Das Wupperthal und seine religiösen Erweckungen
Das Wupperthal und seine religiösen Erweckungen.
Wenn man von Düsseldorf, der Stadt der Künstler und Rentner, vom Dampfwagen sich ostwärts tragen läßt, gelangt man nach kaum einstündiger Fahrt mit einer raschen Wendung um das unweit Elberfeld’s in den Weg sich stellende mäßig hohe Gebirge, den sogenannten Kiesberg. Derselbe giebt mit dem gegenüber liegenden, durch den Fluß gesonderten Stützenberg einen interessanten landschaftlichen Anblick, dem der vielgenannten Porta Westphalica ähnelnd. Weit interessanter aber ist der Blick, der sich uns eröffnet, wenn wir die Wendung gemacht haben. Ein lachendes, mit Häusern bedecktes Thal breitet sich aus; mächtige Schornsteine erheben sich nebeneinander, in die frische Gottesluft den Qualm entsendend, der dem Aesthetiker ein Gräuel, dem Manne aber mit dem „linien-tätowirten Götzen“, wie ein Dichter das „Hauptbuch“ nennt, eine Quelle unauslöschlichen Ergötzens und der Maßstab seines Wohlergehens ist. Ja, es ist ein seltenes, in seiner Art großes Bild, das sich hier entrollt. Mehr denn eine Meile hin zieht sich die lange Häuserzeile, an die zu beiden Seiten sich die Reihen stattlicher Gebäude anschließen, und überall gewahrt ihr die Spuren eines nicht rastenden Fleißes, der selbst die Nacht zum Tage erhebt; von Jahr zu Jahr dehnen sich die Fabrikräume aus und nehmen theilweise den Umfang ganzer Stadtviertel an. Da wird gespult, gewebt, gebleicht, gefärbt; „die Werke rasseln Tag und Nacht“. Und der Baum läßt auf seine Frucht nicht warten. In den Straßen die soliden Quaderhäuser und in den Häusern die soliden Einrichtungen, Alles vom Besten; kein übertriebener Luxus, aber nur die theuersten Stoffe. Diese Damastvorhänge, diese Tische und Spiegel von sauberster Schnitzarbeit, diese kostbaren Teppiche verrathen, welche Bilanzen der Insasse des Hauses jährlich zieht. Und seht nur die wohlgenährten Pferde vor ihren Wagen und die blanken Carrossen, besucht ihre – freilich seltenen – Gastmahle, wo die Gartenerzeugnisse Afrika’s, die süßen Früchte der Hesperiden, alle Leckereien der Pariser Küchen, die Confitüren Brüssel’s sich ausbreiten! Da habt ihr die Ernten des Fleißes, und ihr seid versucht auszurufen: Hier müssen glückliche Menschen wohnen!
Ja, dem Fleiße haben die Bewohner dieses Thals ihren Wohlstand zu verdanken. Es ist kein Ort für Nichtsthuer. Die wenigen Rentner, die hier leben – Jeder kennt sie – gemahnen uns wie Fische, die die hohe Fluth auf’s Land geworfen und dort in einer Gesellschaft, in die sie gar nicht hinein gehören, zurückgelassen hat.
Und diese Reichen, die so stolz auf das Gewimmel der Proletarier zu ihren Füßen herabsehen, waren vor noch kurzer Zeit eben solche Proletarier; sie haben an dem sich drehenden Glücksrad eine [198] Speiche ergriffen, sich hinaufwinden lassen und – sitzen jetzt oben. Wer weiß, wie rasch sie wieder unten sind?
Eines muß euch Wunder nehmen, wenn ihr eine Weile beobachtet. Fleiß, habt ihr immer gehört und durch eigne Wahrnehmung bestätigt gefunden, macht heiter. Aber hier findet ihr vielfach die entgegengesetzte Wirkung. Die ganze Stadt macht einen ungemein ernsten Eindruck. Ihr begegnet so vielen Gesichtern, die der Abdruck eines sorgenvollen Lebens zu sein scheinen. Wie erklären wir uns das? Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das thut der Himmel. Bei dem Menschen sorgt der Mensch selbst, daß sein Glück nicht übergroß werde. Da, wo die Freude am hellsten ist, wirft er selbst die düstern Schatten hinein; da, wo von außen alle Bedingungen eines behaglichen Lebens ihm zugeführt werden, legt er von innen die zerstörende Hand an und vernichtet sein eigenes Werk.
Giebt es eine größere Segnung für die Menschheit im Allgemeinen, als die Religion? Ist sie nicht die Trösterin im Leide, giebt sie nicht dem Unterdrückten die gewisse Hoffnung auf glücklichere Zeiten, flüstert sie dem Kranken nicht Träume von blühend gesunden Tagen zu? Ich will hier nicht von Confessionen reden, den einzelnen, zum Theil so verdorrten Abzweigungen des großen Stammes. Nein, ich rede von der einen, alle Confessionen durchdringenden Religion des Gemüthes, die in dem christlichen Gebot der Liebe zu allen Menschen ihren Abschluß und ihre Vollendung gefunden hat. Und gerade das Christenthum, der lichte Gedanke, der die Schlacken der Vorurtheile zertrümmerte, die den Menschen vom Menschen trennten, der der Vorläufer und Entwickler des freien, geistigen Fortschreitens des Menschengeschlechts gewesen ist, gerade das Christenthum hat theils durch die Schlechtigkeit, theils durch die Bornirtheit der Menschen den Vorwand zur Verfinsterung des Menschengeistes hergeben müssen. Liebe ist in Haß, Licht in Dunkel verkehrt worden.
Eben dies ist der Fluch, der seit vielen Jahrzehnten auf den rührigen, gewissenhaften Bewohnern des Wupperthales gelastet hat. Nicht ein Truggebilde sind die Gerüchte, die draußen über diesen schönen Strich Landes verbreitet sind, nicht ein Wahn ist es, daß Obscurantismus und Pietismus mit ihrem schlimmen Gefolge hier ihren Thron errichtet haben. Kaum zu glauben ist es, in welchem Maße das Gift einer heuchlerischen, despotischen, alle Forderungen der Vernunft als Ketzerei verdammenden Frömmelei sich in die Herzen dieser Menschen eingefressen hat, wie die Familienverhältnisse dadurch zersetzt und Solche, die einander warme Freunde sein könnten, in Parteiungen zerrissen und um unseliger Täuschungen willen erbitterte, der Versöhnung unzugängliche Feinde geworden sind.
