Mathilde mit Benigna an einem lauschigen Plätzchen an der Mauer, welches wie geschaffen war, neugierige Blicke fernzuhalten.

Als Franz Werner sich um die festgesetzte Stunde am Klosterthor einfand, war der Pförtner bereits von Benigna unterrichtet, daß der Fremde in einer Bittschrift sich einen Landsmann der Aebtissin genannt und diese daher die Gnade habe, ihm selbst auf sein Gesuch zu antworten. Die hohe Frau geruhe dem jungen Mann im Basteigarten in ihrer Gegenwart Audienz zu ertheilen. Außerdem hatte er den Auftrag, am Eingang des Klosters zu warten und den jungen Mann nach der Audienz wieder hinauszugeleiten.

[300] Mit tiefer Verbeugung begrüßte der Thorwart den Fremden und geleitete ihn in den Garten. Franz Werner war ein schlanker Jüngling, mit feurigen, aber unruhigen Augen und dunklem Haar, das sich ungepudert unter dem keck aufgestülpten Dreispitz ringelte. Auch sein nach vornehmem Zuschnitt gefertigter Anzug wollte gar nicht zu einem hilfsbedürftigen Bittsteller passen.

Franz Werner begrüßte die Fürstin mit einer ceremoniellen tiefen Verbeugung. Als er das Haupt wieder erhob und Frau Mathilde voll ins Auge faßte, flammte es verrätherisch über sein Antlitz. Wohl hatte er die Prinzessin sich aus dem Sinn zu schlagen versucht. Er hatte sogar nach anderen Sternen ausgeschaut – um leichter zu vergessen, wie sich der zum Selbstbetrug nur zu geneigte Jüngling vorspiegelte. Bei alledem blieb das Bild der liebreizenden Prinzessin stets seinem Herzen und noch mehr seiner verletzten Eitelkeit gegenwärtig. Als Dritte im Bunde war seine Phantasie stets geschäftig, Luftschlösser zu bauen, auf deren Höhe sich das stolze Fürstenkind und der Gärtnersohn begegnen könnten. Aber in dem Moment, da nach langer Trennung die Prinzessin schöner als je vor Franz Werner stand, zerstoben alle Phantasien vor der holden sinnberückenden Wirklichkeit.

Die junge Stiftsmutter hatte wohl geglaubt, einen matronenhaften Eindruck zu erzielen durch die Art, wie sie sich zu der Audienz gekleidet. Aber die schwarzseidene Robe mit weißem Spitzenausputz und der lang wallende dunkle Schleier brachten das zarte Inkarnat ihres Angesichts erst recht zur Geltung. Prinzessin Mathilde sah heute verführerischer aus als in großer Staatstoilette. Auf ihrem Antlitz lagerte ein Hauch von Befangenheit, welche Franz Werner in seiner allzeit gefälligen Einbildungskraft zu seinen Gunsten deutete. „Wenn sie trotz alledem mich doch geliebt hätte – mich noch liebte?“ fuhr ihm blitzschnell durch den Sinn.

Die Aebtissin hatte die kleine Verlegenheit rasch überwunden. „Sie wünschen mich zu sprechen, Werner,“ nahm sie mit Hoheit das Wort. „Ich habe diesen Wunsch in Erinnerung an unsere frohen Kindertage gern erfüllt.“

„Tausend Dank für so viel unverdiente Huld, durchlauchtigste Prinzessin,“ entgegnete der Jüngling lebhaft. „Ich wußte ja, daß ich an Ihr edles Herz nicht vergebens …“

„Keinen Dank, Werner,“ unterbrach ihn die Aebtissin. „Lassen Sie mich lieber hören, wie es Ihnen ergangen ist seit jenem … seit wir uns nicht mehr gesehen,“ verbesserte sie sich.

„Ach, was ich auch immer erlebt haben mag – wie ausgelöscht erscheint mir Alles jetzt, da mir ein Glück beschieden, welches ich nicht zu träumen gewagt. O, dürfte ich diese hohe Gunst als freundliches Vorzeicheu deuten, daß durchlauchtigste Fürstin mir nicht mehr zürnen und ...“

Hier hielt Werner plötzlich inne; seine Blicke fielen auf Fräulein von Elmenau, welche bei Annäherung des jungen Mannes einige Schritte zur Seite getreten war und angelegentlich einen Oleanderstrauch betrachtete. Frau Mathilde bemerkte wohl die Ursache von Werner’s Zögern.

„Vor meiner lieben Benigna von Elmenau dürfen Sie offen reden, vor der bewährten Freundin habe ich kein Geheimniß; sie weiß sogar, was Sie hierhergeführt – und was sich ehedem zugetragen.“

„Und dürfte ich dennoch die verwegene Bitte aussprechen, mir nur ein paar Minuten Gehör für mich allein zu schenken, Durchlaucht?“

Frau Mathilde blickte fragend auf Werner. Seine Haltung war anscheinend gelassen und ehrfurchtsvoll.

„Was hätte ich auch zu befürchten?“ sagte sie beruhigend zu sich selbst und erwiederte mit scherzendem Ausdruck. „Wenn Sie mir etwa das Vertrauen schenken, Ihre Beichte zu hören, Werner, so läßt uns wohl meine liebe Benigna ein wenig allein. Aber auf ein paar Minuten nur, länger wird das Sündenregister wohl nicht währen,“ setzte die Aebtissin mit einem bezeichnenden Blick auf Fräulein von Elmenau hinzu. Diese verbeugte sich mit verständnißvollem Lächeln und begab sich auf die nahe gelegene Terrasse, welche Aussicht über den See bot.

