Das Verbrecher-Album der Wiener Polizei

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Autor: Max Huybensz
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Titel: Das Verbrecher-Album der Wiener Polizei
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 492–494
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Nutzen und Risiken einer fotografischen Verbrecherkartei
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Das Verbrecher-Album der Wiener Polizei.

Von Max Huybensz.

Ein unaufhörlicher stiller Krieg wird in den großen Bevölkerungscentren von den Sicherheitsbehörden gegen jene lichtscheuen Elemente geführt, welche Verbrechen, in erster Reihe Eigenthumsverletzungen, gewerbmäßig betreiben, welche in mehr oder minder großen, stets untereinander in Verbindung stehenden Gruppen der arbeitenden und besitzenden bürgerlichen Gesellschaft feindlich gegenüber stehen. Es ist dies der in allen europäischen Hauptstädten geführte Kampf der Polizei gegen die Verbrecherwelt. In demselben Maße wie bei der Ausführung von Verbrechen Ausdauer, Zähigkeit und schlaue Berechnung verschiedenartiger Umstände aufgewendet werden, verdoppeln sich auch die Gegenbemühungen der Sicherheitsbehörden; die Erfindungen der Neuzeit und des wissenschaftlichen Fortschrittes werden zum Schutze der bedrohten Gesellschaft dienstbar gemacht. Als eines der wichtigsten Hülfsmittel darf in dieser Beziehung die Photographie bezeichnet werden, welche nicht nur zu einer Vereinfachung der Recherchen in schweren Criminalfällen dient, sondern sich auch als höchst schätzenswerth für die stete Ueberwachung der Verbrecherwelt erweist.

Dem Beispiele der Sicherheitsbehörden von New-York und London folgend, hat die Wiener Polizei im Jahre 1869 der Verwerthung der Photographie durch Anlage eines Verbrecher-Albums Bahn gebrochen. Im großen Maßstabe angelegt und mit einem bedeutenden Kostenaufwande durchgeführt, erwies sich das Unternehmen als äußerst nutzbringend für den Sicherheitsdienst und ermuthigte zum Fortschreiten auf der betretenen Bahn. Die Gründe, welche zur Anlage des Verbrecher-Albums führten, waren zwingender Natur. Die Reichshauptstadt Wien mit einer Einwohnerschaft von einer Million Seelen (die Vororte sind in den Polizeirayon hineingezogen) hat nicht nur, wie jede Großstadt, ein ansehnliches Contingent sicherheitsgefährlicher Individuen aufzuweisen, sondern dient auch Dieben, Gaunern und anderen gefährlichen Subjecten, die in den Provinzen ihr dunkles Handwerk betreiben, im Falle der Verfolgung als beliebter Zufluchtsort für kürzere oder längere Zeit. Seit der Reorganisation der Wiener Polizei durch den zu früh verstorbenen Präsidenten Ritter von Le Monnier ist diesem Zustande ein Ende gemacht worden, und zu diesem Erfolge wurde durch die Anlage des Verbrecher-Albums nicht wenig beigetragen.

Das Verbrecher-Album befindet sich bei der Abtheilung für geheime Polizei und nimmt den Raum eines ganzen nicht kleinen Zimmers ein. Rings in diesem Zimmer stehen mächtige Schränke, deren Schiebladen je mit einem der Buchstaben des Alphabets bezeichnet sind. In der Lade A sind beispielsweise alle Photographien von Verbrechern untergebracht, deren Zuname mit diesem Buchstaben beginnt. Diese Photographien sind in zwei Hauptabtheilungen geschieden, in die der Verbrecher von Wien und in jene der Verbrecher der Provinzen. Jede dieser Abtheilungen zerfällt wieder in Unterabtheilungen nach der Specialität der Verbrecher; die Einbrecher, Banknotenfälscher, Taschendiebe etc. werden in besonderen Fächern sortirt. Durch diese mit peinlicher Genauigkeit geführte Eintheilung ist es den amtirenden Beamten möglich, aus den angesammelten Tausenden von Photographien binnen weniger Minuten das von Fall zu Fall geforderte Bild zu liefern. Die Photographien sind sämmtlich auf Cartons im sogenannten Cabinetsformate aufgezogen; die Rückseite des Cartons trägt die Registernummer der Photographie, sowie Angaben über Vor- und Zunamen, Geburtsort und Beschäftigung des Verbrechers, endlich eine sehr wichtige Nummer, welche mit der gleichen Nummer des „schwarzen Buches“ der Polizeidirection correspondirt, in welchem höchst genaue Nachweisungen über alle Personen zu finden sind, die, wenn auch nur einmal, wegen gemeinen Verbrechens mit dem Strafgesetze in Zusammenstoß geriethen. Zwei Polizeibeamte sind ununterbrochen beschäftigt, verlangte Photographien auszufolgen, neue Bilder einzureihen und zu registriren, sowie die Correspondenz über ausstehende Photographien mit den Behörden des In- und Auslandes zu führen.

