Recht und Liebe

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Autor: Levin Schücking
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Titel: Recht und Liebe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14–24
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Novelle in 11 Teilen
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[221]

Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.


1.

Im Walde vor dem Forsthause saß ein städtisch elegant gekleideter Mann mit schönen, geistig belebten und wie von Gedankenarbeit verfeinerten Zügen. Auf der Bank, welche zwischen den Linden vor dem Forsthause stand, zurückgelehnt, sah er nachdenklichen Blicks in den Wald hinein, der eigenthümlich still war. Es war die Zeit, in welcher der Sommer in den Herbst übergeht, das Vogelvolk seine kleinen Familienpflichten erfüllt und die dabei entwickelte Aufregung ein Ende genommen hat. Kein Vogel sang im Walde; kein Ruf schallte heraus. Selbst die Schwalben zwitscherten nicht, die in schwindelerregender Rastlosigkeit auf dem freien Anger vor dem Hause hin- und herschossen.

„Welch ein seltsames Thier solch eine Schwalbe ist!“ sagte der junge Mann, als ein älterer, eine hochgewachsene stattliche Gestalt mit ergrauendem Vollbart und in der Jägerjoppe, aus dem Hause auf die Schwelle trat, – „welch seltsames Thier, das auf allen Idealismus des glücklichen Vogeldaseins verzichtet! Die neidenswerthe Zaubergabe der Flugkraft, welche von den anderen Vögeln zu freiem und ungebundenem Schwunge ausgebeutet wird, dient diesen gehetzten Geschöpfen nur zum rastlosen, unausgesetzten, nervös machenden Hin- und Herschießen von der ersten Morgenstunde bis zum Abend, von ihrem ersten Ausfliegen aus dem Nest bis zu ihrem Tode. Der Flug ist für sie ein Fluch geworden, der sie peitscht.“

„Nun ja,“ sagte der Förster; „wie so manches Lebewesen in der Zeit, wo es eine noch unentwickelte Art war, wie Ihr Naturforscher es nennt, sich darauf capricirte, in seiner Entwickelung just zu dem zu werden, was es heute ist – das begreife Einer! Zu solch einem hülflosen Sclaven seiner Natur! Weshalb hat sich solch ein armer Teufel von Hirsch in seinem Kampfe um’s Dasein das abscheulich schwere, in jedem Walddickicht für ihn verhängnißvolle Geweih aus seinem Schädel wachsen lassen? Und der arme wehrlose Hase, weshalb hat er es nicht dem klugen Igel nachgemacht und sich einen Stachelpanzer über die Ohren gezogen?“

„Weshalb?“ versetzte lächelnd der junge Mann. „Entwickeln die Menschen selber nicht auch so ihre Natur, ohne die geringste Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie sich damit dem Kampfe um’s Dasein adaptiren oder nicht? Hast Du nicht Leute gesehen, die sich einen Stolz auf dem Kopfe wachsen ließen, der ihnen viel hinderlicher war, durch’s Leben zu kommen, als es dem Hirsch sein Geweih ist, um durch den Wald zu schweifen? Und was die Hasen angeht – nimm unsern alten Baron! Weshalb ist er ein solcher wehrloser Hase und nicht statt dessen ein stachliger Igel geworden, der die Hunde, die auf ihn Jagd machen wollen, in Respect zu halten weiß?“

„Du hast Recht,“ antwortete lachend der Förster. „Ich hätte Dich alsdann nicht aus der Stadt kommen zu lassen brauchen, damit Du Dich des alten Mannes annehmen könntest. Unser Quacksalber von Dorfarzt als Doctor, und dazu Damen, wie Du sie kennen lernen wirst, als Pflegerinnen – sie bringen den alten Herrn um. Es ging nicht anders; ich mußte Dich herkommen lassen, damit Du mit Deiner Autorität dazwischen fahren kannst; der alte Herr willigte ja endlich auch ein, daß ich Dich zu kommen bitte. So mußtest Du denn heran, obwohl es Dir schwer geworden sein mag, Dich aus Deiner Thätigkeit loszureißen.“

Während dieser Unterredung hatten sich beide Männer in Bewegung gesetzt und schritten nun langsam den Anger vor dem Hause hinab, in eine Eichen-Allee hinein, welche westwärts in den Wald führte.

„Es ward mir schwer, Vater,“ versetzte der jüngere Mann, „aber ich bin dennoch gern gekommen; von meiner anstrengenden Thätigkeit sind meine Nerven angegriffen, und wo giebt es eine bessere Erholung dafür, als hier im väterlichen Hause, in den Räumen, in denen ich aufwuchs, an denen alle meine liebsten Lebenserinnerungen haften; unter Deinen alten Bäumen, von denen ich mir als Kind einbildete, Du habest sie alle gepflanzt, und nur die Bäume, welche Du pflanztest, würden so groß.“

„Es ist hübsch von Dir, Leonhard,“ sagte der Förster mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit, seine Hand auf die Schulter seines Sohnes legend, „es ist hübsch von Dir, daß Du an dem alten Hause hängst, obwohl Du in der Stadt ein vornehmer Mann geworden bist, der persische Teppiche und sammetne Portièren in seinem Empfangszimmer hat – bei uns, weißt Du, giebt’s nur tannene Dielen – zur Freude der Mutter, die Mittwochs und Sonnabends ihre Schrubbewuth daran auslassen kann.“

„Die gute Mutter!“ antwortete der junge Arzt. „Und um des alten Herrn willen hättest Du mich immerhin schon früher herbeiholen sollen. Der Mann hat ein Recht auf uns. Die Klingholt und die Dortenbach gehören seit Urvätertagen zusammen, und – wer weiß das besser als Du? – wenn die eine auch die Herren- und die andere die Dienerfamilie ist, so haben sie einander doch Hülfe und Beistand mit Rath und That genug im Laufe der Jahre und in böser wie guter Zeit geleistet, um auf einander bauen zu dürfen.“

„Ja, ja, in guten und in bösen Zeiten,“ sagte seufzend der Förster, „und böse Zeiten hängen ja einmal wieder drohend über uns. Wenn der alte Herr das Zeitliche segnen sollte, so steh’ uns Gott bei! Diese Verwandten, die sich da oben eingenistet haben, diese liebevolle süßredende Erbschleicherbande, was werden sie, wenn [222] Dortenbach in ihre Gewalt geräth, daraus machen! Ich bitte Dich, was wird aus einem solchen schönen Gut, wenn es diesen Leuten in die Hände fällt! Verpfändet, verparcellirt, verkauft! Das Holz niedergeschlagen und versilbert! Die armen Häuslinge gepeinigt, ausgepreßt, vertrieben! Und am Ende, wenn der Rest zerstückelt, wird Dortenbach selbst, das Herrenhaus, verkauft und zur Einrichtung einer Garnspinnerei, einer Nesselweberei verwandt. Wasserkraft ist ja da, und die Tagelöhne sind niedrig in der Gegend. Mir bliebe nichts übrig als – wenn ich nicht vorzöge, mich an einen meiner höchsten Bäume aufzuhängen – auf einige Zimmerchen in der Stadt zu ziehen und mich von Dir wegen chronischer Gelbsucht behandeln zu lassen. Nicht lange, gewiß nicht lange; denn ich ertrüg’s nicht, in Euren engen Gassen, in solch einer Miethwohnung nur noch mit der Fliegenklappe auf die Jagd gehen zu können – in Filzpantoffeln, damit durch zu harsche Tritte der liebe Herr Nachbar unter mir nicht gestört wird. Gott steh’ mir bei! Welch ein Leben! Für einen Mann wie mich! Nach fünfundfünfzigjährigem freiem Leben im Walde …“

„Nach dreißigjähriger Herrschaft darin!“ fiel der jüngere Mann ein, „Du hast Recht, Vater; ich kenne Dich genug, um zu wissen, daß es Dein Unglück sein würde – und,“ setzte er lächelnd hinzu, „das der Mutter, wenn sie nicht als unerbittliche Tyrannin Mittwochs und Sonnabends ihr schönes altes Forsthaus unter Wasser setzen könnte. Und auch meines würde es sein – auch mir würde wie einer jungen Tanne der Herztrieb ausgebrochen sein, glaube ich, wenn mir das Vaterhaus genommen, aus meinem Dasein gestrichen wäre. Im Kampfe des Lebens bedürfen wir Alle einer Reserve des Herzens, und das ist und war mir immer noch als beruhigende und heilende Gedankenzuflucht das stille Haus mit seinen Wipfelschatten, seinen gemüthlichen Räumen, seinen phantastischen Ecken und Verstecken.“

„Und doch,“ sagte der Förster mit verdüsterter Stirn, „blüht uns das Schicksal, daraus vertrieben zu werden; Du wirst es sehen, wenn der alte Herr stirbt. Kann mir’s auch denken,“ fügte er mit gedämpfterer Stimme hinzu, „wie der Rentmeister Benning auf den Augenblick lauert: er hat all sein Lebenlang zusammengescharrt und vor einem Jahre erst in zweiter Ehe ein schrecklich aussehendes Weib um ihres Geldes willen genommen; wenn der alte Herr die Augen schließt, wird er die nöthigen Summen bei einander haben, um das Beste von Dortenbach an sich zu bringen.“

„Und Dortenbach muß unzerstückelt und in all seinen adligen Würden bleiben und Förster Klingholt der souveraine Tyrann über alle seine Wälder,“ sagte Leonhard lächelnd, „das ist unser Satz. Die Folgerung wäre: also ist der gute alte Herr so lange gesund und frisch am Leben zu erhalten, wie es irgend möglich ist!“

„Gott sieht in mein Herz,“ versetzte der Förster lebhaft, „Du wirst mir doch den Vorwurf nicht machen, daß dies mir nicht die Hauptsache und ich ein Egoist sei?“

„Du ein Egoist, Vater?“ fiel Leonhard lachend ein, „Du bist’s in Deinem Leben nur allzuwenig gewesen. Dein Eifer, zu helfen, für Andere Deine Kraft einzusetzen, Opfer zu bringen – das war ja immer – das Hirschgeweih auf Deinem Kopf.“

Sie waren aus ihrer Eichenallee auf einen gepflasterten Fahrweg gekommen, der jetzt zwischen sauber geschorenen Hecken zur Rechten und Linken auf ein großes und stattliches Herrenhaus zulief; über eine stattliche Zugbrücke gelangte man auf den Hof desselben. Das Haus zeigte in der Mitte einen mächtigen festen Quaderbau, der, aus grüngrauen Werkstücken aufgeführt, aus den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges stammen mußte; es war von zwei über das hohe gegiebelte Dach von der Rückseite her ragenden Thürmen flankirt. Auch an den vorderen beiden Ecken mochten einst solche Thürme sich erhoben haben; jetzt waren sie verschwunden; dagegen hatte man an den vorderen Ecken zwei vorspringende Flügel angesetzt, im schönsten Rococostil und in rothem Ziegelsteinrohbau, was dem Ganzen einen sehr unharmonischen Charakter gab.

Der Förster war an den sonderbaren Anblick des alten Schlosses gewöhnt, aber Leonhard, der es seit mehreren Jahren nicht gesehen, meinte:

„Wer an den biederen alten Renaissancebau diese zwei leichtsinnigen Rococoflügel geflickt hat, der hätte, um es ja recht bunt zu machen, etwas wie das rothe, gelbe und grüne Schloß der von der Thann daraus machen und jeden Theil besonders anstreichen sollen.“

„Wäre nicht übel, besonders für unsere Tage,“ versetzte lächelnd der Förster, „in dem Flügel links haben sich die Ramsfeld’schen eingenistet – der könnte gelb vor Neid, und im rechten hausen die Sander – der könnte grün vor Aerger dastehen. Aber da ist der alte Andreas,“ fuhr er fort, indem er auf einen alten Mann in Dienertracht deutete, der eben in die offene Portalthür trat. „Andreas kann Dich jetzt zum Herrn führen – angemeldet bist Du ja.“

Leonhard nickte.

„Also auf Wiedersehen, Vater!“ sagte er, seine Hand flüchtig dem Förster reichend, der sich nun wandte und heimwärts ging.




2.


Der alte Mann mit dem Kopfe voll dichter schlohweißer Haare und dem gutmüthigen kummervollen Gesichte empfing Leonhard sehr respectvoll.

„Der gnädige Herr erwarten Sie,“ sagte er; „es ist uns eine rechte Freude, daß Sie gekommen sind – es geht dem gnädigen Herrn schon seit mehreren Wochen gar nicht gut – das alte Leberleiden – und die arge Schlaflosigkeit – und –“

„Ihr hättet mich früher rufen lassen sollen, Andreas,“ fiel ihm Leonhard in’s Wort; „Ihr wußtet doch, wie gern ich Alles aufbieten würde, Eurem guten alten Herrn Erleichterung zu verschaffen.“

„Freilich, freilich, aber die gnädige Frau von Ramsfeld meinte ja, Sie seien jetzt ein so berühmter und von hundert schweren Fällen in der Stadt in Anspruch genommener Herr, daß man Ihnen solche Landpraxis nicht zumuthen dürfe, und die gnädige Frau von Sander redet ja auch immer nur, als ob des Herrn Leiden die reine Einbildung sei und schon vorübergehen werde, wenn man ihn nur zerstreue und erheitere und gesellig mache und ihn recht aufmuntere – wenn man sich selber nicht krank gebe, sei man auch nicht krank –“

„Etwas Wahres ist an der Theorie,“ unterbrach ihn Leonhard lächelnd.

„Und so arbeiten sie denn mit ihrer Aufmunterung auf ihn ein,“ vollendete Andreas, „du lieber Gott, daß es ganz herzbrechend ist.“

Sie waren unterdeß durch den Flur die breite Steintreppe, die in’s erste Stockwerk führte, hinaufgeschritten und betraten jetzt einen großen Saal, einen imponirenden Raum, welcher mit dunklem Eichenholzgetäfel, einem schönen Deckengemälde, aus dessen Mitte ein großer kostbarer, alter Kronleuchter von venetianischem Glase niederhing, und mit kunstreichsten alten Möbeln aus verschiedenen Zeiten versehen war. Aber so herzerfreuend all dieses schöne Geräth auch für den Kunstliebhaber sein mußte – einen unbehaglichen und melancholischen Eindruck machte der Saal, in welchem eine kühle Luft die Eintretenden anfröstelte, dennoch; vielleicht kam es, weil die Hälfte der Läden geschlossen war und so das Licht etwas Dämmeriges hatte und all die verblichenen Farben der Gegenstände noch mehr abtönte.

Leonhard blickte sich in dem Raume um, als stiegen Schattenbilder vor ihm auf, die Gestalten seiner Kinderzeit. Er ließ seine Blicke über die Decke mit den verblaßten Götterfiguren, die Wände mit den verdunkelten Gemälden schweifen, bis Andreas an die Flügelthür zur Linken gepocht und sie dann respectvoll weit geöffnet hatte.

Ein mittelgroßer schwächlicher alter Herr mit einem Gesichte, das fast weiblich-feine Züge zeigte, einer dunklen Perrücke und auffallend schönen, sprechenden, dunklen Augen, die in einem ganz jugendlichen Glanze aufleuchteten, erschien im nächsten Augenblicke auf der Schwelle.

„Seien Sie mir gegrüßt, Doctor, seien Sie mir willkommen!“ sagte er mit wohltönender Stimme, die schmale weiße Hand, die ebenfalls etwas Weibliches, etwas von einer magern Frauenhand hatte, dem Doctor aus dem faltigen Aermel eines grünsammetnen Schlafrockes entgegenstreckend – „wenn Sie nicht ein so berühmter Mann geworden wären,“ fuhr er fort, „so würde ich sagen: sei mir gegrüßt, Klingholt, alter unternehmender Leonhard – so aber – die Wissenschaft verleiht ihre Würden –“

„Und doch,“ fiel Leonhard ein, „würden alle Würden der Welt mich nicht unempfindlich gegen das Glück machen, noch immer von Ihnen als ein zu Ihrem Hause gehörender Client betrachtet zu werden.“

„Client!“ sagte mit wehmüthigem Lächeln der alte Herr; „ach, Klingholt, Sie wissen nicht, wie schmerzlich mich das Wort berührt, seit ich empfinde, daß ich aus dem ehemaligen Herrn und Patronus nur noch aller Welt Client geworden. Der Client des Advocaten, des Rentmeisters, der lieben Verwandten, der – doch [223] treten Sie ein, setzen Sie sich – mir gegenüber – nein, am Kaminfeuer wird es Ihnen unbehaglich sein – hier, nehmen Sie auf dem Eckdivan Platz!“

Sie waren in des Barons Wohnzimmer getreten, ein mäßig großes Gemach, dessen Wände eine verschossene Tapete von grüner Seide und werthvolle alte Kupferstiche bedeckten. An der einen Wand stand ein altmodisches Clavier aus Kirschbaumholz, an der andern ein mit Decken und gestickten Kanapeekissen ausgestattetes Ruhebett; in dem Marmorkamine den Fenstern gegenüber brannten Scheite, welche in dem Raume bei der warmen Jahreszeit eine unangenehm hohe Temperatur erzeugt hatten. Der Ausblick aus den Fenstern zeigte eine hohe und melancholische Tannengruppe; weiterhin, an ihr vorüber, sah man auf eine Wiese, die von Wald umgeben war.

Leonhard hatte den Eindruck, als ob er in einen Raum, eine Welt träte, wie wir sie aus den Zeichnungen Chodowiecki’s kennen. „Sie heizen ein – jetzt?“ fragte er, indem er sich auf den Divan setzte.

„Was wollen Sie?“ antwortete der alte Herr, sich ebenfalls niederlassend und müde in seinem neben dem Kamin stehenden Fauteuil zurücklehnend. „Ich bin frostiger Natur und das ‚freundliche Element‘ leistet mir Gesellschaft. Ich habe,“ setzte er mit einem wehmüthigen Lächeln hinzu, „nie viel Feuer in mir gehabt – so such’ ich’s außer mir und lasse es auch die Zeit hindurch nicht ausgehen, welche man sich hier gewöhnt hat, Sommer zu nennen, obwohl der Sommer uns längst eine Mythe geworden ist – mich soll wundern, wie lange noch die Bäume den alten Aberglauben beibehalten und in jedem Frühjahr grüne Blätter treiben werden.“

Wenn der Baron Dortenbach bei solchen Reden über sein eingefallenes gelbgraues Gesicht ein mildes wehmüthiges Lächeln gleiten ließ, leuchtete darüber eine schattenhaft flüchtige Verschönerung in raschem Vorüberschwinden auf, der Schatten einer einstigen weichen Schönheit, die etwas Herzbestrickendes gehabt haben mochte; jetzt flößte ihr bleicher Wiederschein nur noch eine tiefe und theilnahmvolle Sympathie ein.

„Ich werde, fürchte ich,“ sagte Leonhard, „Ihnen das Feuer auslöschen – und vielleicht auch das Wasser Ihnen rauben müssen, das ich da in einer großen Caraffe neben Ihrem Sitz aufgestellt sehe.“

„O weh – dann wäre ich Aqua et Igne interdictus,“ scherzte der alte Herr, während Leonhard seine Züge fixirte und dabei nach und nach einen so zerstreuten Ausdruck in seine Mienen legte, daß der Baron lächelnd fortfuhr:

„Mein Aussehen giebt Ihnen offenbar viel zu denken, Klingholt.“

Leonhard erröthete tief. Seine Gedanken hatten ja eine so ganz andere Richtung genommen, als der alte Herr voraussetzte; was ihm „zu denken gegeben“, waren so ganz andere Züge, als die des alten Mannes vor ihm – Züge, die doch von diesen vor seinem inneren Auge heraufbeschworen waren, welche er doch unwillkürlich in diesen wiedergesucht hatte – er stand jetzt, ohne zu antworten, auf und nahm die Hand des Patienten, um seinen Puls zu examiniren.

Dann begann er seine Untersuchungen, prüfte die Mittel, welche dem Baron verschrieben waren – endlich sagte er, indem er zum Fenster ging und beide Flügel desselben aufriß:

„Sie sind nicht gerade unrichtig behandelt worden, Herr Baron, nur hat Ihr bisheriger Arzt Eines versäumt, das Wichtigste, nämlich Sie selbst zum Heilgehülfen bei Ihrer Cur zu machen. Bei Leiden, wie den Ihrigen, vermag der Arzt wenig, wenn er nicht den Patienten zum Collegen nimmt und zu ihm spricht: hilf dir selbst – dann werde ich dir helfen. Sie sind eine Natur, in welcher das geistige Leben, wie bei wenigen Menschen, mit dem körperlichen verflochten ist und dieses von jenem abhängt. Wenn Ihr Gemüth hell, klar und von nichts getrübt ist, werden auch Ihre Leiden zurücktreten. Also – halten Sie als Ihr eigener Arzt fern, was Ihr Gemüth trüben kann. Zum Optimisten zwar kann ich Sie nicht machen …“

„Nein – das können Sie freilich nicht,“ fiel ihm der Baron mit bitterem Lächeln in’s Wort. „Das ist zu spät.“

„Aber zum Egoismus besitzt jeder Mensch gottlob hinreichende Anlage, es wird auch in Ihnen so viel sein, daß Sie sich stets sagen können: wehre ab, wehre ab, was dich erregen, dich ärgern, dir schaden könnte! Das Leben ist Abwehr. Erst wenn Sie von diesem Axiom durchdrungen sind, es sich zum Lebensmotto genommen haben, werden Sie gesund bleiben können.“

„Das Leben ist Abwehr,“ wiederholte sinnend der alte Herr; „das ist eine neue Lehre; für den Kampf um’s Dasein, von dem Ihr Jüngeren so viel Gerede macht, heißt es die Defensive als Princip nehmen.“

„Richtig. Die Offensive läßt man denen, die noch nichts zu vertheidigen, die noch keinen inneren Besitz haben. Für reifere Naturen bleibt nichts übrig, als die Defensive – wehre ab, was dich aus deinem Pfade drängen, aus deiner Gedankenwelt locken, was dir etwas von deinem Sein stehlen will, oder was, weil es dich ärgert, dich krank macht!“

„Und sind das alle Ihre Vorschriften, Klingholt?“ sagte der alte Herr lächelnd. „Ist dieses philosophische Arcanum Ihre ganze Heilkunde?“

„Nicht meine ganze. Zunächst aber habe ich, nachdem ich Ihnen zwei Elemente, Feuer und Wasser, entzogen, Sie durch ein anderes zu entschädigen – durch Luft. An warmen Tagen, wie heute, werden Sie der frischen Luft die Fenster öffnen; Sie werden am Nachmittage einen kleinen Spaziergang durch die Gärten mit mir machen.“

„Ah – dazu fehlt mir alle Kraft …“

„Die Kraft wird kommen. Sie werden sehen. Im Nothfall bin ich ja da, um als Stütze zu dienen. Und zur Einleitung, um die nöthige Stärkung dazu zu haben – ist es zweckmäßig, daß Sie jetzt ein Glas guten alten Weines, Ungar oder Madeira, trinken.“

„Man hat mir den Wein verboten,“ sagte der alte Herr.

„Ihn zu verbieten war thöricht,“ entgegnete Leonhard die Klingel ziehend. „Ich werde ihn im Gegentheil Ihnen als Hauptmittel verordnen. Sie werden täglich bei Tisch eine halbe Flasche Champagner trinken.“

„Welch liebenswürdiger Arzt Sie sind!“ fiel der Baron ein. „Die Heilgehülfenstelle, die Sie mir übertragen, wird unter solchen Umständen mit Vergnügen angenommen.“

Andreas trat ein.

„Andreas,“ sagte der alte Herr, „Du führst den Kellerschlüssel – hast Du Ungarwein unter Deinem Verschluß?“

„Es wird nicht viel mehr da sein. – Die Gnädige von Ramsfeld hat ihn als ihren Frühstückswein sehr in Anspruch genommen.“

„So, so! Aber Madeira?“

„Der hat dem jungen Herrn von Sander so lange als Jagdtrunk gedient, daß wohl damit aufgeräumt sein wird.“

Des alten Herrn Brauen verfinsterten sich.

„Sie sehen,“ sagte er kopfschüttelnd zu Leonhard, „Sie finden hier im Hause einen zweiten Patienten – einen schwindsüchtigen Weinkeller.“

„Es scheint so,“ antwortete Leonhard lächelnd, „und ich werde ihm sogleich einen Besuch machen, um zu sehen, welche Recepte ich für ihn zu schreiben habe. Es muß auch hier einfach stärkend gewirkt werden, seh’ ich – führen Sie mich, Andreas!“

Leonhard Klingholt war aufgestanden.

Andreas sah den Doctor, der sich der Dinge hier so gründlich annehmen wollte, überrascht an, aber mit einem gehobenen Wesen, mit einem elastischeren Schritt, als womit der alte Mann seit Jahren aufgetreten, schritt er voran, ging er doch der Befriedigung entgegen, einer theilnehmenden Menschenseele einmal da unten in den kühlen dämmerigen Räumen zeigen zu können, wie räuberisch in den letzten Zeiten hier gehaust worden war, welche brutale Eingriffe ihm die schöne Ordnung, die er einst gehalten, zerstört.