Die Prinzessin setzte sich auf eine Marmorbank nieder und hieß Werner auf einer anderen Bank Platz nehmen.

„Nun erzählen Sie mir, wie sich Ihr Leben gestaltet hat, seit Sie Walding verlassen,“ begann sie mit freundlicher Würde, doch nicht mit ganz sicherem Tone. Es vermehrte ihre Beklommenheit, da sie bemerkte, wie Werner’s Blicke mit dem alten unseligen Feuer verzehrend auf ihrer Gestalt hafteten, und vollends, da sie das erregte Beben seiner Stimme vernahm.

„O durchlauchtigste Prinzessin – hieße es nicht die kostbaren Minuten vergeuden, die mir zugemessen sind, wenn ich von mir erzählen sollte, von dem inhaltlosen Dasein, das ich gefristet, seit ein Engel mit dem flammenden Schwert mich aus dem Paradiese verstoßen?“

„Wenn ich Sie ferner anhören soll, Werner, so bitte ich dringend – um unserer Jugendfreundschaft willen –: kein Wort von dem, was vergeben und vergessen sein soll!“

„Vergessen – wie vermöchte ich das, wenn im Wachen wie im Traume nur Ein Bild vor meiner Seele steht, den Frieden meiner Tage und die Ruhe meiner Nächte stört, mich gegen alle bessere Vernunft mit trügerischen Hoffnungen umgaukelt …“

„Halten Sie ein, Herr Werner, ich glaubte Sie gereifter zu finden, sonst hätten Sie mich nie mehr gesehen. Ist dies der Dank, daß ich so bereitwillig Ihre Bitte erfüllt?“

Bei diesen Worten hatte sich die Aebtissin rasch erhoben. Die hochaufgerichtete schlanke Gestalt erbebte. Aus dem gluthübergossenen Gesicht leuchteten die tiefblauen Augen theils in Zorn theils in Mitleid mit dem Unseligen, der noch immer im Bann seiner hoffnungslosen Leidenschaft sich quälte. Aber wie schön war sie in dieser Erregtheit! Franz Werner, das haltlose Kind des Augenblicks, fand nicht die Kraft, solchen Reizen gegenüber sich zu beherrschen. In der Bewegung der jungen Fürstin glaubte er nur allzu hoffnungsvoll zu lesen, daß unter der Maske stolzer Abweisung doch ein wärmeres Gefühl sich berge. Und wäre es auch nur die holde Täuschung eines Moments – dieser Moment sollte ihm gehören. Wenn er nur einmal die süße Gestalt umfangen durfte in seliger Trunkenheit – mochte dann geschehen was wolle.

Ehe sich’s die Prinzessin versah, lag Werner ihr zu Füßen und umklammerte ihre Hand, die er mit heißen Küssen bedeckte, während er sich in hastigen, unzusammenhängenden Worten mühte, seinem heißen Begehren, seinem sinnlosen Hoffen Ausdruck zu verleihen. Vor Schreck und Entrüstung drängte sich Mathilden alles Blut zum Herzen und pochte dann wieder stürmisch an die Schläfen. Kaum vernahm sie mehr die sich überstürzenden Worte;

[301]

Illustration zu der Erzählung: „Das Scherenrecht“ von Otto Sigl.
Nach einer Originalzeichnung von J. Watter.

[302] nur mechanisch rang sie, ihre Hand von seinen lodernden Küssen zu befreien.

Mit einem Male aber fuhr die Aebtissin jählings aus ihrer Starrheit empor und blickte entsetzt nach einer Richtung. Eben hatte sie gesehen, wie zwei Stiftsdamen, darunter die wegen ihrer bösen Zunge „das Stiftskreuz“ genannte Gräfin Hochburg, auf dem Weg sich nahten. Aus deren überraschten Gebärden entnahm Frau Mathilde, daß die Beiden die Situation bemerkt hatten.

„Mein Gott, die Fräulein!“ entrang es sich ihren Lippen.

Ein einziger Blick unterrichtete Werner von der peinlichen Lage, in welche er die Fürstin gebracht. Jäh, wie sein ganzes Thun, war auch der Ausweg, den ihm der Augenblick eingab.

Statt die Aebtissin loszulassen, zog er sie gewaltsam an sich. „Ich rette Ihre Ehre, selbst um den Preis meines Lebens; nur verschweigen Sie meinen ehrlichen Namen!“ stieß er hervor. Blitzschnell erfaßte er sodann das mit kostbaren Brillanten besetzte Kreuz der Prinzessin, riß es mit einem gewaltigen Ruck von der feinen Venetianerkette und eilte, das Kleinod in der Hand haltend, davon. Tödlich erschrocken über das so Unerwartete sank die Fürstin mit einem Schrei des Entsetzens auf die Bank zurück.

Die beiden Fräulein, welchen Werner nunmehr auf dem engen Kiespfad entgegenstürmte, flohen mit gellendem Angstruf zur Seite. Werner hatte absichtlich, als er in die Nähe der Damen gekommen, das Kreuz hoch erhoben und in der Sonne glitzern lassen, dazu so drohende Gebärden gemacht, daß der ursprüngliche Gedanke der Fräulein, hier eine pikante Liebesscene belauscht zu haben, sofort unterging in der tödlichsten Furcht vor einem Raubanfall. Sie schrieen aus vollem Halse: „Räuber, Mörder, zu Hilfe!“ als der Flüchtling an ihnen vorüber war. Auf das Gezeter eilten ein paar Gärtner mit ihren Werkzeugen herbei, während zugleich der Pförtner und Knechte aus den nahen Oekonomiegebänden dem vermeintlichen Räuber den Weg verlegten. Im Nu war Werner, der nur scheinbar Widerstand leistete, gefangen; das Kreuz in seiner Hand sprach nur zu deutlich, mit wem man es zu thun habe.