Durch den besonderen Telegraphen, den die Polizei in Wien besitzt, der mit sämmtlichen Commissariaten, den Wachfilialen, den Bahnhöfen und dem Staatstelegraphen in Verbindung steht, wird eine äußerst schnelle und meist erfolgreiche telegraphische Correspondenz geführt. Es ist zum Beispiele ein gewöhnlicher Fall, daß vom Bahnhofe in Prag an die Wiener Polizeidirection telegraphirt wird: „Taschendieb N. ist soeben mit Postzug nach Wien abgereist.“ Die Depesche liegt in weniger als einer Stunde dem amtirenden Beamten des Verbrecher-Albums vor, der die Photographie des betreffenden Gauners aushebt und dem Oberinspector des Corps der geheimen Polizei übermittelt. Wenn nun der Prager Zug in den Wiener Nordbahnhof einrollt, stehen schon längst die Polizisten, in der Hand die Photographie des reisenden Diebes, am Perron und überraschen den Ahnungslosen, ehe er noch sein beabsichtigtes Gastspiel beginnen konnte. Nicht minder bedeutsam sind die Erfolge, die sich bei localen Diebstählen mit Hülfe des Verbrecher-Albums erzielen lassen. Ein eclatanter Fall dieser Art sei hier wiedergegeben. Kurze Zeit nach der Eröffnung des neuen Opernhauses in Wien wurde einem russischen Gutsbesitzer, der über die Betrachtung des herrlichen Treppenhauses der Oper die jedem Reisenden nöthige Aufmerksamkeit vergaß, von zwei geschickten Langfingern Uhr, Börse und Opernglas entwendet. Der Bestohlene wandte sich an die Behörde und erhielt von dem liebenswürdigen Oberinspector der Geheimpolizei sofort eine Reihe von Photographien der verwegensten Taschendiebe vorgelegt. Es währte nicht lange, so wies der Russe auf eines der Bilder mit den Worten: „Dieser Herr hat vorgestern mit mir an einem Tische im Hôtel gespeist.“ Zwölf Stunden später übergab die Polizei dem Reisenden seine Uhr, die Börse und das Opernglas; die beiden Diebe saßen schon hinter Schloß und Riegel und wurden später von dem Gerichte zu zweijähriger schwerer Kerkerhaft verurtheilt.

Der Polizeipräsident von Wien, Herr Ritter Marx von Marxberg, war so gütig, dem Verfasser dieses Aufsatzes einige Photographien aus dem Verbrecher-Album zur Wiedergabe in der „Gartenlaube“ zu überlassen. Es sind dies die Bilder von Individuen, welche in dem letzten Monate mit Tod abgingen; der Abdruck von Photographien in Ueberwachung stehender Verbrecher konnte aus Dienstes-Rücksichten nicht gestattet werden. Die Zahl der dem Verbrecher-Album einverleibten Photographien beträgt gegenwärtig siebentausend bis achttausend, von welcher Zahl über die Hälfte auf Verbrecher des Auslandes und der Provinzen entfallen. Die Wiener Polizeidirection steht mit den sämmtlichen Sicherheitsbehörden der europäischen Staaten und der nordamerikanischen Union in Correspondenz; sie erhält und versendet Photographien von jener Species internationaler Gauner, die den Continent durchstreifen, als vornehme Reisende auftreten und, wo sich eine Gelegenheit bietet, Diebstähle, Betrügereien und Creditzeichenfälschungen unternehmen. Das gemeinsame Vorgehen aller Behörden gegen die internationalen Industrieritter ist, wie die Erfahrung gelehrt hat, von Wichtigkeit für die großen europäischen Geldinstitute, und es ist einleuchtend, welche wesentlichen Dienste die Photographie dabei leistet.