Der alte Herr oben war, sobald er sich allein sah, aufgestanden. Er fühlte sich schon jetzt gekräftigt, wie von einem erfrischenden Luftzuge aus den Worten Leonhard Klingholt’s angeweht – zunächst ging er aber doch, das Fenster wieder zu schließen.

„Das Leben ist Abwehr,“ sagte er dann vor sich hin, bitter lächelnd und inmitten des Zimmers stehen bleibend, um auf die düstere Tannengruppe draußen zu starren. „Mit dem Grundsatz bewaffnet, soll ich mein eigener Arzt werden. Er hat Recht – tausendmal Recht, wenn nur nicht zur Abwehr auch die Wehr gehörte, die ich nun einmal nie recht zu schwingen verstanden habe! Unselige Natur, die meine! Ich glaube, meine Mutter trägt die Schuld, die nach meiner Brüder Geburt durchaus eine Tochter wollte – als ich nun endlich geboren wurde, war’s zwar wieder [224] keine Tochter, aber der Mutter Sehnen, Denken und Vorstellen hatten eine halbe Tochter aus mir gemacht, eine weibliche Natur. Gott verzeih’s ihr! Nannte sie mich nicht, wenn sie mir zärtlich durch die Locken fuhr, meine mißrathene Tochter? Sagt nicht auch Klingholt, daß bei mir das körperliche Leben von dem geistigen bestimmt wird – ganz wie beim Weibe? Und meine unselige Höflichkeit des Herzens, in einer Welt, die viel zu egoistisch ist, um sie zu erwidern, viel zu brutal und stupide, um sie zu begreifen! Und der unselige Trieb, mich in Anderer Stelle zu denken, ihre Anschauung zu verstehen, ihr Gefühl mitzuempfinden, tolerant gegen alle Welt zu sein! Tolerant, wenn auch dabei mein eigenes Recht in die Brüche geht! Ist das nicht alles weibliche Natur, Weiblichkeit, Weibischheit?“

Der alte Herr warf sich mit einem tiefen Seufzer in seinen Sessel.

„Gott besser’s!“ sagte er dabei. „Trinken wir also einmal wieder Wein! Vielleicht thut der’s. Dieser Klingholt sollte mir immer zur Seite bleiben – immer – immer – an des Sohnes Statt, den das Schicksal mir nicht gegönnt hat. – Was ist aus dem wilden, unlenksamen Försterjungen, der nie wußte, wo seine Bücher waren, der nie ein erträgliches Schulzeugniß aus der Stadt heim brachte, geworden? – trotz seiner Jugend der geschickteste, gesuchteste Arzt in der Stadt, der kühnste und glücklichste Operateur – und in Allem, was er angreift, ein Mann – ein ganzer Mann!“

Der alte Herr stützte, solchen Gedanken folgend, sein schmales zurücktretendes Kinn in die Hand; so blickte er lange schwermüthig in die erlöschenden Kohlen seines Kamins, bis sich die Thür wieder öffnete und Leonhard eintrat, von Andreas, der eine Flasche und Gläser trug, gefolgt.

„Es sieht da unten nicht glänzend mehr, aber doch auch nicht zum Verzweifeln aus,“ sagte er lachend. „Für Sect ist für einige Tage gesorgt, und hier ist Château d’Yquem, von dem Sie ein Spitzglas leeren sollen.“

Andreas füllte die Gläser.

Leonhard stieß mit dem alten Herrn an; dieser trank mit augenscheinlichem Behagen, und sagte dann mit einem heitern Aufleuchten seines schönen dunklen Auges:

„Ich glaube, dieser Heilgehülfe wird jedenfalls seine Schuldigkeit thun, Klingholt.“

„Ich bin davon überzeugt,“ entgegnete lächelnd Leonhard; „jetzt aber bitte ich mir durch Andreas ein Zimmer anweisen zu wollen, wo ich mich installiren und für einen oder zwei Tage aufhalten kann, so lange es nöthig ist, daß ich in Ihrer Nähe bleibe!“

„Ah,“ rief der Baron erfreut, „Klingholt, Sie wollen, Sie können mir einige Tage opfern? Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich dadurch machen, wie dankbar.“

„Dankbar? Was schulden wir nicht Ihnen, Baron, wir, die wir den Namen Klingholt tragen – meine Zeit, meine Kräfte, wem konnten sie vor allen Andern zuerst gehören, als Ihnen? Ich habe meine Kranken in der Stadt einem Freunde anvertraut, der meinen Assistenten macht.“

„Vortrefflich!“ sagte der Baron; „ich hätte nie gewagt, Ihnen so viel zuzumuthen. Also,“ fügte er, ihm die Hand reichend, hinzu, „bis zur Mahlzeit!“ – –

Zu dieser Mahlzeit wurde ein paar Stunden später Leonhard durch einen andern Diener, einen verdrossen aussehenden Menschen gerufen, der ihn schweigend in das Erdgeschoß führte, in den Speisesaal, der unter dem Wohnzimmer des alten Herrn lag. In dem Augenblick, wo er eintrat, kam durch eine entgegengesetzte Thür, auf Andreas’ Arm gestützt, der Baron herein. Er hatte den Sammetschlafrock mit einem Rock aus schwarzer, gesteppter Seide vertauscht. Jetzt auf die Lehne seines Sessels gestützt, stellte er Leonhard der versammelten Tischgesellschaft vor:

„Herr Doctor Klingholt – mein lieber Doctor Leonhard Klingholt,“ sagte er, und dann setzte er sich und überließ es Leonhard, Namen, Geltung und Bedeutung der Anwesenden in diesem Kreise für sich selber zu ermitteln. Für’s erste hielt Leonhard das Auge auf ihn gerichtet und beobachtete, wie er sich mühsam und mit vielen Weitläufigkeiten zu einem bequemen Sitzen in seinem Sessel brachte, den Andreas an die Tafel schob, wie viele Hände ihm dabei behülflich zu werden suchten, wie die eine – die fleischige Hand einer dicken kleinen Dame – ihm den Zipfel der Serviette in eines der obern Knopflöcher seines Rockes steckte, worauf der alte Herr mit einer Miene des Aergers die Serviette wieder losriß und auf seine Kniee warf, wie eine andere Hand – die schmale rosenrothe eines neben ihm niederknieenden jungen Mädchens – ihm ein gesticktes Kissen unter die Füße schob, was nur den Effect hatte, daß der Baron das Kissen mit dem Fuße wieder von sich schob, während er mit einem süß-sauren Lächeln und gefurchter Stirn ein Mal über das andere ein leises: „Danke, danke!“ – sagte.

Leonhard faßte die dicke Dame und das junge Mädchen in’s Auge, die nicht den Tact besaßen, zu fühlen, bis wie weit Hülfeleistungen bei alten Leuten gehen dürfen, wenn sie dieselben nicht kränken sollen, indem sie mehr Hinfälligkeit und Schwäche voraussetzen, als da ist. Der Baron hatte ihn mit einem Wink gebeten, an seiner rechten Seite Platz zu nehmen.

Die Dame setzte sich Leonhard zur Linken – sie hatte ein rundes rothblühendes Gesicht mit vollen Wangen, die sich zu Hängebacken zu entwickeln drohten, und einen ziemlich großen Mund mit beneidenswerth schönen wohlconservirten Zähnen; sie blickte aus ihren runden, vorliegenden blauen Augen wie die gute Zeit. Das junge Mädchen, welches sich neben sie setzte, mußte ihre Tochter sein; sie hatte zwar nichts von der Mutter wohlgenährter Leibesfülle, sondern war schlank und zeigte kindlich anmuthige Bewegungen, aber sie hatte die Augen der Mutter, deren heiteren Blick und dazu noch etwas Kluges, Satirisches, das von Zeit zu Zeit daraus aufblitzte und ihrem sehr hübschen Gesicht einen Reiz mehr gab.

Zur andern Seite des alten Herrn setzte sich eine in schwarze, ein wenig abgetragene Seide gekleidete, mit großem Würdebewußtsein sich niederlassende magere, starkknochige Dame mit einer langen spitzen Nase, einem Gebiß, welches mit unheimlicher Deutlichkeit seinen künstlichen Ursprung verrieth, und mit einem übergroßen Kreuz von Jet an dicken Jetperlen auf der Brust.

Leonhard hatte nun nur noch die beiden Jünglinge, von denen der eine neben dem jungen Mädchen, der andere neben der stolzen schwarzen Dame Platz nahm, zu recognosciren, nur noch einen Augenblick auf den Dialekt zu horchen, in welchem die Gesellschaft die ersten Worte wechselte, und er war über die Herrschaften an der Tafelrunde, welcher sich nur noch der Rentmeister Benning und ganz zu unterst eine die Wirthschaft leitende ältliche Dame zugesellt hatten, im Reinen. Die dicke Dame war offenbar die aus Süddeutschland gekommene Frau von Ramsfeld, die Wittwe eines „verkauften“ Gutsbesitzers aus Frankenland, das junge Mädchen ihre Tochter Dora, und der wunderliche junge Mensch von einigen zwanzig Jahren, der neben der mageren schwarzen Dame saß, der so hohläugig aus den Augen schaute und einen so hohlwangigen Kopf hatte, mußte ihr hoffnungsvoller Sohn Damian sein.

Die schwarze Dame aber, die lange, magere, war die Frau Generalin von Sander aus einem Städtchen Pommerns, wohin sich ihr als Obrist mit dem Generalscharakter pensionirter Gatte zurückgezogen hatte. Ihr der Mutter wenig ähnlich sehender Sohn, Sergius, hatte sich auf die süddeutsche Seite geschlagen – der wohlgenährte, hochgewachsene und mit eigenthümlich gespannten Mienen lebhaft um sich blickende junge Mann saß neben dem hübschen jungen Mädchen aus dem Frankenlande.


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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 15, S. 241-244, 246
Novelle – Teil 2

[241] Ueber die Verhältnisse der Tischgesellschaft war Leonhard nicht erst heute von seinem Vater orientirt. Der Baron von Dortenbach hatte keine Erben. Nur entfernte, gleich nahe Verwandte – die Kinder und Enkel zweier Großtanten, von denen eine nach Frankenland, eine nach Pommern verheirathet war. Und, rücksichtsvoll, wie solche sich heiliger Pflichten stets, wenn es Zeit ist, erinnernde Verwandte sind, waren sie zu ihm auf sein Gut in Westdeutschland gekommen, um sich seiner in der Verlassenheit anzunehmen. Zuerst war eines schönen Tages die Frau Generalin bei ihm aufgetaucht, um in rührender Beflissenheit sich selber seiner Pflege zu unterziehen, und nun war bald darauf auch aus dem schönen Frankenlande die andere Dame ankutschirt gekommen und hatte in noch rührenderer Beflissenheit zur Unterstützung ihres Pflege-Eifers gleich einen Sohn und eine Tochter mitgebracht; einige Zeit darauf war dann, um Süddeutschland nichts voraus zu lassen, auch der Generalin Sohn, Sergius von Sander, angelangt – die Tochter Dora mußte man den Ramsfeld’schen freilich voraus lassen; denn die zwei Töchter der Generalin hatten daheim bleiben müssen, um „dem Vater das Haus zu führen“, in Wahrheit jedoch nur, um nicht störend in die Aussichten einzugreifen, welche sich für Louise, die jüngste, durch die Bevorzugung boten, deren Gegenstand sie daheim unverkennbar von Seiten eines vermögenden Regierungsassessors war.

Die Tischunterhaltung wurde von der Generalin eröffnet; sich stark aufrichtend und Leonhard durch ein Pince-nez fixirend, sagte sie:

„Wo haben Sie studirt, Herr Doctor?“

„In Bonn, Leipzig und Halle, Frau Generalin,“ antwortete Leonhard mit einem Blick, der seltsamer Weise für das Pince-nez etwas Unbehagliches haben mußte; es glitt nämlich leise an der langen Nase nieder und zog sich in den Schooß der Dame zurück.

„Und Berlin? Ist das heutzutage nicht zur vollendeten Ausbildung eines jungen Mannes durchaus erforderlich?“ fragte die Generalin mit dem Tone entschiedenen Nichtbefriedigtseins.

„Ach gengen’s!“ fiel hier die Frau von Ramsfeld ein, „ich denk’, Würzburg thut’s auch. Wir haben halt Aerzt’ so gut, wie Sie nur verlangen können, und die sind über Würzburg und höchstens München nie hinausgekommen –“

„Aber ich bitte Sie – ‚Minchen‘, wie Sie es nennen, liebe Cousine – und Berlin! Die Entwickelung des wissenschaftlichen Lebens nach allen Seiten und Richtungen hin, welche Berlin aufweist –“

„Ich muß,“ bemerkte hier, um den Streit zu unterbrechen, der alte Herr, „von meinem politischen Standpunkte aus wünschen, es entwickelte ein wenig mehr Sinn für die großen europäischen Fragen, statt den großen und weit aufgeblähten Sack Reichshauptstadt mit einem Knäuel von Partei-, Fractionen- und Fractiönchen-Hader und einer miserablen Persönlichkeits-Interessen-Hetze zu erfüllen.“

„Da machen Sie sich doch eine ganz falsche Vorstellung von den Dingen bei uns, lieber Onkel,“ entgegnete ihm jetzt lebhaft Sergius von Sander und begann eine lange redselige Berichtigung dieser Vorstellung, bis ihn mit einem wehmüthigen Blick und einer zitternden Bewegung des Kopfes der alte Herr durch die an Leonhard gerichtete Frage unterbrach:

„Soll ich jetzt trinken, Klingholt?“

Leonhard war mit einem satirischen Vergnügen den Reden des jungen Mannes gefolgt, der, die Augen auf ihn gerichtet, offenbar den Effect der Geistreichigkeit auf ihn beobachtete, mit der er dem Doctor von vornherein gründlich imponiren zu wollen schien. Jetzt winkte Leonhard Andreas und ließ dem Baron Sect einschenken.

„Sie trinken Wein?“ fragte die Generalin mit einem ebenso erstaunten wie verweisenden Tone.

„Ein Recipe meines lieben Doctors hier,“ versetzte der alte Herr, indem er mit größtem Behagen den ihm lange untersagten Stoff schlürfte.

„Aber, Herr Doctor – bei dem tiefverstimmten Nervensystem meines Cousins! Die Aufregung, die Erhitzung – bedenken Sie –!“

„Sie können unter allen Umständen annehmen, meine gnädige Frau, daß ich, ehe ich etwas verordne, es bedacht habe,“ antwortete Leonhard mit einem Tone außerordentlich kühler Ueberlegenheit.

Frau von Ramsfeld lachte. Ihr Gesicht strahlte vor Vergnügen über die Abfertigung, welche die Generalin erhielt. In ihrer Schadenfreude ging sie sogar zu der kühnen Behauptung über, Wein, guter Wein, schade nie, besonders der Steinwein nicht, den Andreas leider nicht im Keller habe. Der aus dem Hofkeller zu Würzburg, oder der aus dem Julius-Spital sei der beste, aber man kenne ihn ja hier gar nicht.

„Der Steinwein ist ein durchaus nicht zu empfehlender Wein, wegen seines Alkoholgehalts,“ sagte Sergius, sich strafend zu Frau von Ramsfeld wendend und ihr schnöde beweisend, daß man ihn [242] – was kannte überhaupt Sergius von Sander nicht! – sehr wohl hier kenne. „Der Steinwein führt bis zu achtzehn Procent Alkohol,“ sagte er, „der gute Rheinwein nur etwa zehn, der Madeira zwanzig, der echte Sherry …“

„Darauf wird viel ankommen,“ unterbrach ihn jetzt mit einer wunderlich hohltönenden Grabesstimme Damian von Ramsfeld, „der Steinwein ist gut, gesund und rein – das weiß Jedermann, der’s versteht, und das thun halt die Leute, die mit der Alkoholwage daherkommen, immer am wenigsten.“

„Als ob Sie in Ihrem Bierlande drüben es besser verständen!“ sagte Sergius scharf.

„Das Bier schadet gar nichts, um sich über alle Dinge auszukennen,“ versetzte Damian, „beim Biere läßt sich ebenso gut wie bei einem anderen Getränk aus dem Aermel schütteln, was die Leute verblüfft …“

„Wollen Sie damit sagen, daß meine Angaben von eben unrichtig seien?“

„Werde mich schön hüten! Bin auch so klug, nur Behauptungen aufzustellen, die mir keiner der Zuhörenden widerlegen kann.“

„Vetter Damian hütet sich mit Dir zu disputiren,“ sagte Frau von Sander und sah bei diesen Worten mit einem Aufwerfen ihrer blassen schmalen Lippen auf Vetter Damian in einer Weise herab, die für diesen nichts Schmeichelhaftes hatte. „Dabei,“ fügte sie hinzu, „gewinnt aber die Dialektik nichts.“

„Dialektik – möcht’ wissen, was dabei zu gewinnen wäre, wenn Sergius in seinem pommerschen und ich in meinem fränkischen Dialekt kauderwelschen,“ brummte Damian, eine Bemerkung, welche glücklicher Weise überhört wurde, weil der Baron laut sagte:

„Desto besser, verehrte Cousine! Disputiren ist thöricht. Wozu sich erhitzen, um einem Anderen eine falsche Vorstellung zu nehmen? In solch einem Menschenkopf ist eine ganze Sammlung falscher Vorstellungen. Ob eine mehr oder weniger darin ist, was verschlägt mir das?“

„Aber ich bitte Sie, wo bleibt dann die Bildung?“ warf die Generalin ein. „Wir werden doch nur gebildet durch ein fortwährendes Berichtigtwerden unserer Vorstellungen.“

„Ach,“ sagte Damian, „ich dank’ schön … das ewige Berichtigtwerden ist gar meine Sach’ nicht.“

Jetzt glaubte Sergius offenbar sein Stichwort gefallen; er räusperte sich zu einer gründlichen Erörterung, und nur Dora von Ramsfeld, das junge Mädchen neben ihm, hielt ihn noch zurück, weil sie aufgesprungen war, um mit ganz anmuthiger Koketterie, die Leonhard gelten mußte, auf’s Neue das Glas des alten Herrn zu füllen.

Dieser leerte es hastig und hob dann die Tafel auf. Sehr vorschnell, dachte Sergius, und auch Damian dachte so, da die Rothweinflasche vor ihm noch lange nicht geleert war.




3.

Leonhard hatte nach Tisch den alten Herrn an den Arm genommen, um ihn hinab in die Anlagen zu führen. Er sagte:

„Sie sollen, statt jetzt zu schlafen und sich die Nachtruhe zu verderben, mit mir in die freie Luft hinaus. Der Tag ist schön, klar und heiter, und ich freue mich darauf, mit Ihnen durch die alten Gärten zu wandeln, in denen ich mich als Knabe so viel umhergetrieben und Ihrem Gärtner Verdruß bereitet habe, mehr als ich verantworten kann.“

„Versuchen wir’s, ob die Kräfte reichen!“ versetzte der Baron. „Ihr fester Arm wird mich stützen – es ist, als wenn ein stärkendes Fluidum von Ihnen her mir zuströmte – das macht, Sie sind mir sympathisch, Klingholt; diese Anderen, die mich umgeben und die Sie nun haben kennen lernen, sind es nicht; sie reizen, sie ärgern mich.“

„Und das ist sehr übel, das sollte nicht sein; just Sie mit Ihrem Nervenleben sind nicht der Mann, der solchen Antipathien ausgesetzt sein sollte.“

„Aber was wollen Sie? Wie kann man sich all dieser liebevollen rührenden Theilnahme und Beflissenheit seiner nächsten Verwandten entziehen, blos deshalb, weil sie uns nicht angenehm sind und man auch sehr wohl die Katzenkrallen unter den Sammetpfoten welche sie einander reichen, bemerkt …“

„Senden Sie sie fort! Halten Sie etwa nur Fräulein Dora von Ramsfeld als Ihre Vorleserin hier!“

„Fräulein Dora? Das Kind ist gut, aber als Vorleserin nicht zu gebrauchen. Sie wird nie mit den Fremdwörtern fertig und überschlägt jeden Augenblick eine Zeile. Da ist der gebildete Sergius mir doch lieber, obwohl er auf jeder Seite wenigstens einmal plötzlich innehält, um mir eine nöthige Erklärung beizubringen …“

„Und die ganze Gesellschaft, welche hier doch nur das Streben, einander zu überwachen, zusammenführte …“

„Glauben Sie das? Da thun Sie ihnen Unrecht, Doctor – wozu sich überwachen? Sie sind meine gleichnahen Verwandten, haben die gleichen Erbansprüche und werden zu gleichen Theilen gehen, natürlich …“

„Aber ist es nicht ebenso natürlich, daß sie sorgen, Sie könnten Bevorzugungen eintreten lassen? Kann Frau von Sander nicht fürchten, die hübsche kleine Dora könnte Ihr Herz in einem solchen Grade erobern, daß es durchaus der Genialität ihres Sergius als Gegengewicht dagegen bedürfe?“

„Freilich, freilich,“ sagte der Baron, „es mag so sein, aber ich denke nicht gern Uebles von meinen Nächsten, und habe ja auch nicht die leiseste Neigung verrathen, Einen vor dem Andern zu bevorzugen.“

„Desto mehr hätten Sie das Recht, sie alle zusammen als lästige Gäste heimzusenden.“

„Was sagen Sie da?“ rief der Baron, wie durch diese Unumwundenheit verletzt, aus.

„Ich erscheine Ihnen tactlos, und bin mir doch bewußt, nicht über Das hinauszugehen, was ich als Ihr Arzt Ihnen sagen muß. Meine Behandlung kann Ihnen nicht nützen, wenn Ihnen der Friede des Diners durch Gezänk und Dispute gestört wird und wenn Ihnen eine Pflege zu Theil wird, bei der guten Willens Ungeschick eine größere Rolle spielt, als die genaue und blind gehorchende Ausführung der Befehle des Arztes.“

„Möglich,“ sagte mit einem Seufzer der alte Herr. „Aber Sie fordern eine Energie von mir, welche ich nicht besitze. Sie dürfen mich deshalb nicht verachten – ich bin krank – und das Leben hat mich nicht zur Energie erzogen. Das Leben hat nie Energie von mir verlangt.“

„Freilich, es ist so glatt und eben verlaufen, so ohne Kampf und Ringen, ohne je Anstrengung und das Einsetzen Ihrer vollen Kraft von Ihnen zu verlangen.“

„Es mag ja so sein,“ sagte der alte Herr mit elegisch weichem Tone – „es ist mir vielleicht zu gut gegangen im Leben, obwohl auch ich – obwohl es Stunden gab – doch lassen Sie uns auf jener Bank dort ein wenig ruhen!“

Dem Baron war das Gehen leichter geworden, als er gedacht hatte, bis sie jetzt einem Ruheplatze nahe gekommen, den eine hohe alte Blutbuche beschattete. Der Baron setzte sich hier, nun aber sahen Beide, daß Frau von Sander ihnen nachkam und schon in ihrer nächsten Nähe war – sie riß sich ein dunkles Umschlagetuch von den Schultern.

„Sie sind sicherlich vom Gehen erhitzt, lieber Vetter,“ sagte sie mit großer Zärtlichkeit; „wie gut, daß ich mich mit einem Tuche versehen habe! Bitte, nehmen Sie es als Plaid um!“

Dabei warf sie es ihm, hinter ihn tretend, um die Schultern, während er lebhaft und gereizt abwehrte.

„Lassen Sie doch, lassen Sie doch! Wie werde ich eine Dame um ihr Tuch berauben wollen – ich bin nicht erhitzt.“

„Aber Doctor, so sagen Sie ihm doch –“

Der Baron stand wieder auf.

„Kommen Sie, Doctor, gehen wir weiter! Wir reden besser im Weiterschreiten – entschuldigen Sie uns, liebe Cousine!“

Leonhard reichte ihm seinen Arm, und Frau von Sander, die, ein wenig überrascht über die Unhöflichkeit, mit der man sie stehen ließ, zurückblieb, sah den Weitergehenden mit sehr gerunzelter Stirn nach.