Religiöse Sectirerei war von jeher in diesen Gegenden einheimisch. Da sind Alt- und Neulutherische, Reformirte, Niederländisch-Reformirte, Baptisten, Anabaptisten, daneben namenlose Separatisten, welche ganz die Form der ältesten christlichen Gemeinden anstreben, in deren Versammlungen jeder Laie, wenn er sich „vom Geiste ergriffen“ fühlt, das Wort des Herrn predigt. Ein nicht seltenes Ereigniß ist es, daß Geistliche aus ihrer Landeskirche austreten und einer dieser Secten sich zugesellen, um ihr als Führer zu dienen. Wie viel Hader dies erzeugen muß, liegt auf der Hand.
Vor einer längeren Reihe von Jahren ereignete sich in dem benachbarten, auf der Höhe gelegenen Städtchen Ronsdorf ein nicht unmerkwürdiger Fall. Es bestand hier eine Gemeinde von „Zioniten“. Sie hatten den Glauben, daß der Heiland noch geboren werden sollte, und belegten sich, von diesem Glauben ausgehend, mit altjüdischen Namen: Sebulon, Isaschar, Zedekiah, Manasse etc. Ja, aus ihrer Mitte sollte der Heiland der Welt erstehn. Die Vorzeichen dazu stellten sich ein; aber siehe! an einem schönen Morgen war der Christus ein Märchen, und die Polizei des Orts fand sich bewogen, die ganze Genossenschaft aufzuheben. Noch immer aber tragen die Angehörigen des Orts die alttestamentarischen Namen.
Der große Nachtheil liegt aber nicht in solchen einzelnen Auswüchsen, die leicht ausgeschnitten werden können. Er liegt vielmehr wesentlich in der trüben, jede, auch die harmloseste Freude als etwas Verderbliches verbannenden Ansicht vom Leben, von den Pflichten des Menschen und seiner Unterwerfung unter den göttlichen Willen.
Diese „Frommen“ verlangen von denen, die zu ihnen stehen wollen, daß sie nur „beten und arbeiten“ sollen. Für sie ist die Kunst und alles Göttliche, was sie geschaffen, nur ein Werk des Teufels. Es ist sündhaft, in die Schöpfungen der Dichtkunst sich zu vertiefen und, von dem Schwunge poetischen Empfindens getragen, sich eine lichtere, höhere Welt aufzubauen; sündhaft, den Klängen fröhlicher Musik zu lauschen und von Tönen sich Trost im Leide bereiten zu lassen; sündhaft, den Wein, die edle Gottesgabe, in fröhlichem Kreise zu genießen; es ist ein Gräuel, das Bild des Lebens auf den „Bretern, die die Welt bedeuten“, zu belauschen, und ein unsäglicher Frevel, im elastischen Rhythmus sich drehend der leichtgeschürzten Terpsichore ein Opfer zu bringen.
Blieben die Eiferer bei sich selber stehen und thäten Buße in Sack und Asche, wir wollten nicht viel dagegen haben und müßten für das Entbehren ihrer Gesellschaft uns zu entschädigen suchen. Im Ganzen liegt nicht viel an ihnen; und da sie, die das Geschäft, der Drang nach dem so „verächtlichen“ irdischen Gut beständig in die Weite entführt, draußen die gefaltete Stirn glätten, mit der Zunge schnalzend von der verbotenen Frucht kosten und doppelt und dreifach das Versäumte nachholen: so entbehren sie selbst nichts. Sie haben eben einen doppelten Vortheil.
Aber unheilbringend und verderblich ist ihr Einfluß auf die große Masse des ungebildeten Volks. Vermöge ihres Reichthums und ihrer Stellung beherrschen sie Tausende, die von der Hand in den Mund leben. Gebieterisch zwingen sie ihnen ihre Moral-Edicte auf, und wehe dem, der nicht gehorsam den Rücken beugt! Arbeitsentziehung, Wegfall der Unterstützungen, Verdächtigungen und im Gefolge hiervon Noth des Unglücklichen und seines Weibes, seiner Kinder, das bleiche, nagende Gespenst des Hungers – das ist das Loos des Frechen! So bleibt dem Abhängigen nichts übrig, als Heuchler zu werden oder sich in jene Ueberzeugung hineinzuleben, welche ihm vom Leben nichts als ein dürres, farb- und saftloses Blatt übrig läßt, ein Leben, das nicht lebenswerth ist. Der Arme, der sechs bittere Tage im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hat, hat keinen Sabbath; geht er in’s Wirthshaus, um eine kurze Spanne Zeit seines Elends zu vergessen; will er dahin, wo Musik schallt, die sich schmeichelnd und lind an sein sorgengedrücktes Herz legen könnte; wandelt er zum Theater, wo er etwas Besseres lernen kann, als was ihm sein Webstuhl und die verpesteten Räume, in denen er Tag für Tag färben und immer wieder färben und nichts als färben muß, sagen; tanzt gar der Gottvergessene: so ist er dem Banne verfallen. Ja, noch weiter: er darf sich auch nicht einmal des mit unsäglichen Mühen Erworbenen freuen. Ihm ist es nicht erlaubt, sein weniges Mobiliar, sein winziges Häuschen (Alles, was er besitzt) gegen den Grimm des tückischen Feuers zu schützen; denn gepredigt wird ihm, daß, wer seine Habe versichern läßt, in die göttliche Fügung eingreift und wider die Vorsehung frevelt! In dieser Schilderung ist nichts Uebertriebenes. Ist es doch vorgekommen, daß ein sehr geachteter Mann aus einer der angesehensten Familien wegen Besuchs eines Concerts, in dem ein geistliches Oratorium aufgeführt wurde, mit der kleinen Interdiction belegt worden ist!
Den letzten Wochen des Februars im Jahre des Heils eintausend achthundert und einundsechzig war es aber vorbehalten, Enthüllungen zu bringen, die alles Frühere überbieten und eine Gefahr aufdecken sollten, der nicht ernst und entschieden genug begegnet werden kann. Hatte das Zelotenthum bisher seine Opfer unter den Erwachsenen, den Urtheilsfähigen gesucht, so trat es jetzt mit demaskirtem Cynismus in den Kreis der harm- und achtlosen, jeder fremden Einwirkung schutzlos preisgegebenen Kindheit, und Diejenigen, die ihre Hüter, Lehrer und Schirmer sein sollten, offenbarten sich als die schlimmsten Feinde und Zerstörer ihres körperlichen und geistigen Wohls.