Die sämmtlichen Photographien, welche das Verbrecher-Album bilden, zu besichtigen, würde eine Reihe von Tagen in Anspruch nehmen, aber nur einige Stunden der Besichtigung zu widmen, gewährt schon hohes Interesse. Welche Gesichter! welche Charakterköpfe! Aus dem Anblicke von Stichproben, die uns der gefällige Beamte vorlegt, empfängt man zuerst den Eindruck, wie sehr die Physiognomie über den Charakter des Menschen zu täuschen vermag. Ein Blatt zeigt den Kopf eines Greises mit wallendem Prophetenbarte und ehrwürdigen Zügen, aus welchen Ernst und Güte, der Friede einer ehrenvoll verlebten Laufbahn zu sprechen scheinen. Der Besitzer dieses schönen Greisenkopfes ist aber ein oft bestrafter Straßenräuber, der einen großen Theil seines Lebens in den Gefängnissen von Peterwardein zugebracht hat. Hier das Bild einer jungen Frauensperson von fast vollendeter Schönheit, die einem der großen Meister als Modell für einen Madonnenkopf hätte dienen können. Man sollte es nicht für möglich halten, daß

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Photographien aus dem Wiener Verbrecher-Album.
1. Einbrecher, wiederholt bestraft. – 2. Gelegenheitsdiebin, zweiunddreißigmal überführt. – 3. Banknotenfälscher, mehrmals aus der Festungshaft entsprungen. – 4. Diebshehler und Gelegenheitsdieb, vierzehnmal bestraft. – 5. Taschendieb in Vergnügungslocalen, gelegentlich Falschspieler. – 6. Ladendieb, achtmal überführt. – 7. Kartenschlägerin und Taschendiebin, sechsundzwanzigmal bestraft.

[494] dieser schöne Mund je ein gemeines Wort gesprochen, diese reine Stirn dem Verbrechen gedient, stünde nicht die Bemerkung auf dem Bilde, die bewunderte Schönheit sei eine ebenso lüderliche Dirne wie gefährliche Diebin. Das sind jedoch nur Ausnahmen; die überwiegende Anzahl der Bilder bietet keinerlei ästhetischen Reiz, wohl aber häufig genug das Gegentheil. Die von dem berühmten englischen Physiologen und Irrenarzt Henry Maudsley ausgesprochene Bemerkung über den bei Kindern der Verbrecher erscheinenden Gesichtsausdruck physischer Degeneration wird hier vollkommen bestätigt. Die Abkömmlinge einzelner leider vorhandener Verbrecherfamilien tragen den Stempel der Verworfenheit an der Stirn; man kann unmöglich häßlichere und entstelltere Gesichter sehen.

In das Verbrecher-Album werden alle wegen Eigenthumsverletzungen gerichtlich bestrafte Personen, ferner die in den Strafhäusern inhaftirten Individuen aufgenommen. Hat ein Verbrecher seine Haft abgebüßt und kehrt in den Wiener Polizeirayon zurück, wo er unter polizeilicher Aufsicht steht, so verbleibt sein Bild dem Album einverleibt. Für die photographischen Aufnahmen der Verbrecher ist ein besonderer beeideter Photograph angestellt, dessen Atelier sich im Centralpolizeigefangenhause befindet und der für die sichere Aufbewahrung der Platten verantwortlich ist. Die Aufgabe dieses Photographen ist, ganz abgesehen von dem Publicum, mit dem er zu verkehren hat, keine angenehme, indem die meisten Verbrecher einen heftigen Widerwillen gegen die Erzeugung ihres Lichtbildes äußern und eine gelungene Reproduction ihrer Physiognomie zu hindern versuchen. Manche dieser Individuen können nur durch Gewalt bewogen werden, gegenüber der Camera ruhig zu sitzen oder zu stehen; Andere schneiden Grimassen, verzerren das Gesicht und versuchen auf mancherlei Art eine getreue Wiedergabe ihrer Züge zu hindern. Trotz der Androhung von Strafen hat es sich häufig genug ereignet, daß einzelne Verbrecher fünf- bis sechsmal aufgenommen werden mußten, ehe man eine den Sicherheitszwecken entsprechende Photographie erhalten konnte. Im Allgemeinen äußern die Frauenspersonen einen heftigeren Widerwillen gegen die photographische Aufnahme als die Männer.