„Ich fürchte, dieser Doctor,“ murmelte sie vor sich hin, „ist ein gefährlicher Mensch, der hier nichts Gutes stiften wird. Ich muß doch einmal mit Sergius reden, welchen Eindruck er auf ihn macht.“

„Wie das beobachtet, wie das überwacht!“ murmelte der alte Herr ärgerlich im Weiterschreiten. „Sehen Sie, Klingholt,“ sagte er dann auf sein Thema zurückkommend, „Sie wissen nicht, Sie haben keine Ahnung davon, wie wir alten Leute erzogen worden sind. [243] Kennen Sie Rousseau? Ein unglückseliger Mensch mit seiner Tugenddressur! Tugend! Wer spricht noch viel davon! Es ist Rococo geworden, das Wort. Wir aber wurden zur Tugend erzogen, das heißt, zur Bescheidenheit, zur Friedfertigkeit, zur Diensteifrigkeit gegen jeden Andern, zur Höflichkeit, zur weichen und weichlichen Hegung unserer Gefühle, zum Erdulden, Ertragen, Entsagen. Das ist nun Alles anders. Heute gelten andere Grundsätze. Aus Eurer Lehre vom Kampf um’s Dasein fließt eine Moral, welche der entgegengesetzt ist, in der wir erzogen sind. Bescheidenheit? Wohin würden wir mit ihr in dieser friedlosen Welt gelangen? Setz’ deine Schultern ein, dräng’ dich vor, stoß’ die Andern zurück, rede laut, damit man dich vernimmt, greife zu, damit du fassest, und statt des Herzmuskels stähle die Muskel deiner Arme! Das ist Eure Moral. Man erzog uns für den hohen reinen Aether des Ideals; man suchte unserer Seele die Schwingen zu geben, welche sie in dieser Luft trügen, hoch über dem dunklen Strome der irdischen Dinge, der gemeinen Wirklichkeit. Euch Kinder von heute aber lehrt man in diesem Strome schwimmen, mit dem Strome schwimmen. Sprecht Ihr von Idealen, so seid Ihr Fische bei Sonnenschein; Ihr schnellt über Eurem Gewässer empor in die reine goldige Luft, um gleich darauf wieder zurückzuplumpsen in Euer Wasser. Und nun sagen Sie, ist es ein Wunder, daß ich nicht die Energie habe, welche Sie von mir verlangen? Ich bin gelehrt worden, daß es besser ist, sich Liebe zu gewinnen, als sein Recht zu erkämpfen, und was man in den Knaben von heute als Willenskraft und Charakter zu stählen sucht, das brach man in uns als Eigensinn und Hartnäckigkeit. – Aber hier ist eine andere Bank, auf welcher man uns hoffentlich ungestört lassen wird – mein Gott, wie thut mir die Luft wohl!“

Der Baron lenkte auf die Bank zu und setzte sich darauf, Leonhard neben sich ziehend.

„Es freut mich, daß Ihnen die Luft wohl thut,“ sagte er lächelnd; er dachte: „die Luft, die Sie sich durch Ausschütten Ihres Herzens machen.“

„Das Leben,“ sagte er laut, „mußte Sie aber doch in Lagen, in Conflicte bringen, wo Ihre Energie herausgefordert wurde; das Leben eines reichen Mannes, eines großen Grundbesitzers kann nicht ohne Kämpfe bleiben – qui terre a, guerre a; Sie waren verheirathet, und so viel ich weiß, nicht glücklich …“

„Nicht glücklich?“ fiel der alte Herr mit einem schmerzlichen Lächeln ein. „O, da irren Sie – irren sehr. Ich war so glücklich in meiner Ehe, daß es mich erdrückte, mein Glück. Meine Frau war so schön, so geistreich, eine so glänzende Erscheinung. Sie war gewöhnt daran, vergöttert zu werden. Aber sie wählte mich; sie liebte mich; sie ließ sich wie eine beglückende Göttin zu mir nieder. Wie eine Göttin. Doch sie trug in ihrer hochgemutheten Brust auch den den höchsten Sternen nachtrachtenden Seelenschwung einer Göttin: sie verlangte eine volle Unendlichkeit von Glück, durch die ununterbrochene Empfindung und Ueberzeugung, daß sie mich grenzenlos beglücke. Ich sollte beglückter sein, als je ein Mensch gewesen, als die ewigen Götter es sind in ihrem Olymp. Und da ich kein Gott bin, auch in meiner von der Natur ein wenig schmal angelegten Brust keinen Raum habe für das Glück eines Gottes, wurde sie unzufrieden mit mir. Ich war ihr nicht dithyrambisch genug; mir fehlte das Pathos, von dem sie getragen sein wollte. Sie that das Zweckmäßigste, was sie unter solchen Umständen thun konnte, um mir eine tiefere Empfindung meiner Seligkeit beizubringen –: Sie demüthigte mich; sie zeigte mich mir selber zwerghaft klein; aus meiner Unbedeutenheit, aus der Tiefe meines Nichts sollte ich zu ihr aufschauen; sollte ich enthusiastischer das Glück ihres Besitzes empfinden. Was dabei mich, mein Denken und Fühlen, mein eigenes Sein anging, so kümmerte es sie wenig. Sie durfte ja nicht zeigen, daß ich ihr etwas, daß ich ihr wichtig sei. Je weniger ich ihr war, desto tiefer mußte ich empfinden, was ich an ihr besaß. Nun bin ich aber leider, wie jeder Sterbliche, nicht ohne Selbstgefühl, nicht ohne Eitelkeit, wenn Sie wollen. Statt eines dithyrambischen Sturmes meiner Gefühle rief das Wesen meiner Frau nur eine sinnige Stille, eine entsagungsvolle, vielleicht ein wenig satirische Abkühlung hervor. Nach ein paar Jahren, die uns weiter und weiter von einander abrückten, kam ein Entschluß der Entsagung auch über sie. Sie entsagte aller Hoffnung auf die Ausdehnungskraft meines Herzens. Und dann fand sie einen Mann, der ihr glückrauschfähiger als ich scheinen mochte … es war ein Künstler, ein Maler, ein Idealist von Profession … sie betrogen mich eine Weile, und als sie inne wurden, daß ich mich geduldig betrügen ließ und herzlich zufrieden war, nicht der Beglückte sein zu müssen, als die Sache für sie das Pikante verlor, beschlossen sie, dies durch einen Zuwachs von Romantik zu ersetzen. Sie flohen in die weite Welt hinaus – sie gingen mit einander durch, und ich habe sie nicht wieder gesehen. Sie sehen, Klingholt, von welcher Seite auch Sie mein Schicksal betrachten wollen, von der elegischen, wie ich es zu thun mir angewöhnt habe, oder von der humoristischen, wie Sie sich geneigt fühlen werden, es zu thun – Conflicte, Kämpfe, Katastrophen – damit hat das Leben mich verschont, und die allgemeine Wehrpflicht der Menschenexistenz hat mich immer in der stillen Friedensgarnison von Dortenbach gelassen.“

Der alte Herr schwieg, indem er sinnend in die Ferne blickte; auch Leonhard, der wohl gefühlt, daß durch die Worte des Redenden mehr Bitterkeit und altes Leid gezittert, als er verrathen wollte, blieb eine Weile stumm, bis er, aufstehend, sagte:

„Das Sprechen wird Sie doch erhitzt haben; es möchte besser sein, wenn wir heimwärts wandelten.“

Der Baron folgte, sich erhebend, seiner Mahnung. Dabei sagte er in leisem Tone, wie im Bedürfnisse, nun vor sich selber auch das noch auszusprechen:

„Nur einmal – so ist’s mir jetzt – nur einmal schien damals das Schicksal meine volle Energie herausfordern zu wollen. War mir’s doch schon damals, als ob eine derbe, ehrliche Faust mich bei der Brust packte und schüttelte und eine zornige Stimme mir zurief: sei einmal ein tüchtiger Wütherich und fahre darein, mache diesen empörenden Scenen ein Ende, dulde die Schmach nicht länger …!“

„Und Sie hörten auf den Ruf?“

„Was wollen Sie – nein!“ antwortete der alte Herr. „Es handelte sich zwar um meine arme jüngste Schwester – die gute Sabine – aber wie hätt’ ich’s durchführen können … den Kampf mit Eltern, die mich zur Bescheidenheit, Unterwürfigkeit, Tugend erzogen hatten – wie hätt’ ich’s können? Doch das ist lange her – es ist Gras darüber gewachsen – Gras über Gräbern, und heute, heute,“ setzte er mit einem tief schmerzlichen Seufzer hinzu, „ist das Alles so gleichgültig, wie ob der Wind, der durch die Grashalme auf diesen Gräbern weht, aus Osten oder aus Westen bläst. Ich bin ein alter einsamer Mann darüber geworden, dessen Herzen Niemand nahe steht, Niemand! Oft ist mir der Gedanke gekommen, es sei das wenigstens meine eigene Schuld; ich hätte Jemand adoptiren, an Kindesstatt annehmen sollen; aber fand ich denn je irgend einen jungen Menschen, bei dem ich hätte Vaterpflichten übernehmen mögen … ein mir sympathisches junges Wesen, das ich hätte immer um mich sehen mögen?“

„Sie könnten diesen Gedanken noch jetzt ausführen,“ sagte Leonhard. „Da ist zum Beispiel Fräulein Dora,“ setzte er lächelnd hinzu.

Der alte Herr schüttelte lebhaft den Kopf. Dann seufzte er tief auf und schwieg.




4.

Leonhard brachte den Baron auf sein Zimmer zurück, und dann verabschiedete er sich von ihm für eine Weile, um zum Forsthause hinüberzugehen. Er hatte seinem Vater versprochen, ihm möglichst bald Bericht zu erstatten, wie er den alten Herrn gefunden und was er für Mittel anwenden werde, den Lebensfaden einer Existenz zu verlängern, von der ja fast die eigene Existenz für seinen Vater abhing.

Leonhard fand diesen mit seiner Mutter und seinem viel jüngeren Bruder Edwin – Edwin war Eleve der Anstalt zu Neustadt-Eberswalde gewesen und bereitete sich jetzt daheim auf sein Oberförsterexamen vor – um den Kaffeetisch versammelt; in der gemüthlichen Wohnstube mit den alten Niedinger’schen Kupferstichen in schwarzen Holzrahmen, mit den alten saubern, wieder und wieder aufpolirten Möbeln, die doch immer noch so schön glänzten, als ob die Försterin Klingholt, die Frau mit den großen gutmüthigen blauen Augen, ein Geheimmittel dafür besitze. Leonhard setzte sich zu ihnen in den Sessel, den Edwin beflissen herantrug, erbat sich auch von diesem eine Cigarre – „die Cigarren der Herren Söhne sind immer denen der Väter vorzuziehen,“ sagte [244] er scherzend dabei – und dann berichtete er, um seines Vaters Spannung zu enden.

„Die Leiden des Barons sind durchaus nicht schlimmer, am wenigsten gefährlicher Natur,“ sagte er. „Sie sind zum Theil die ganz gewöhnlichen Leiden des Alters, zum Theil bedingt durch eine Nervenzärtlichkeit und Empfindsamkeit, wie ich sie bei einem Manne noch nicht gefunden habe. Das übt einen Druck auf seine Seele, unter welchem der Wille, gesund zu sein, geschwunden ist. Dieser Wille, der Wille zum Leben, muß neu in ihm erweckt, und zu dem Ende zuerst das, was seine empfindsamen Nerven reizt und krankhaft schwingen macht, beseitigt werden. Haben wir dann seinem Willen zum Leben die nöthige Energie gegeben, so werden seine körperlichen Leiden sich mildern und vertreiben lassen, wie alle Leiden, welche von durchaus keiner organischen Störung verursacht sind.“

„Siehst Du, Mutter,“ sagte erfreut und lebhaft mit dem Kopfe nickend der Förster, „siehst Du, hab’ ich nicht gesagt, daß der Leonhard uns ein ganz anderes Licht aufstecken würde, wenn er sich der Sache annähme?“

„Daran habe ich ja nicht gezweifelt,“ entgegnete Frau Klingholt, „daß er’s besser versteht, als unser alter Doctor Fellmeyer mit seinen Schröpfköpfen und Blutegeln. Aber diesem schwachseligen Herrn, der so gutherzig ist, erst den Leuten das Holz, das sie ihm gestohlen haben, zu schenken, und dann wieder nicht die Courage hat, dies dem Vater zu gestehen – dem einen Willen einzuflößen –“

„Das ist schwer, denkst Du, Mutter?“ fiel Leonhard ein.

„Aus der Apotheke wenigstens wirst Du’s ihm nicht verschreiben können.“

„Nein, Mütterchen. Aber hast Du je von der neuen Cur durch Transfusion des Blutes gehört?“

„Ach, ich bitte Dich, Leonhard, wohl habe ich davon gehört, und nichts ist mir grauslicher gewesen als eben das; Ihr seid schreckliche Leute, Ihr Mediciner.“

„Beruhige Dich, ich wollte Dir nur durch ein Beispiel klar machen, wie ich unserem guten Baron zu einem verjüngten frischen Willen zu verhelfen gedenke. Es soll kein Blut dabei fließen – es soll eine ganz unsichtbare geistige Transfusion des Willens aus einer starken, energischen Seele in die seine, die durch ihre weibliche Empfänglichkeit einer solchen Behandlung entgegenkommt, bewerkstelligt werden.“

„Und eine solche starke, energische Seele, die ihren Willen dazu hergiebt, wo wirst Du sie finden?“

„Da ist ja gleich die Frau Generalin in der Nähe,“ fiel hier spöttisch Edwin ein. „Energisch ist sie genug, und hergeben wird sie, was man von ihr verlangt, wenn sie später bei der Theilung dafür einige Thaler mehr bekommt.“

„Als ob die Ramsfeld’schen viel besser wären – Dein Freund Damian zum Beispiel!“ rief der Förster.

„Doch, doch, Vater,“ entgegnete Edwin lebhaft, „Damian zum Beispiel ist ein ganz vorzüglicher Bursche, der nichts dawider kann, daß sich Alles gegen ihn verschworen hat, ihn nicht aufkommen zu lassen. Was kann er dafür, wenn sie ihm in seinem Examen immer die Fragen stellten, die er just nicht beantworten konnte, und sich heimtückischer Weise nie nach den Dingen bei ihm erkundigten, die er wußte? Und wenn ihm dann, als er endlich Jagdjunker geworden war, bei der ersten Hofjagd ein boshafter Prinz in den Weg lief, um sich von ihm anschießen zu lassen? Harte Schicksale, mußt Du einräumen, Vater –“

„Laßt doch des hohlköpfigen Damian Schicksale!“ unterbrach ihn die Mutter. „Laßt Leonhard weiter reden!“

„Nun wohl, Mütterchen,“ nahm dieser wieder das Wort. „Ich kenne in der Stadt eine solche Seele, wie ich ihrer hier, um meine Cur auszuführen, bedarf. Eine sehr ernste, sehr vielseitig gebildete junge Dame, welche ich als Krankenpflegerin habe kennen lernen – ich werde mich an sie wenden, und ich hoffe, es gelingt mir, sie für die Uebernahme der Pflege unseres Patienten zu gewinnen. Hat sie sie übernommen, so bin ich beruhigt; sie wird die Cur dann mit all der strengen Gewissenhaftigkeit, die ich an ihr erprobt habe, durchführen.“

„Und wer ist, wie heißt Dein Muster von einer Krankenpflegerin?“ fragte die Mutter.

„Sie heißt Regine – Bertram,“ antwortete nach einem augenblicklichen Stocken und mit einem leichten Erröthen Leonhard.

Die Mutter sah flüchtig, wie forschend, in seine Züge, aber sie schwieg. Vater Klingholt aber fiel laut ein:

„Das Beste wäre, wenn sie die Energie hätte, dem Baron die ganze Sippschaft, die ihn umgiebt und ihn nur ärgert, vom Halse zu schaffen!“

„Darum, Vater,“ versetzte Leonhard, „würde es sich allerdings zunächst handeln. Aergern darf sich unser guter Baron nicht mehr; das muß ein Ende haben, und eine Gesellschaft, welche ihn fortwährend an seine Hinfälligkeit erinnert, während es vor Allem darauf ankommt, ihm das Gefühl derselben zu nehmen, ist für ihn die verkehrteste von allen.“

„Wird aber schwer durchzusetzen sein, schwer!“ meinte der Förster sich erhebend. Er schlug jetzt Leonhard eine Wanderung durch die nächsten Waldpartien vor, um ihm zu zeigen, wie seine Anpflanzungen in den letzten Jahren gediehen. Leonhard war mit Vergnügen bereit, wenn die Mutter sich anschließe, und diese hing sich gern an den Arm ihres Sohnes, auf den sie so stolz war. Edwin verschwand in sein Giebelzimmer zu seinen Büchern; so ging Leonhard bald zwischen Vater und Mutter unter den hohen Tannen und Buchen dahin, und während der Vater sprach und erklärte und Geschichten aus seinem Waldleben erzählte, überkam Leonhard ein weiches Gefühl, eine innere Rührung mit einem sehnsüchtigen Durchfühlen solch einer Existenz, wie sie hier zwei Menschen führten, an denen sein ganzes Herz hing. Es ist nicht wahr, dachte er, das Leben ist kein „Kampf um’s Dasein“ – das Leben ist heutzutage zunächst ein Kampf wider alle die Vorurtheile und alle die falschen Maximen, welche die moderne Bildung wie eine boshafte Fee dem jungen Menschen von heute in seine erste Geisteswiege, in seine Schulung, legt. Der „Wille zum Leben“ ist nicht Urquell alles Schöpfungjammers, sondern der Keim jeder großen und göttlichen Thätigkeit des Menschengeistes, der mit seinen letzten Zielen, nach welchen Himmelsgegenden er auch schaue, immer doch das Ideale sucht, und dem es gelungen ist, einzelne Strahlen des Idealen und Göttlichen in seinen Werken abzuspiegeln und festzuhalten. Und der Menschenseele eigentliches Element ist der Friede, der identisch ist mit Gesundheit; der Kampf ist die Ungesundheit, ist das Fieber, ist der Schmerz. Und nicht gleich sind die Menschen, nicht gleichen Werths, nicht unterschiedloses Korn in der Mühle des Weltenschicksals – zwischen dem starken Geist, der die Menschheit weiter reißt auf der Bahn zu ihren Zielen, und den Millionen insectenhaften Gethiers, das ihn hemmt und lähmt, ist ein Werthunterschied, groß wie das Meer. Mit einem tiefen Aufathmen den würzigen Duft der Tannen einsaugend und den Arm, der im seinen lag, drückend, sagte Leonhard:

„Ich fühle hier so recht aus Herzensgrunde wieder, wie glücklich ich sein könnte, wenn ich zwischen Euch Euer Leben führen dürfte. Ihr wißt nicht, Mütterchen, wie glücklich Ihr seid, und welch schwere Lebensaufgabe das ist, ein vielbeschäftigter Arzt in einer großen Stadt zu sein.“

„Keine Ruh bei Tag noch Nacht!“ unterbrach ihn der Förster.

„Ach, das drückt weniger … das Schwere sind die Verantwortlichkeiten, wenn die Hand des Operateurs schwankend nach dem Messer greift, wenn man nicht weiß, ist der Augenblick es einzusetzen nun wirklich gekommen oder nicht. Das Schwere sind die Stunden, verlebt im Kreise verzweifelnder Familien, für welche unser Wissen und Können keinen Trost mehr hat.“

„Freilich, freilich – kann mir’s denken,“ sagte kopfnickend der Förster; „muß oft ein hartes Amt sein, Eures. Aber auch Unsereins hat seinen Kummer, seine Sorgen.“

„Wir wollen nicht undankbar sein, Curt; wir wollen uns nicht versündigen,“ fiel hier die Mutter ein; „wenn wir nur die Gewißheit hätten, daß unser guter alter Herr nicht zu früh die Augen schließt – wenn nur diese dunkle Wolke, die über uns hängt, dahin gezogen wäre … denn siehst Du, Leonhard, wenn Alles anders hier würde, wenn wir hinaus müßten aus dem friedlichen Waldhause, in dem Dein Vater wie sein Vater groß geworden, in dem ich Euch gewiegt und groß gezogen habe, Dich, Leonhard, zuerst, und dann die arme süße Ulrike, Dein Schwesterchen, das blonde fröhliche Kind, das sie als wachsbleiches Engelchen uns hinaustrugen … und dann den Edwin, den wilden leichtsinnigen Menschen, der uns doch auch noch immer ein guter Sohn gewesen ist und mit Gottes Hülfe ein braver Mann werden wird – wenn wir das alte Heim verlassen müßten – der Vater seine treuen alten Hunde [246] nur gleich todtschießen könnte, damit wir in der Stadt, wo sie solch Gethier ja nicht mögen, auf einigen Zimmern eine Aufnahme fänden …“

Der Förster, der vor den beiden Andern voraufging, legte seine Hände auf den Rücken und begann leise zu pfeifen, was Leonhard nur zu gut als Zeichen der Erregung bei ihm kannte.

„Und Du, Mutter,“ sagte er spöttisch, wie um ihre Rührung nicht aufkommen zu lassen, „hättest nicht einmal den Trost, in der Stadt dem Leonhard seine Teppiche schrubben lassen zu können …“

Sie hatte ihr Tuch an ihre weinenden Augen gebracht.

„Wenn Du jetzt auch spottest, Du überlebtest es doch nicht,“ versetzte sie, „der Vater überlebte es nicht, Leonhard.“

„Und darum soll und wird es nicht sein, Mutter. Vertraue auf mich, gutes Mütterchen! Ich gelobe es Euch.“

„Was kannst Du geloben?“ fragte der Förster befremdet, sein Gesicht seinem Sohn zuwendend. „Geloben? Du bist ein geschickter Arzt, wirst unserem guten Herrn auch vielleicht um ein paar Jahre das Leben verlängern – aber dann? Schwindsüchtige Willen kannst auch Du nicht curiren. Glaubst Du ihn dahin zu bringen, daß er ein Testament macht und darin festsetzt: die Försterstelle behält lebenslang Curt Klingholt, mein alter Diener, und nach dessen Ende bekommt sie Edwin Klingholt? Denk nicht daran! Ein Testament macht der nicht – der nicht!“

„Darin magst Du Recht haben, Vater. Ich denke nicht daran; ich verlasse mich auf Andres, auf ganz Andres, sage ich Euch, und mein gutes Mütterchen soll sich auf mich verlassen … willst Du, Mutter?“ fragte er stehen bleibend, indem er ihre beiden Hände erfaßte und ihr tief in die guten hellblauen Augen blickte.

Sie machte ihre weiche, rundliche Rechte aus seiner Hand los, und zärtlich damit über sein Gesicht fahrend, sagte sie mit vor Rührung zitternder Stimme:

„Mein braver Leonhard! Gewiß, nächst Gott auf Dich am liebsten!“

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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 16, S. 257-262
Novelle – Teil 3

[257]

5.

Leonhard hatte versprochen, am Abend zur Theestunde wieder im Schlosse zu sein; er fand, als er zurückgekommen, den alten Herrn hier von den theuren Verwandten umgeben, von denen die beiden älteren Damen und Sergius mit ihm Whist spielten, um ihn zu unterhalten. Damian und Dora saßen in der Fensternische, Damian mit einer Miene, wie sie ein großmüthiger alter Hund macht, wenn er sich von einem jungen geduldig die Ohren zerren läßt; er hörte herablassend auf Dora’s Geplauder und Gekicher. Ein paar Kohlen glühten im Kamin; Leonhard ließ sie nachgiebig glühen, weil in diesen Räumen nun einmal eine kühlere Temperatur zu herrschen schien als anderswo.

Er betrachtete den alten Herrn, während dieser spielte. Es war offenbar eine Arbeit für ihn; er hatte sich zusammen zu nehmen; denn Sergius, der sein Partner war, ließ ihm keinen Verstoß gegen die Regeln ohne eine gründliche weise Belehrung hingehen, und wenn ein Spiel zu Ende war und er sich müde in seinen Sessel zurücklehnte, hatte er den jedesmal zwischen der Generalin und Frau von Ramsfeld sich erhebenden, oft sehr hitzig werdenden Disputationen zuzuhören, die ihn offenbar quälten und ihm, wie Streiten und Hadern jeder vornehmen Natur, unleidlich zu sein schienen.

Leonhard hatte unterdeß Zeit, still seine Glossen über die wunderliche Menschengruppe vor ihm zu machen. Er bedauerte im innersten Herzen diesen liebenswürdigen alten Herrn, dem das Schicksal einst Alles gewährt hatte, was glücklich machen kann, Schönheit, Reichthum, Freiheit, einen stolzen Namen – und der doch eine beklagenswerthe Existenz führte, weil ihm der Wille, glücklich und gesund zu werden, Herr in seinem Hause zu sein, fehlte. Irgend eine kleine Fiber, ein winziger Nerv fehlte ihm im Gehirn und das hatte entschieden über sein ganzes Dasein.

Und dann betrachtete er wieder diese hochgebietende Frau Generalin, in der alles egoistischer Wille schien, die wie im Bewußtsein lebte, mit ihrem Willen die Welt erobern zu können, nachdem sie vorab den Commandostab im Hause ihrem Manne und dann der Gegenwart den ganzen Inhalt ihrer „Bildung“ abgerungen hatte – der wahre Typus jener „gebildeten Frauen“ von heute, für die das Geistesleben der ganzen Menschheit von den Gesängen Homer’s bis auf die jüngste Erfindung Edison’s herab sich in handliche kleine Münze umsetzt; die mit eifrigen Händen all diese kleine Münze einsammeln und aufspeichern und damit nun arbeiten – nie aber es bis zu einem Goldstück eines eigenen Weisheitsgedankens bringen.

Da war doch Frau von Ramsfeld noch sympathischer – man wäre geneigt gewesen, sie die außer Rand und Band gerathene Gutmüthigkeit zu nennen, wenn man nicht hätte zweifeln müssen, ob sie jemals so eigentlich in Rand und Band gewesen; jedenfalls konnte man nur mit einer gewissen Sorge auf die hübsche Dora blicken, die zwischen dieser Mutter und dem liebenswürdigen Damian aufwuchs.