Du hast, lieber Leser, schon mehrfach von den Methodisten Englands und Nordamerika’s gehört, die fast nur in den äußeren Werken der Religionsübung, dem Beten, Fasten und Singen die Religiosität suchen und ihren Namen daher haben, daß sie diese in eine Methode bringen. Bei ihren Versammlungen lassen sie den Einen und Andern vom heiligen Geist ergriffen werden, der nun urplötzlich beginnt, Reden der Buße und Bekehrung ausströmen zu lassen. Der nüchterne, durch philosophische Bildung gezeitigte Geist der Deutschen hat – zu unserm Heil – solche Verirrungen uns ziemlich fern gehalten. Aber selbst jene Exaltirten gestatteten es doch nicht, daß auch das unmündige Alter in solch’ ekstatische Zustände hineingezogen wurde; die unschuldigen Kindlein ließ man nicht durch höhere Eingebung in fremden Zungen reden.
[199] In der zweiten Hälfte des Februars l. J. hörte man aber zum ersten Mal von solchen Dingen in Elberfeld reden. Mit unglaublicher Schnelle wuchs das leise Geflüster zur lauten allgemeinen Rede an; die Stadt verschloß sich bald jedem anderen Interesse. Man traute seinen Ohren nicht, als man von „Erweckungen“ der Kinder des Waisenhauses reden hörte, die Tag und Nacht in allen Winkeln, sogar in den Kellern des Gebäudes im Gebete lägen, jammerten und schrieen, in heftigen Krämpfen sich wänden, predigten, sängen, den Teufel in den „nicht ergriffenen“ Kindern beschwörten!
Aber man traute noch weniger seinen Augen, als man an demselben Tage, an dem diese Erzählungen in bestimmterer Gestalt umliefen, die authentische Bestätigung von alle diesem Unfug in dem frohlockenden, siegesstolzen Bericht las, den der Vorsteher des Waisenhauses, Grafe, in dem kirchlichen Blatte „der Säemann“ der Beurtheilung der Welt preisgegeben hatte!
Nur wer hier zu dieser Zeit gewohnt hat, kann sich einen Begriff von dem Grade und Umfange des Unwillens machen, der wie ein Geschwür aufbrach und in allen Kreisen der Stadt sich kundgab. Hätte eine große Feuersbrunst namenloses Elend angerichtet, so hätte den, der sie angefacht, ein allgemeinerer Zorn nicht treffen können. Man fragte sich, da man erfuhr, daß seit mindestens 14 Tagen das Unwesen getrieben worden war, wie es komme, daß die städtischen Behörden nicht schon eingegriffen hätten, und erfuhr nun, daß zur Zeit der Oberbürgermeister auf Reisen gewesen sei, in Bonn, wo in der dortigen englischen Gemeinde in Folge einer von England ausgegangenen Anregung eine Gebetswoche auf den 6. bis 13. Januar ausgeschrieben war, von den Vorgängen im Waisenhause gehört habe und nun hierher geeilt sei, um seine Pflicht zu thun. Wir wollen dies glauben, weil seitdem dieser Ehrenmann mit Energie und Consequenz gegen die Urheber des Uebels aufgetreten ist.
Da es meine Absicht ist, mich streng an die Thatsachen zu halten, so lasse ich hier die Worte des Vorstehers des Waisenhauses in kurzem Auszuge folgen. Sie kündigen sich in der Überschrift als „vorläufige Mittheilungen über die in den letzten Wochen unter den Waisenkindern des städtischen Waisenhauses zu Elberfeld stattgefundene Erweckung“ an. Durch die vom evangelischen Bunde in England ergangene Aufforderung zum gemeinsamen Gebet hätten die Angehörigen des Hauses sich veranlaßt gefunden, auch ihrerseits in gemeinsamen Gebetsstunden zusammenzutreten und den Herrn außer in den vom Bunde vorgeschriebenen allgemeinen Reichsangelegenheiten vorzugsweise um Bekehrung ihrer Pfleglinge anzurufen.
„Alle fühlten sich neugestärkt,“ so heißt es in dem Bericht; „sie ahnten jedoch nicht, in welcher außerordentlichen Weise der Herr mit seiner Hülfe nahe war. Denn nicht lange mehr sollte es währen, daß der Herr ihnen unter Augen stellen wollte, wie er Gebet erhört … Schon am 13. Januar bemerkte man Nachmittags eines der größern Mädchen stille unter den andern sitzen und an ihren Spielen nicht Theil nehmen, sondern sichtbar innerlich ergriffen. Am Abend kam es zum Vorsteher des Hauses, klagte über Seelenangst und begehrte, ihm sein Herz auszuschütten. Dieser wies es auf den Heiland hin … Am folgenden Sonntag stellte dieselbe Unruhe sich wieder ein; aber der Herr erbarmte sich und schenkte ihm freudigen Glauben und Gottesfrieden. Bald nach dem 13. Januar kam ein zweites Mädchen zum Vorsteher, klagte über Angst und Sündennoth und wünschte jeden Abend in der Stille zu beten. Es bat um den Schlüssel zu einem freien Zimmer; dieser wurde ihm auch gegeben, übrigens aber die Sache geheim gehalten. So fanden sich noch mehrere Mädchen ein. Mit einigen betete der Vorsteher auch gemeinsam, ersuchte auch die schon „angefaßten“, für die andern mit zu beten … Am 28. Januar wurde der Vorsteher Abends durch einen Knaben vom Essen gerufen und ersucht, mit zu einem andern Knaben zu gehen, der in der Kellertreppe lag und mit lauter Stimme ausrief: „Lieber Heiland, vergieb mir alle meine Sünden!“ Er hatte einen heftigen Bußkampf. Den herzugelaufenen Knaben wurde der Wunsch ausgesprochen, auch sie müßten sich so vor dem Herrn hinwerfen. Der Vorsteher betete mit dem „angefochtenen“ Knaben und noch zwei anderen, von denen einer dem andern vorher den ersten Psalm erklärt hatte. Während dessen liefen vier andere Knaben ebenfalls „ergriffen“ in die Badeküche und schrieen zum Herrn um Erbarmen. Sieben Knaben waren jetzt so mächtig angefaßt, daß sie nicht schlafen konnten. Sie standen wieder auf und gingen in das Aufenthaltszimmer der Knaben, wo sie im Beisein des Aufsehers die ganze Nacht unter Bitten und Flehen zubrachten.