In den sechs Jahren, die seit der Anlage des Verbrecher-Albums verstrichen sind, hat sich der Vortheil dieser Einrichtung vielfach erwiesen, und man darf ohne Uebertreibung hinzufügen, daß in einzelnen Criminalfällen die Photographie die wesentlichsten Dienste leistete. Es muß aber auch bemerkt werden, daß der Vortheil dieser Einrichtung illusorisch wird, wenn bei der praktischen Verwendung nicht mit großer Aufmerksamkeit und Behutsamkeit vorgegangen wird. Diese Mahnung richtet sich weniger gegen die Organe der Behörde, als gegen das Publicum, das von Fall zu Fall durch die Photographiensammlungen von Verbrechern, die gegenwärtig in fast allen Hauptstädten bestehen, der Sicherheitsbehörde wichtige Fingerzeige zu geben vermag. Ein lehrreicher Fall, wie gefährlich jede Uebereilung in dieser Beziehung ist, möge hier mitgetheilt werden.

Im Jahre 1871 wurde in einer österreichischen Provinzstadt eine französische Sprachlehrerin, die als ehrbar galt, in ihrer Wohnung ermordet aufgefunden. Die polizeiliche Thatbestandserhebung und die Section der Leiche förderten widersprechende Umstände zu Tage, so daß es unmöglich war, positiv zu bestimmen, ob hier ein Mord oder Selbstmord vorlag. Die Untersuchung erhielt erst durch die Aussagen einer in dem Hause der Sprachlehrerin wohnhaften Frau neue Anhaltspunkte, welche das genaue Signalement eines Mannes gab, den sie zur Stunde, als das Verbrechen schon verübt sein mußte, aus der Wohnung der Demoiselle treten sah. Das Signalement paßte vollkommen auf einen vor kurzer Zeit aus dem Gefängnisse entlassenen Fleischergehülfen, der seiner Zeit wegen eines im Raufhandel ertheilten Messerstichs verurtheilt und im Strafhause für das Verbrecher-Album photographirt worden war. Auf Ersuchen sendete die Wiener Polizei das Bild an die Provinzbehörde; dasselbe wurde der Frau vorgewiesen, und sie erklärte bestimmt den Mörder zu erkennen. Der Fleischergehülfe wurde in Triest ausgeforscht und verhaftet, leugnete entschieden die That, konnte jedoch leider kein vollständiges Alibi nachweisen. Durch eine unglückliche Verkettung von Umständen befand sich der Mann zur Zeit, als die That geschah, auf der Reise nach Triest, und es war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß von ihm die That verübt worden sei. Der Bedauernswerthe wurde in Haft behalten und wäre vielleicht vor das Gericht gestellt worden, hätte ihn nicht die Entdeckung des wahren Thäters befreit. Die Sicherheitsbehörde war durch fortgesetzte Nachforschungen zur Kenntniß der Thatsache gekommen, daß die ermordete Demoiselle früher im Geheimen ein ausschweifendes Leben geführt, ein Factum, welches zur Entdeckung des Verbrechers den Weg wies. Dieser, ein Geschäftsagent, konnte trotz der höchst gründlichen Untersuchung nicht des Mordes überwiesen werden; der Schleier des Geheimnisses, der über der blutigen That lag, blieb nach wie vor ungelüftet. Der Fleischergehülfe wurde nach Möglichkeit entschädigt, doch welchen Ersatz bietet eine Summe Geldes für die Qualen einer monatelangen Untersuchungshaft unter dem Verdachte des Mordes! Die Schwere der Verantwortung fiel auf jene Frau, die unbedacht und leichtsinnig den Verdacht auf den Unschuldigen gelenkt hatte. Die Lehre aus diesem Justizfalle ist für Jedermann einleuchtend: wer in die Lage kommen sollte, aus vorliegenden Photographien den Thäter eines begangenen Verbrechens der Behörde zu bezeichnen, hüte sich, das entscheidende Wort zu sprechen, wenn er seiner Sache nicht ganz sicher ist!