Als ein Robber zu Ende war und Sergius nun dem alten Herrn einen gebührenden Verweis ertheilte, daß er eine Invitation seines Partners unverzeihlich mißachtet, nahm Leonhard mit freundlicher Gewaltthätigkeit ihm die Karten aus der Hand: es geschah ihm offenbar eine größere Wohlthat, wenn man ihn in ein anregendes Geplauder verflocht und ihm die Gelegenheit gab, sich auszusprechen. Alte Leute lieben eine ernste und friedliche Unterhaltung.

„Das Spiel greift Sie an,“ sagte Leonhard, „lassen Sie uns ein wenig plaudern! Ich habe mich heute mit meinen Eltern in Ihre Wälder vertieft und bei der Gelegenheit die alte Capellenruine einmal wieder gesehen – Sie wissen, hinten nach den Flußwiesen zu. Woher stammt denn eigentlich dieses kleine Bauwerk da in der Weltverlorenheit?“

Des Barons Züge belebten sich bei dieser Frage.

„Die Capelle? Die Petri-Capelle – nicht wahr, sie steht wie ein Räthsel da im Walde? Ganz unmotivirt – es führt kein Weg daran vorüber – kein praktischer Grund spricht dafür, dahin ein solches Bauwerk zu stellen. Auch keine Tradition ist da, daß es etwa eine Sühncapelle sei – zum Beispiel für einen erschossenen Treiber oder einen Meuchelmord, der an dieser Stelle vorgefallen wäre, während doch mancherlei anregender Züge dieser Art die alte Hauschronik von Dortenbach zieren. Aber die Tradition sagt, daß der Wald in alten Zeiten ein Heiligthum der Heiden gewesen, und so bin ich nach manchen Forschungen zu dem Resultate gekommen, daß gerade dort, wo jetzt in der verlorensten Waldecke die Capelle steht, einst die heilige Eiche des Gotteshains und zwar eine Donar-Eiche gestanden hat. Sie wissen, Doctor, daß Donar zum Petrus geworden ist, Donar’s Blitz der Hahn Petri, der rothe Hahn …“

Der alte Herr erklärte mit großem Interesse an der Sache in dieser Art eine zeitlang weiter.

„Sie sollten das alte romantische Bauwerk restauriren lassen,“ sagte Leonhard dann.

[258] „Wie unnütz!“ fiel die Generalin ein – „ich bitte Sie, Doctor!“

„Das zerstörte ja alles Malerische und Romantische des Baues,“ meinte Sergius.

„Ich bin Arzt,“ erwiderte lächelnd Leonhard. „Ich sehe in dem halb Zerstörten nur das Kranke – der Heilung Bedürftige.“

„So müßten Sie halt auch das Heidelberger Schloß wieder aufbauen,“ warf Frau von Ramsfeld spöttisch ein.

„Weshalb nicht? Ruinen, welche die Zeit geschaffen, die Wandlungen der Jahrhunderte zerstörten, muß man ungeflickt lassen, wie alles, was einer abgethanen und nicht wieder zu erweckenden Idee angehört. Aber das Heidelberger Schloß – Sie haben in Heidelberg studirt, Baron?“

„In der That – es waren meine schönsten Lebensjahre!“

„Nun denn – ist in Ihnen nie der Wunsch entstanden, das, was nicht die Zeit zerstört hat, was durchaus nicht einer abgethanen Epoche der Cultur angehört, hier erhalten, ergänzt – in all seinem Glanz wiederhergestellt zu sehen?“

Der Baron zögerte mit seiner Antwort, und Leonhard fuhr fort: „Wir sollten dieses hohe Werk unserer heiligen Renaissance neu erbauen zur Schulung und Ausbildung unserer Kunst, zum Beweise, daß wir die alten Scharten, welche fremde Mordbrenner ungestraft in das deutsche Schwert hauen durften, auszuwetzen wissen, und zum Wahrzeichen auch, daß wir Kinder einer neuen Zeit der Renaissance sind und in der Strömung derselben Gedanken stehen, deren Quellen auf dieser Humanisten- und Reformatorenburg sprudelten.“

„Und dann?“ warf Sergius ein.

„Dann mag die neue Prachtburg als Sommerschloß dem deutschen Kaiser geschenkt werden, eine Gabe der Nation, welcher er den Kaiser wiedergab.“

„Das,“ sagte hier lächelnd Frau von Ramsfeld, „könnt’ mir schon gefallen. Wär’ halt gar nicht so übel, wenn der Kaiser aus dem Berlin weg käme und sich mehr an den Süden hielte, wo’s doch auch noch Leute giebt.“

„Bitte, liebe Cousine,“ entgegnete mit einem mitleidigen Blicke auf die wohlgenährte kleine Frau die Generalin; „ich möchte wissen, wie Sie sich das denken. Sie glauben doch nicht, daß man die Reichsregierung verlegen könne, etwa nach Rottenburg, das ja noch sehr alterthümlich ausschauen soll.“

Der alte Herr hatte längst die Ungeduld zu verstehen gegeben, mit welcher er dieser Unterhaltung folgte. Jetzt sagte er:

„Lassen wir denn unser Spiel und bitten wir Dora, daß sie uns etwas auf dem Clavier … aber wo ist sie?“

Man sah nach der ein wenig dämmerigen Fensternische, in welcher Dora vorher neben Damian gesessen, aber man erblickte nur noch Damian darin, der, schlaff auf einem Tabouret gekauert, eben furchtbar stark gähnte und dann mit seinem ödesten Gesichte die nach ihm umschauende Gesellschaft anstierte.

„Der alte Professor Florhuber,“ sagte er jetzt mit seiner hohlen Grabesstimme, „ließ uns immer den Witz hören: als der liebe Gott die Welt abmaß, war Berlin der Punkt, wo er den Cirkel einsetzte …“

„Wer fragt Dich nach Deinem alten Professor,“ rief ihm scheltend Frau von Ramsfeld zu. „Wo Dora ist, wirst Du gefragt.“

„Dora ist gegangen – es wurde ihr zu lang, bis der Doctor das Heidelberger Schloß fertig hatte …“

Der alte Herr erklärte nach einer Weile, daß er ermüdet sei, und gab der Gesellschaft dadurch das Zeichen, sich zurückzuziehen. Nur Leonhard blieb noch eine Weile bei ihm, verordnete noch Einiges und überließ ihn dann der Fürsorge des treuen Andreas.

In sein Zimmer zurückgekehrt, schritt er gedankenvoll eine Weile auf und ab; dann öffnete er das Fenster und blickte auf die vom hellen Sternenhimmel dämmerig erleuchteten Wipfel und Gebüsche der Gartenanlagen unter ihm hinaus. Es war eine friedlich stille Nacht, und obwohl die Luft von einer wohlthätigen Frische war, zog doch kein Hauch eines Windes durch die Aeste. „Ueber allen Wipfeln ist Ruh,“ sagte sich Leonhard – „welch unvergleichliche Existenz könnten die Menschen haben, die nichts wollten, als solch eine festgesicherte Friedenszuflucht wie dieses Dortenbach, und sich damit beschieden, von ihm aus nur den engsten Kreis derer, die auf sie angewiesen sind, beglücken zu wollen, statt mit ihrer leidenschaftlichen Eitelkeit nur athmen zu können in der Welt, die … aber was ist das – schlägt denn die Nachtigall noch?“

Er lauschte, indem er den Kopf nach der Richtung wandte, von woher eben der süße Gesang Philomelens zu ihm herüber drang. Dieser schien von der Seite einer dichten Gebüschpartie zu kommen, auf welche ein Streifen Licht hinüberzitterte, der aus einem erleuchteten Fenster an der gegenüberliegenden Ecke des Gebäudes schimmern mußte. Die Jahreszeit war vorgerückt; die Nachtigallen waren bereits verstummt; nur noch eine späte Nachzüglerin konnte ihren Gesang so klangreich und so anhaltend hören lassen, wie er eine Weile lang schmelzend durch die stille Nachtluft schwamm. Leonhard horchte entzückt auf die Sängerin, deren ernst schwermüthige Laute so harmonisch in seine Gedanken hineinklangen – als ihm plötzlich die störende Erinnerung kam, daß ja Edwin, sein Bruder, eine wahre Schelmenkunst darin besaß, alle Vogelstimmen und ganz besonders täuschend die der Nachtigall nachzuahmen. Wurde er von dem dummen Burschen wirklich getäuscht?

Er lauschte länger – schärfer, und war bald im Klaren. So ununterbrochen sang keine Nachtigall; so methodisch tönte keine der willkürlichen, ungeregelten Stimmen der Natur. Und nun schwieg sie plötzlich; das Concert war zu Ende. Dann wurden die Lichter gelöscht; denn im gleichen Augenblicke war auch der matte Lichtschimmer von den Zweigen und Blättern der Gebüschpartie verschwunden.

Leonhard konnte nicht annehmen, daß sein Bruder ihm habe ein Abendständchen bringen wollen. So viel brüderliche Zärtlichkeit war von dem Herrn Forsteleven, dem „wilden Jungen“, wie die Mutter ihn nannte, nicht vorauszusetzen. Sein Nachtigallenflöten mußte also Jemand anders gelten – und Leonhard’s Gedanken hatten nicht lange zu suchen – nicht erst sich Edwin’s Schutzrede für Dora’s Bruder Damian in’s Gedächtniß zurückzurufen, um bestimmte Gedanken darüber zu hegen, wer aus dem Herzen des jungen Grünrockes diese nächtlichen Liebestöne locke. Dieses verstohlene Concert war eine hübsche, zartgedachte und poesievolle kleine Huldigung vor dem Schlafengehen – aber Leonhard beschloß doch, mit der Mutter sehr ernst darüber zu reden. Es empfahl sich, Edwin’s Abreise in’s Examen zu beschleunigen, wo man andere Dinge von ihm verlangte, als schmelzende Nachtigallenweisen in weichen Sommerabendstunden.




6.

Leonhard fand am andern Morgen die Bewohner von Dortenbach im Eßzimmer zum Frühstück versammelt; nur der Baron fehlte; er pflegte sich erst in sehr vorgerückter Stunde zu erheben und befand sich dann „in seiner Morgenstimmung“, wie die Generalin es heute spöttisch nannte; „angegriffen von seinen schlechten Nächten“, corrigirte Frau von Ramsfeld. Er lehnte in solchen Stimmungen sogar die Sträuße ab, die Dora mehrmals versucht hatte, ihm zu bringen – er sei ganz menschenfeindlich in den Morgenstunden, sagte die Generalin.

„Menschenfeindlich ist er nie,“ fiel Frau von Ramsfeld ein; „er ist krank, der alte Mann; er ist nur zu gut – zu gut, da fehlt’s ihm.“

Frau von Ramsfeld legte in dieses „zu gut“ eine Betonung, die das Bewußtsein einer speciellen Berechtigung zu diesem Ausspruche verrieth; vielleicht mochte auch die Generalin ahnen, daß ein solcher Hintergedanke, wenn er von ihrer Cousine gehegt wurde, mit einer schadenfrohen Vorstellung von ihrer, der Generalin, beschleunigten Heimreise in einer ziemlich nahen Verbindung stehe.

„Zu gut?“ antwortete sie spitz und gedehnt. Und da sie den Ausdruck ähnlicher Gefühle nicht laut werden lassen durfte, setzte sie hinzu: „Er ist ein Egoist, wie die Männer alle sind – sonst wäre er ja auch mit seiner Gutmüthigkeit gar zu sehr aus der Art geschlagen; denn die Dortenbach sind immer ein leidenschaftliches, hartes und hochmüthiges Geschlecht gewesen – unser Eins, der selbst dazu gehört, darf das schon sagen.“

„Da muß ich denn doch bitten, liebe Cousine – wie man so etwas aussprechen mag über sein eigenes Blut“ – fiel Frau von Ramsfeld ein.

„Weshalb nicht die Wahrheit sagen, wenn man unter sich ist? Doctor Klingholt gehört ja so halb und halb auch mit zur Familie und wird schon wissen, daß ich vollauf berechtigt bin, so [259] zu sprechen. Nicht wahr, Doctor?“ wandte sie sich mit einem süß-sauren Lächeln an Leonhard.

„Wenn ich auch wüßte, daß Sie zu so scharfem Urtheile berechtigt wären, Frau Generalin, würde ich doch meine Zeugenschaft dafür ablehnen,“ antwortete Leonhard. „Meine Familie ist der unseres Herrn zu großer Dankbarkeit verpflichtet, und zudem bin ich zu jung, um zu wissen, ob vielleicht in vergangenen Tagen Thatsachen Ihr hartes Urtheil gerechtfertigt hätten –“

„Thatsachen!“ unterbrach ihn, gereizt durch den Widerspruch auch von dieser Seite, die Generalin; „ich sehe ja, daß Sie recht gut verstehen, welche Gründe ich habe, mich auszudrücken, wie ich that. Sie werden – meine liebe Cousine Ramsfeld ist vielleicht nicht der Ansicht – aber Sie werden mit mir einverstanden sein, daß, wenn in einer Generation die Brüder mit ihren Jägern und Knechten ihren Vormund überfallen und es eine Schlacht giebt, daß im Flure und in der Küche unten das Blut fließt, und daß, wenn in der folgenden Generation ein Vater und ein Bruder die eigene Tochter und Schwester so quälen und unglücklich machen, daß sie sich in den Schloßgraben stürzt – daß man alsdann sagen darf: es ist eine leidenschaftliche, harte Rasse.“

„Sie kennen ja die Familienchronik sehr genau – ich weiß von allem Dem nichts,“ bemerkte hier Frau von Ramsfeld.

„Sie hat sich in’s Wasser gestürzt? Aus unglücklicher Liebe?“ rief gespannt Dora, die hoch aufgehorcht hatte.

„Aus unglücklicher Liebe zu einem Bürgerlichen,“ antwortete die Generalin.

„Ist aber wieder herausgezogen und lebendig geblieben,“ sagte jetzt mit seiner hohlen Stimme apathisch Damian.

„Woher weißt Du denn davon?“ fragte Frau von Ramsfeld ihren Sohn.

„Ich? – wie weiß ich? Vielleicht hab’ ich’s geträumt,“ antwortete gähnend der Gefragte.

Leonhard schien die ganze Unterhaltung sehr peinlich zu berühren; er war sogar bei der Erwähnung des traurigen Vorfalls, auf den zuletzt die Rede gekommen, leicht erblaßt – jetzt erhob er sich gar, wie um der Fortsetzung des Gesprächs zu entgehen, und ließ durch Andreas seinen Morgenbesuch bei dem alten Herrn ankündigen.

„Wir haben eine sehr gute Nacht gehabt, Herr Doctor,“ sagte Andreas mit bedeutend erhelltem Gesichte; „mehrere Stunden fest geschlafen, heute Morgen mit gutem Appetit gefrühstückt, und jetzt studiren wir mit großem Interesse in einem dicken Kupferwerke, in welchem Abbildungen des Heidelberger Schlosses enthalten sind; ich habe es heute in der Frühe aus der Bibliothek holen müssen.“

„Desto besser!“ antwortete Leonhard erfreut und trat in das Schlafzimmer des Barons.

Dieser streckte ihm aus seinem Bette, das er noch nicht verlassen, die Rechte entgegen.

„Sie sind ein Wunderdoctor, Klingholt,“ sagte er lebhaft; „Sie haben mir nach langer Zeit einen guten tiefen Schlaf verschafft.“

„Nicht ich,“ entgegnete lächelnd Leonhard, „der Champagner, die frische Luft –“

„Und,“ setzte der Baron mit einem Seufzer hinzu, „wenn Ihre Mittel nicht zählen sollen, dann auch die Befriedigung, einmal eine vernünftige Unterhaltung, wie unsere gestrige Debatte über unsere Capelle, über Ihren Schloßbau geführt zu haben. O, Sie glauben nicht, Klingholt, wie wohl es mir thut, wenn ich einmal ein ernstes Wort über ernste Dinge reden höre, Gedanken, an denen mein Herz hängt, mit Menschen, die mich verstehen, austauschen kann – aber grundgütiger Gott, wo finde ich sie? Meine Freunde sind dahin, mir vorangegangen in die dunkle Tiefe, die uns Alle erwartet – ich hatte ihrer auch niemals viele – und nun bin ich allein – allein! O Doctor, glauben Sie mir, es ist ein trauriges Metier, in Einsamkeit ein alter Mann sein!“

Leonhard nickte nur dazu; er hatte die Hand des Barons gefaßt und zählte die Pulsschläge.

„Je älter wir werden,“ fuhr der Baron unterdeß fort, „desto mehr wird uns klar, daß wir Alle mit unserem unruhigen, fieberhaften Geistesleben doch nichts sind, als schwebende, webende Irrlichter, und daß der eigentliche Sinn von all diesem Auf und Ab, diesem Hin und Her, woraus unser Leben besteht, doch nichts ist, als das Suchen, das Streben, die Sehnsucht nach den andern tausend Flammen hoher und reiner Seelen, mit denen wir zusammenfließen und zusammen auflodern möchten zu einer großen göttlichen Sonnenexistenz. Und nun müssen wir doch ewig ein einsames Irrlicht über dem Sumpf unserer Alltagsexistenz bleiben, nur immer matter, bleicher, verglimmender – bis zum endlichen Erlöschen in Nacht und Dunkel.“

„In Einsamkeit ein alter Mann sein, sei ein trauriges Metier, sagen Sie,“ antwortete nach einer Pause Leonhard; „es ist also meine dringlichste Pflicht, dieses Metier Ihnen zu legen, lieber Baron; denn Trauer ist etwas, das allen Menschen und vorzugsweise Ihnen schlecht bekommt – ich sagte Ihnen schon, weshalb – und so muß ich als gewissenhafter Arzt dagegen einschreiten.“

„Wie wollen Sie das ändern?“ fragte der Baron mit resignirtem Lächeln.

„Es wird mir glücklicher Weise nicht so schwer werden. Ich werde Ihnen ein ganz anderes Regime vorschreiben, als das bisher befolgte. Bewegung, frische Luft, einige Gläser Champagner und – eine Unterhaltung, die Ihnen wohl thut, während dafür gesorgt wird, daß jede Unterhaltung, die durch Widerspruch und Tactlosigkeit Ihr Nervenleben reizt und Ihre Galle aufregt, von Ihnen ferngehalten wird.“

„Das heißt, Sie, Klingholt, wollen zu meiner Gesellschaft und – zu meinem Schutze hier bleiben?“ rief der alte Herr, indem ein Strahl von Freude seine mageren, bleichen Züge verschönte.

Leonhard schüttelte den Köpf.

„Leider kann ich das nicht. Meine Praxis in der Stadt würde ich Ihnen gern opfern, aber meine Kranken kann ich Ihnen nicht opfern. So oft ich es irgend möglich machen kann, werde ich zu Ihnen heraus kommen, und damit ich sicher bin, daß meine Anordnungen genau befolgt werden, damit Sie Jemand in der Nähe haben, der alle nachtheiligen Einflüsse von Ihnen fern hält, werde ich Ihnen eine zuverlässige Krankenpflegerin senden – eine junge Dame von Bildung und guter Familie, die sich dem ernsten Berufe der Krankenpflege gewidmet hat und die ich bei der Ausübung dieses Berufes habe achten lernen.“

„Ah!“ rief der Baron ein wenig enttäuscht aus, „Sie wollen mir noch ein Frauenzimmer, ein schwarzgekleidetes, melancholisch aussehendes Frauenzimmer in’s Haus senden, damit ich die Weiblichkeit in jeder Temperamentssorte um mich habe? Ich bitte Sie, Doctor! Mein Haus ist ohnehin zu voll.“

„Gerade deshalb! Sie sollen darunter zu leiden aufhören.“

„Was wollen Sie! Ich nehme ja dieses Leiden geduldig hin. Ihr Aerzte sagt uns von einem Irrigationsröhrchen, das über dem Menschenauge liegt und ihm fortwährend Feuchtigkeit zuführt, damit es rein und hell bleibt. Ich habe auch über meiner Seele solch ein Irrigationsröhrchen, das mir fortwährend die nöthige Gutmüthigkeit zuführt und die Bitterkeit vom Herzen fortspült.“

„Hilft alles nichts,“ entgegnete Leonhard lächelnd; „ich bin ein tyrannischer Arzt, und da Sie sich einmal in meine Hände gegeben, müssen Sie sich fügen. Macht das melancholische Temperament, vor dem Sie sich fürchten, Sie gar zu unglücklich, so will ich Sie wieder davon befreien – für’s Erste muß der Versuch gemacht werden.“

„Du lieber Gott!“ seufzte der alte Herr, „Sie beschwören nun noch ein neues Sturmelement über mein unglückliches Haupt herauf.“

Leonhard ließ sich nicht erweichen. Er bat nur, der Wirthschafterin die nöthigen Anweisungen zur Aufnahme der Krankenpflegerin geben zu dürfen. Das junge Mädchen selbst werde keine persönlichen Ansprüche machen, außer dem einen, nicht wie eine bezahlte Wärterin behandelt zu werden, sondern wie eine Dame, die sie ihrer ganzen Erziehung nach sei; alles Uebrige werde sich fügen, wenn sie selbst da sei. Und dann bat Leonhard noch, daß der Baron den treuen alten Andreas ihr zum besonderen Beschützer und Vertheidiger, wo es nöthig sein würde, geben möge. Wenn sie eines weiblichen Beistandes bedürfen würde, habe sie seine Mutter in der Nähe.

Der alte Herr mußte sich mit einem Seufzer in das Unabänderliche fügen – es war ja stets sein Schicksal gewesen, sich beherrschen lassen zu müssen.

Leonhard brach nun auf, um seinen Eltern den Rest des Vormittags zu widmen. Er war über den Zustand seines Patienten [260] hinlänglich orientirt, um auf den Nachmittag seine Abreise feststellen zu können, und nun drängte ihn nur noch Eines: über Edwin mit der Mutter zu reden. Als auch dies geschehen, als er dann mit dem Versprechen baldiger Rückkehr von seinem Patienten Abschied genommen, fuhr er in der Equipage des alten Herrn der nächsten Eisenbahnstation zu – gedankenreich und sinnend genug, und doch ohne zu ahnen, daß ihm böse Wünsche und zornige Worte nachflogen auf dieser Fahrt.

In ihrer ganzen Stärke und von Thränen begleiteten Heftigkeit wurden diese zornigen Worte freilich erst in der späten Abendstunde und ganz heimlich laut – nämlich im Walde. Es war, während die verehrten Cousinen aus Nord- und Süddeutschland mit dem Baron Whist spielten, Damian in der Fensternische zu der belehrenden Unterhaltung des Vetters Sergius gähnte und – – Fräulein Dora wieder einmal durch ihre Abwesenheit glänzte. Als sie endlich wieder auftauchte, sah sie auffallend blaß aus – sie klagte über Kopfweh.




7.

„Wir haben eine Königin im Haus, eine wahre Königin, Fräulein Diering,“ sagte nach einer Woche der alte Andreas, indem er das hinter den Küchenräumen auf Haus Dortenbach liegende freundliche Wohnzimmer der Wirthschafterin betrat und die Hände vor Vergnügen zusammenschlug, „ist sie nicht wahrhaftig wie eine Königin? Regina heißt zu deutsch: Königin, Fräulein Diering.“

Das sie bezog sich auf die vor wenigen Tagen angekommene Krankenpflegerin.

„Nun ja,“ antwortete Fräulein Diering, die waltende Hauswirthin, „königlich thut sie genug; wenn mir das Königthum nur nicht ein wenig viel zu schaffen machte! Die ganze Hausordnung hat sie ja umgeworfen …“

„Wie mit einer Bewegung des kleinen Fingers,“ fiel Andreas triumphirend ein. „Wie mit einem Hauch ihres Mundes! Sie sagt: Das soll so sein, und richten Sie dies so ein! und wie sie’s sagt, geschieht’s, blos weil es für sie gar nicht denkbar ist, daß etwas, was sie anordnete, nicht geschähe. Man sieht ihr in’s Gesicht, wundert sich und thut’s.“

„Besonders,“ sagte lächelnd Fräulein Diering, „wenn man sich in sie verliebt hat, wie Sie, Andreas.“

„Verliebt – wahrhaftig, thäte sich so etwas für unser Eins schicken, und hätte man nicht seine Sechszig auf dem Rücken, man könnt’ verliebt werden in dieses Fräulein Regine; es wär’ kein Wunder und würde ihr denn auch wohl nicht zum ersten Male vorgekommen sein. … Unser lieber, weiser, junger Herr, der Herr Sergius von Sander, ist wenigstens auf dem besten Wege dazu; er macht ihr, wo er ihr begegnet, die schönsten Augen und hat schon einen verunglückten Versuch angestellt, ihr mit der Blumensprache beizukommen – Junker Damian, der ihn mit einem Strauße daher kommen sah, hatte seinen Spott darüber. Junker Damian behauptete, er sei so furchtbar gebildet; er verstehe die Blumen phonographisch herzurichten, und wenn Fräulein Regine Bertram sie in ein Glas Wasser gestellt habe, in der Mitte ihres Kämmerleins, würden sie sich zu verlautbaren anfangen und ihr plötzlich das schöne: ‚Reich mir die Hand, mein Leben!‘ zuflöten.“

„Ich fürchte nur, die Frau Generalin, wenn sie so etwas wahrnimmt, singt dem jungen Herrn etwas anderes vor – bin überhaupt neugierig, wie lange der Frieden währt da oben; daß die beiden Gnädigen grollen, daß sich über dieses Fräulein Bertram ein dunkles Gewitter zusammenzieht – das merkt man, ohne Wetterprophet zu sein; sie brauchen nur erst unter sich ihre Donnerorgeln auf denselben Ton zu stimmen – dann kann das Concert losgehen.“

„Und Sie werden Ihre Freude daran haben, Fräulein Diering, wie das Fräulein Bertram ihnen die Glocke läutet, welche solche Gewitterstürme besänftigen,“ sagte Andreas sich die Hände reibend.