Am andern Morgen fühlten sie sich so an den Herrn gefesselt, daß sie Hohn, Spott und Verfolgung der Andern ruhig ertragen konnten. Sie vereinigten sich auch den Tag über in jeder freien Viertelstunde wieder zum Gebet, lasen Schriftabschnitte, erklärten sich dieselben, sangen geistliche Lieder. Diese Knabengemeinde wächst nun am folgenden Tage auf 16, die man auf dem freien Zimmer auf den Knieen oder gar auf dem Angesichte liegend findet; man hörte von ihnen ein gleichzeitiges Rufen um Gnade, um Erbarmen, um Vergebung der Sünden, um eine Ausgießung des heiligen Geistes für sie, für die andern Kinder und für das ganze Haus. Am 31. Januar füllt sich bereits das ganze Zimmer mit Knaben an, die gemeinschaftlich beten wollen. Ein Kind von zehn Jahren sagt zu den Andern: „Ihr wißt, daß die Heuchelei eine große Sünde ist. Es stehet geschrieben, daß die Heuchler nicht in das Himmelreich kommen. Wem es von Euch nicht Ernst ist, der gehe lieber von uns weg.“ Es geht aber Keiner. Dann Gebet eines vierzehnjährigen Knaben, aus dem man staunend den Geist reden hört. Einer liest Offenb. 21, der Zehnjährige hält darüber einen Vortrag, daß man sich fragt: Woher kommt dem Solches? Der Vorsteher wirft sich jetzt mit ihnen nieder, betend. Bald betet jeder, was ihm auf dem Herzen liegt. Abends kommen zur gemeinsamen Gebetsstunde schon 30 Knaben und 30 Mädchen.
Nach der Stunde gingen die angefaßten Kinder wieder in den Keller, warfen sich auf die Kniee und beteten. Ein vierzehnjähriger Knabe, der bis jetzt gespottet hatte: „Wenn sie alle selig werden, so will ich doch nicht selig werden,“ war zu Bett gegangen, um zu schlafen. Aber er kann nicht schlafen. Es war von den erweckten Kindern fortwährend für ihn gebetet worden. Erhört, daß sein liebster Freund, der zufällig im Waisenhause ist, der kleinen Betgemeinde sich angeschlossen hat, und sagt: „Jetzt ist meine Kraft halb gebrochen.“ Er steht auf und geht in den Keller. Er fällt augenblicklich nieder, schreit und liegt in den heftigsten Krämpfen, sodaß er wieder zu Bette getragen werden muß. Eine große Seelenangst hatte sich seiner bemächtigt. Die Krämpfe dauerten über drei Stunden. Er war während dieser Zeit sprachlos, hatte aber volles Bewußtsein. Am nächsten Morgen war sein Widerstand gebrochen, aber noch kein rechter Glaube verspürbar. Gegen elf Uhr stellten sich die Krämpfe wieder ein und dauerten bis ein Uhr. Um 4 Uhr äußerte er, daß er jetzt wieder glauben könne. Abends 7 Uhr verfiel er abermals in Krämpfe, die bis 11 Uhr dauerten. Er hatte in dieser Zeit einen gewaltigen Hunger nach Seelenspeise. Die Kinder und Erwachsenen mußten mit ihm singen, beten etc., auch suchte er sich mit seinen krampfhaft zitternden Händen solche Capitel in der Bibel selbst auf, die man ihm vorlesen sollte, unter andern auch Psalm 23. Auf einer ihm gebrachten Tafel stand ein Liedervers; er nahm sie, flog mit seinen Augen über die Schrift und machte den Eindruck, als hätte er die Schrift verschlingen wollen. Der Vers lautete:
Weg mit allen Schätzen,
Du bist mein Ergötzen,
Jesu, meine Lust etc.
Gegen 8 Uhr mußte der Vorsteher mit ihm beten. Nach einer Weile hörten die Krämpfe plötzlich auf; er faltete die Hände und sprach mit lauter, klarer Stimme:
Ach, was hör’ ich! Gnade, Gnade,
Gnade schallet in mein Ohr!
Ach, es hebt vom Sündenpfade
Mich ein sanfter Zug empor!
Gott spricht: Sünder, Du sollst leben;
Deine Schuld ist Dir vergeben.
Weiter kann er nicht; denn es stellten sich die Krämpfe plötzlich wieder ein. Gegen 11 Uhr wurde er ruhig, schlief bald ein und erwachte am andern Morgen mit einem stillen Frieden im Herzen, den er auch bis jetzt behalten hat. Diese wunderbare Gnadenthat des Herrn hatte auf alle Kinder den tiefsten Eindruck gemacht, und es fanden sich nun immer mehrere ein, die sich mit den schon erweckten ebenfalls vor dem Herrn niederwarfen und beteten. Nachmittags sahen wir ein Verzeichniß von 37 Knaben, die alle beteten. An der gemeinsamen Gebetsstunde am Abende nahmen über 60 Knaben und ebenso viele Mädchen Theil. Bei dem Aufstehen der Versammlung fing ein elfjähriger Knabe zu beten an, so inbrünstig und schriftgemäß, daß es Allen durch die Seele fuhr. Es ist dies [200] wohl das erste Mal gewesen, daß ein Kind im Waisenhause öffentlich frei aus dem Herzen gebetet hat. Nach ihm beteten noch etwa 4 oder 5 Knaben, zuletzt der, welcher am vorigen Abend noch in Krämpfen gelegen hatte. Er dankte dem Herrn für seine wunderbare Rettung, gerieth jedoch abermals in Krämpfe und mußte weggebracht werden. Bald jedoch wurde gemeldet, daß er mit den Knaben, welche auf der Krankenstube bei ihm waren, Loblieder singe. Als später einer der Erwachsenen herzliche Worte an die Kinder richtete und dann auch den Erwachsenen sagte, daß unter ihnen vielleicht der Eine oder Andere noch Buße thun müsse, mußten zwei Erwachsene und mehrere Kinder, von ihrem Sündengefühl überwältigt, hinausgebracht werden, später betete noch eine Reihe Knaben. Ueber die Zeit war man nicht mehr Herr; der Herr hatte ja selbst das Regiment ergriffen, und so konnte die Stunde erst um 10½ Uhr geschlossen werden. Man hörte dann das Haus aus allen Seiten von Dank- und Lobliedern widerhallen. In dieser Nacht wurden dem Herrn viele Kinder geboren. Das war der denkwürdigste Wochenschluß, der je im Waisenhause stattgefunden hat.
