Der Dorfpräceptor
Die Professoren an unseren Universitäten wie die Directoren unserer Seminare pflegen in ihren Vorlesungen über die Geschichte der Pädagogik zwar eingehende Biographien von großen Vertretern dieser Wissenschaft zu geben, auch die Geschichtsbücher der Erziehungslehre berichten über die Sterne erster Größe am pädagogischen Himmel, aber in die Welt des kleinen Lehrers, die des Wissenswerthen so vieles bietet, greift selten ein kundiger Schilderer. Und doch ist dieses Capitel höchst interessant und zugleich ein nicht unwichtiger Culturmesser. Es sei mir darum gestattet, hier Einiges über die jungen Lehrer des vorigen Jahrhunderts, die man früher allgemein „Präceptoren“ nannte, zu berichten; ich schicke sogleich voraus, daß, so sonderbar und unglaublich auch manches hier Mitgetheilte klingen mag, doch Alles, was ich schildern werde, auf Wahrheit beruht. Was ich aus der Zeit vor ziemlich hundert Jahren erzähle, ist mir von einem alten durchaus glaubwürdigen sächsischen Cantor und Lehrer, einem früheren Präceptor, mitgetheilt worden. Meine Darlegung bezieht sich somit nur auf das Königreich und die Provinz Sachsen, namentlich aber auf den Regierungsbezirk Merseburg, es ist indessen wohl anzunehmen, daß die Verhältnisse der Präceptoren damals in ganz Deutschland dieselben gewesen sind.
Noch zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts gehörte in Sachsen eine große Anzahl der Dorflehrer ohne Kirchendienst dem ehrbaren Schneider-, Schuhmacher- oder Leineweberhandwerke an, und nur ein geringer Bruchtheil bestand aus Leuten, die in ihrer Jugend den Lehrerberuf erwählt hatten. Die Anforderungen, die man an sie in der Regel stellte, waren äußerst gering. Konnte ein Knabe gut lesen und schreiben, war er mit den vier Species mit unbenannten und benannten Zahlen vertraut und hatte er eine leidliche Stimme zum Singen – gut, so hieß es: „Du mußt Lehrer werden“ – und er wurde es. Das Dorf Niemegk bei Bitterfeld lieferte – nebenbei bemerkt – damals ein so bedeutendes Contingent derartiger Schulamtscandidaten, daß man es im ganzen Umkreise nur „die Präceptorhecke“ nannte.
Eine besondere Vorbereitung auf den Lehrerberuf gab es weiter nicht als die, daß der confirmirte Knabe bei dem Dorflehrer höchstens noch ein Jahr blieb und während dieser Zeit sich einige Lehrgeschicklichkeit aneignete; auch ein gewisses Alter zur Erlangung einer Präceptorstelle war nicht erforderlich, ebenso wenig eine Probelection; nur ein Tentamen bei dem Superintendenten hatte der Erwählte, richtiger der „Gemiethete“, zu bestehen, und selten erhielt ein Examinand eine Zurückweisung; denn eine solche war bei dem geringen Grade der Anforderungen kaum möglich.
Der oben erwähnte alte Cantor erzählte mir über seine Erfahrungen als Präceptor Folgendes:
„Ich war, als ich zum Präceptor im Dorfe B. angenommen, etwas über fünfzehn Jahre alt und noch recht klein von Figur. Der Tag meines Tentamens kam heran. In Schnallenschuhen, schwarzen langen Strümpfen, kurzer Hose, schwarzer Jacke und einem Strohhute von derselben Farbe präsentirte ich mich dem hochwürdigen Herrn Superintendenten. Sein erstes Wort war: ‚Du? Ei, Du wirst auch was Rechtes können! Setze Dich!‘
Nun überzeugte er sich zuerst von meiner Lesefertigkeit und dictirte mir einige Zeilen; dann begann die Ueberhörung des größten Theiles der lutherischen Hauptstücke und einer nicht geringen Anzahl von Bibelsprüchen, worauf die christlichen Fragstücke aus dem großen lutherischen Katechismus an die Reihe kamen. Er fragte, ich antwortete.