Andreas war in der That sehr vergnügt; denn seit das Fräulein Regine Bertram da war – ein schönes, groß und schlank gewachsenes Fräulein, mit einem ovalen, ein wenig blassen Gesicht, in dem ein Paar merkwürdig ausdrucksvoller und glänzender blauer Augen leuchtete, war wie mit einem Zauberschlage Alles im Hause zum Bessern umgewandelt. Der alte Herr jammerte nicht mehr über seine schlaflosen Nächte; der alte Herr hörte mit Interesse auf das, was Andreas ihm erzählte, während es früher gewesen, als ob er von der ganzen Welt nichts mehr hören möge; der alte Herr unterhielt sich mit dem Fräulein wie mit einer Tochter, ja er hatte schon mehrmals über die kurzen drolligen Antworten, welche sie ihm gegeben, herzlich gelacht. Die ganze Tagesordnung war ja aber auch verändert; der Baron kam nicht mehr zum Speisen nach unten in den Eßsaal, sondern speiste für sich in dem kleinen Salon hinter seinem Wohnzimmer, er mit Fräulein Bertram und einem Eingeladenen – nur Einem; bald war es der Förster, bald der Rentmeister, bald die Frau Generalin, bald Herr Sergius etc., stets abwechselnd, sodaß immer für eine ruhige und friedliche Unterhaltung gesorgt war. Und weiter durfte sich Niemand bei ihm blicken lassen; die Whistpartie und der gemeinsame Thee waren gestrichen; statt dessen spielte Fräulein Bertram mit ihm Schach oder las ihm vor, und statt Thee bekam er alten Rheinwein zu trinken. Andreas wußte nicht, ob er mehr den Doctor oder das Fräulein Bertram dafür loben solle – jedenfalls, behauptete er, habe die Menschheit seit hundert Jahren nicht einen solchen Fortschritt gemacht, wie mit diesem Institut der „Krankenpflegerinnen“, worunter er sich etwas so ganz Anderes gedacht und vorgestellt habe.

Während Andreas so bei Fräulein Diering, die nicht verhehlte, daß sie sich unter einer Krankenpflegerin bisher auch nicht solch eine schöne junge Person vorgestellt, sein Herz ausschüttete, war Fräulein Bertram allein ausgegangen. Ueber dem schwarzen einfachen Wollkleide, welches ihre schlanke biegsame Gestalt so vortheilhaft hervorhob, trug sie ein leichtes helles Seidentuch, und so, den Kopf nur mit dem grauen Sonnenschirm schützend, ging sie in den Wald hinein, wo in der schattigen Allee der Schirm sobald unnütz wurde. Als sie die Stelle erreicht hatte, wo der Weg zum Försterhause rechts abbog, blieb sie stehen und blickte eine Weile die Allee hinunter; dann setzte sie sich wie zu stillem Warten auf die Holzbank, die seitwärts an dieser Stelle angebracht war.

Nach einer Weile kam ein rascher Schritt vom Försterhause daher – Regine Bertram blickte mit leisem Erröthen auf; sie schritt dem rasch Nahenden entgegen – und bald lagen ihre beiden Hände in denen des mit freudigen Blicken auf sie niederschauenden Mannes. Es war Leonhard. Er blickte sich um – Niemand beobachtete sie – so hauchte er wie verstohlen einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn, zog ihren Arm in den seinen und führte sie zu der Bank zurück, auf welcher sie gesessen.

„Wie lang Sie mich hier allein gelassen haben, Leonhard!“ sagte sie mit zärtlichem Vorwurf.

„Wenn Sie wüßten, Regine, wie meine Kranken mich bedrängt haben …“

„Wirklich? Waren es wirklich nur die Kranken, welche Sie in der Stadt zurückhielten?“

„Was sollte es anders gewesen sein?“

„Nicht auch,“ sagte sie mit einem flüchtigen, wie prüfenden Blick in seine Züge, „nicht auch ein wenig der Wunsch, mir die Zeit zu lassen, um mich gründlich in unseren alten Herrn zu verlieben?“

„Das,“ antwortete er lächelnd, „wünsche ich ja so sehr, daß ich, wenn ich auch früher gekommen, sicherlich nicht störend dazwischen getreten wäre. Aber vor Allem lassen Sie mich Ihnen danken! Aus Ihren Briefen sah ich, wie gewissenhaft Sie sich der Sache angenommen haben – der alte Herr muß sich wie im Himmel fühlen!“

„Er sagt es,“ erwiderte sie heiter. „Aber meine Gewissenhaftigkeit brauchen Sie dabei nicht zu rühmen. Daß ich so gewissenhaft bin, ist eigentlich recht schlecht von mir; denn sehen Sie, es macht mir ein boshaftes Vergnügen, daß ich mit meiner Sorge für den alten Herrn seine ganze Umgebung in helle Flammen der Empörung versetze; sie hassen mich, diese edlen Verwandten des Barons; sie ärgern sich über alles, was sich ihnen gegenüber diese hochmüthige herrische Krankenpflegerin herausnimmt, ohne nur im Geringsten ihre Einwendungen zu beachten.“

Leonhard lachte.

„Da ich dies boshafte Vergnügen ganz gern mit Ihnen theile, Regine, so darf ich Sie deshalb auch nicht schelten. Ich werde nichts thun, als in meiner ärztlichen Souverainetät Sie mit allen Rechten ausstatten …“

„O, diese Rechte nahm ich mir schon,“ fiel sie in demselben [261] scherzhaften Tone ein, „und so habe ich täglich meine Freude daran, wie sich der Norden und der Süden Deutschlands über die Anmaßungen einer ‚Krankenpflegerin‘ hier zu Lande verwundert. Machen Sie sich auf sehr düstere Mienen gefaßt, Sie, der Sie der Hauptschuldige sind!“

„Das soll uns die Freude über das bessere Befinden unseres Patienten nicht stören. Nicht wahr, es geht ihm um Vieles besser, und ich habe Ihnen nicht zuviel von ihm gesagt? Er ist ein guter, liebenswürdiger alter Herr, eine rührende Menschenseele in all seiner Weichheit und Schwäche … und Sie haben ihn auch lieb gewonnen, Regine?“

Regine schüttelte den Kopf.

[262] „Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll, Leonhard,“ sagte sie. „Ich weiß nur, daß man härter, schärfer über ihn urtheilen könnte. Das will ich nicht. Aber ihn liebgewinnen? Ich? O mein Gott – wenn es mir auch nicht fern, nicht himmelweit fern läge – ich dürfte es ja gar nicht, ich nicht.“

Leonhard schwieg darauf; wie sich in ernsten Gedanken verlierend, blickte er vor sich hin.

„Lassen Sie uns davon nicht reden!“ sagte sie nach einer Pause. „Sie haben mir versprochen, diesen Punkt nie zu berühren – Sie haben es versprochen, Leonhard, als ich Ihnen nachgab und mich bereit erklärte, hier zu thun, was Sie mir als meine Pflicht darstellten.“

„Und was es doch auch war?“

„Was es war – nun ja – freilich – streiten wir darum nicht! Ich bin ja hier und thue meine Pflicht!“

Sie schwieg eine Weile.

„Kommen Sie!“ sagte sie dann plötzlich, sich erhebend und seinen Arm nehmend, um sich zärtlich und hingebend an seine Seite zu schmiegen; „gehen wir zu ihm in’s Haus – auf dem Wege dahin habe ich Ihnen etwas zu zeigen, Leonhard.“

Sie gingen die Allee hinauf, dem Edelhofe zu.

„Wie finden Sie denn eigentlich Ihre Hausgenossen?“ fragte er. „Haben Sie wirklich, wie Sie mir schrieben, in Allem meine Vorschriften und Ihren Willen durchsetzen können?“

„Meine Hausgenossen!“ sagte sie lächelnd – „ach, sie sind nicht ganz so arg, wie ich sie mir gedacht hatte. Einer darunter ist mir sogar interessant; es macht mir ein boshaftes Vergnügen, ihn zu beobachten –“

„Und dies ist?“

„Dies ist Sergius von Sander –“


Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 17, S. 273-276
Novelle – Teil 4

[273] „Sergius von Sander?“ fragte Leonhard.

„Ja,“ erwiderte Regine, „der intelligente, Alles wissende, Alles entscheidende Sergius. Dieser Sergius ist eigentlich ein innerlich unglücklicher und bedauernswerther Mensch; er schleppt eine Aufgabe durch’s Leben, welche ihm jeden Augenblick zu schwer zu werden droht: die Aufgabe, die Welt und sich selber in der Annahme und dem Glauben zu erhalten, er sei etwas Außerordentliches. Wer oder was diesen Wahn erzeugt haben mag, wer kann das wissen? Vielleicht die gnädige Frau Mama – der ‚Mütterwahnsinn‘ leistet ja Unglaubliches; und genug, der Wahn ist einmal da und will nun erhalten, will genährt, gepflegt sein – und das kostet den armen Sergius mitleidswürdige Anstrengungen. Er ist genöthigt, bei jeder aufgeworfenen Frage mit einer genialen Wendung das letzte Wort zu sprechen; nöthigenfalls auch durch eine staunenswerthe Herzählung von statistischen Zahlen, durch ein Auskramen von philosophischer Weisheit aus Büchern, welche Niemand liest, zu belehren, zu entscheiden, zu imponiren. Und ist das nicht eine schreckliche Aufgabe? Auch wenn man, wie Sergius, sich die Sache dadurch erleichtert, daß man die statistischen Zahlen aus seiner Phantasie nimmt, die genialen Wendungen aus Leitartikeln in den Journalen?“

„Aber wie viele Menschen,“ sagte lächelnd Leonhard, „wissen nicht so zu imponiren!“

„Anderen – ihrer Umgebung, ja! Aber Sergius ist in einer übleren Lage. Er zweifelt innerlich selber an seiner Außerordentlichkeit. Er ist ihrer nicht so ganz sicher. Es muß in seinem Leben Momente gegeben haben, die ihm das Dogma von seiner Genialität unter einer bedenklichen Beleuchtung gezeigt haben – und so ist der arme Mensch zu fortwährenden krampfhaften Anstrengungen gezwungen worden, um sich vor dem Unglauben an sich selber zu retten, sich selber sein Genie zu beweisen.“

„Und Damian?“ fragte Leonhard.

„Damian,“ gab sie lachend zur Antwort, „Damian ist einfach ein hohler Kopf; das ist auch gut; denn mit starken Lebenstrieben erfüllt, würde dieses Menschenkind vielleicht gefährlich sein, weil weder die gütige Mutter Natur noch die gütige Mutter von Ramsfeld einen erheblichen Keim sittlicher Grundsätze in ihn gelegt haben. Ist aber Damian hohl, so ist seine hübsche Schwester Dora dafür nur zu voll; ihr Herz ist voll von irgend einem Liebeskummer, vom Bilde irgend eines liebenswürdigen Jünglings, der es ihr angethan haben muß –“

„Sie glauben, das kleine Fräulein litte an einer ernsten Neigung?“ fragte Leonhard gespannt.

„So viel man’s kann in ihren Jahren,“ antwortete Regine; „jetzt lassen wir aber diese Gesellschaft ungerupft! Sie könnten mich sonst verführen, Ihnen auch noch die Mütter zu schildern und den Glauben in Ihnen zu erwecken, ich sei die böseste Zunge von der Welt. Und das bin ich doch nicht – nicht wahr, Leonhard, Sie wissen, daß ich das nicht bin, wissen, weshalb ich hier scharf sehe, scharf urtheile?“

Leonhard antwortete nur, indem er Reginens Arm an sich drückte.

„Sie schlauer Leonhard!“ fuhr sie lächelnd fort, „Sie sind so unendlich klug gewesen, indem Sie mich bewegten, hierher zu gehen, mich auf Haus Dortenbach einzuwohnen und in den alten Herrn zu verlieben – und doch – haben Sie nie davon eine Ahnung gehabt? – war es schrecklich unbesonnen und verkehrt von Ihnen, mich inmitten dieses Kreises von adligen Leuten zu versetzen. Sagen Sie sich denn nicht, daß ich an jedem Abend Gott danken muß, nicht dazu zu gehören? Daß ich lieber bis in die Sahara liefe, als mich von der Generalin als theure Cousine umarmen, von Damian und Sergius, den lieben Vettern, bevormunden zu lassen –“

„Sie zu bevormunden würde man wohl keinen Versuch machen, Regine; Ihr Wesen hat wenig, was dazu einladet, und daß Ihr Adelshaß hier eine ganz ungesunde Nahrung finden werde, habe ich freilich besorgt; aber was war da zu thun – es galt, dem alten Herrn zu Hülfe zu kommen. Das war das Wesentliche –“

„Nun ja, Sie sehen mich ja auch hier,“ versetzte sie, sich zärtlich auf seinen Arm legend; „ich bin ein gutes Kind gewesen und gekommen –“

„Das sind Sie, und – aber wohin gehen wir?“

„Folgen Sie mir hierher! Ich sagte, daß ich Ihnen etwas zeigen wollte,“ erwiderte sie, indem sie, jetzt in der Nähe des Hauses angekommen, rechts ab und in den Wald, der hier mit den Anlagen hinter dem Hause zusammenlief, einbog.

Sie gingen unter alten Buchenstämmen hin, über Moos und vorjähriges Laub, und folgten dann einem Fahrwege, der jenseits der breiten, jetzt im Sommer mit einem schlammigen Wasser gefüllten Gräben in jene Anlagen hinter dem Edelhofe führte.

Als sie das Ende des ersten Grabens erreicht hatten, da, wo [274] er nach links hin im rechten Winkel einsprang und sich der Rückseite des Hauses parallel weiter zog, blieb Regine stehen; das hellere grüne Wasser deutete hier auf eine größere Tiefe; es wurde beschattet von einer nahe stehenden alten Hänge-Esche, welche ihre Zweige über die grasbewachsene Böschung niederhängen ließ.

„Sehen Sie, Leonhard,“ sagte sie, auf das stille Gewässer deutend, „da, da war es. Diese alte Esche hat es mit angesehen. Sie hat gesehen, wie ein armes gequältes, zermartertes Menschenkind Ruhe in der dunklen, eisigen Tiefe suchte; wie sie in den Tod ging, getrieben von denen, welche ihr im Leben am nächsten standen, von Vater, Bruder, Schwestern. Und dieses arme gequälte Menschenkind war meine Mutter. Ich, ich soll das vergessen? Soll es vergeben? Ich müßte härter als dieser bemooste alte Baumstamm, fühlloser als der Schlamm dort unten sein, wenn ich’s thäte. Nein – nie!“

Regine hatte das mit zitternder Lippe gesprochen, bleich vor tiefer Erschütterung, bis bei dem zornigen „Nie“ ihr leuchtendes Auge sich mit einem Glanze auf Leonhard heftete, der diesen verstummen ließ. Er ergriff nur ihre sich wie zu einem Schwur hebende Hand und küßte diese wie in stummer Unterwerfung.

„Wer nur hat Ihnen die unglückselige Stelle gezeigt?“ fragte er, sie wegführend, nach einer Pause, und dann, als sie keine Auskunft gab:

„Sie sollten aber auch nicht vergessen, Regine, daß Ihr Oheim keine Schuld trägt, daß er an all der leidenschaftlichen Verfolgung, der einst Ihre Mutter ausgesetzt war, nicht Theil nahm.“

„Keine Schuld? Er hat die größte Schuld. Die Anderen waren von ihren Vorurtheilen, ihrem Adelsdünkel, ihrem leidenschaftlichen Hochmuth verblendet. Er nährte diese Vorurtheile nicht; in ihm war nichts von dieser verblendenden, hirntollen Leidenschaft der Anderen – er sah ein, er mußte einsehen, wie abscheulich sie handelten – und doch schützte er die Schwester nicht, doch stellte er sich nicht rettend vor sie – aus erbärmlicher Schwäche, aus verachtenswürdiger Feigheit nicht. Macht ihn das nicht noch schuldiger, als die Seinigen waren?“

„Freilich,“ antwortete Leonhard, „es war eine Handlungsweise, die für Menschen von unserer Natur gar nicht zu begreifen ist. Sie haben darin völlig Recht, wie Sie immer mit Ihrem starken Fühlen, Ihrem raschen Urtheil Recht haben. Aber, sehen Sie, nicht allein das Gesetz, auch unser Gefühl kennt eine Verjährung; der Richter straft den nicht mehr, der vor zwanzig Jahren ein Verbrechen beging, und …“

„Ich kenne eine solche moralische Verjährung nicht,“ sagte Regine; „mag man ein Verbrechen, welches die Leidenschaft herbeiführte, nach Jahren vergessen; das, welches durch eines Menschen Charakter verschuldet wurde, kann nicht verjähren, so lange dieser Charakter derselbe geblieben ist.“

„Daran erkenne ich nun wieder so recht Ihre Natur, Regine,“ erwiderte er lächelnd – „Ihren Abscheu vor jedem Entgegenkommen auf halbem Wege …“

„Meine rechtwinkelige Natur, wie Sie sich auszudrücken pflegen – nicht wahr?“ sagte sie mit einem leichten Aufwerfen der Lippen.

„Ihre rechtwinkelige Natur – just das,“ antwortete er. „Sie kennen nur eine gerade Linie oder einen rechten Winkel. Daß die Linien und Wege im Leben sich auch schlängeln und winden können und doch auch zum Ziele führen; daß der Wind nicht stets aus Ost oder West oder Nord weht, sondern zuweilen auch aus Nord-Nord-West zum Westen, das verstehen Sie nicht, und auch nicht, daß die Rechnungen im Leben selten glatt abgeschlossen werden, sondern gewöhnlich – Goethe sagt das schon – noch ein Bruch übrig bleibt.“

„Mag sein, daß ich so angelegt bin,“ entgegnete sie lächelnd. „Und Sie müssen gestehen, daß es so gut ist – wohin käme die Welt, wenn die Menschen der geraden Linie und des rechten Winkels ganz ausstürben?“

„Gewiß – Sie haben einmal wieder Recht, Regine,“ antwortete er mit einem leisen Seufzer, und ihre Hand erfassend, legte er ihren Arm in den seinen. „Kommen Sie aber,“ setzte er hinzu – „wir wollen uns jetzt zum alten Herrn begeben.“

Sie wandten sich, um in’s Innere des Gebäudes zu gelangen, der nächsten Laufbrücke zu, welche aus demselben in die Gartenanlagen führte. Als sie dann oben in dem Vorsaale des Barons angekommen waren, ging Regine, Leonhard anzumelden, und kam bald zurück, um diesen mit seinem Patienten allein zu lassen. Der Baron war sehr erfreut, seinen Arzt zu sehen, und versicherte ihm dies mit einer besonderen Lebhaftigkeit.

„Wie viel habe ich Ihnen nicht zu sagen!“ fuhr er dann fort.

„Daß es Ihnen wohler geht, viel wohler, das sagt mir schon Ihr Aussehen,“ meinte Leonhard.

„Zunächst das – meine Seitenschmerzen haben sich gemindert; ich schlafe besser – beim Gehen in der frischen Luft, das ich jetzt täglich wage, weil Fräulein Bertram es nicht anders leidet, hat sich der Schwindel nur zwei- oder dreimal noch eingestellt – das werden Sie zunächst hören wollen …“

„Das allerdings – und sehen, was der Puls sagt,“ fiel Leonhard darnach tastend ein.

„Gut – fragen Sie ihn!“ erwiderte der Baron, und nachdem er sich eine Weile schweigend verhalten, bis er Leonhard’s Verdict: „Auch der Puls ist energischer und ruhiger geworden“ erhalten, fuhr er lebhaft fort:

„Nun aber sagen Sie mir, was ist das Geheimniß Ihrer Krankenpflegerin, dieses Fräulein Regine Bertram?“

„Geheimniß?“

„Geheimniß – ja. Weshalb ist eine solche Dame, von einer durch und durch vornehmen Natur, von einer ganz seltenen Bildung und von einem solchen – um es so auszudrücken – getragenen, auf Moll gestimmten Charakter, weshalb ist sie eine Krankenpflegerin? Wie ist es möglich, daß sie, um die das Wesen der besten Gesellschaft liegt, nicht längst von hundert Seiten begehrt worden ist? Sind unsere jungen Männer wirklich so stumpfsinnig geworden – nein, das kann nicht sein – und dazu kommt, daß sie, wie sie mir naiv in’s Gesicht sagt, eine geschworene Feindin des Adels und alles Dessen ist, was damit zusammenhängt. Das ist bei einem so jungen Geschöpf nicht natürlich – es hat seine ganz besonderen, ganz bestimmten Gründe, und so habe ich denn geschlossen: sie liebt einen Grafen, einen Baron; sie ist jedoch von der Familie desselben zurückgestoßen, beleidigt, auf’s Bitterste gekränkt worden, und in der Verzweiflung darüber hat sie das triste Metier einer Krankenpflegerin – das letzte, wozu sie mit ihrer Schönheit, mit ihrem ganzen Wesen geboren ist – ergriffen und haßt den Adel zu ihrer inneren Erleichterung.“

Leonhard schüttelte lächelnd den Kopf.

„Es ist doch schwerlich so, wie Sie sich das ausgedacht haben, Baron!“

„Nicht so? – ich sage Ihnen, Klingholt, es ist so. Denn sehen Sie – ich will Ihnen noch mehr sagen – woher käme es sonst, daß sie ein altes Pastellbild meiner seligen Schwester, das, vergessen und bestäubt, im Speisesaal unten hinter einem Eckschrank hing, mit Andreas’ Hülfe ausgefunden hat? Andreas kennt nämlich zu jedem der Bilder die erläuternde Legende. Wie kommt es ferner, daß sie mir das Bild hier in’s Zimmer gehängt hat und dabei vorgiebt, es sei ein großes Kunstwerk? Wie kommt es endlich, daß sie so oft wie mit stiller Andacht ihr Auge darauf richtet? Woher kommt das? Antwort: sie hat von Andreas die lamentable Geschichte meiner Schwester gehört – Sie kennen diese Geschichte nicht, Klingholt, und wir wollen sie ruhen lassen – aber genug: ich durchschaue es: Fräulein Bertram hat offenbar meiner Schwester als ihrer Schicksalsschwester alle ihre Sympathie zugewendet.“

„Möglich,“ antwortete Leonhard ausweichend, „obwohl es ja sein mag, daß der sympathische Kopf Ihrer Schwester …“

„Nein, nein,“ fuhr der alte Herr erregt fort, „es ist so, wie ich Ihnen sage. Und wenn es so ist, so hören Sie, Klingholt, so habe ich einen Auftrag für Sie …“

„An Fräulein Regine?“

„Einen sehr ernsten Auftrag, den Sie mit Ihrer Diplomatie bei ihr anbringen mögen; es hat mir schon zehnmal auf der Zunge gelegen, ihr selbst die Eröffnung zu machen, aber wenn ich ihr in’s Auge sehe, überfällt mich eine lächerliche Schüchternheit; ich weiß nicht, sie hat etwas in ihrem Wesen und Aussehen, was mich eigenthümlich bewegt; was denn auch wohl macht, daß ich sie nicht leiden sehen kann – ein solches Juwel von einem Mädchen – ich kann sie wirklich nicht leiden sehen – und deshalb, sehen Sie, deshalb will ich ihr helfen und ihrem Herzeleid ein Ende machen – es ist auch etwas in mir, was mich dazu wie zu einer Sühne einer alten vergebenen Schuld drängt; sie hat mir das Bild meiner Schwester nicht umsonst da in mein Zimmer gehängt, wenn sie auch sicherlich nicht ahnte, was sie damit für sich selbst that; es [275] ist wirklich eine wunderbare Geschichte, eine seltsame Schicksalsfügung, daß just sie es that und meine Gedanken zwang, bei dem Bilde zu haften; wenn man alt ist, Klingholt, nehmen die Dinge …“

Leonhard, der gespannt bei alledem aufgehorcht hatte, brachte den alten Herrn zum Schluß des langen Satzes, indem er unterbrechend fragte:

„Und mein Auftrag?“

„Ihr Auftrag, Klingholt, soll sein, ihr zu sagen: daß ich ihr den Weg zu ihrem Glücke bahnen will. Sagt’ ich Ihnen nicht schon, daß es immer mein Gedanke, mein Wunsch gewesen, Jemand adoptiren zu können? Ja, richtig, ich sagte es Ihnen schon einmal, und nun hören Sie, Doctor: ich will sie adoptiren. Dann erhält sie einen Namen und ein Wappenschild, das sich neben das jedes Grafen oder Barons im Reiche stellen kann. Fehlt es ihr alsdann noch an Geld, um ihren Baron zu heirathen, so soll sie es auch haben. Ich werde meiner Adoptivtochter eine Rente zahlen lassen – so viel sie bedarf. Sagen Sie ihr das – aber verlassen soll sie mich nicht … sie ist mir in den wenigen Tagen nothwendig geworden … in meiner Nähe muß sie bleiben; ihr Baron wird sich’s schon gefallen lassen, in Dortenbach zu hausen, wenn er weiß, am Ende wird Dortenbach sein.“

Leonhard sah ihn mit Augen, welche sich um ein Merkliches vergrößert hatten, überrascht an. Die Ueberraschung schien ihm die Worte geraubt zu haben.