Als Benigna den Schreckensruf der Aebtissin vernahm, eilte sie erschrocken zu ihrer Gebieterin. Kaum vermochte diese in wenigen, mühsam gekeuchten Worten den Vorgang zu erklären.

„Eilen Sie, Benigna, befreien Sie den Unglücklichen,“ setzte sie dringend hinzu.

„Nein, liebste Fürstin, das darf jetzt nicht geschehen. Der Unselige mag einstweilen die Folgen seiner Verblendung tragen. Später wollen wir auf seine Befreiung denken, aber Ihr Ruf soll nicht unschuldig leiden. Außer mir weiß Niemand, in welcher Beziehung Werner zu Ihnen stand, und er selbst wird nichts verrathen. Wenn Sie jetzt enthüllen, daß der Raub nur Komödie war, ist die böse Nachrede förmlich herausgefordert. Im Uebrigen sind Sie ja Herrin über Leben und Tod auf Ihrem Gebiet, und es bleibt Ihnen das Recht, zu begnadigen, und die Möglichkeit, Werner’s Flucht zu begünstigen.“

Inzwischen hatten die zwei Stiftsdamen, als sie den Räuber dingfest gemacht sahen, sich wieder herangewagt, um nach der Aebtissin zu sehen. So war dieser einstweilen jeder weitere Einwand abgeschnitten. In halber Betäubung gelangte sie, von den Fräulein gestützt, auf ihr Zimmer, und wie willenlos ließ sie sich auf Zureden der sorgenden Benigna zu Bett bringen. Binnen Kurzem begann die Prinzessin zu fiebern. Sie hielt nur noch den einen Gedanken fest, ehe es zum Aeußersten kommen sollte, Alles der Wahrheit gemäß zu offenbaren, mochte daraus entstehen was wolle. In der nächsten Zeit wäre sie aber gar nicht im Stande gewesen, ihrer edlen Regung zu folgen. Das Fieber steigerte sich bis zu völligem Phantasiren, und der Stiftsmedikus verordnete unbedingte Ruhe und Abgeschlossenheit.

[313] Benigna sowie die Aebtissin waren sehr im Irrthum befangen, als sie meinten, der romantische Verbrecher sei der Justiz des Stiftes verfallen und mit Hilfe des ergebenen Kanzleidirektors würde sich seine Befreiung ermöglichen lassen. Bald stellte sich heraus, daß Werner außer der Gerichtsbarkeit des gefürsteten Stiftes stand. Der Garten, in dem der Raubanfall vorgefallen, war zwar durch Kauf Privateigenthum des Klosters geworden, aber unter der Territorialhoheit der Reichsstadt verblieben. Je unbedeutender damals ein Gebiet war, desto eifersüchtiger wachte es über die Ausübung seiner Hoheitsrechte, als deren vornehmstes das Malefizrecht galt. So beeilte sich denn die Obrigkeit der Stadt, beim Kanzleidirektor Dominikus Fernhaber den im Stiftsgefängniß verwahrten Uebelthäter zu reklamiren. Herr Dominikus mußte, so ungern er auch den denkwürdigen Fall aus den Händen ließ, ohne Weiteres dem berechtigten Ansinnen Folge geben. Noch am Abend des Unglückstages wurde Franz Werner der Reichsstadt ausgeliefert.

Da am andern Morgen ohnehin das hochnothpeinliche Gericht zusammentrat, um ein paar Strauchdiebe zu richten, so kam Franz Werner auch gleich mit zur Aburtheilung. Die Verhandlung nahm einen außergewöhnlich raschen Verlauf. Der junge Mann verschwieg zwar hartnäckig Namen und Herkunft, gestand aber die That, deren er beschuldigt war, unumwunden zu. Er gab an, daß er in Folge einer Bittschrift, worin er sich, um williger Gehör zu finden, für einen Landsmann der Aebtissin ausgegeben, Audienz erhalten habe. Da nun die begleitende Stiftsdame sich etwas entfernt und Niemand sonst in der Nähe war, so sei plötzlich die Versuchung übermächtig an ihn getreten, das kostbare Kleinod, welches ihm aus aller Noth helfen konnte, zu rauben.

Nach kurzer Berathung fällten die Richter das Verdikt, daß fraglicher Ungenannter nach Ablauf der gesetzlichen Gnadenfrist von drei Tagen durch den Strick vom Leben zum Tod gebracht werden solle.

