De vulgari eloquentia/I. Buch – Fünftes Kapitel
Indem wir nun nicht ohne aus dem Frühern wie aus dem Späteren genommenen Grund glauben, daß an Gott selbst ursprünglich der Mensch die Rede gerichtet habe, sagen wir vernünftigerweise, daß er, welcher zuerst sprach, bald, nachdem er von belebender Kraft angehaucht wurde, ununterbrochen gesprochen habe. Denn wir halten es am Menschen für menschlicher, daß er empfunden werde, als daß er empfinde, sofern er nur empfunden wird und empfindet als Mensch. Wenn also jener Werkmeister und Urquell und Liebhaber der Vollkommenheit durch seinen Hauch den ersten Menschen mit aller Vollkommenheit erfüllte, so erscheint es uns vernünftig, daß das volkommenste Geschöpf nicht eher angefangen habe zu fühlen als gefühlt zu werden. Wenn aber Jemand dagegen mit dem Einwand auftritt, daß er nicht zu reden hatte, da er noch der einzige Mensch war, und Gott alle Geheimnisse ohne Worte erkennt, selbst vor uns, so sagen wir mit jener Ehrerbietung, deren man sich zu bedienen hat, wenn wir über den ewigen Willen irgend urtheilen, daß, obgleich Gott wußte, ja vorauswußte [102] (was bei Gott eins und dasselbe ist) ohne Rede die Vorstellung des ersten Redenden, er dennoch wollte, daß er rede, damit an der Aeußerung einer so großen Gabe er selbst sein Freude habe, der sie freiwillig geschenkt hatte. Daher ist es als etwas von Gott Verliehenes zu betrachten, daß wir über die geordnete Thätigkeit unserer Gemüthsbewegungen uns freuen: und daher können wir zweifelsohne den Ort bestimmen, wo die erste Rede ans Licht gekommen ist, insofern wir, daß, wenn der Mensch außerhalb des Paradieses angehaucht wurde, außerhalb, wenn aber innerhalb, der Ort der ersten Rede innerhalb gewesen sei, bewiesen haben.