„Nun,“ sagte der alte Herr, „weshalb schauen Sie mich so stumm an? Weshalb sagen Sie nichts zu meinem Vorhaben? Sind Sie nicht damit einverstanden? Wollen Sie etwa den Advocaten meiner lieben Anverwandten machen? Die lieben Anverwandten haben mich genug geärgert. Die lieben Anverwandten mögen sehen, wo sie bleiben! Die lieben Anverwandten sollen Legate haben … gute, ausreichende Legate …“

„Ich bin nicht hier, den Advocaten Ihrer Verwandtschaft zu spielen; höchstens den Ihrigen, Baron …“

„Und was sagen Sie denn als mein Advocat zur Sache? Sprechen Sie doch!“

„Ich ehre Ihren Entschluß. Er ist rasch gefaßt, sehr rasch, und ich begreife, daß Fräulein Regine Ihnen unentbehrlich geworden …“

„Wahrhaftig – das ist sie.“

„Nur das Eine muß ich Ihnen einwerfen: Sie wissen nicht, ob … der fragliche ‚Baron‘, den Ihnen Fräulein Regine vielleicht als Adoptiv-Schwiegersohn zuführen würde, ebenso Ihre Sympathien gewönne.“

„Darin haben Sie Recht, Klingholt – sehr Recht; ich habe selbst daran gedacht, aber wissen Sie, wer ein Mädchen wie Regine liebt, der muß ein braver und tüchtiger Mensch sein … denken Sie nicht auch?“

„Wer weiß?“ entgegnete lächelnd Leonhard. „Je besser ein Mensch, desto schwächer seine Menschenkenntniß, und Amor’s Binde, wissen Sie …“

Der alte Herr zuckte die Achseln.

„Wir müssen’s darauf wagen,“ erwiderte er. „Gehen Sie hinüber zu ihr! Machen Sie ihr die nöthigen Eröffnungen! Finden Sie irgend Schwierigkeiten, so ebenen Sie dieselben … wollen Sie, Klingholt? Sie wissen, was mich angeht, ich weiß Schwierigkeiten gegenüber nicht viel anzufangen. Es ist das nun einmal meine schwache Seite. Planiren Sie alles, was im Wege sein sollte! Und dann kommen Sie zurück und sagen Sie mir, daß wir es so einrichten – uns zusammen so einrichten auf Haus Dortenbach!“

Der alte Herr war offenbar von seinem Plan ganz erfüllt. Ein leidenschaftlicher Eifer für denselben war über ihn gekommen; ein Wunsch hatte ihn mit einer Heftigkeit erfaßt, deren er sich wohl selbst nicht mehr für fähig gehalten. Es war so lange, lange Zeit verflossen, seit er überhaupt keinen Plan mehr gemacht, keinen Wunsch mehr gefaßt hatte: wie hätte dieser plötzlich in ihm erweckte nicht desto stärker sein, nicht mit einer Art fieberhaften Verlangens nach der Erfüllung verbunden sein sollen?

„Sie wollen, daß ich augenblicklich zu Fräulein Regine gehen und mit ihr reden soll?“ fragte Leonhard.

„Sehen Sie einen Grund zum Aufschub?“

„Nein,“ versetzte Leonhard nach einer Pause Nachdenkens; „ich will Fräulein Bertram Ihr Anerbieten kund thun.“

Und damit ging Leonhard, um sich zu Regine hinüberzubegeben.




8.

An der dem Wohnzimmer des Barons gegenüberliegenden Seite des melancholischen großen Festsaals – denn ein Festsaal war dieser in der Mitte des Gebäudes angelegte Raum doch, obwohl er so verblichen und verschossen aussah – an der gegenüberliegenden Seite führte die entsprechende Thür in ein Zimmer, welches sich Regine, um dem Baron nahe zu sein, zu ihrem Aufenthalte ausgewählt hatte. Es mochte früher, in den lustigeren Zeiten, welche Dortenbach ohne Zweifel erlebt hatte, als Spielzimmer gedient haben, während in dem nahestehenden Saale vielleicht eine heitere Jugend im Tanz umherwirbelte; das Möbel, welches Regine sich als ihren Arbeitstisch an das Fenster stellen lassen, war wenigstens ein alter Spieltisch, und den Kaminsims zierte eine Reihe kunstreich aus Elfenbein geschnitzter Schachfiguren, während auf zierlichen Consolen an den Wänden japanische und indische Kästchen angebracht waren.

Regine hatte nicht viel gethan, den Raum zu einem traulichen Damenboudoir umzugestalten; nur einige Frauenarbeiten, die auf dem Tische am Fenster lagen, deuteten auf die Besitznahme des Zimmers durch eine Dame. Sie saß eben, eine Stickerei in den Händen, aber sehr oft von dieser auf- und gedankenvoll durch das Fenster auf die Tannengruppe draußen blickend, an diesem Tische, als Leonhard leise anklopfte.

„Regine,“ sagte er eintretend, offenbar höchst bewegt, mit freudig gerötheten Zügen, „welche Wendung der Dinge! Sie ahnen nicht, mit welcher Botschaft ich zu Ihnen komme – Sie Böse haben mir nicht den Gefallen thun wollen, sich in den guten alten Herrn zu verlieben, und nun, zur Beschämung für Sie, hat er sich dafür sterblich in Sie verliebt. Er will Sie nicht wieder missen, Sie nicht wieder scheiden sehn – und deshalb – doch nein, ganz im Ernste, nicht blos deshalb, sondern zunächst um Ihretwillen, um Ihres Lebensglückes willen, will er Sie an Kindesstatt annehmen, adoptiren, ausstatten …“

Regine, welche ihm entgegengetreten war und seine Hand erfaßt hatte, ließ diese fahren und wich einen Schritt zurück; sie war auffallend bleich geworden.

Leonhard, aus dessen Zügen die helle Freude leuchtete, schien zu erregt, um dies zu bemerken – er fuhr lebhaft fort:

„Das wendet und endet ja nun Alles – das schlichtet unsern Hader auf’s Gründlichste und Unerwartetste – das ist ein Gedanke, so unendlich gescheut, so glücklich … aber was ist Ihnen, Regine? – Sehen Sie das nicht ein – nicht ein, daß nun Alles gut – daß Sie durchaus nicht wider Ihrer armen Mutter Andenken sündigen, nicht Ihrer Eltern Gesinnung Lügen strafen, wenn Sie hier die Herrin werden? Wenn Sie von einem guten, weichherzigen Manne sich adoptiren lassen und als Adoptivtochter annehmen, was er aus freien Stücken Ihnen vermacht, er, der fremde Mann, Ihnen, die Sie ihm nichts sind als Regine Bertram ….“

Regine zuckte unmerklich die Schultern und, zurücktretend, ließ sie sich wieder in ihrem Sessel am Fenster nieder, um stumm hinaus auf die dunklen Tannen zu blicken.

„Aber ich bitte Sie, Regine – Sie müssen doch einsehen … um Gotteswillen, sprechen Sie doch …“

„Sind Sie ein Kind geworden, Leonhard – oder ein Sophist?“ fragte sie mit schmerzlich zuckender Lippe und unsäglicher Bitterkeit.

„Sophist? Sie nennen mich Sophist, weil ich das ausspreche, was in solcher Lage jeder unbefangene, mit richtigem Gefühl begabte Mensch empfinden würde?“

„Was geht mich der Menschen Empfinden an,“ versetzte sie heftig erregt; „ich folge meinem Empfinden, ich thue, was mir mein Herz sagt, und was es mir sagt, das wissen Sie ja …“

„Ich weiß es, aber ich wußte nicht, daß Ihr Herz unerbittlich wie das der Parze sei,“ antwortete Leonhard tonlos und wie schwer getroffen, indem er sich auf den Stuhl neben der Thür niederließ und mit untergeschlagenen Armen den Boden anstarrte.

„Man hat,“ fuhr Regine fort, „meinen Vater mit Verachtung und Haß aus diesem Hause gestoßen; man hat ihn verleumdet und beschimpft und meine Mutter, die von dem geliebten Manne nicht lassen wollte, dahin getrieben, freiwillig den Tod zu suchen; als Gottes Hand ihr aber eine Rettung sandte, hat man das wohl nur beklagt, und als man sie endlich hat ziehen lassen müssen, da wurde sie mit schimpflichem Lärm und Hohn gezwungen, [276] feierlich eine Urkunde zu beschwören, in der sie versprach, daß sie den Namen Dortenbach niemals mehr führen, daß sie niemals ein Anrecht auf die Familie erheben, nie Ansprüche auf irgend ein Erbrecht geltend machen werde. Das hat meine Mutter gern und bereitwillig beschworen, und, wie sie, werde ich das gegebene Wort halten. Ich werde die treue Tochter meiner Eltern sein: was ihnen geschehen ist in diesem Hause, das ist mir geschehen, Leonhard. Mein Vater litt nicht, daß der Name Dortenbach in unserem Hause auch nur genannt wurde. Nur einmal in seinem Leben hat er davon zu mir geredet: er strich mir das Haar aus der Stirn und mit feuchtem Auge und mildem Lächeln mir in’s Gesicht sehend, sagte er: ‚Eines tröstet mich, mein gutes Kind, darüber, daß Du ein Mädchen und kein Knabe bist: ein Sohn würde sich die Adelssippe und sein Recht auf dieser Menschen Erbe nicht aus dem Kopf schlagen können und den Herrn auf Dortenbach spielen wollen. Bei Dir bin ich sicher – Du braver, kleiner Starrkopf Du! Wer wider Deine Eltern war, wider den bist auch Du!‘ In dieser Sicherheit ist mein Vater aus dem Leben gegangen. Und wie hat er rastlos gewirkt, sich keine Ruhe gegönnt und gearbeitet, der gute Vater, um mir ein Vermögen hinterlassen zu können, das, so klein es ist, doch für mich hinreicht … Ich sollte Dortenbach nicht nöthig haben …“

„Wenn nur Dortenbach nicht Sie so nöthig hätte!“ fiel gedrückt und gedämpften Tones Leonhard ein.

„Das haben Sie mir oft gesagt,“ entgegnete Regine wieder mit dem bitteren Aufwerfen der Lippen, „und da es keinen Eindruck auf mich gemacht hat, haben Sie jetzt …“

„Habe ich jetzt? Sie vollenden nicht. Was habe ich?“

„Haben Sie jetzt sehr klug die eigensinnige Regine auf einem anderen Wege dazu bringen wollen, ihren Widerstand aufzugeben und sich Dortenbach gefallen zu lassen. Glauben Sie, ich durchschaute Ihren Plan nicht? O Leonhard, Sie haben mir sehr, sehr wehe gethan, indem Sie mir zeigten, daß Sie vollständig unfähig sind, auf mein Fühlen und Denken einzugehen, unfähig, mein tiefstes Empfinden zu verstehen.“

„Mein Gott, ich habe Ihnen ja Recht gegeben; nur –“

„Nur soll ich durch eine Komödie, welche Ihr mit mir spielen zu können glaubt, gegängelt werden, durch eine Komödie, Leonhard, welche Sie selbst in Scene zu setzen sich nicht gescheut haben …“

„Ich?“ fragte er schmerzlich erstaunt.

„Ja Sie, Leonhard …“

Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 18, S. 289-292
Novelle – Teil 5

[289] Regine schwieg einen Augenblick, mit ihrer inneren Erregung kämpfend.

„Man stellte mir vor,“ fuhr sie dann fort, „der Oheim bedürfe meiner; ich habe die Pflicht, mich meines nächsten Verwandten anzunehmen; ich könne auf Rechte verzichten, aber mich über ernste unabweisbare Pflichten nicht hinwegsetzen; ich habe gehorcht, Leonhard, gehorcht, weil Sie es waren, der mich rief, mich mahnte … ich bin hier … und nun macht Ihr den zweiten Zug im Spiel … nun erklärt der Oheim mich adoptiren zu wollen … nun soll sich Alles fügen, wie Ihr’s wünscht und verlangt … nun soll ich nicht als meiner Mutter Tochter, nicht als des Oheims rechtmäßige Erbin, sondern als ein adoptirtes Kind in diese verhaßte Adelssippschaft eintreten und die Herrin von Dortenbach werden, die Ihr nun einmal in mir sehen wollt und die ich nun einmal nicht sein will.“

„Regine,“ rief Leonhard aufspringend, „so deuten Sie die Sachen – so? Sie erblicken überlegte Schachzüge in dem, was geschehen – ein von mir eingeleitetes Spiel –?“

„Mein Gott, muß ich denn nicht? Bin ich denn blind? Der Baron will mich adoptiren, mich zu seiner Erbin machen, sagen Sie. Mich? Eine ihm Wildfremde? Die ihm noch nichts sein kann? Die er erst seit wenigen Tagen kennt? Die bürgerliche Person, die untergeordnete Krankenpflegerin? Aber ich bitte Sie, Sie werden mir doch nicht zumuthen, das für möglich zu halten, wenn Sie ihn nicht eingeweiht, ihm nicht mein Geheimniß verrathen, ihn nicht darauf gebracht und dazu vermocht hätten?“

„Regine,“ rief Leonhard mit Entrüstung, „Sie sind furchtbar in Ihrem Mißtrauen – Sie sind vielleicht gar im Stande, mir vorzuwerfen, ich spiele dieses ganze Spiel auch nur deshalb, um mit Ihrer Hand das von Ihnen verschmähte Dortenbach an mich zu bringen – bei Gott –!“

„Nun ja,“ sagte sie, ihm offen und kalt in’s Auge sehend, „ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube; Sie haben lange genug meinem Empfinden in dieser Angelegenheit widerstrebt, Beredsamkeit genug aufgewandt, meinen Entschluß zu bekämpfen – was muß ich mir Anderes sagen, als daß –“

„Als daß meine Liebe für Sie entstanden ist aus der Hoffnung und daß die Hoffnung sich stützt auf den goldenen Anker, welcher Dortenbach heißt,“ brauste er auf. „Regine, das ist zu viel; ich frevelte an mir selber, wenn ich darüber ein Wort weiter verlöre – widerrufen Sie das, widerrufen Sie es auf der Stelle oder –“

„Oder?“ fragte sie, herausfordernd; sie schloß kalt und fest die Lippen.

„Oder dieses Wort trennt uns auf ewig,“ sagte er, mit Gewalt den Ausbruch einer zornigen Leidenschaftlichkeit zurückhaltend.

Sie blickte zu ihm auf – sie blieb ungerührt – sie blieb in der That „unerbittlich wie die Parze“; sie wandte ihr Auge ab und schaute zum Fenster hinaus, zu den weißen ziehenden Wolken hinauf, aber mit Zügen, die so bleich waren, wie diese.

Leonhard’s Gesicht flammte – er zögerte noch einige Augenblicke, wie auf einen versöhnenden Laut harrend, aber als sie nicht sprach, wandte er sich: sie wollte eben ein beschwichtigendes Wort sprechen; sie wollte sich erheben, ihn zurückzuhalten, aber da ging er ja schon – im Trotz seines Schuldbewußtseins – – mochte er denn gehen!

Sie war so furchtbar empört. Sie war im Stande, ihn gehen zu lassen. Für immer, ja für immer! Und wenn ihr Herz darüber brechen, wenn es sie das Leben kosten sollte! Es war zu schlecht, was er gethan. Schon oft war leise, aber nur halb gedacht, nur wie eine kleine dunkle, bald wieder verwehte Wolke, die einen Schatten über den blauen Himmelsgrund wirft und dann fort und verschwunden ist – so war schon mehr als einmal ein Argwohn in ihr aufgestiegen, daß er ihren Entschluß, mit Allem, was Dortenbach hieß, mit Allem, was die Sippschaft im Schlosse anging, nie in die geringste Berührung kommen zu wollen, aus egoistischen Gründen bekämpfe. Der Argwohn lag ja freilich auch nahe genug. Sie war seine Braut geworden; er hatte ihr Jawort – wenn sie ihren Entschluß änderte, wenn sie ihr Recht geltend machte, so wurde er ein reicher, sehr reicher Mann. Mein Gott, es lag so nahe, daß er deshalb, auch nur deshalb um sie geworben. So schrecklich nahe – heute, wo alle jungen Männer nach Geld jagen! Aber sie, sie war so blind vertrauensvoll gewesen, so lächerlich idealistisch, so schwärmerisch gläubig. Und nun hatte er sich so plump, so mit Händen faßbar verrathen – er hatte mit dem alten Herrn einen Weg, sie zu umgarnen, ausgeklügelt und hatte dazu ihr Geheimniß preisgegeben. So heilig hatte er ihr geschworen, sie dem Oheim nicht zu verrathen – und nun – o, es war keine Treue und Glauben in ihm – es war furchtbar, es war um sich todt zu weinen!



[290]
9.

Der Tag, welcher für den alten Herrn so freundlich und verheißungsvoll begonnen, sollte für den armen Gebieter auf Dortenbach den unbefriedigendsten Verlauf nehmen.

Leonhard war zu ihm zurückgekehrt, aber mit einem ganz veränderten Gesicht, mit einem eigenthümlichen Flimmern und unstäten Funkeln der Augen.

„Fräulein Bertram will von Ihrem gütigen Vorschlage nichts hören, Herr Baron,“ sagte er mit ganz veränderter Stimme, „sie lehnt ihn so entschieden ab, daß ich –“

„Wie – sie will nicht –“

„Daß ich,“ fuhr Leonhard ohne sich unterbrechen zu lassen fort, „Sie bitten muß, kein Wort mehr bei ihr selbst darüber fallen zu lassen. Es würde nichts helfen, und Sie würden sich nur unnütz aufregen. Adio!“

„Adio? Wohin wollen Sie so rasch?“

„Wohin ich will? Nun ja, wohin ich will? In’s Freie, Baron – zu meinen Eltern – in den Wald – ich komme zurück.“

Und damit eilte er davon.

Der Baron klingelte.

„Andreas,“ sagte er, als dieser erschien, „bitte das Fräulein Bertram, zu mir herüberzukommen; sie soll mir sagen, ob diesem Klingholt etwas zugestoßen ist, ob er krank ist.“

Andreas ging.

Nach wenigen Minuten kam er mit der Meldung zurück:

„Das Fräulein läßt sich entschuldigen – sie leidet so stark an Migräne, daß sie bittet, sie auch für die Mittagstafel zu entschuldigen.“

„Ah“ – sagte der alte Herr überaus verdrossen – „das ist ärgerlich. Was haben denn diese beiden Menschen heute? Ich hatte ein so hübsches Thema zum Tischgespräch für den Doctor und sie. Weißt Du, Andreas, es geht mir nichts über ein gutes friedliches Tischgespräch. Er sollte mir erklären, wie es kommt, daß unsere Zeit, welche so entsetzlich viel Neues schafft, erdenkt, erfindet – so staunenswerthe große Dinge in’s Werk setzt –“

„Wird denn der Herr Doctor nicht zum Essen kommen?“ unterbrach ihn Andreas.

„Schwerlich, schwerlich – der Deserteur stand ihm im Gesichte geschrieben – es muß ihm etwas passirt sein – aber laß mich ausreden, Andreas: – woher es kommt, daß dieselbe Zeit eine solche Gier nach unnützem altem Plunder hat, nach alten Steinbrocken, Topfscherben und vor Allem nach alten Briefen, zum Beispiel von Gryphius an seine Waschfrau oder von Leisewitz an seinen Buchbinder –“

„Große Herren haben ihre Schrullen; vielleicht haben’s große Zeiten auch,“ meinte Andreas. „Soll ich jetzt den Herrn Sergius zu Tisch laden?“

Der alte Herr ergab sich mit einem leichten Seufzer in die Aussicht auf den Ersatz, den der Alles wissende Sergius bot, und dann sann er im Stillen darüber, wie es möglich, daß sein schöner Plan bei Reginen eine so wunderliche Aufnahme gefunden habe.

Ihre Migräne mußte übrigens der Art sein, daß sie ihr die frische, freie Luft draußen zum Bedürfniß machte; denn sie ging soeben, nur mit ihrem leichten grauen Sonnenschirm versehen, in die Anlagen hinaus.

In Reginens Innerem arbeitete es heftig; ein Gedanke nur beschäftigte sie, eine einzige zornige Frage, die Frage nämlich: wozu sie sich entschließen, was sie thun solle, ob sie jetzt ohne Aufschub Dortenbach verlassen solle oder nicht. War es jetzt noch ihre Pflicht, bei dem alten kranken Manne, der freilich nun einmal ihrer Mutter Bruder war, auszuhalten? War diese ganze Pflichtvorstellung nicht überhaupt nur eine vor ihren Augen heraufbeschworene, abscheuliche Vorspiegelung, ersonnen, um sie nach Dortenbach zu locken? Und war sie jetzt, wo der Oheim ihr Incognito durchschaute – das that er ja ganz ohne Zweifel – hier noch einen Augenblick sicher? Würde der Oheim sie nicht an Andreas, seinen vertrauten alten Andreas, verrathen und dieser nicht an die Verwandten? Oder, wenn er nicht, würden nicht Leonhard’s Eltern, die von diesem wohl auch eingeweiht waren, ihr Geheimniß an den Tag bringen? Und dann hatte sie mit der lieben Sippschaft, die ihr so unaussprechlich widerwärtig war, sich aus einander zu setzen – es blieb ihr in der That gar nichts Anderes übrig, als auf und davon zu gehen.

Und doch wurde der Entschluß ihr schwer – sie vermochte nicht, ihn rasch und mit freier Seele zu fassen – sie hatte für den alten Herrn, obwohl sie ihn verurtheilte, obwohl sie seine Schwäche verächtlich und hassenswürdig fand, doch ein Interesse gefaßt; ein Gefühl der Zusammengehörigkeit war in ihr entstanden; ein innerliches Band hielt sie an seiner Seite, so lange er ihrer bedurfte, wenigstens so lange sie ihm wohlthun konnte. Und die Räume, in welchen sie sich hier bewegte, diese Gärten und Parkpfade, auf welchen bei ihren einsamen Wanderungen wie ein unsichtbarer Schatten das Bild ihrer Mutter sie begleitete und lebhafter, deutlicher, greifbarer, als es je in der Stadt von ihrer Phantasie ihr vor die Seele gezaubert wurde, neben ihr dahinglitt – alles das hatte etwas Bindendes, Festhaltendes, was ihr den Gedanken der Trennung schmerzlich machen wollte. Und dann – das lag ja auch noch auf dem Grunde all ihrer empörten, verzweiflungsvollen Gedanken, das widerspruchsvolle stille Ahnen und Hoffen, daß es für Leonhard eine Schuldmilderung gebe, daß noch etwas Versöhnendes kommen und sie dann ihr zu hartes Wort bereuen lassen könne – und das mußte doch hier sich fügen, hier abgewartet werden.

Regine war lange Zeit, bald rasch, bald langsam schreitend und bei jedem Schritte die Spitze ihres Sonnenschirmes in den weichen Sand der Pfade stoßend, gedankenvoll umher gewandert, bis sie bei diesem planlosen Irren durch die Anlagen und den anstoßenden Theil des Waldes sich plötzlich einem alten Gemäuer gegenüber sah. Es war jene Capellenruine, an welche wir den Baron seine mythologischen Combinationen knüpfen hörten. Regine, welche das Gebäude nicht kannte, hielt es für eine künstliche Ruine, welche die Zeit zu einer richtigen umgewandelt; sie hatte sie wenigstens dicht mit Epheu umsponnen, dessen Gerank und Zweige das graue alte Gestein zusammenzuhalten schienen, und selbst die spitzbogige Eingangsthür wie mit einer grünen Portière überhingen.