In dumpfem Hinbrüten, das Haupt in beide Hände gestützt, saß Werner, als er nach dem Wahrspruch ins Gefängniß zurückgebracht worden war, in seiner Zelle. Wie himmelweit verschieden war die heroische Stimmung, welche den Jüngling zu der aufopfernden That hingerissen, von der Niedergeschlagenheit, die sich jetzt seiner bemächtigte! Nicht als ob er sein Thun bereut oder gar daran gedacht hätte, durch Preisgeben der Wahrheit sein Leben zu retten – aber eine Wandlung vollzog sich in dem Gefangenen, die er selbst vor vierundzwanzig Stunden nicht für möglich gehalten hätte. Die Leidenschaft zu der schönen Aebtissin begann in der schauerigen Kerkerluft sich merklich abzukühlen. Sie nahm also ohne Weiteres sein Opfer an und that keinen Schritt zu seiner Befreiung, die Grausame konnte es wirklich mit ansehen, daß er um ihretwillen Leben und Ehre verlor, wo sie mit einem Wort ihn retten konnte! Was hatte sie dagegen zu verlieren, wenn sie die Wahrheit offenbarte? War ja doch alle Schuld auf seiner Seite und die junge Aebtissin hatte höchstens boshafte Nachrede, die sich an die Geschichte knüpfen mochte, zu befürchten. Und darum sollte er in der Blüthe seiner Jahre den Henkertod erleiden, wie der gemeinste Missethäter? Der Gedanke an den entehrenden Strick um den Hals war ein zu beklemmender, als daß nicht in dem jungen Blut die Liebe zum Leben mit Allgewalt sich regte. „Dulce et decorum erst pro – amore mori“[1] sprach Franz in bitterer Parodie vor sich hin. Er hatte es ganz überhört, daß der Schließer in seinen Kerker getreten war, bis er vor ihn hintrat, mit einem großen Deckelkorb am Arm.

Der alte Gefangenwärter Zacharias war einer der originellsten Käuze, welche je dieses düsteren Amtes gewaltet, und bei aller anscheinenden Rauhheit ein gutmüthiger Geselle. Er versuchte nicht selten, die armen Schelme, welche auf der fatalen Grenze zwischen Sein und Nichtsein schwebten, durch humoristischen Zuspruch aufzuheitern. Darin fand er freilich meistens wenig Anklang; Zacharias war aber schon zufrieden, wenn es ihm gelang, ein Lächeln auf dem Gesicht eines armen Sünders hervorzurufen. Seine gutgemeinten Späße hatten gewöhnlich einen etwas schauerlichen Beigeschmack.

Heute aber schien er besonders gut gelaunt zu sein. „Rathet einmal, was da drinnen ist?“ fragte er schmunzelnd und lüftete den Deckel des Korbes, daraus ein köstlicher Duft von Gebratenem das Gefängniß erfüllte und ein paar Flaschenhälse lockend hervorguckten. „Nichts Geringeres, als ein vollständiges Mahl von der eigenen Tafel der Frau Aebtissin! Das gute alte Fräulein von Elmenau hat’s hierher geschickt; Ihr mögt Euch den Gnadenschmaus munden lassen, richtete der Klosterdiener aus, und besonders sollt Ihr dem weißen Wecken zusprechen. Es sei Mohn darin, der Euch vielleicht hilft, in Eurer schweren Kümmerniß Schlaf zu finden.“

Bei Erwähnung des Fräulein von Elmenau zog eine frohe Bewegung in das Antlitz des Gefangenen. So kurze Zeit er auch Benigna ins Auge gefaßt, hatte ihn doch die Herzensgüte, die aus ihren Zügen sprach, für sie eingenommen. Zugleich überkam ihn wie ein lichter Hoffnungsschimmer die Vorstellung: sie denken also doch meiner im Stift; die Elmenau ist Frau Mathildens Vertraute; sie weiß jetzt längst Alles und wird gewiß mit der Prinzessin auf Hilfe sinnen.

[314] „Mögt Ihr nicht auch mithalten, Herr Zacharias?“ wandte sich Werner an den Schließer, welcher den Korb auf den steinernen Tisch gestellt hatte und dessen Inhalt mit lüsternen Blicken musterte.

„Habe jetzt keine Zeit, muß meine anderen Pflegekinder versorgen, aber später, wenn ich wieder komme, finde ich vielleicht noch einen Becher Wein übrig und ein Stück von der prächtigen Wildpastete.“

,O, Ihr sollt von Allem haben,“ erwiederte Werner, und der alte Zacharias verließ, in Erwartung der seltenen Tafelfreuden, fröhlich mit dem Schlüsselbund klappernd, die Zelle.

Kaum war Werner allein, so entleerte er hastig den Korb seines Inhaltes. Vor Allem griff er nach dem Mohnwecken.

„Am Ende hat es eine besondere Bewandtniß damit, weil mir derselbe so auffallend bezeichnet wurde,“ schoß es ihm plötzlich durch den Kopf, und rasch brach er ihn aus einander. Siehe – da war mitten in die Krume ein dünnes Röckchen Pergament eingesteckt. Mit fiebernder Hast entrollte Werner das Blatt und las die zugleich beglückenden und räthselhaften Worte: „Nur getrost, Sie Aermster, im rechten Moment wird das Scherenrecht Sie retten!“

Ein Seufzer unsäglicher Erleichterung entrang sich der Brust des Gefangenen, als er die Heilsbotschaft gelesen. Wenn er sich auch vergebens abquälte, was das Scherenrecht besagen wollte, so galt ihm nun doch als unumstößliche Gewißheit, daß seine Befreiung bevorstände!




Das unerhörte Vorkommniß, welches den Frieden des Damenstiftes gestört, bewegte alle Gemüther im höchsten Grade. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Tauben, in welchen der Habicht eingefallen, flatterten in den Stunden nach dem Raubanfall die Fräulein, aller Würde ihrer sechzehn Ahnen vergessend, mit fliegenden Schleppen in den Korridors des Klosters umher. Endlich fanden sich Alle, wie auf Verabredung, im Konversationssaal zusammen und lauschten mit nimmersatter Neugierde auf die Berichte der zwei Hauptzeuginnen des grausen Verbrechens. Die Gräfin wollte es sich jetzt wieder doch nicht nehmen lassen, daß die Stellung, in der sie den Räuber zuerst erblickt, aufs Haar der eines stürmischen Galans geglichen. „Und welch’ wunderschöner Jüngling der schreckliche Bösewicht gewesen!“ setzte ihre jüngere Gefährtin mit schwärmerischem Augenaufschlag hinzu.