Die Prüfung war hiermit beendet. Ich hatte die Feuerprobe glücklich bestanden und wanderte nun an einem wunderschönen Herbsttage meiner neuen Heimath zu. Diese war ein ganz kleines Dörfchen mit nur sechs Drescherhäusern und einer Schäferei. Sämmtliche Häuschen hatten Lehmwände, Strohdächer und kleine Fenster. In unmittelbarer Nähe befand sich ein schöner Tannenwald, in welchem Legionen von Krähen nisteten, deren Gekrächze mein tagtägliches Concert war. Mit den besten Vorsätzen und dem freudigen Gefühle, daß meine blutarmen Eltern nun nicht mehr für mich zu sorgen hätten, kam ich hierher, traf aber nur die Kinder zu Hause; denn die Eltern waren auf dem eine halbe Stunde entfernten Rittergute auf Arbeit. Einem zwölfjährigen Mädchen stellte ich mich als den neuen Präceptor vor, und die fröhliche Kleine zeigte mir das Haus, in welchem die nächste Woche Schule gehalten werden sollte. Ich ließ mich in demselben häuslich nieder – denn nach Ortssitte war es zu meiner Wohnung bestimmt – und ging alsdann in’s Pfarrdorf, um mich dem Pastor, meinem Localschulinspector, vorzustellen.
In dem Hofe dieses geistlichen Herrn sah es aber wie in einem großen Bauerngute aus; denn er betrieb seine Oekonomie selbst. Alte und junge Hühner, Gänse und Enten wurden in diesem Augenblicke gerade von ihm in höchst eigener Person gefüttert. Er nahm mich freundlich auf, theilte mir erfreut mit, daß der Rittergutsbesitzer meinen Gehalt um jährlich zwei Thaler erhöht, sodaß ich, nicht wie mein Vorgänger sechs, sondern jährlich sogar acht Thaler Einkommen haben würde. Am Schlusse meiner Vorstellung gab er mir die Weisung, den nächsten Montag meine Schule in Gottes Namen zu beginnen und fleißig zu sein. Er werde später nachsehen, wie ich mein Amt treibe.
Es war gegen Abend, als ich in mein Dörfchen zurückkehrte. Ich hatte mit der Drescherfamilie eine gemeinsame Wohnung; nur unter dem Dache ward mir zur alleinigen Benutzung ein Schlafkämmerchen mit einem so schmalen Fenster angewiesen, daß ich den Kopf nicht herausstecken konnte. Das war nun mein neues Heim, jedoch nur auf kurze Zeit; denn es bestand hier dieselbe Einrichtung wie an anderen Orten, die einen Präceptor hatten, nämlich die: es wurde die Schule in einem Hause nur so viele Wochen gehalten, wie es schulpflichtige Kinder zählte. Dieselbe Bestimmung galt auch für die Zeitdauer meiner Wohnung und Beköstigung.
Wie mir der Herr Pfarrer befohlen, begann ich also meine Schule. Die sämmtlichen Schulkinder des Ortes, dreizehn an der Zahl, sämmtlich Barfüßler, erschienen rechtzeitig, obgleich keine allgemeine Dorfuhr die richtige Zeit meldete. Ein großer, weißer, gescheuerter Tisch mit unzähligen von Holzwürmern gebohrten Löchern bildete die Schultafel, an welcher leider nicht alle Schüler Platz fanden. Es mußten deshalb die ganz Kleinen auf Hitschen (Fußbänken) sitzen und eine lange Bank, die an den Wänden befestigt war, als Dach benutzen. Das gehörige Licht fehlte in hohem Maße; denn die äußerst kleinen Fenster wiesen drei zerbrochene Scheiben auf, welche nach altväterischer Sitte aus Sparsamkeit mit Papier verklebt waren. Die Stube selbst war ungedielt und nur der vordere Raum mit Ziegelsteinen gepflastert.
[309][310] Ein mächtiger Kachelofen mit einer ‚Höllenbank‘, die unseren Dreschersleuten als Sopha diente, mußte auch jetzt schon, trotz warmer Luft, da es eine Sommerfeuerstätte nicht gab, zum Kochen benutzt werden.