Als Regine sich seitwärts näherte, vernahm sie Stimmen, die da drinnen lebhaft und rasch wechselten – betroffen blieb sie stehen, sie glaubte, die Stimme Leonhard’s zu erkennen – eine weibliche Stimme, weiche ihm antwortete, war offenbar die Dora’s. Sie schritt näher – das weiche Moos, welches rings den Boden bedeckte, machte sie völlig unhörbar – wie in aller Welt kam Leonhard dazu, sich hier in diesem versteckten Winkel des Waldes, den Regine gar nicht kannte, ein Rendezvous zu geben – mit einem Kinde wie Dora? Sie fragte sich das so lebhaft und stürmisch, daß sie unwillkürlich herantrat, wie gebannt vom Klange dieser Stimme. Als sie bis zu dem Gemäuer, zu dem kleinen, in der Seitenwand angebrachten Fenster, das seiner Scheiben längst beraubt, aber von Epheu dicht umsponnen war, gekommen, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte; durch die Zwischenräume der dichten Blätter und Ranken konnte sie das Innere überschauen, und nun nahm sie ein sehr hübsches Bild wahr, welches Reginen, wenn sie in anderer Stimmung gewesen, wohl ein Lächeln abgelockt hätte, jetzt aber nur Ueberraschung bei ihr hervorrief. Hoch oben auf dem verstaubten Altar der Capelle saß in ihrem weißen Kleidchen Dora; sie trug auf ihrem gelösten und lang über die Schultern hinfallenden blonden Haare eine große, kunstreich aus Kornblumen geflochtene Königskrone und bildete mit dem langen Farrnkrautstengel, den sie, wie eine Heilige ihre Palme, in der Hand hielt, eine sehr hübsche, aber auch sehr kindliche Tableaufigur, von der man nicht recht wußte, ob sie eine Madonna oder eine Ophelia vorstellen wollte.

Vor ihr auf den Stufen des Altars knieete Edwin; er betete zwar nicht zu der wunderlichen Göttin vor ihm, aber er war offenbar beschäftigt, ihr ein Opfer zu bringen; denn er ordnete und band aus einem Haufen vor ihm liegender Waldblumen einen dicken Strauß, so gut es bei der fortwährenden Störung eben anging – denn Dora senkte jeden Augenblick ihre Heiligenpalme, um ihn damit bald auf den Scheitel, bald am rechten, bald am linken Ohre zu treffen und zu kitzeln.

„Wenn Du mich nicht bald in Ruhe läßt, entreiße ich Dir Dein Scepter,“ sagte Edwin; „Du kindliche Regina Angelorum.“

„Dann thue ich ein Wunder und verwandele Dich.“

„In was?“

„In einen verwunschenen Prinzen.“

„Damit Du ihn mit einem Kusse wieder erlösen kannst? Nur zu!“

Das Farrnkraut flog ihm heftig an den Kopf. Dabei zerknickte der feine Stengel.

[291] „Nein, in den wilden Jäger,“ sagte Dora jetzt. „Dann mußt Du, statt eine reizende Oberförsterin im Spessart zu bekommen, auf einem klapperdürren Gaule hinter einer großen Eule her Nachts über die weiten dunklen Wälder da fahren und immer hoho! brüllen und mit der Peitsche knallen.“

„Wie schauerlich! Du könntest mir Angst machen vor Deiner Oberförsterei im Spessart.“

„In der bist Du sicher. In der ist es ganz reizend. – Tannen stehen umher, wie Ihr sie hier gar nicht kennt, so groß und schön, und ein prächtiger Wildbach kommt hinter dem Hause aus den Bergen geschäumt und füllt einen schönen und weiten Teich –“

„Mit dicken alten Karpfen darin, welche Deine Tante jeden Morgen füttert – ich weiß, Dora – ich kenne ja die ganze Oberförsterei auswendig – wenn ich nur das Schicksal, welches mich dort erwartet, ebenso gut auswendig kennte!“

Edwin sagte dies leiser, wie mit einer Anwandelung tieferen Ernstes.

„Das Schicksal, welches Dich dort erwartet?“ versetzte Dora aus ihrer „Pose“ fallend und vorgebeugt das Kinn auf den aufgestemmten Arm stützend – „habe ich Dir denn das nicht auch gesagt?“

„Du hast mir Alles gesagt: der Oberförster, der Mann Deiner Tante, braucht einen Gehülfen, einen Vertreter, einen jüngeren Mann, der ihm die viele Arbeit tragen hilft – die freiherrlich Ramsfeld’schen Waldungen müssen eben sehr, sehr ausgedehnt sein –“

„Sagst Du das spöttisch? Sie sind auch ausgedehnt – ganz furchtbar. Leider gehört nur uns nichts mehr davon, sondern den Vettern Alles. Aber das thut nichts. Wir werden ja bald wieder reich genug sein. Wenn der alte Onkel hier stirbt, was ja nicht lange mehr währen kann, erben wir die Hälfte von Dortenbach, der Damian und ich; es wird gleich verkauft und dann …“

„Verkauft – zersplittert – die Wälder niedergehauen! Es ist eigentlich ein Jammer,“ unterbrach Edwin sie nachdenklich.

„Was willst Du – was könnten wir sonst damit beginnen? Und also – Du gehst, statt in die Stadt, wohin sie Dich senden wollen, das Examen zu machen, mit einem Briefe von mir zu meiner Tante. Du bleibst bei ihnen als Stellvertreter des Oberförsters – dazu brauchst Du das abscheuliche Examen nicht, durch das Du ja doch glänzend durchfallen würdest, Du dummer Edwin – und dann, wenn wir heimkommen, bin ich ganz schrecklich reich und wir heirathen uns.“

Edwin nickte dazu und wiederholte: „Ja, wir heirathen uns.“ Vielleicht that er es nicht mit einem Ton des Entzückens, der Dora befriedigte; denn diese beugte sich setzt ganz vor, faßte mit beiden Händen in sein dichtes dunkles, leicht sich kräuselndes Haar und zauste ihn ganz fürchterlich dabei.

Edwin wehrte sie ab und band dann ruhig seinen Strauß fest, während er nachdenklich sagte:

„Wenn ich nur am Ende nicht der Klügere bin mit meiner Sorge, daß die Tante und der Onkel Oberförster nicht damit einverstanden sind und nicht thun, was Du willst!“

„Oho,“ rief Dora, indem sie ihm den Strauß aus der Hand nahm, „die Tante ist meine Pathe; die Tante betrachtet mich wie ihr Kind; die Tante hat längst gewollt, die Mutter soll mich ganz zu ihr gehen lassen – der Umgang mit dem Damian verderbe mich nur, sagt die Tante, und was ich will, das thut sie, schon um die Mutter zu ärgern – denn die Mutter und die Tante, mußt Du wissen, Du dummer Edwin, haben einen recht herzlichen Haß wider einander …“

Regine hatte, halb widerwillig, soweit gehört; sie fand nicht nöthig, sich durch weiteres Lauschen in diese angenehmen Familienbeziehungen einweihen zu lassen – unhörbar trat sie zurück und schritt betroffen über das, was sie vernommen, in den Wald hinein. Sie kannte Edwin, den sie ein- oder zweimal im Laufe dieser Tage flüchtig gesehen, zu wenig, um anders als indirect an ihm, als dem Bruder Leonhard’s, Theil zu nehmen, aber Dora, welche ja zur „Sippe“ gehörte, forderte ihr strengstes Urtheil heraus, und dies lautete: Welch unerhörter Leichtsinn von dem ruchlosen jungen Mädchen, das doch kein Kind mehr ist, so den jungen Mann aus seiner Laufbahn heraus und in ein unsäglich einfältiges Abenteuer zu locken! Man wird ihn in der gepriesenen Oberförsterei natürlich heimsenden, und er wird verwildert, erbittert und weniger als je im Stande, seine Gedanken auf seine Studien zu richten, wieder im Vaterhause anlangen, nachdem er seinen Eltern Sorge, Kummer und Angst bereitet.

Hatte sie nicht die Pflicht, die Eltern zu warnen? Die Frau Försterin, welche sie ein paarmal besucht, war eine so würdige, gutmüthige Frau, die ihr mit warmem Wohlwollen, mit ihrer ganzen Herzensoffenheit entgegen gekommen – die arme Frau mußte vor dem Kummer bewahrt werden, welchen die Verschwörung der beiden jungen Leute über sie zu bringen drohte.

Regine schlug direct den Weg zur Försterei ein; sie that es mit einer eigenthümlichen Hast und etwas wie einer Herzenserleichterung bei dem Gedanken, daß es offenbar eine heilige Freundschaftspflicht sei, welche sie auf diesen Weg zwinge – an dessen Ende sie sicherlich Leonhard begegnen mußte. Sie mußte annehmen, daß er jetzt bei seinen Eltern sei, und dann – sie fühlte doch, daß sie zu scharf, zu leidenschaftlich, zu hart gegen ihn gewesen! Vielleicht auch zu rasch in ihrem Argwohn – es war ja möglich, daß er sich rechtfertigte, sie beschämte – und mit einem hoffenden Verlangen nach dieser Rechtfertigung, mit einem stillen sich Sehnen nach der eigenen Beschämung eilte sie durch die Waldalleen.

Als sie die Försterei erreichte, trat ihr die Försterin lächelnd und freundlich, aber auch mit einem besorgten Blick, in der Thür entgegen.

„Mein liebes Fräulein Bertram,“ sagte sie, „ich sah Sie so eilig dahergeschritten kommen – und Ihr schönes liebes Gesicht ist mit solcher Gluth übergossen – es hat sich doch nichts Schlimmes ereignet – kein Unglück?“

„Gottlob, nein – doch habe ich Ihnen etwas mitzutheilen – sind Sie allein, Frau Klingholt?“

„Ganz allein – der Vater ist zu Holz, und mein Sohn Edwin läßt sich wieder einmal seit Stunden nicht blicken – Leonhard ist mit seinen Büchern in’s Freie gegangen …“

Reginens rosige Gluth wechselte mit einer flüchtigen Blässe, als sie hörte, daß Leonhard nicht da sei. Sie folgte der Försterin in das Wohnzimmer mit den schneeweiß „geschrubbten“ Dielen, wo jene sie auf das Kanapee niederzog und sich neben sie setzte.

„Sie haben mir etwas mitzutheilen, Fräulein Bertram? Wen betrifft es, Leonhard oder unsern guten alten Herrn, dessen Schutzengel Sie geworden sind, Sie Liebe, Gute, der wir Alle so viel Dank schuldig –?“

Regine schnitt diese Reden ab, indem sie hastig sagte:

„Es betrifft Ihren Sohn Edwin, Frau Försterin – ich bin durch den Zufall und ganz ohne es zu wollen, in einen Plan eingeweiht worden, den Edwin und Dora von Ramsfeld zusammen entworfen haben.“

„Grundgütiger Gott – die unsinnigen Kinder!“ rief die Försterin erschrocken, „sie lassen also die dumme Liebesgeschichte nicht – mein Sohn Leonhard hat mich zuerst davon unterrichtet, und ich habe ein Strafgericht über meinen wilden, unbesonnenen Jungen gehalten –“

„Das doch nichts gefruchtet haben muß,“ fiel Regine ein, und dann erzählte sie der guten Frau Alles, was sie vernommen.

Die Försterin hörte ihr erschrocken zu.

„Das ist schrecklich,“ sagte sie tief erblaßt; „da muß etwas geschehen, etwas Energisches, Entscheidendes, das den leichtsinnigen Kindern solche Dinge austreibt … O mein Gott – soll hier auf Dortenbach denn noch einmal solch eine Tragödie spielen, wie damals, vor vielen Jahren, als sich ein ganz vermögensloser junger Arzt in das arme Fräulein Sabine verliebt hatte?! Es war solch ein bürgerlicher Mensch, der noch nichts besaß, ganz wie heute Edwin. Und sie, das Freifräulein! Der Himmel behüte uns davor, vor ähnlichen Dingen, wie sie dazumal geschehen sind – Sie haben sicherlich nie davon gehört, Fräulein Bertram – aber die Dortenbach’s sind immer leidenschaftliche Leute gewesen, und was sie wollen, das wollen sie, und der Vater, der ältere Bruder, die Mutter, die Schwester, das hat Alles sich wider die arme Sabine mit der Dortenbach’schen Leidenschaft ausgetobt –“

„Am Ende,“ sagte Regine, gepeinigt von dieser Erzählung, „am Ende hat doch Fräulein Sabinens Willen sich als ebenso – Dortenbachisch erwiesen –“

„Gewiß,“ fiel die Försterin ein, indem Regine sich erhob, „sie ist ihrem jungen Doctor – es war ja auch ein lieber guter [292] Mensch mit einem so sanften Gesicht und blauen Augen, ganz so klar blau, wie Sie sie haben, Fräulein Regine – sie ist ihm in die Welt gefolgt, und da sind sie auch ganz glücklich geworden; er hat sich in P. niedergelassen, und ist bald ein viel gesuchter Arzt geworden, wie man uns erzählt hat, und Medicinalrath und Chef des städtischen Krankenhauses noch dazu; er ist dann vor fünf oder sechs Jahren, denk’ ich, noch im besten Alter gestorben – ein Jahr nach seiner Frau, dem Fräulein Sabine; eine Tochter nur ist übrig geblieben, die jetzt noch, wie ich gehört, in P. bei einer Verwandten ihres Vaters lebt – eine wunderliche, verschrobene Person, wie es scheint –“

„Weshalb nennen Sie sie so?“ fiel ihr Regine in’s Wort.

„Nun, sehen Sie, dieses Fräulein ist doch die nächste Erbin zu Dortenbach; wenn auch ihre Mutter auf ihre Erbrechte hat verzichten müssen, ist sie doch die Nächste aus dem Blut, aber sie hat immer erklärt, sie wolle nie und nimmer etwas von Dortenbach hören noch sehen, und das ist doch der reine Unverstand! Ein Unverstand, der uns Alle hier tief unglücklich macht; denn wenn sie käme und die ganze reiche Erbschaft – solch ein Erbe! – an sich nähme, so bliebe Alles, wie es ist – und wir wären gerettet.“

„Woher wissen Sie das alles?“ fragte Regine.

„Woher? Ich weiß das alles durch Leonhard –“

„Der dieses ‚verschrobene‘ Fräulein kennt?“

„Der sie kennt. Er hat, denk’ ich, gesucht, in der Stadt ihre Bekanntschaft zu machen, sich ihr zu nähern, auch wohl einen Einfluß auf sie zu gewinnen, der ehrliche Mensch – – aber wie Sie mich bleich und geisterhaft ansehen, Fräulein Regine! Die rasche Bewegung in der Hitze draußen hat Ihnen nicht wohl gethan –“

„Und der rasche Wechsel mit der kühlen Luft hier im Zimmer; in der That,“ sagte Regine, sich fassend, „ich will gehen, draußen wird mir wohler werden. Adieu! Adieu!“

Sie hatte sich schon gewendet und ging; als die Försterin, die sich erhoben hatte, um sie zu geleiten, erst den Vorplatz erreicht hatte, war sie schon auf und davon.


Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 19, S. 305-308
Novelle – Teil 6

[305] Regine schritt eiliger, als sie gekommen, davon – und jetzt wandte sie sich dem Edelhofe zu – in einer leicht erklärlichen Aufregung. Welche Enthüllung war ihr geworden! Also so genau kannte man in der Försterei ihrer Eltern Schicksale, so genau hatte Leonhard, noch bevor er sie kennen gelernt, um dieselben gewußt – und nicht der Zufall war es gewesen, der sie in der Stadt zusammengeführt, sondern die überlegte, planmäßige Berechnung hatte ihn bewogen, ihr den Schein des Zufälligen vorzuspiegeln, sich ihr allmählich mit erheuchelter Schüchternheit zu nähern, ihr zu huldigen und endlich, seines Erfolges sicher, um sie zu werben – um die Erbin – Alles um ihres Rechtes auf dieses Dortenbach willen, um eines Geburtsrechtes willen, das sie nicht sollte von sich schleudern dürfen, obwohl es ihr das Leben vergiftete!

Sie war nicht mehr zornig, nicht mehr empört, wie am Morgen – sie war entsetzt, innerlich gebrochen – das Herz blutete ihr; es drohte ihr zu brechen bei der unseligen Entdeckung, so grenzenlos abscheulich betrogen worden zu sein – von ihm, von dem reinsten, edelsten Menschen auf Erden, wie sie gewähnt hatte.

Sie rief es sich wieder in die Erinnerung zurück, wie er sich ihr zuerst genähert; auf der Eisenbahn von einem weiteren Ausfluge in’s Gebirge heimkehrend, hatte sie ihn im Coupé sich gegenüber gefunden – nach längerer Fahrt war der Tante neben ihr unwohl geworden – er hatte sich hülfreich gezeigt – den Arzt hervorgekehrt; beim Auseinandergehen nach der Ankunft in der Stadt hatte die Tante ihn gebeten, am anderen Tage kommen und nach ihrem Befinden sehen zu wollen; er war gekommen und von da an öfter und öfter, bis Regine ihm ein Recht gegeben hatte, seine Besuche dauernd fortzusetzen.

Aber so oft er gekommen, er hatte Reginen nie verrathen, daß er aus Dortenbach stamme, daß er die Geschichte ihrer Eltern kenne – mit keiner Silbe. Das verdammte ihn in Reginens Augen jetzt unrettbar. Nur ein Intrigant konnte so handeln, ein Intrigant, der ihr gefolgt war, der sich geflissentlich eines Platzes in demselben Coupé mit ihr bemächtigt hatte und dem der Zufall dann so wunderbar beigestanden …

Und erst nach längerer Zeit, kurz bevor sie ihm das Jawort gegeben, das nach beider Wünschen vorerst noch nicht bekannt werden sollte, hatte er ihr gegenüber, anscheinend ganz unbefangen, einmal Dortenbach erwähnt und auf ihre erstaunte Frage, wie er es kenne, geantwortet, daß es seine Heimath sei … von seinen Eltern, von seinem Bruder Edwin hatte er ihr nun gesprochen, gesagt, daß sein Vater Forstmann, der Förster der Dortenbach’schen Waldungen sei. Und von da an war denn bei ihrem unbedingten Vertrauen auf ihn das Eis gebrochen – sie hatte ihm ihrer Eltern Schicksal erzählt und er ihr gelauscht, als ob er nie davon gehört. Und dann war es geschehen, daß sie ihm ihre Entschlüsse, ihre zornige Entschlossenheit geoffenbart, nie in die geringste Berührung mit der adeligen Sippschaft ihrer Mutter kommen zu wollen.

Er hatte weder Lob noch Tadel für diese Art zu empfinden gehabt, nur skeptisches Lächeln – zu widersprechen war er wohl viel zu klug gewesen – erst nach und nach war leise, mit einem überlegenen Lächeln, mit einer spöttischen Indifferenz der Widerspruch gekommen, bis er eines Tages bei ihr erschienen war, um ihr mitzutheilen, daß er als Arzt zu ihrem Oheim berufen sei; als er dann zurückgekehrt, hatte er den zweiten großen Schachzug gethan – sie zu überreden gewußt, hierher, nach Dortenbach zu kommen.

So lag jetzt Alles klar vor Reginens Augen. Nach seiner Mutter Aeußerungen, welche er so thöricht gewesen war, nicht ganz in’s Vertrauen seines verdeckten Spiels zu ziehen, war Alles aufgedeckt worden; die abscheuliche Intrigue lag nun klar und offen vor ihren Augen.

Regine war in einer furchtbaren Verzweiflung; ihn als ruchlos, als schlecht, als einen Menschen, der ihr um ihres Erbes willen Liebe gelogen, der ihre Hingabe geduldet, weil die Hoffnung auf ein Rittergut damit verbunden war – ihn so erkennen zu müssen, das war mehr, als sie zu ertragen wußte – das löschte ihr die Sonne aus und ließ alle Gestirne, die dem Leben leuchten, in Nacht und Dunkelheit ersterben – es war nichts Helles, nichts Großes, nichts Schönes mehr auf der Welt – es war Thorheit, noch weiter leben zu wollen unter Menschen, von denen, wenn Er trügen und lügen konnte, Keiner, auch nicht ein Einziger gut sein konnte – nein, nicht ein Einziger – Regine hätte eine letzte bange Zuflucht in ihrem vernichtenden Schmerze da suchen mögen, wo einst ihre arme Mutter sie zu finden gehofft.

Als sie endlich ganz erschöpft und zum Sterben elend in ihr Zimmer kam, fand sie ein Billet auf ihrem Tische – es war von Ihm. Er schrieb:

„Regine – Sie haben ein vollständiges Recht, auf Ihr Recht zu verzichten. Aber Sie haben kein Recht zum Argwohn wider mich, und ich bin zu stolz, mich dagegen zu vertheidigen. [306] Doch – wenn Sie auch darin Recht hätten, so müßte all dieses Denken an Ihr Recht doch untergehen in dem Gefühl Ihrer Liebe, Ihrer Liebe für das Haus, in welchem Ihre Mutter aufwuchs und ein fröhliches Kind war, für den Boden, der Ihrer Väter Heim war seit Jahrhunderten, für den Oheim, der Sie nicht entbehren kann, und für mich, dem Sie Ihr Wort, Ihre Treue verpfändet haben. Ich gehe, Regine, und kehre zurück, wenn Sie, die Kranke, den Arzt rufen.“

„O mein Gott!“ rief sie erschrocken, empört aus. „Er trotzt auf das ihm verpfändete Wort. Er trotzt noch.“




10.

Regine hatte gegen die Dämmerstunde hin sich einigermaßen gefaßt und gesammelt; sie beschloß, ihren Dienst bei dem alten Herrn wieder aufzunehmen, der sie sicherlich ungeduldig erwartete – sie pflegte, wenn die Lampen entzündet wurden, ihr Vorleseramt anzutreten, und wollte es auch heute thun – es war vielleicht eine Zerstreuung, eine Flucht aus all den schrecklichen Gedanken, welche ihre Stirn glühen, ihre Schläfen hämmern ließen, ihre warmen Hände kalt und feucht machten. Sie wollte noch ein paar Tage lang still wie bisher weiter walten um den kranken Mann und dann die Gelegenheit suchen, unter einem passenden Vorwande von Dortenbach abzureisen und so sich vor einer neuen Begegnung mit Leonhard zu flüchten. Diesen wollte sie nie, nie wieder sehen. Er war verurtheilt für immer.

Sie betrat mit einigem Zagen das Wohnzimmer ihres Onkels. Sicherlich, dachte sie, werde der sensitive und feinfühlige alte Herr den Tact haben, nicht von der Adoptionsidee direct mit ihr zu beginnen, nachdem sie dieselbe nun einmal so schroff abgewiesen; auch werde er sich nicht als ihren Oheim geltend machen, nachdem es ihm durch Leonhard doch nahe genug gelegt sein mußte, daß sie davon nichts hören noch anerkennen wolle – sie hätte in der Erbitterung ihres Herzens dann um so härter und schärfer antworten müssen, je schwerer es ihr geworden wäre, ihre Fassung zu bewahren. Und dem alten Herrn wehe zu thun, davor scheute sie doch auch zurück, als sie jetzt forschend in sein Gesicht blickte – es lag ein so milder Ernst in diesen weichen Zügen, wie milder, lichtspiegelnder Thau auf einer Gegend liegt nach stürmischer schwerer Nacht.

Und in der That, er schien auch gar nicht daran zu denken, ein indiscretes Wort fallen zu lassen.

„Ich habe,“ sagte er ruhig, während Andreas die entzündete Lampe aufstellte und dem Lichtschirme des alten Herrn die rechte Höhe gab – „ich habe da ein Buch bekommen, aus dem Sie mir heute lesen sollen, Fräulein Bertram – es trägt den verheißungsvollen Titel ‚Canossagänge‘.“

„Gänge?“ fragte Regine. „Haben wir denn nicht an einem solchen Gange genug?“

„Leider giebt es ihrer mehrere in der Geschichte, und der Verfasser stellt sie zusammen, um das Grundgesetz des ‚Canossaganges‘ zu finden, die Theorie solcher Niederlagen des überzeugten Wollens und Handelns für das Allgemeine –“

„Und findet er das Gesetz?“

„Es scheint so. Wir werden ja sehen. Er scheint den Satz aufzustellen: Ueberall da, wo mit dem überzeugten Wollen nicht hoher sittlicher Ernst verbunden war, sondern die Ueberzeugung, wenn auch noch so tief und unerschütterlich, nebenbei in den Dienst persönlicher oder parteilicher Interessen und Absichten gestellt wurde, überall da ist das Ende des Endes der Gang nach Canossa.“

Regine nahm, ohne viel darauf zu hören, das Buch zur Hand. Was verschlug ihr diese Theorie; sie – soviel war gewiß – ging nicht nach Canossa – sie widerrief nicht.

Andreas hatte unterdeß die Läden vor den Fenstern zu schließen begonnen – jetzt hielt er hinausblickend inne.

„Was soll denn nun das bedeuten?!“ sagte er.

„Was hast Du, Andreas?“ fragte der alte Herr.

„Die jungen Herren machen sich da ein seltsam Stück Arbeit,“ antwortete Andreas; „da unten sind die Herren Junker mit dem Hausknechte in voller Thätigkeit, die Zugbrücke aufzuziehen – das ist ja schon seit Jahren nicht mehr geschehen und macht ihnen auch Last genug, scheint es.“

„Laß sie, wenn es ihnen Vergnügen macht!“ erwiderte der alte Herr mit einem leisen Seufzer.