Benigna von Elmenau hatte Mühe, allen romantischen Auslegungen der peinlichen Geschichte zu steuern. Mit Sorge malte sie sich aus, welchen Umfang erst Klatsch und Verleumdung nehmen würden, falls die Wahrheit zu Tage kommen müßte. Wehe dann dem Ruf ihrer geliebten schuldlosen Prinzessin!

Mit mütterlicher Theilnahme suchte Benigna von Zeit zu Zeit die Fürstin auf, um sich zu überzeugen, daß in deren Pflege Nichts versäumt würde. Frau Mathilde lag noch immer im Fieber und phantasirte in beängstigender Weise; erst bei Tagesanbruch verfiel sie in einen tiefen Schlummer.

Die gute Benigna verbrachte ebenfalls in Sorgen eine schlaflose Nacht. Ihre Bestürzung war grenzenlos, als sie am späten Abend erfuhr, daß Franz Werner der Gerichtsbarkeit des Stifts entzogen und ins Gefängniß der Stadt gebracht worden sei. Der böse Fall war nun erst recht schlimm geworden. Sollte der verblendete Jüngling für sein allzuheißes Blut mit dem Leben büßen – unmöglich! So schien nichts Anderes übrig zu bleiben, als daß Benigna, wenn die Aebtissin nicht bald zum Bewußtsein zurückkehrte, selbst die leidige Wahrheit an den Tag brächte, um den Aermsten zu retten.

In früher Morgenstunde begab sich Fräulein von Elmenau wieder zur Aebtissin, um nach deren Befinden zu fragen. Wie groß war aber ihre freudige Ueberraschung, als sie die geliebte Fürstin völlig bei Besinnung und sogar in ihrem Bette aufsitzend und mit Schreiben beschäftigt fand.

„Dem Himmel sei Dank, daß ich Sie wieder so hergestellt sehe, erlauchte Frau, aber schreiben dürfen Sie um alle Welt noch nicht,“ mahnte Benigna.

„Auch nicht, wenn es sich um ein Menschenleben handelt?“ entgegnete die Prinzessin aufgeregt. „Als ich erwachte, war meine erste Frage, was mit dem Gefangenen geschehen? Stellen Sie sich mein Entsetzen vor, als ich erfuhr, daß der Unglückliche der Justiz der Stadt verfallen ist und schon diesen Morgen abgeurtheilt – zum grauenvollen Henkertode verurtheilt wird! Es ist keine Minute mehr zu verlieren, ich habe hier die volle Wahrheit niedergelegt, und Fernhaber soll sogleich damit zum Bürgermeister.“

,O, das macht Ihrem Herzen alle Ehre,“ erwiederte das Fräulein bewegt, „doch warum jetzt schon zum äußersten Mittel greifen, das erst recht dem Uebelwollen Thür und Thor öffnen würde? Warten wir wenigstens so lange damit, bis ich den Kanzleidirektor aufgesucht. Vielleicht findet unser treuer kluger Fernhaber einen Ausweg, Werner zu retten, ohne daß Sie, wenn auch ohne Verschulden, in Mitleidenschaft gezogen werden!“

Lange wollte die Prinzessin Nichts von diesem Aufschub hören. Nur zögernd gab sie endlich dem Drängen Benigna’s nach, weniger aus Ueberzeugung als aus körperlicher Schwäche. Sie fühlte sich durch das Fieber und die Anstrengung, welche ihr das Schreiben gekostet, so erschöpft, daß sie vorerst nicht mehr im Stande war, Benigna’s Gründe zu bekämpfen. Binnen Kurzem verfiel Frau Mathilde aufs Neue in wohlthätigen Schlummer und der hinzugekommene Medikus gab alle Hoffnung, daß die baldige Genesung der Fürstin bevorstehe.

Benigna suchte nunmehr den Kanzleidirektor auf, um in dem seltsamen Kriminalfall seinen Rath und Beistand zu erbitten. Auf Fräulein von Elmenau’s ängstliche Frage bestätigte ihr der [315] Kanzleidirektor, daß der Verbrecher ohne Zweifel zum Tode durch den Strang verurtheilt werde.

„So ist der unglückliche junge Mann wirklich unrettbar verloren?“ rief Benigna erschüttert aus.

„Der Unglückliche – geruhen gnädiges Fräulein zu sagen?“ fragte Fernhaber verdutzt. „Der ruchlose Verbrecher, der es gewagt, an unserer über Alles geliebten Fürstin ein so unerhörtes crimen zu verüben? Verloren ist er allerdings, sofern die Justificirung eines so gefährlichen Subjekts ein Verlust für die Menschheit sein sollte. Der Galgen ist ihm in der Reichsstadt so sicher, wie er ihm bei uns geblüht hätte.“

„Er kann und darf aber nicht hingerichtet werden!“ rief Benigna voll Bestürzung entgegen.

