Das neue Passionsspielhaus von Oberammergau
Das neue Passionsspielhaus von Oberammergau.
Eine Spanne von knappen zehn Monaten noch, und es beginnen wieder nach zehnjähriger Ruhepause die Passionsspiele zu Oberammergau, zu welchen die Gäste aus der alten und neuen Welt pilgern. Am Nordende des idyllisch gelegenen Dorfes wird sich in nächster Zeit auf der Stelle des alten Spielhauses ein neuer Bau erheben; unsere Zeichnung giebt ein Bild des Bühnenhauses vom Zuschauerraum aus gesehen.
Ziemlich an den Fuß des Bergrückens, zubenannt „Die Reichen“, wird das Bühnenhaus mit einer Mittelbühne zur Darstellung der lebenden Bilder und einer Vorbühne für die großen Umzüge der Haupthandlung zu stehen kommen. Diese Mittelbühne, welche gegen den Zuschauerraum durch die Fassade eines einfachen griechischen Tempels umrahmt ist, wird zum erstenmal seit Bestehen der Passionspiele eine vollständige, bühnentechnische Einrichtung erhalten, die allen praktischen Neuerungen Rechnung tragen, aber zugleich das Wesen der alten Ueberlieferung vollständig wahren wird. Der Holzbau auf Cementunterbau erhält das nöthige Licht durch das Proscenium und durch das erstmals mit Glas gedeckte Dach. An die beiden Seiten des Tempels schließen sich zwei Stadtthore, durch deren Bogen man in zwei Straßen Jerusalems blickt. Dann folgen die stolzen Paläste des Pilatus und des Hohenpriesters Annas, an die sich wieder zwei Säulenhallen zur Aufnahme der Sänger und des Volkes aufreihen. Stilgerecht in künstlerischer Ausführung ragen diese Gebäude zum freien Himmel auf, eine prächtig gebaute Stadt des Alterthums darstellend, über welcher sich die stolzen Berge zum Aether erheben. Ein farbenprächtiges Bild wird vor dem Zuschauer sich entrollen, belebt durch eine bis zu 500 Köpfen zählende, in die reiche Tracht, wie sie zu Beginn der christlichen Zeitrechnunug üblich war, gekleidete Volksmenge. Litt die Ausstattung der Bühne während der früheren Passionsspiele an mangelhafter Beleuchtung, ja stellenweise an bedauerlicher Verfinsterung, so ist jetzt Vorsorge getroffen, daß die Panoramadekoration sowohl durch das regulirbare Tageslicht als auch durch künstliche Beleuchtung der theilweise durchscheinenden Dekorationsstücke erhellt werden kann. Auch ist für die raschere Verwandlung der Bilder, für Flugwerke zur Himmelfahrt Christi und anderes Vorsorge getroffen.
Die Zuschauerhalle völlig neu zu erbauen, gestattet die Finanzlage der Oberammergauer Gemeinde nicht, und so ist einstweilen nur eine Vergrößerung geplant, durch welche an 5000 Zuschauern der Zutritt gesichert ist. Die Fürstenloge und eine besondere Loge für andere hervorragende Persönlichkeiten, mit Vorzimmern und allen Bequemlichkeiten versehen, werden vollständig gedeckt, ebenso etwa 1500 Sitzplätze, während die übrigen, der Bühne zunächst gelegenen Plätze den freien Himmel über sich haben, so daß der Anblick der großartigen Gebirgslandschaft erhalten bleibt. Zehn große Ausgänge führen unmittelbar ins Freie. Um möglichen Unfällen zu begegnen, wird in der Nähe des Passionsspielhauses für die Dauer der Aufführungen ein Krankenhaus mit Feuerwehrstation errichtet werden.
Die gesammte, von allen Gebäuden der Bühne und des Zuschauerraumes und den freien, innerhalb des Theaters liegenden Räumen [666] eingenommene Fläche beträgt rund 3300 qm, wovon auf Bühne und Zuschauerraum je etwa die Hälfte trifft. Die Mittelbühne für die lebenden Bilder umfaßt 290, die Vorbühne 310 qm.
Entgegen den früheren Brauch, nach welchen die Kosten nach Ablauf der Spielzeit aus den Einnahmen gedeckt wurden, hat diesmal die politische Behörde einen genauen Schuldentilgungsplan von der Gemeinde verlangt. Im Jahre 1880 fand sich keine bayerische Bank, welche der solidarisch haftenden bayerischen Gemeinde Oberammergau die zum Passionsspiel nöthigen Gelder vorstreckte. Nach langem Suchen bewilligte die Elsässische Bank in Straßburg unter Verzicht auf das angebotene, in etwa 5000 Tagwerk Gemeindewald bestehende Pfand die nöthigen Summen. Für das Jahr 1890 werden die Mittel jedoch durch eine große Münchener Bank beschafft. Für neue Gewänder werden diesmal 12- bis 14 000 Mark verausgabt werden. Dieser anscheinend bedeutende Posten erklärt sich aus der starken Abnutzung des vorhandenen Bestandes einestheils, anderntheils aus dem Umstande, daß das Tageslicht keinerlei Flitterwerk, sondern nur echt, gediegene Stoffe
duldet. Die weißen Gewänder z. B. müssen vollständige erneuert werden, weil sie im Jahre 1880 zu stark gelitten haben und der ausgeprägte Schönheitssinn der Oberammergauer nicht zuläßt, erkennbar abgenutzte Stücke zu verwenden. Außerdem erforden die vollkommerenere Malerei auf den neuen Prospekten, die besseren, künstlerisch durchgeführen Dekorationen auch entsprechend bessere Gewandung.