Am folgenden Sonntage, 3. Februar, war wieder Gebetsstunde. Die Betheiligung daran war größer, als zuvor. Sieben- bis achtjährige Kinder schrieen um Gnade, um Vergebung der Sünden, um ein reines Herz, um den heiligen Geist, auch für die Angestellten und den Hülfslehrer der Kleinen. Eines der Kinder fällt dabei wie todt nieder und bleibt eine Zeit lang in kalter Erstarrung. Gegen 11 Uhr kamen nach einander drei größere Mädchen zum Vorsteher, mit denen er einzeln beten mußte. Es wurde ihm gemeldet, daß die Mädchen aus einem der Schlafsäle nach ihm verlangten und daß er mit ihnen beten solle. Als er endlich kommen konnte, ach, wie wurde er da überrascht! Fast alle Mädchen von sämmtlichen Sälen waren zusammengekommen, weinten laut, lagen auf den Knieen, in den Betten, neben den Betten und in den Winkeln umher. Man hörte ein lautes Rufen um Gnade und Erbarmen. Je länger der Vorsteher betete, desto lauter wurde das Jammern und Stöhnen der Kinder, und als er schloß, hörte man bald von vielen Seiten her einzelne Mädchen in der brünstigsten Weise für alle andern laut beten. Hätte doch ein jeder Christenmensch diesen Anblick haben können! Nach Mitternacht kamen die Mädchen nach und nach wieder zur Ruhe und lagerten sich dann in großer Anzahl in eine der Treppen und den anstoßenden Gang und sangen: „Sieh, hier bin ich, Ehrenkönig, lege mich vor Deinen Thron“ etc., sowie andere geistliche Lieder. In der Morgenandacht am 4. Februar mußte wieder ein Knabe weggebracht werden, und eine Stunde später drei andere aus der Schule, die sehr über ihre Sünden jammerten.
Wiederholung des Früheren am Abend. Vier Kinder waren während der Stunde wieder hingefallen und mußten weggetragen werden; darunter ein auswärtiger Lehrling, den eine unsichtbare Gewalt in’s Waisenhaus geführt hatte. Er hat später erzählt, daß er auf dem Weg immer habe laufen müssen. Er hat mehrere Tage und Nächte heftig kämpfen müssen, mitunter war er förmlich am Brüllen (sic!); aber er hat jetzt lebendigen Glauben und Frieden. Am folgenden Tage, 5. Februar, wurde ein Kind nach dem andern von göttlicher Traurigkeit ergriffen, brach zusammen und mußte zu Bette gebracht werden. Im Laufe des Tages lagen sie zu Dutzenden da und jammerten in großer Angst, aber theilweise auch unter heftigen Schmerzen laut. Viele dieser Kinder hatten krampfhafte Anfälle, verloren die Sprache und schlugen fortwährend mit den Händen, gaben dabei aber immer das Verlangen kund, daß mit ihnen gebetet werden solle. Die Angstanfälle dauerten bei einzelnen Kindern fast fortwährend, bei andern Kindern kehrten sie in Zwischenräumen von einigen Stunden wieder. Am 6. Februar Abends war die durch die schreienden Kinder hervorgerufene Aufregung wieder sehr groß. Ein beim Abendessen ergriffener Knabe fand nach einer vielleicht nur eine halbe Stunde anhaltenden tiefen Erschütterung wieder Ruhe und wurde in die höchste Freude versetzt, in welcher er über seinen gnadenreichen Heiland laut jubelte. Der Vater desselben hatte vor vier Jahren, auf seinem Sterbelager zum Glauben gekommen, seinem Heiland die Kinder an’s Herz gelegt. Ein siebzehnjähriger Knabe von der Schusterei des Waisenhauses, bis dahin ein Spötter, sinkt, nachdem er geäußert: „er wolle, daß er auch in einen solchen Kampf fiele,“ plötzlich hin, tritt mit den Füßen, schlägt mit den Händen, schreit und stöhnt, wie ihn der Satan gepackt habe und ihm den Mund zuhalte, wenn er beten wolle. Später, da er einen unempfänglich gebliebenen Knaben umarmen wollte, trat dieser jenem, der grauenhaft aussah, nicht näher, sondern sagte: „Er kratzt mich.“ Da streckt ihm jener noch einmal die krampfhaft zusammengezogene Hand entgegen und sagt knirschend: „Th., bete, er kriegt Dich gewiß!“ Der Freund, den es kalt überlaufen mochte, entfernte sich. Am 7. Februar lagen 20 Knaben zu Bette, größtentheils unfähig zu sprechen; sie mußten durch Schreiben ihre Wünsche äußern, waren aber fortwährend bei vollem Bewußtsein, selbst unter den heftigsten Convulsionen. Waren sie ruhig, so riefen sie zum Herrn, auf daß sie von dem argen, bösen Feinde nicht noch länger angefochten würden. Am 13. Februar belief sich die Zahl der also angefochtenen Knaben auf 33; andere Miterweckte blieben ruhig, ebenso die meisten Mädchen.