Fernhaber schaute mit großen Augen auf das Fräulein, ob er nicht recht gehört hätte. „Kann nicht – darf nicht, meine Gnädige?“

„Ach, wenn Sie wüßten, bester Fernhaber,“ fuhr Benigna fort, „wie das weiche Herz unserer Fürstin unter der Vorstellung leidet, daß der unselige Mensch wegen des an ihr begangenen Raubes zum Tode geführt werden soll! Der peinliche Gedanke an seine Hinrichtung hat sichtlich ihren Zustand verschlimmert. Ich bin fest überzeugt, daß die Kunde von seiner Begnadigung die allerbeste Arznei für sie wäre. Ich weiß ja, mein lieber Kanzleidirektor, wie hoch Sie unsere geliebte Furstin schätzen. Glauben Sie mir, die erlauchte Frau wird es Ihnen innig danken, wenn Sie die Last von ihrer Seele nehmen und es ermöglichen würden, den unglücklichen vom Henkertode zu retten!“

Herr Dominikus schüttelte bedenklich das gewichtige Haupt. Als Mann des Gesetzes fand er es unerhört, daß der Verbrecher der wohlverdienten Strafe entgehen sollte. Dagegen wieder mochte der alte Junggeselle mit Freuden jeden Wunsch seiner liebreizenden Gebieterin erfüllen. In tiefem Nachsinnen sah der Kanzleidirektor vor sich hin und spielte mechanisch mit einer riesigen Papierschere, die auf seinem Schreibtisch gelegen.

Mit einem Male sprang er vom Stuhl auf und betrachtete mit freudigem Ausruf die Schere, als ob ihm aus dem blanken Stahl ein Gedanke aufleuchte.

„Heureka – ich hab’s gefunden, meine verehrte Gnädige!“ begann Fernhaber, indem er wie im fröhlichen Spiel die Schere auf- und zuklappte.

Benigna beobachtete betroffen das seltsame Gebahren des sonst so gemessenen Kanzleidirektors.

„Was haben Sie denn? Man sollte meinen, Sie gedächten die Schere als Rettungsinstrument zu brauchen.“

„Ist auch der Fall, gnädiges Fräulein, das Scherenrecht wird den Delinquenten salviren; wo hatte ich nur meinen Kopf, daß ich nicht gleich darauf verfiel!“

Darauf begann Herr Dominikus, sichtlich erfreut, mit seiner Rechtsgelahrtheit prunken zu können, dem überrascht aufhorchenden Fräulein des Langen und Breiten aus einander zu setzen, was es mit diesem sonderbaren Gnadenrecht für eine Bewandtniß habe.




Der verhängnißvolle Morgen war angebrochen, da Franz Werner den Tod durch Henkershand erleiden sollte. Um die bestimmte Stunde begann das Armesünderglöcklein zu läuten, und der Zug mit dem Verurtheilten setzte sich nach der Richtstätte in Bewegung. An der Spitze schritten zwei Trabanten; dann folgten eine Abtheilung des städtischen Kontingents, die Vertreter der hohen Justiz und endlich der Verurtheilte mit einem Strick um den Hals, dessen Ende der Henker hielt. Zu beiden Seiten sowie am Schluß ward der Zug wieder von Stadtsoldaten geleitet, welche alle Mühe hatten, die andrängenden Neugierigen fern zu halten.

Es war ein wundervoller Sommertag; erfrischender Morgenwind kräuselte die blaue Fläche des Sees, leuchtend ragten die Schneehäupter der Berge über die grünen Ufer und fröhlich sangen die Vöglein in den Zweigen. Wohl Wenige aus der stumpfen Menge, welche gaffend und schwatzend an dem grausigen Schauspiel theilnahm, mochten daran denken, welch erschütternder Gegensatz in der friedlichen Pracht der Natur zu dem Schreckensende eines blühenden Lebens lag. Und doch – wie ergreifend war die Erscheinung des bemitleidenswerthen Helden des Schaustückes! Todtenbleich und mit gesenktem Haupte, wenn auch in fester Haltung, schritt der Aermste einher; der Ausdruck seines Gesichtes war ein tiefernster. In seiner Seele hatte in den letzten Tagen eine völlige Umkehr stattgefunden. Alle Phantastereien und Luftschlösser waren zerstoben vor dem furchtbaren Sturm seines Geschickes. Als Werner die tröstliche Botschaft Benigna’s empfangen, da hatte er sich heilig gelobt, seinem neugeschenkten Dasein fortan einen würdigeren Inhalt zu verleihen. Wohin haltlose Leidenschaft führen konnte, hatte er in entsetzlicher Weise an sich erlebt. Aber war es jetzt nicht zu spät zur Umkehr? Seit den räthselhaften Zeilen, welche Benigna im Einverständniß mit der Aebtissin ihm in den Kerker zugestellt, hatte sich nicht der geringste Hoffnungsschimmer mehr aufgethan. Nur wenige hundert Schritte trennten ihn noch von der schauerlichen Stätte des Gerichts – und noch immer kein Anzeichen, daß das Schreckliche von ihm abgewendet werden würde. Dennoch klammerte sich Franz Werner mit aller Kraft jugendlicher Lebenslust an das erhaltene Versprechen; er vermochte es nimmer zu fassen, daß die edle Prinzessin ihn so jammervoll zu Grunde gehen lassen konnte. Hatte er denn noch nicht genug gebüßt mit jedem Schritte auf dem Dornenpfad der Schmach? Als gemeiner Bösewicht der tausendköpfigen Menge zur Schau gestellt zu werden: das war eine Pein, die den Jüngling so ubermächtig ergriff, daß ihm fast die Sinne vergingen.

Der Malefikantenzug hatte sich nunmehr dem adeligen Stift genähert, an dem er auf dem Wege zum Hochgerichte vorüber mußte.