Drei Stunden dauerte die Unterrichtszeit, in welcher Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt wurden. Vor Allem aber mußten die Kinder den lutherischen Katechismus, eine Masse Bibelsprüche und Gesangbuchslieder auswendig lernen. Ich sage absichtlich: auswendig; denn von inwendig Lernen gab es keine Spur. Als Lesebücher dienten das ABC-Buch mit dem großen Kickerihahne auf dem Titel, der kleine lutherische Katechismus, das Evangelienbuch und bei weiter vorgeschrittenen Lesern die Bibel. Der Schreibunterricht bestand nur in dem Anstreben einer eigenen Handschrift; zu besonders glänzenden Resultaten führten diese Versuche freilich nicht – du lieber Gott! wie wäre das möglich gewesen! In so kurzer Zeit! Schriftliche Arbeiten wurden nicht verlangt, und man war zufrieden, wenn die Kinder leichte Sätze nach Dictat schreiben konnten. Die Uebungen im Rechnen bestanden immer in Berechnungen des Preises von Eiern, Butter und Käse, und Lehrmittel gab es gar nicht. Das war also unsere damalige Volksschule!
Nach der Schule erquickte ich mich an dem Dufte des Tannenwaldes und arbeitete an meiner weiteren Ausbildung, deren ich gar sehr bedurfte. Von meinem Pfarrer und dem Schulmeister im Pfarrdorfe lieh ich mir Bücher, welche ich mir größtenteils abschrieb, da ich kein Geld zum Ankaufe derselben hatte. Es war ein trauriges, lichtloses Leben. Meine gewöhnliche Kost bestand aus einer Wasser- oder Milchsuppe und aus Kartoffeln mit Quark. So frugal aber auch meine Mahlzeiten waren, so mußte ich mir doch sagen, daß sie unter bewandten Umständen nicht anders sein konnten, und ich war zufrieden, daß es wenigstens Sonntags Fleischtag war. In dieser Einsamkeit, in welche keine Kunde von den Strömungen und Fortschritten der Welt da draußen hineinklang, mußte ich zwei lange, lange Winter verleben. Ja, Winter – nicht Jahre! Denn nur während der Zeit, da der gestrenge Boreas regierte, war ich Schulmeister. Im Sommer hatten die Kinder Wichtigeres zu thun, als zu lesen und zu schreiben, und dann gab es eben keine Schule; der Präceptor wurde entlassen – und verdiente durch Handarbeit sein täglich Brod.
Nach zwei Jahren aber war mir ein besseres Loos beschieden, und das ereignete sich so: Der Präceptor in einem großen Bauerndorfe hatte die Frau des Ortsschulzen sich zur unversöhnlichen Feindin gemacht, indem er ihrem einzigen Sohne, einem verzogenen, lernfaulen und trotzigen Jungen, in der Schule einen Platz unter dem Kinde des Nachbars, mit dessen Ehefrau sie seit Jahren in Feindschaft lebte, angewiesen hatte, und nun wußte sie es in ihrem Hasse gegen den armen Präceptor bei ihrem Manne, ihren Verwandten und Gevattern im Orte durchzusetzen, daß der so rücksichtslose Lehrer am Michaelistage nicht wieder gemiethet wurde. Des Einen Unglück ist des Andern Glück: ich ward der Nachfolger des in Ungnade gefallenen Präceptors. Ich war ein glücklicher Mann; denn ich erhielt nicht allein zwölf Thaler Gehalt jährlich, sondern auch bessere Kost, Wohnung und Gesellschaft. Außerdem fand ich auch während des Sommers lohnendere Arbeit; durfte ich doch den Bauern bei der Feld- und Gartenarbeit helfen, und ward mir doch außerdem noch das Recht gewährt, vierzehn Tage in den Dörfern der ganzen Umgegend mit meinen größeren Schülern und Schülerinnen den ‚Gregorius-Umgang‘ zu halten. Es war dies ein Rest des alten fahrenden Schülerthums, zu dessen Ausübung ein Dutzend Volkslieder und Arien eingeübt wurden und welches mit der vollen Woche nach Ostern in Kraft trat. Wenn stundenweit entfernt gelegene Dörfer heimgesucht werden sollten, dann wurde schon früh gegen sieben Uhr aufgebrochen. Alle Theilnehmer waren festlich gekleidet. Die Knaben hatten Sträuße von todten bunten Blumen an die Mützen gesteckt, und in der Hand trag Jeder von ihnen einen tüchtigen Stock. Die Mädchen dagegen erschienen mit Fahnen, deren hölzerne Stäbe man gewöhnlich durch wechselweise Einschnitte und Abschälung der äußeren Rinde verzierte, wodurch man ihnen ein buntes Ansehen gab. Oben an diesen Stäben war ein bunter Bilderbogen mit allerhand Figuren als Fahne befestigt, und zur Erhöhung des Schmuckes dienten noch kleine Bänder in den verschiedensten Farben.