Eines Abends hörten wir, unbemerkt, von einem zehnjährigen Knaben ungefähr folgendes Gebet: „lieber Herr, Du hast gesehen, daß wieder viele Knaben im Gebet lau geworden sind; auch ich bin lau geworden. Ich bekenne es Dir; ich will aber nicht wieder lau werden. Ich danke Dir auch, daß Du mich in dieses Haus geführt hast. Ich glaubte früher, ich hätte es hier schlecht; wir Alle glaubten das; aber jetzt sehen wir, daß wir es gut haben. Herr, es ist auch hier zu Hause lange nicht an die syrischen Christen gedacht worden. Hilf ihnen, aber auch ihren Verfolgern, den Muhamedanern. Sie haben ja eine falsche Religion. Sie verehren einen Propheten, der ein falscher Prophet ist. Aber sie sind treu in ihrer Religion. Sie gehen ja mit ihrem Koran treuer um als viele Christen mit der Bibel. Herr, hilf auch den armen Leuten in Holland, die jetzt durch die Ueberschwemmung in große Noth gekommen sind. Herr, erbarme Dich, über uns Alle“ etc. Der größte Theil der Kinder (es sind über 295 im Hause) ist jetzt schon erfaßt: alle stehen unter dem Eindrucke der gewaltigen Thaten Gottes. Wir bitten alle Gläubigen, des Waisenhauses fürbittend vor dem Herrn zu gedenken, auf daß er sein Feuer, das er auf Erden anzuzünden sich in dieser Zeit wieder mächtiger aufgemacht hat, heller und weiter brennen lasse zum Preise seines hochheiligen Namens. Elberfeld, den 13. Februar 1861.“
Es scheint unnöthig, an obige von der extremen Partei, die wir hier bekämpfen, selbst ausgegangene Darstellung den Maßstab der Kritik anzulegen; sie richtet sich selbst. Jeder, der dies mit gesunden Sinnen liest, muß Abscheu gegen das Gebahren von Erziehern fühlen, welche die ihnen anvertrauten Waisen geistigem und körperlichem Verderben überliefern. Noch bis heute 7. März sind die Spuren der Krampfanfälle nicht verwischt; noch liegt eine Reihe von Kindern krank darnieder. Die heftige Aufregung, in welche man diese zarten Seelen versetzt hat, reichte schon für sich allein hin, ihren Körpern einen schweren, vielleicht irreparabeln Schaden zuzufügen; nun hat man aber die in solche Ueberspannung getriebenen kleinen bei nächtlicher Weile im kalten Winter in den Gängen und Kellern auf dem bloßen Erdboden herumliegen lassen. Selbst wie die schrecklichen Folgen, stundenlange, sich wiederholende Krämpfe und epileptische Zufälle und zeitweiliger Verlust der Sprache, sich einstellen, haben diese Wärter der Kindheit kein Einsehen: sie finden vielmehr in alle dem eine Offenbarung des heiligen Geistes und freuen sich herzlich darüber!
Der draußen stehende Nüchterne wird unschwer auf die Vermuthung pfäffischer Arglist kommen. Wir können dem, wenn wir den ehrenwerthen Charakter der mit der Leitung des Waisenhauses Betrauten in Erwägung ziehen, nicht beitreten. Aber verhehlen dürfen wir es uns nicht, daß mittelalterliche Bornirtheit und heuchlerische Lüge hier in einem noch unentschiedenen und schwer zu entscheidenden Grenzstreit liegen.
Hören wir, was selbst die kirchliche Partei, d. h. diejenige, die nicht das schön Menschliche ertödten, sondern läutern und klären will und die sich hier entschieden den Frommen entgegenstellt, die frömmer und gottergebener sein wollen, als Gott selbst, über die Vorgänge des Waisenhauses urtheilt.
„Bei den Erweckungen im Waisenhause,“ sagt das von einem Geistlichen redigirte „Evangelische Gemeindeblatt für Rheinland“, „ist leider viel Gemachtes und also Fleischliches und Unberechtigtes untergelaufen, wobei dann zu erwägen, daß es namentlich in Anstalten christlicher Nächstenliebe, wo in beschränkten Räumen so viele Jüngere und Aeltere zusammenleben, nicht schwer sein mag, so etwas absichtlich [201] hervorzurufen, daß es unter Kindern bei ihrer geistigen Unreife doppelt leicht, darum aber eben doppelt unzulässig erscheinen muß, solche Dinge zu erregen, und daß bei dem allgemeinen Bildungsstandpunkte und der religiösen Stellung so mancher Anstaltsbrüder eine doppelt große Gefahr und Versuchung darin liegt, in solchen Erscheinungen in ihrer Anstalt eine besondere Auszeichnung und Verdienstlichkeit um das Reich Gottes suchen und finden zu wollen … Ein gemachtes, unrichtiges Wesen zeigt sich vom Januar an, an dessen Abend Klug, der Waisenhausvorsteher, den Knaben Schmitz auf der Treppe sitzend und laut um Vergebung seiner Sünden schreiend fand. Statt denselben sofort in aller Stille in sein Kämmerlein zu führen, ihn dort zu trösten und mit ihm zu beten, zeigte ihn Klug erst den andern Knaben als nachahmenswerthes Beispiel … Das war gefährlich und wirkte nur allzu rasch, indem selbigen Tags schon die Unordnung eintrat, als Verlegung des Schauspiels von der Treppe in den Keller, wo vier Knaben um Erbarmen schreiend gefunden wurden … Durch alle auffallenden Erscheinungen ließ sich Klug nur desto mehr im allabendlichen Halten außerordentlicher Gebetsversammlungen bestärken; … kurz alle Ordnung und Regel des Hauses war gestört, und Niemand scheint das für unschicklich gehalten und an ihre Herstellung gedacht zu haben … Am Dienstag, 5. Februar, ging nun die Sache in’s Große. Nachdem Klug mit Knaben und Mädchen gebetet hatte, traten die bisher einzeln vorgekommenen körperlichen Affectionen massenhaft auf; ein Kind nach dem andern wurde ergriffen von einer „göttlichen Traurigkeit“, wie der Bericht sagt, brach zusammen etc. 40 bis 50 Kinder wurden in kurzer Zeit von Krämpfen erfaßt, oft plötzlich ohne unmittelbare äußere Einwirkung, oft nachdem von andern Kindern gerade speciell für sie um den Geist gebetet worden … Mit Bewußtsein, aber sprachlos lagen dabei die Kinder da, schrieen, jammerten, wälzten sich umher und bewegten den Kopf so sehr, daß, um Verletzungen zu verhüten, die Kopfkissen in die Höhe gezogen werden mußten. Dieser Zustand, der wirklich mehr an die Besessenen zur Zeit Christi, als an ein Einwohnen und Einwirken des heiligen Geistes erinnert, war von verschiedener Dauer … Hiernach ist wohl klar, daß den Vorsteher Klug mit Recht der Vorwurf trifft, alle