Da öffnete sich mit einem Male das Portal der Stiftskirche und heraus trat ein Zug ganz anderer Art, gar feierlich anzusehen. An der Spitze schritt Aebtissin Mathilde in schwarzer Sammtkleidung, mit den Insignien ihrer Wurde geschmückt. Ein schwarzer Florschleier umrahmte ihr Antlitz, dessen sonst so rosige Färbung einer tiefen Blässe gewichen war. Zu ihrer Rechten befand sich der Stiftsvikar, zur Linken der Kanzleidirektor in voller Amtstracht. Hinter der Aebtissin ging ein Stiftsdiener, welcher auf silberner Schale eine große scharfgeschliffene Schere trug, dann folgten, paarweise geordnet, die zwölf Stiftsfräulein, in dunkler Gewandung gemessen einherschreitend gleich dem Chor in der Tragödie.

Auf einen Wink Frau Mathildens hielt der Zug mit dem Verurtheilten still; Herr Dominikus Fernhaber schritt auf den städtischen Syndikus zu und that ihm im Namen seiner erlauchten Gebieterin kund, daß dieselbe von dem ihr zustehenden Scherenrechte dem Delinquenten gegenüber Gebrauch machen wolle.

Ungemessenes Staunen über diesen verblüffenden Zwischenfall bemächtigte sich aller Anwesenden.

„Das Scherenrecht?“

„Was mag das sein?“

„Was soll’s damit?“ so lief es von den nächststehenden Ohrenzeugen ausgehend blitzschnell durch die Menge. Die Wenigsten hatten von diesem Akt auch nur je erzählen gehört, war er doch seit fast hundert Jahren nicht mehr ausgeübt worden. Den Gerichtspersonen freilich war das Bestehen dieses Rechtes wohl bekannt.

Wer vermöchte zu schildern, was in Franz Werners Seele vorging, als die geliebte Prinzessin so überraschend gleich einem heilspendenden Engel des Lichts dem fast Verzweifelnden erschien!

Wie im Traume nur hörte er, was nun folgte und ihn doch so nahe betraf. Der Kanzleidirektor wandte sich abermals an den obersten Vertreter der städtischen Justiz mit dem Ersuchen, die von Kaiser Friedrich dem Dritten dem adeligen Stifte verliehene Gnadenurkunde vor versammeltem Volk verlesen zu dürfen. Vergebens jedoch geboten die Amtspersonen Stille, es war unmöglich, sich der aufgeregten Menge verständlich zu machen. Da verfiel der Lieutenant des städtischen Kontingents auf den Gedanken, die Trommeln einen langen Wirbel schlagen zu lassen. Das so überraschend gegebene Signal führte in der That sofort erwartungsvolle Stille herbei.

Herr Dominikus Fernhaber, welcher sich nicht wenig gehoben fühlte, in dem so seltenen Rechtsvorgang eine Hauptrolle zu spielen, entfaltete ein Pergament und begann mit weithin tönender Stimme den Gnadenbrief zu verlesen, dessen kurzer Sinn also lautete:

„Da der reichsstädtische Galgen im Einvernehmen mit dem gefürsteten Stifte auf einem Grundstück desselben errichtet wurde und desgleichen die MalefikantenzÜge dicht am Kloster vorbei mußten, so wurde vom Kaiser zum Entgelt dem Stifte das Losschneidungsrecht verliehen. Dasselbe bestand darin, daß die Aebtissin einen von der Stadt zum Galgen verurtheilten Verbrecher [316] nicht nur vom Tode, sondern auch von aller anderweitiger Strafe erlösen konnte. Eine jede Aebtissin durfte jedoch dieses nach genau festgestelltem Ceremoniell auszuübende Scherenrecht nur einmal vollziehen.“

Ein Gemurmel der Verwunderung erhob sich, als Herr Dominikus Fernhaber zu Ende gelesen hatte, und Aller Augen richteten sich gespannt auf die Hauptpersonen des Schaustückes, die schöne Aebtissin und den jugendlichen Verbrecher.

Mit einem unsäglichen Gefühl der Erlösung blickte Franz Werner tief aufathmend zum blauen Himmel empor. Wer mochte es dem lebenskräftigen Jüngling verdenken, daß seine erste Empfindung Freude über das wiedergeschenkte Dasein war? Nur zu rasch jedoch reihte sich der niederschmetternde Gedanke daran: „Was für ein Leben ist mir denn geschenkt; bleibe ich nicht als gemeiner Verbrecher gebrandmarkt all meine Tage?“

Aber Werner hatte keine Zeit, sich in solche Gedanken zu vertiefen. Als der Kanzleidirektor seine Vorlesung geendet hatte, erklärte der Syndikus, der Ausübung des Gnadenrechtes nichts in den Weg legen zu können, und gebot sodann dem Verbrecher, sich vor der erlauchten Frau Aebtissin auf die Kniee niederzulassen.

Ein fieberhafter Schauer überlief die Gestalt der jungen Fürstin, als sie den Unglücklichen in dieser schimpflichen Lage zu ihren Füßen erblickte. Sie hatte es sich in jugendlich romantischer Auffassung vorgestellt, welch entzückenden Eindruck es auf den verliebten Jüngling machen mußte, wenn sie in der letzten Minute plötzlich wie die wunderthätige Fee im Märchen hervortrat – wenn gerade sie die Retterin seines Lebens wurde. Wo blieb jetzt im entscheidenden Augenblick diese poetische Genugthuung? Wie so ganz anders als in jener unseligen Stunde der Verirrung sah der Jüngling nunmehr zu der Aebtissin auf! Als diese in das gramvolle Antlitz des einstigen Jugendgespielen schaute, dem die Qual über alle überkommene Schmach so erschütternd aufgeprägt war, da kostete es sie fast übermenschliche Anstrengung, ihre würdevolle Fassung zu behaupten. Mit Schrecken gelangte sie jetzt völlig zur Erkenntniß, was sie durch ihr Schweigen verschuldet. Bittere Reue erfaßte sie, daß sie auf Benigna’s Drängen sich hatte bewegen lassen, den leidigen Ausweg des Gnadenrechtes zu ergreifen und in kleinlicher Rücksicht auf ihren Ruf den Unglücklichen solcher Schmach zu überantworten. In diesem Moment aber reifte der Entschluß, dem um ihrer Ehre willen so Geprüften das Einzige wiederzuschenken, was ihn entschädigen konnte – seine eigene Ehre. Doch vorerst mußte sie ihres Amtes walten. Mit zitternder Hand ergriff die Prinzessin die Schere und schnitt den Strick, welchen der Henker immer noch hielt, entzwei.