Die Neuwahl der Rolleninhaber für das Passionsspiel wird heuer etwas früher als sonst, im Spätherbst, stattfinden und zwar mit Rücksicht darauf, daß wahrscheinlich einige Neubesetzungen nothwendig werden. Der Darsteller von Christus, Joseph Mayr, hat sich jetzt schon zur abermaligen Uebernahme der anstrengenden Rolle bereit erklärt. Nach der Neuwahl, die in das Dorf eine weit größere Aufregung bringt als Landtags- und Reichstagswahlen, werden sofort die Proben beginnen, im strengen Winter im Dorfe selbst, in einem Saale des neuen Gasthofes „Wittelsbacher Hof“, bei wärmerer Witterung in dem niedlichen Uebungstheater draußen neben dem Bühnenhause. In musikalischer Hinsicht ist zunächst eine Vermehrung der Orchesterinstrumente beabsichtigt. Hingegen herrscht über den Passionstext in den maßgebenen Kreisen Oberammergaus noch völlige Unentschiedenheit; den Textänderungen, welche von auswärts angeregt wurden, stehen gewichtige Bedenken gegenüber, und in der Kunstgemeinde selbst wurzelt die Ueberzeugung, daß an einer durch den Erfolg bewährten Einrichtung nicht gerüttelt werden sollte.
Die Herstellung des neuen Passionsspielhauses, der Bauten, Maschinen und Dekorationen ist in die bewährten Hände des kgl. Obermaschinenmeisters am Hoftheater in München, Karl Lautenschläger, gelegt worden.
Lautenschläger, einer der hervorragendsten Meister auf dem Gebiete der Bühneneinrichtungen und Schöpfer einer großen Anzahl moderner Theaterbauten, dessen Bild wir ebenfalls bringen, ist jetzt ein 46jähriger Mann und hat kürzlich sein 25jähriges Jubiläum als Bühnentechniker gefeiert. Die Anregung zu seiner späteren Laufbahn empfing er schon als Knabe von seinem Stiefvater, dem Hessen-Darmstädtischen Hofschauspieler und Scenerieinspektor Bormuth; Lautenschläger wollte ursprünglich Schauspieler werden, allein die Eltern gaben es nicht zu, und so wurde er Theatermaschinist, ein Feld, auf welchem er Lorbeeren ernten sollte. Nach einander wirkte er theils als Maschinenmeister, theils als Bühnenerbauer und Leiter scenischer Ausstattungen an den Theatern zu Riga, Stuttgart und München, zeitweilig auch nach den verschiedensten Städten Deutschlands, Oesterreichs, Rußlands, Italiens, Hollands und der Schweiz zur Ausübung seiner Kunst berufen. Ja sogar nach Paris ward „Monsieur Laut“ geholt, die elektrische Beleuchtung der Großen Oper einzurichten. Gerade die Durchführung der elektrischen Gesammtbeleuchtung in den Theatern ist eines der Hauptverdienste Lautenschlägers und ihm ist es zu verdanken, daß München das erste elektrisch beleuchtete Theater in Deutschland erhielt. König Ludwig II. von Bayern war ein besonderer Verehrer seiner Kunst. Nicht bloß die Leitung der technischen Anlagen in den Theatern bei den zahllosen Sondervorstellungen vertraute er seinen Händen an, auch die mancherlei verwandten Einrichtungen in den königlichen Schlössern gab er ihm in Auftrag und äußerte wiederholt in schmeichelhaften Dankschreiben seine Befriedigung.
Die jüngsten Aufgaben, die Lautenschläger gelöst hat, sind die Neueinrichtung der „Shakespearebühne“, über welche in Nummer 26 berichtet worden ist, und die Anlage eben unseres Passionsspielhauses. Es galt dabei, unter strengster Wahrung der Ueberlieferung doch die scenische Wirkung zu verbessern und den Hauptdarstellern insbesondere bei der Kreuzigung Erleichterung zu verschaffen. Daß die Oberammergauer sich den Beistand dieses Mannes sicherten, spricht für ihr großes Verständniß.
So bleibt die Passion (die Oberammergauer sagen standhaft: der Passion) auch künftig fest bestehen gleich den das liebliche Thal umschließenden Bergen, von denen die nördlich gelegenen Hügel „Die Reichen“ und der südlich gelegene Bergrücken „Die Noth“ genannt werden, weshalb der Dorfwitz zu Oberammergau sagt: „‚Die Reichen‘ haben wir im Rücken, ‚Die Noth‘ aber vor Augen.“
Spieltage werden die Sonn- und Feiertage, bei starkem Andrang der jeweils folgende Werktag sein. Für Unterkunft ist besser gesorgt als vor zehn Jahren, außerdem wird die neue Bahn von Murnau nach Partenkirchen mit der Station Oberau, von wo man in zwei Gehstunden nach Oberammergau gelangt, den Verkehr zum Passionsdorfe wesentlich erleichtern.