Hausordnung vergessen und die regellosesten, für Leib und Seele der Kinder bedenklichsten Erscheinungen und Zustände absichtlich befördert zu haben … Grafe scheint von Anfang an das Bedenkliche und Gefährliche, was in dem unordentlichen Wesen und den leiblichen Affectionen lag, nicht gespürt zu haben, sondern hat die Sache nur mit der größten Freude verfolgt. Selbst der Hausarzt ist erst in letzter Zeit, als am 23. Februar noch zwei Kinder von Krämpfen befallen wurden, darauf gekommen, die doch mindestens höchst überflüssige und gefährliche Affection zu hemmen durch das einfache Mittel, ihnen kaltes Wasser in’s Gesicht zu gießen. Auch in einer Elberfelder Elementarschule hat der Lehrer einen Knaben, der sich winselnd und klagend über das Pult legte und der Weisung, gerade zu sitzen, nicht folgte, indem er von heftigem Gebetsdrange sprach, mit entschiedener Züchtigung zur Ordnung gebracht.“
Rühmend muß es anerkannt werden, daß die städtischen Behörden gegen die Partei, deren unseligem Einflusse wir das Geschehene zu verdanken haben, mit Entschiedenheit Front machten und mit Ernst und Eifer den Kampf mit derselben aufnahmen. Der Oberbürgermeister der Stadt leitete die Untersuchung ein, vernahm die Angestellten und sonstigen Angehörigen des Waisenhauses. Er erstattete dem Gemeinderath hierüber umständlichen Bericht, welcher alles Obige in erhöhtem Maße bestätigte. Die Vorgänge, wenn ein Knabe den andern bekehrte, hatte Grafe dahin geschildert, daß der schon angefaßte Knabe ausrief: „Herr, fasse ihn, wirf ihn nieder, schlag ihn nieder!“ etc.; und Grafe fügte hinzu, daß, wenn dies ein- oder mehrere Mal geschehen sei, der betreffende Knabe wirklich, von Seelenangst ergriffen, niedergefallen sei. Der Zustand der in Krämpfen liegenden Kinder wurde von den Beamten genau so beschrieben, wie es oben dargestellt ist. Ein Knabe war in zwei Tagen nur eine Stunde lang der Sprache mächtig gewesen; manche Kinder wurden dann nur einmal, andere zwei oder drei Tage nach einander erfaßt. Einer der Knaben theilte dem Oberbürgermeister im Tone unnatürlicher Erregung und unaufgefordert mit, was sie gebetet hätten; es begann damit: „daß der Herr ihnen den Schild des Glaubens geben wolle, um damit die feurigen Pfeile des Satans auszulöschen“ etc. Kluge gestand ein, er habe der Bewegung gegenüber nichts gethan, was die Kinder wieder zu einem ruhigen, nüchternen, ordnungsmäßigen Wesen zurückführen konnte; in dem Hause sei eine unmittelbare That Gottes geschehen, welcher zu widerstreben er für ein Verbrechen gehalten haben würde; er habe die Vorgänge mit Freuden gesehen und freue sich noch jetzt daran; denn er sei überzeugt, daß dadurch vielen Kindern das Seelenheil erworben worden sei. Die körperlichen Krankheitszustände schlug er, in Anbetracht des Seelenfriedens, welcher darauf gefolgt und durch sie vermittelt sei, gering an. In der Unterstützung, die ihm das Hauspersonal lieh, erkannte er, welch ein Segen es sei, nur christliche Leute im Hause zu haben, da er dadurch der Nothwendigkeit enthoben worden sei, Gebethelfer von außen herbeizurufen. Die aus sogenannten „gebildeten Männern“ bestehende Direction des Waisenhauses erklärt in dem betreffenden Sitzungsprotokoll, sie seien zusammengekommen, um Ohren- und Augenzeugen des wunderbaren Gnadenwerks zu sein, welches der Herr nach seiner unendlichen Barmherzigkeit bei so vielen Kindern des Hauses in den letzten vierzehn Tagen angefangen habe. Es müsse nach den Mittheilungen des Klug angenommen werden, daß ohne Einwirkung durch Menschen eine außerordentliche Erweckung unter den Kindern stattfinde, wofür man dem Herrn nicht oft genug danken könne.[1] Der Hausarzt hat es nicht für der Mühe werth gehalten, vor der Einleitung der Untersuchung von der massenhaften Erkrankung der Kinder seiner vorgesetzten Behörde irgend eine Nachricht zu geben. Er ließ sich, ohne nach den Kindern zu sehen, von dem Klug mit der Bemerkung abspeisen, daß es sich hier lediglich um eine größere religiöse Erweckung der Kinder handle, und daß es nicht gut thue, nach ihnen zu sehen, da die Sache sonst ein ungerechtfertigtes Aufsehen machen werde.
Der Gemeinderath ging von einer andern Beurtheilung der Sache aus. Nachdem er bereits in einer frühern Sitzung den Klug provisorisch seiner Stellung enthoben, demselben jedoch freigestellt hatte, in einer gegebenen Frist um seine Entlassung einzukommen, nachdem ihm auch für diesen Fall sein Gehalt für das laufende Jahr belassen worden war, zeigte Klug der ihm vorgesetzten Behörde an, daß er sich in seinem Gewissen gebunden fühle, sein Amt nicht freiwillig aufzugeben. Grafe, der nach der von dem Vorsitzenden der Armenverwaltung, Daniel v. d. Heydt, gemachten Mittheilung diesem erklärt hatte, er trete von der Direction zurück, zeigte dem Oberbürgermeister an, „er habe zu dieser Erklärung Herrn v. d. Heydt nicht ermächtigt“ (was steht hier zwischen den Zeilen?). Hierauf erwidert Herr v. d. Heydt, daß, was er dem Oberbürgermeister berichtet habe, wirklich geschehen sei. In seiner Sitzung vom Februar hat darauf der Gemeinderath mit 23 gegen 3 Stimmen den Beschluß gefaßt, dem Grafe das ihm anvertraute Mandat als Mitglied und Vorsitzer der Direction des Waisenhauses zu entziehen, den Oberbürgermeister mit 23 gegen 2 Stimmen ersucht, mit der provisorischen Enthebung des Klug nunmehr ohne Verzug vorzuschreiten, und mit 19 gegen 8 Stimmen beschlossen, das Verhältniß des Hausarztes zum Waisenhause zu lösen.
Diesen Beschlüssen begegnete im Allgemeinen eine große Zufriedenheit. Zwar fanden auch hier ausschreitende Ausichten ihre Vertreter. Ihnen schien der Gemeinderath nicht energisch genug. Von diesem Theile der Bevölkerung gingen diejenigen Schilderungen aus, wonach brutale Gewaltmittel zur Bekehrung der Kinder angewandt sein sollten. Wir wenden uns von dieser Variante ab, da die Untersuchung in ihren Resultaten erst zeigen muß, ob irgend etwas Thatsächliches dieser Behauptung zu Grunde liegt.