„Anmit löse ich Dich, kraft des dem gefürsteten Stifte von Kaisers Majestät verliehenen Rechtes, von Tod und Gericht,“ sagte sie mit bebender Stimme.

Bis dahin war der Gnadenakt nach dem alten Herkommen verlaufen; nun trat aber eine überraschende Wendung ein. Die Aebtissin wandte sich an die städtischen Amtspersonen und lud diese ein, ihr ins Kloster zu folgen, da sie ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen habe. Darauf bewegte sich der Stiftszug, gefolgt von den erstaunten Richtern und von Franz Werner, wieder dem Kloster zu.

Auch der städtische Zug trat den Heimweg an, umdrängt von der Menge, welche sich in lärmendem Gespräch dem Nachgenuß des so unerwartet und so seltsam abgeschlossenen Schauspiels überließ.

Inzwischen hatte sich die Aebtissin mit ihrem Gefolge in den Kapitelsaal des Stiftes begeben. Franz Werner ließ sich abermals aufs Knie vor der Fürstin nieder. Er mußte ja das Opfer vollenden und nach den Satzungen des Scherenrechts seine Armesünderrolle zu Ende spielen. Mit tonloser Stimme begann er der Aebtissin für seine Begnadigung die vorgeschriebene Dankesformel auszusprechen.

„Stehen Sie auf, Unglücklicher,“ unterbrach ihn dieselbe. „Sie haben unsäglich mehr gebüßt, als Sie verschuldet. Ich kann nicht wieder gut machen, was Sie unschuldig erduldet; aber ich darf auch Ihr Opfer nicht länger annehmen!“

Ein Gemurmel der Ueberraschung über diese räthselhaften Worte durchlief die Versammlung.

Nun begann die Fürstin mit anfangs zagender Stimme, welche aber stets mehr Festigkeit und Wohlklang gewann, die volle Wahrheit über die unselige Raubgeschichte zu offenbaren.

Sie klagte sich auch offen der Schuld an, aus Beweggründen, deren Nichtigkeit sie leider zu spät erkannt, so lange mit der Enthüllung des Geheimnisses gezögert zu haben.

„Daß Alles buchstäblich so vorgegangen, wie ich eben erzählt, verbürge ich mit meinem fürstlichen Worte. Ich bin bereit, an berufener Stelle jede Auskunft zu ertheilen, welche nöthig ist, um den Schein gemeiner Missethat völlig von dem jungen Manne zu tilgen.“

Mit diesen Worten schloß die Fürstin ihre Erklärung. Wohl war ihr anzusehen, welche Ueberwindung die für ein zartes Frauengemüth so peinliche Offenbarung ihr gekostet haben mochte; aber nun sie ihr Gewissen beruhigt, hatte sie auch ihre Würde und stolze Haltung wieder gewonnen.

Wahrhaft erschütternd wirkte es jetzt, als der überglückliche Jüngling in ergreifenden Worten der Aebtissin dankte, daß sie die bittere Schande von ihm genommen, die er Zeit Lebens tragen zu müssen geglaubt. Diese wehrte bewegt allen Dank ab und wandte sich an Herrn Dominikus Fernhaber: „Anmit beauftrage ich meinen getreuen Kanzleidirektor, sogleich ins Einvernehmen mit der hohen Obrigkeit der Stadt zu treten, damit die Unschuld des Franz Werner an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen in aller Form festgestellt werde. Einstweilen lade ich Herrn Werner ein, in der Gastfreundschaft des Stiftes auf unserem Klostergute Seehof den Verlauf abzuwarten.“

Darauf forderte die Aebtissin ihr Gefolge und Werner auf, sich in die Stiftskirche zu begeben, wo nach altem Herkommen das Scherenrecht seinen Abschluß finden sollte. Erschien auch die völlige Durchführung desselben nunmehr gegenstandslos, so war es der jungen Fürstin doch hochwillkommen, im Frieden des Gotteshauses den aufregenden Vorgang ausklingen zu lassen. Nachdem sich die Aebtissin von den Herren des Gerichts verabschiedet hatte, schritt sie an der Spitze der Edelfräulein, welche noch keine Zeit gefunden, sich von dem verblüffenden Ereigniß zu erholen, in Ehrfurcht gebietender Haltung der Kirche zu.

Wahrhaft glücklich über den großherzigen Entschluß der Prinzessin war die gute Benigna. Der Anblick Franz Werner’s hatte sie aufs Tiefste erschüttert, und das Bewußtsein ihrer Schuld an dem langen Schweigen der Aebtissin war ihr als schwere Last auf dem Gewissen gelegen.

Nun hatte die geliebte Fürstin das erlösende Wort gefunden, und frei durfte sie das schöne Haupt erheben – jetzt erst wieder das sorgenloseste aller regierenden Häupter im Reich.



  1. Süß ist es und ehrenvoll, für – die Liebe zu sterben.