Eine der wichtigsten Personen des Zuges war einer der größeren Knaben, der sogenannte Eierjunge, welcher einen großen Korb an einem langen rothen um den Hals gebundenen Gurte trug, an seiner Seite aber hingen diverse Bilder, z. B. Soldaten, Reiter, Hausthiere etc.
Nachdem ich mit meinen Schülern und Schülerinnen am Ziele angekommen, begann der Besuch der Güter. In jedem Bauergute wurde eine Arie gesungen, worauf der Schülerchor sich entfernte. Ich aber blieb mit dem Eierjungen an der Thür wartend stehen, bis man mir ein Geldgeschenk, gewöhnlich einen Sechser, in die Hand drückte. Wir armen Präceptoren! Mit dieser Kleinigkeit mußten wir uns begnügen, während die Herren Schulmeister – das waren die Kirchschullehrer – laut Matrikel einen alten Groschen, das ist zwölf Pfennig, zu bekommen hatten. Nachdem ich mein Viaticum dankend empfangen, rief der Eierjunge: ‚ä baar Eier!‘ Die freundliche Hausfrau gab sie ihm, und zum Danke beschenkte er sie mit einem Bildchen für das sie begleitende Kind.
So ging’s in der Runde durch das ganze Dorf. Geizige Leute verriegelten die Hofthür, an welche dann die Jungen mit ihren Stöcken schlugen, oder sie warfen auch Steine dagegen. Besonders war das Dorf Petzen bei uns Präceptoren als geizig verrufen. Das Verschen:
‚Im Dorfe Petzen
Wird’s nicht viel setzen‘
war allgemein unter uns bekannt und fand alle Jahre seine Bestätigung. Ermüdet kehrten wir von solchen Gregorius-Umgängen nach Hause zurück, um den anderen Tag unsern Umgang, der doch nichts weiter als eine Bettelei war, fortzusetzen. So ging’s bei gutem Wetter vierzehn Tage fort. Fielen Regentage ein und mußte zu Hause geblieben werden, dann gab’s Rasttage, und die zu dem Gregorius-Umgang gestattete Zeit wurde ohne Einwand auf drei Wochen ausgedehnt. Den letzten Tag ging’s im eigenen Dorfe herum. Hier flossen die Gaben reichlicher, und der Eierjunge wurde besser bedacht; sorgten für seinen Korb doch auch die andern Knaben dadurch, daß sie die Hühnernester aufsuchten und plünderten. Viele der Hausväter und Hausmütter riefen mich nach dem Gesange hinein, und dann gab es Kuchen, Kaffee, Butterbrod und Wurst. Kinder von Verwandten oder befreundeten Nachbarn fanden ebenfalls Einlaß in die gastliche Stube und mußten am Imbiß theilnehmen, während die übrige Sängerschaar sich durch Spiel und Tanz ergötzte. Der Tag nach dem Schlusse des Gregorius-Umgangs war ein Festtag. Die Kinder empfingen Eier auf Butter mit Staudensalat und gekochten gebackenen Pflaumen, und nach dem Festmahle begann der Tanz, zu welchem zwei, höchstens drei Dorfmusikanten aufspielten. So drehte sich das muntere Völkchen im bunten Reigen, bis es dunkelte, worauf dann Abends die Erwachsenen nach derselben Musik tanzten.“
So berichtete mir mein würdiger Gewährsmann, der Ex-Präceptor, und was ich ihm schlicht und einfach im Obigen nacherzählt habe, das ist in der That ein rechtes, echtes Culturbild aus alter Zeit. So verschieden die beiden Wörter „sonst“ und „jetzt“ sind, so verschieden sind auch in Deutschland und besonders im Königreiche Sachsen die Lehrerverhältnisse von damals und von heute. Es ist besser geworden in unsern deutschen Schulen. Freilich, zu bessern bleibt immer noch vieles, und hat man früher das Lernen oft allzu sehr auf die leichte Achsel genommen – heute stehen wir leider vor dem ebenso verkehrten Extrem: wir leben in dem Zeitalter der Ueberbürdung; das macht sich wie auf anderen Gebieten, so auch besonders auf dem der Schule schmerzlich fühlbar. Wenn wieder ein Jahrhundert sich seinem Ende zuneigt, wird’s hoffentlich auch hierin besser geworden sein.