Wir können es, wie die Sachen nun einmal liegen, der Partei, gegen die wir hier kämpfen, kaum verargen, wenn sie auch jetzt noch das Vorgefallene in Schutz nimmt. Unserm Standpunkte kann das nur nützen. Denn wenn zur Vertheidigung angeführt wird, wie so Mancher, der in Seelennoth gelegen, es schon erlebt habe, daß er, aufwachend, Magenschmerzen und allerlei körperliche Bedrängniß gehabt habe: so ist das eben nur die bekannte Beweistheorie das idem per idem; der Unsinn kann nie dadurch zum Sinn werden, daß der davon Befangene darauf sich steift und euch vordemonstrirt, es habe schon mehr solche Unsinnige gegeben, deshalb sei es kein Unsinn.
Zu bedauern aber ist es, daß, wie es scheint, ein großer Theil der kirchlich gesinnten Partei, als gelte der Streit der Kirche [202] und nicht blos den krankhaften Verirrungen der davon getrennten Einzelnen, sich aus die Seite der „Erweckten“ und „Angefaßten“ wirft und so dem großen, urtheilslosen Haufen die Meinung einflößt, auf dieser Seite sei wirklich die Wahrheit und das Recht und die Erleuchtung, und die darum verfolgt würden, seien Märtyrer und Glaubenshelden. Leider ist es so. Leider haben die Presbyterien beider evangelischer Gemeinden der Stadt Elberfeld Collectivschritte gethan zu Gunsten der abgesetzten Verwaltung des Waisenhauses, bei denen theils einstimmig, theils mit 22 gegen nur 5 Stimmen Beschlüsse in dieser Richtung gefaßt wurden. So droht eine verfinsterte und verfinsternde Ansicht weiter um sich zu greifen und argen Samen des Mißtrauens und der Zwietracht zwischen die Diener der Kirche und die Gemeinde und innerhalb der Gemeinde zu werfen, wahrlich nicht zum Heil der Kirche. Dieses Treiben kann nur die entgegengesetzte Frucht von derjenigen zeitigen, welche jene kurzsichtigen und von falschen Befürchtungen getriebenen Freunde der Kirche damit zu erzielen hoffen.
In verständigerer Weise behandelte der berühmte holländische Prediger Gerhard Kuypers die Erregungen, die in seinem Lande in der Mitte des vorigen Jahrhunderts großes Aufsehen erregten und von dem Orte, wo sie am meisten sich zeigten, den Namen der „Nykerker Erweckung“ erhalten haben. Obwohl gerade die Kraft seiner Reden diese Zustände vielfach erzeugt hatte, so sah er doch ein, daß es sich bei Vielen nicht sowohl um religiöse, als um leidenschaftliche körperliche Aufwallungen handelte; und da diese immer stärker wurden, den geregelten Gottesdienst beständig störten und fast unmöglich machten, und zumal die so Afficirten auf keinen guten Rath hören wollten, war er es gerade, der dem Kirchenrathe Vorschläge machte, dieser Unordnung zu steuern. Auf seine Veranlassung faßte dieser am 29. October 1750 den dreifachen Beschluß: daß Alle, die den Gottesdienst durch körperliche Aufregung störten, sofort aus der Kirche zu entfernen seien; daß die den Zufällen Unterworfenen nicht in der Mitte, sondern an den Thüren der Kirche Platz zu nehmen hätten, um im Nothfalle gleich entfernt werden zu können; endlich daß die Vorsteher der sogenannten Uebungen mit den Predigern für Herstellung der Ordnung wirken sollten, widrigenfalls ihnen die Erlaubniß zum Halten derartiger Versammlungen genommen werden würde. – Diese Beschlüsse bewährten sich so sehr, daß mit ihrer Publicirung die Aufregung in Nykerk selbst sich legte und bald ganz verschwand. Wenn die anfängliche religiöse Bewegung durch das Evangelium selbst zur Ruhe gebracht worden war, so wich die körperliche Aufregung, die sich außer in ganz epileptischen Zufällen besonders auch im Schiefziehen des Mundes, im Festklemmen des Daumens, im starken Athemholen gezeigt hatte, den passenden äußern Maßregeln. Aus Nykerk hatte sich bald die Bewegung auch anderswohin fortgepflanzt. Besonders leidenschaflliche Aufregung zeigte sich im Frühjahr 1751 in der Provinz Groeningen, wo ihr aber die weise Handlungsweise der meisten Prediger ein schnelles Ende bereitete.
Dem leidenschaftslos und abgesehen von jedem religiösen Parteigeist Urtheilenden muß die ganze Angelegenheit als eine äußerst einfache und deren Lösung als eine natürlich sich ergebende erscheinen. Auch die Religion ist Sache des Einzelnen, mag er gläubig oder prüfend und sichtend an den ihm überlieferten Stoff herangehen, die wahre Religiosität muß doch wieder etwas selbst Erlebtes, in ihm Erwachsenes, Gewordenes sein. Mag, was ihn dazu führt, Gefühl – Bedürfniß nach etwas Unbestimmtem, an das, als eine höhere Macht, er sich anlehne – mag es Erkennen sein: gleichviel – etwas individuelles ist sie, sonst ist sie eitel Flitterwerk. Von außen, von Dritten eingezwängt, eingeredet, durch welche Mittel immer aufgepfropft, gleicht sie der aus dem mütterlichen Boden gerissenen Pflanze, die, in fremdes Erdreich gesetzt, keine Kraft gewinnt und von jedem Sturme geknickt wird.
Man lasse also dem Kinde vor allem seine natürliche Entwickelung. Will man dasselbe in krankhafte Erregungen versetzen, ihm den Schlaf, die in diesem Alter so unentbehrliche ordentliche Lebensweise und Ruhe nehmen, es in Convulsionen fallen lassen und in diesem Zustande sein Gemüth mit religiösen, schwärmerischen Vorstellungen erfüllen, so zerstört man ihm Leib und Seele, erzeugt in ihm eine Fülle der unrichtigsten, zu den größten geistigen Ausschweifungen führenden Vorstellungen und entfremdet es schließlich der Religion, statt es derselben zuzuführen. – Der Umstand aber, daß so viele auf der Höhe der Bildung stehende Männer dennoch sich zu Verfechtern der Thorheit um ein mildes Wort zu gebrauchen – aufwerfen konnten, beweist die Größe der Gefahr. Die Bekämpfung derselben scheint uns daher eine Aufgabe der Presse zu sein. die der hohen Bestimmung derselben würdig ist. –
- ↑ Liegt vielleicht ein Narrenhaus in der Nähe von Elberfeld?Anmerk. der Redact.