Andreas schloß nach einem letzten Blicke auf die arbeitende Gruppe da draußen den Fensterladen.

„Es ist seltsam,“ sagte er dabei, „sie haben auch den Zug an der vorderen großen Brücke heute Nachmittag bearbeitet, sodaß Niemand mehr herein noch hinaus kann, wenn sie auch den aufziehen.“

„Man hat vielleicht von Diebesbanden in der Gegend gehört,“ erwiderte der alte Herr, „geh’ jetzt, Andreas!“

Andreas ging, kopfschüttelnd und verdrossen über seinen alten Herrn, welcher sich nun gar das auch wieder gefallen ließ – solches Den-Herrn-spielen in seinem eigenen Hause – solchen Uebermuth!

Es war nicht gerade Uebermuth, was Sergius und Damian dazu verführt hatte, Haus Dortenbach für die kommende Nacht von der übrigen Welt abzuschneiden, wie eine mit Belagerung bedrohte Burg. Was sie gethan, war die Ausführung einer in einem Familienrathe beschlossenen Maßregel und das Ergebniß von sehr erregten und leidenschaftlichen Debatten, die in dem großen Wohnzimmer des von der Generalin von Sander bewohnten Flügels fast den ganzen Nachmittag hindurch stattgefunden hatten, nachdem der Herr Rentmeister sich bei der Generalin hatte melden lassen, um ihr Mittheilungen der überraschendsten und erschreckendsten Art zu machen. Er war ein kluger, scharf beobachtender Mann, der Herr Rentmeister Benning; für das Beobachten kam ihm wohl ein wenig das leise Schielen zu Statten, mit dem er bald hierhin, bald dahin blickte – nur nie seinem Gegenüber gerade in’s Auge. Von seinen Geschäften erdrückt war er nicht; dafür standen seine breiten Schultern ein, obwohl sie auch noch den schweren, rothen Kopf mit dem starken Unterkinn zu tragen hatten, aber ein wenig übellaunig und menschenfeindlich hatten sie ihn gemacht, die Geschäfte, und eigensinnig dazu; der Förster Klingholt pflegte zu sagen, es wäre dem Herrn Rentmeister ergangen wie einem Hunde, der bei einem zu schwachen Herrn die Dressur verloren.

„Frau Generalin,“ hatte Benning gesagt, nachdem er sich breit und selbstbewußt der hohen Dame gegenüber gesetzt und mehrmals die heiße Stirn getrocknet, „da habe ich Ihnen etwas mitzutheilen, was das Geschäftchen, welches wir in Aussicht genommen, böse stören könnte.“

„Und was wäre das? Meine Cousine Ramsfeld denkt doch nicht etwa an einen anderen Käufer für Dortenbach als Sie, Benning? … Dann müßten Sie selber dazu thun, um …“

„Es handelt sich nicht um Frau von Ramsfeld, sondern um eine ganz andere – Cousine!“

„Cousine? Welche Cousine?“

„Die schöne Krankenpflegerin des Barons, das Fräulein Bertram … das Fräulein, das sich Regine Bertram nennt …“

„Was soll uns das? Was wollen Sie sagen, Benning? Sie könnten ein wenig rascher vorbringen, was Sie sagen wollen.“

Ein boshaftes Lächeln zuckte um seinen Mund. Es war nicht seine Art, da, wo er erst ein wenig auf die Folter spannen konnte, gleich mit den Dingen heraus zu platzen. Darum antwortete er, indem er sich auf’s Neue die Stirn mit dem Tuche wischte, nur:

„Sie hören’s früh genug, Frau Generalin; denn sehr angenehm wird Ihnen die Entdeckung nicht sein. Dieses Fräulein Bertram heißt gar nicht Bertram, sondern Regine Horstmar, und ist das wohlgerathene, legitime Töchterlein des Medicinalraths Horstmar, des Doctors, wissen Sie, der die Schwester unseres Barons, das Fräulein Sabine verführt und endlich auch richtig bekommen hat …“

„Ah – ich bitte Sie – ist das die Wahrheit?“ rief die Generalin erblassend, während ihre kleinen falschen Augen ihn mit strafendem Blicke durchbohrten.

„Wenn’s die Wahrheit nicht wäre, sagte ich’s nicht. Es ist so und nicht anders. Die Krankenpflegerschaft ist nichts als die Maske, unter der sich das liebenswürdige Fräulein an den Herrn Baron herangeschmeichelt hat …“

„Aber das ist ja schrecklich – das ist ja ein unerhörter Betrug des alten Mannes, der sicherlich von einem Fräulein Horstmar so wenig wissen will, wie wir Alle. Was will sie denn hier? Erbschleichen? Gegen uns intriguiren?“

[307] „Erbschleichen – nun ja, wenn man’s so nennen will,“ sagte, boshaft lächelnd, Benning. „Obwohl …“

„Diese Schlange!“ rief die Generalin in sittlicher Entrüstung; „diese höllische Schlange – darum hat sie damit begonnen, uns von dem Vetter zu trennen – und der Doctor, dieser Doctor Klingholt dient ihr dabei hinterlistig zum Rückhalt …“

„Richtig – der Doctor – die Herren Klingholt – da liegt eben – nicht der Hase, sondern der Förster im Pfeffer …“

„Welche Frechheit!“ eiferte die Generalin. „Sabine Dortenbach hat vor ihrer Verheirathung feierlich und gerichtlich auf alle Erbansprüche verzichtet und geschworen, nie wieder den Fuß nach Dortenbach setzen zu wollen. Darnach können wir uns nun doch ausbitten, daß diese Sorte Verwandtschaft uns aus dem Wege gehe. So etwas kann doch selbst Er nicht hier dulden wollen. Freilich, was duldet Er nicht am Ende! Aber dafür sind wir da. Es wäre ja gottlos von uns, wenn wir den kranken, schwachen Mann einer solchen Intrigue ausgesetzt sein ließen …“

Sie war, während sie sprach, in zornigster Erregung aufgesprungen und schritt nun mit einer Energie auf und ab, daß die alten Dielen sich unter ihren Füßen bogen.

„Wie haben Sie die Sache denn nur entdeckt, Benning?“ fragte sie.

„Na – wie man so etwas entdeckt, wenn man nur einmal auf den ersten Gedanken gebracht ist. Es war eine so auffallend schöne und stattliche Person, die der Doctor Klingholt da geschickt halte – als Krankenwärterin! Solche Personen, welche Sie dabei ansehen, als ob sie sagen wollten: wenn da, wo Du stehst, Luft wäre, würde ich eine angenehmere, freiere Aussicht haben, solche Damen pflegen doch keine Krankenpflegerinnen zu sein – zu meiner Zeit wenigstens waren sie das nicht. Und dann hatte sie so etwas – ich weiß nicht, worin es lag, vielleicht nur an der Art, womit sie von Zeit zu Zeit mit ihren schmalen langen Fingern langsam über ihre Brauen strich – sie hatte so etwas, was meine Gedanken wunderlicher Weise am Ende immer wieder auf unsern Hausgraben brachte, auf die nordwestliche Ecke, wissen Sie, und so – nun, um’s kurz zu machen: so dämmerte mir etwas. Schrieb also in die Stadt, wo ich einen Halbbruder habe, der mir schon länger den Gefallen gethan hat, das Fräulein Regine Horstmar ein wenig im Auge zu behalten, und so bekomme ich heute vor Mittag die Antwort, daß das Fräulein Horstmar, bei dem in letzter Zeit der Doctor Klingholt viel aus- und eingegangen ist – ihre Tante, die Clavierlehrerwittwe, soll an asthmatischen Zufällen leiden – daß also das Fräulein seit einiger Zeit verreist ist – wohin, nicht zu ermitteln; sie ist eine dunkelblonde Schönheit, schon mehr brünett, hat eine gedämpfte Hautfarbe mit zarter Röthe, große blaue Augen und einen kleinen Leberfleck links vom Kinne. Na – da hätten wir denn das Signalement – und ich denke – es paßt, Frau Generalin.“

„Und Regine heißt sie auch – das Fräulein Horstmar?“

„Regine ist sie getauft,“ nickte der Rentmeister.

„Ein Zweifel kann dann freilich nicht mehr obwalten – es handelt sich nur noch um die Frage, wie man sie am besten und am raschesten fortschickt.“

„Das ist nun freilich nicht leicht,“ antwortete, sehr nachdenklich den Kopf wiegend, der Rentmeister.

„Ich würde das ganz allein auf mich nehmen – sofort!“ rief hitzig die Generalin – „wenn ich nicht befürchten müßte, meine Cousine Ramsfeld würde es mir schwer übel nehmen, daß ich ihr nicht gegönnt habe, auch dabei zu sein, wo man sich so um den kranken Vetter verdient macht … ich muß die Cousine –“

Der Rentmeister sah sie mit einem so bitterspöttischen Lächeln an, daß sie sich unterbrach.

„Was lächeln Sie denn so dämonisch, Benning? Was wollen Sie sagen?“

„Lächle ich?“ entgegnete der Rentmeister mit einem vergnügten Augenblinzeln – „dann ist es wohl vor Vergnügen, zu sehen, wie praktisch Sie das Ding angreifen werden, gnädige Frau –“

„Nun, dafür sollten Sie mich kennen!“

„Freilich, freilich! Deshalb komme ich ja auch zuerst zu Ihnen. Jetzt möchte es sich jedoch allerdings empfehlen, auch Frau von Ramsfeld und Herrn Sergius in das Geheimniß zu ziehen – es möchte uns doch verübelt werden, wenn wir die Sache nicht einer allgemeinen Berathung unterzögen; ich habe noch einiges vorzulegen, das wohl der Mühe werth wäre, einem kleinen Familienrath vorgelegt zu werden.“

„Was haben Sie denn noch?“

„Darf ich gehen, Frau von Ramsfeld herüberzubitten?“ fragte Benning, ohne der Generalin eine Antwort zu gönnen.

„Gehen wir Beide zu ihr hinüber, meinethalb!“ versetzte sie und schritt vorauf.

Sie gelangten durch einen Corridor, der die beiden Heerlager trennte, in’s Hauptquartier des Südens. Das Zimmer der Frau von Ramsfeld, welches Fenster nach zwei Seiten hatte, die jetzt durch zugezogene Jalousien verdunkelt waren, zeichnete sich durch große Unordnung aus, durch die merkwürdige, eigensinnige Verwechselung der Möbel zum Ruhen und Sitzen mit solchen, welche zur Aufbewahrung von Wäsche und Kleidungsstücken bestimmt sind.

Dora saß am Fenster und knotete an irgend einer Häkelei, Frau von Ramsfeld aber ruhte auf einer Chaiselongue und – schlief. Sie fuhr ein wenig wild aus ihrer Siesta auf, als nach einem einmaligen raschen Anklopfen die Generalin so nachdrücklich in’s Zimmer gerauscht kam, als ob sie eine kriegerische Occupation vornehme.

„Aber ich bitt’ Sie, Frau Cousine, mich so zu überraschen! Und Sie, Benning, was wollen Sie?“

Die Generalin setzte sich auf den Sessel zu Füßen des Ruhebetts, ohne eine Entschuldigung bei der Lage der Dinge für geboten zu erachten; sie überließ dieselbe Benning, der in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war und nun, indem er mit boshafter Betonung sprach, auch die Frau Generalin aus ihrer Haltung voll entrüsteter Würde aufschreckte.

„Sie müssen schon verzeihen, daß wir Sie stören, gnädige Frau; es geschieht nicht ohne guten Grund … wenn das Haus brennt, macht man mit dem Wecken keine Complimente … das Haus brennt nun zwar nicht, aber der Boden unter Ihren Füßen bekommt eine verdächtige Wärme, meine Gnädige! Da heißt es denn überlegen, was zu thun bei einer Sachlage von so verzweifelt gefährlicher Natur – wirklich – es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich sage: verzweifelt.“

„Aber,“ fuhr hier die Generalin dazwischen, „was reden Sie denn da, Benning? Verzweifelt? Verzweifelt einfach ist denn doch die Geschichte, und was zu thun? Ich habe nie in meinem Leben sicherer gewußt, was zu thun ist.“

„Um was handelt es sich denn?“ fragte Frau von Ramsfeld, indem sie mit großem Eifer ihr wirrgewordenes Scheitelhaar ordnete und glatt strich.

„Es handelt sich darum,“ sagte Benniug, „daß die Pflegerin, welche Doctor Klingholt dem alten Herrn zugeführt hat, Fräulein Horstmar, die ausschließliche legitime Erbin von Dortenbach ist, und daß, wenn sie in dieser Weise, wie sie es gethan, sich einmal hier im Hause eingeführt hat, sie auch wohl entschlossen ist, es nicht wieder zu verlassen – wozu sie denn auch freilich kein Gott zwingen kann.“

Frau von Ramsfeld starrte ihn an, beide Hände, welche plötzlich in ihrer Bewegung wie gelähmt inne gehalten hatten, noch auf dem Scheitel. Die Generalin aber sagte erstaunt: „Benning, schnappen Sie denn über? Sie sprechen ja jetzt, als ob …“

„Ich verrückt wäre? O nein ich weiß sehr gut, was ich sage, meine Gnädige.“

„Die – wie heißt sie? Horstmar?“ rief jetzt Frau von Ramsfeld dazwischen, „ist hier und will uns um die Erbschaft des Vetters bringen? Die Mutter, ehe sie mit ihrem Quacksalber durchgegangen ist, hat ja …“

„Hat ja auf Alles und Jedes verzichtet,“ fiel hier die Generalin ein.

„Allerdings, allerdings!“ rief Frau von Ramsfeld, „ich weiß ja noch von meinen seligen Eltern her, daß dieser bürgerliche Anhang uns nichts mehr angeht.“

„Ihre seligen Eltern, gnädige Frau, haben sich da im Irrthum befunden,“ erwiderte Benning, sich breit in den nächsten Lehnstuhl setzend, von welchem unterdeß Dora hastig ein auf den ersten Anblick unbestimmbares nicht mehr ganz frisches Wäschestück fortgerissen hatte. „Das Fräulein Sabine von Dortenbach hat vor ihrer Verheirathung auf ihre Erbansprüche entsagt. Allerdings! Und hätte unser Herr legitime Descendenz, so wäre ihre Nachkommenschaft ausgeschlossen. Allein da jene fehlt, ist die Tochter der Sabine von Dortenbach die einzige und ausschließliche Erbin – [308] der Verzicht ihrer Mutter ändert darin nicht das Geringste; denn diese konnte höchstens für sich, aber nicht für ihre Kinder verzichten.“

„Aber das ist ja, um Ihnen die Augen auszukratzen, Sie dummer Mensch!“ rief die Generalin zitternd vor Aufregung dazwischen, „das ist nicht möglich – wie wäre uns denn nie, niemals etwas davon gesagt …“

„Vielleicht haben Sie nie einen rechtskundigen Menschen darnach gefragt, gnädige Frau,“ antwortete Benning sarkastisch.

„Aber Sie selbst,“ sagte Frau von Ramsfeld, „Sie selbst haben doch auch …“

„Nun sehen Sie,“ unterbrach er sie mit einem Blick, von dem jede der beiden Damen annehmen konnte, daß er auf sie gerichtet sei, „man glaubt eben, was man wünscht. Ich habe mir immer die Horstmar’schen so ein wenig im Auge gehalten; der Mann war ein Demokrat und grimmiger Adelsfeind – das wußte Jedermann in der Stadt; von seinem Zusammenhang mit den Dortenbach hat ihm nie Jemand reden dürfen; in so feindseliger Gesinnung wird er auch sein Kind erzogen haben, und bei Leuten, welche so denken – was wollen Sie? bei solchen Leuten wiegt man sich in eine falsche Sicherheit, daß sie sich nicht herablassen, sich das Dementi zu geben, das, worauf sie einmal verzichtet haben, nun doch zu fordern.“

„Das wäre ja aber auch eine wahre Schmach – und noch dazu mit einer so ruchlosen, elenden Juristen-Chicane,“ sagte Frau von Ramsfeld.


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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 20, S. 321-324
Novelle – Teil 7

[321] In diesem Augenblicke traten die beiden jungen Herren Sergius und Damian in’s Zimmer – Fräulein Dora war schon vor einer Weile hinausgeschlüpft und hatte sie mit der Nachricht von dem, was sie gehört, bei einem tiefsinnigen Versenktsein in ein geistreiches „Sechsundsechszig“ aufgestört.

Benning ließ sich durch ihre stürmisch vorgebrachten Fragen nicht aus seinem Gedankengange bringen; er fuhr ruhig fort:

„Aber was thut der Mensch nicht, wenn es sich um solche Dinge handelt, wie hier für Fräulein Regine … und dann auch noch solche Leutchen sich hinter sie stellen, wie diese Klingholt, diese Rasse von Biedermännern …“

Hier trat Dora aufhorchend näher heran – sie dachte wohl, daß Einer aus dieser „Rasse“ sicherlich keinen Grund habe, sich hinter Fräulein Regine zu stellen.

„Und,“ setzte Benning hinzu, „wir haben uns eben verrechnet – das Fräulein Regine ist da, und wenn sie da ist, kommt sie natürlich auch, um ihr Recht zu wahren und zu behaupten. Der Doctor hat ihr gesagt: ‚mit dem alten Herrn kann’s zu Ende gehen, und geht’s zu Ende, so kommt alles darauf an, daß Sie da sind, um sofort Besitz zu ergreifen – Sie dürfen sich Niemand in der Besitzergreifung zuvorkommen lassen‘ – darauf legen die Herren Juristen einen ganz erschrecklichen Werth.“

„Gott steh uns bei!“ sagte die Generalin, indem sie ihren Ellenbogen in die linke Hand stemmte, um mit der rechten das spitze Kinn zu stützen. „Gott steh uns bei! Das ist ja zum Tollwerden – rein zum Tollwerden –“

„Um die Kränk’ zu kriegen!“ übersetzte Frau von Ramsfeld dies in’s Süddeutsche.

„Ah bah,“ sagte hier Sergius, der schon lange ein den Nagel auf den Kopf treffendes geniales Wort gesucht hatte, „der Rentmeister will Euch bange machen, Mutter. Wenn da einmal von den Horstmar’schen gültig verzichtet ist, so ist verzichtet –“

„Und das Besitzergreifen könnt’ man ihr schon legen,“ fiel hier mürrisch Damian ein. „Man jagt sie halt fort.“

„Versuchen Sie’s lieber nicht!“ warf der Rentmeister achselzuckend ein.

„Aber was ist denn zu machen, was wäre denn zu versuchen?“ fragte die Generalin. „Sie werden doch einen Rath haben, was geschehen kann?“

Der Rentmeister zuckte wieder mit einer empörenden Ruhe die Schultern.

„Ich sehe nicht ab, was geschehen könnte. Es sei denn,“ setzte er mit einer sehr wenig ehrerbietigen, spöttischen Miene hinzu, „es sei denn, einer der beiden jungen Herren wüßte über das liebenswürdige Fräulein Horstmar so viel Einfluß zu gewinnen, um sie zu bewegen, die Verzichtleistung der Mutter für sich zu wiederholen und zu bestätigen –“

„Dummer Schnack!“ sagte Damian, während Sergius die Augen aufriß und den Rentmeister wie plötzlich traumverloren anstarrte.

„Wenn sie’s wiederholt,“ rief die Generalin aus, „wenn sie die Verzichtleistung bestätigt, dann ist sie gültig?“

„Wenn sie ihr Recht fortgiebt, so hat sie keines mehr – natürlich!“ entgegnete Benning.

„Na, da wär’ uns ja geholfen,“ fuhr die Generalin aus. „so muß sie ihrer Mutter Verzichtleistung bestätigen!“

„Wird sie das?“

„Sie wird, sie muß – man wird keine Umstände mit ihr machen – mit solch einer Person, die sich hier als Krankenpflegerin einschleicht –“

„Solch einer heimtückischen Creatur,“ fiel Frau von Ramsfeld, diesmal wunderbar schnell einer und derselben Meinung mit der Generalin, ein, „die sich unter fremdem Namen vor uns versteckt, um sich dann wie die Herrin im Hause zu betragen – solch einer bürgerlichen Mamsell, die so schlecht ist, auf den Augenblick zu speculiren, wo unser armer Vetter die Augen schließt, um dann … was lachen Sie, Benning?“

„Es geht ja über die Puppen!“ kam die Generalin der Antwort Benning’s auf diese Frage der Frau von Ramsfeld zuvor – „über die Puppen! – Nur muß überlegt werden, wie ihr am besten zu imponiren ist. Wenn Sie einverstanden sind, Frau Cousine, gehen wir Alle insgesammt zu ihr, und Benning begleitet uns – wir erklären ihr energisch, daß sie nach ihrer Mutter Verzichtleistung hier nichts zu suchen hat, daß sie abziehen kann, daß wir vorher nur das alte Actenstück auch von ihr unterzeichnet zu sehen wünschen …“

„Ist die Verzichtleistung der Mutter in Ihrem Besitz?“ fragte Sergius den Rentmeister.

„Die wird im Archiv zu finden sein.“

„Nun wohl, so suchen Sie dieselbe! Noch heute schaffen Sie uns das Schriftstück!“ befahl die Generalin.

Benning nickte nur. Er hatte seine Bedenken bei dieser Art vorzugehen, die von den Damen so hitzig adoptirt wurde, aber er fand es nicht nöthig, sich zu widersetzen, da er leider keinen anderen [322] Rath zu geben wußte. Es war ja auch immerhin möglich, daß solch ein hülfloses, allein stehendes bürgerliches Fräulein sich von so siegestrunkenen adligen Damen imponiren und einschüchtern ließ … mochten sie es versuchen, ihm war es recht. Beim gnädigen Herrn fand sie schwerlich Schutz und Beistand – so viel war sicher … von den Klingholt’s, die ja auch nicht das mindeste Recht hatten, sich hineinzumischen, war keiner zur Hand … und so schwieg er, bis die Generalin ihn anrief:

„Weshalb schweigen Sie denn ganz, Benning? Sind Sie nicht einverstanden … wollen Sie feig aus dem Spiele bleiben?“

„Wenn Sie das Commando übernehmen, Frau Generalin – in Reih und Glied will ich schon eintreten. Ich werde zunächst gehen und im Archiv das nötige Document suchen – vielleicht ist es jedoch nicht gleich auf der Stelle gefunden, und bis dahin, bis wir es in Händen haben und Sie vorgehen können, empfiehlt sich allseitige Vorsicht; wenn Fräulein Horstmar eine Ahnung davon bekäme, welcher Sturm sich über ihrem Haupte sammelt, könnte sie die Flucht ergreifen … oder auch in diesen Klingholt’s sich Hülfstruppen heranziehen, die Ihnen unangenehm würden. Ich möchte also unmaßgeblichst rathen, daß die gnädigen Damen sich mit jeder Aeußerung, welche das Dienstvolk etwa aufgreifen könnte, in Acht nehmen und –“

„Na, das versteht sich,“ fiel die Generalin ein, „meine liebe Cousine wird sich ja auch zusammennehmen können, wenn es durchaus sein muß …“

„Wollen Sie damit etwa andeuten, daß mir das ‚Zusammennehmen‘ schwerer würde als – anderen Leuten?“ antwortete Frau von Ramsfeld erhitzt.

„Herrgott, zankt doch darüber nicht!“ fiel hier Damian ein; „man kann ja die Zugbrücken aufziehen, dann ist der Besorgniß der Flucht ein Ende gemacht – sie kann dann nicht hinaus, und Hülfstruppen für sie können nicht herein …“

„Wie albern, der Einfall!“ murmelte achselzuckend Sergius, aber Frau von Ramsfeld fuhr mit dem Ausruf dazwischen:

„Albern ist das gar nicht; im Gegentheil, es wird dieser kleinen Mamsell ganz gehörig imponiren …“

„Als ob es dazu solcher Anstrengungen bedürfte!“ sagte verachtungsvoll die Generalin.

Sergius aber, der einen Moment mit einem eigenthümlich leeren Blick seine Mutter anstarrte, sprang jetzt plötzlich auf, als ob irgend eine im Mechanismus seines Innern aufschnellende Feder ihn belebe.

„Es ist wahr, Damian hat Recht; es ist nebenbei ein hübscher Sport – die Zugbrücken auf!“ rief er, „das wollen wir besorgen – wie, Damian?“

„Famos feudal!“ lachte Damian.

„Aber,“ sagte hier schüchtern und wie erschrocken Dora, die bisher sich ruhig zuhörend verhalten, „aber dann kann ja auch Niemand von uns weder hinaus noch herein.“

„Ist auch nicht nöthig,“ fiel Sergius eifrig ein, „wenn Sie einen Abendspaziergang im Mondschein vorhatten, Cousine, so müssen Sie darauf verzichten.“

„Wir haben jetzt gar keinen Mondschein,“ entgegnete, die Lippen aufwerfend, Dora, „woher sollte jetzt Mondschein kommen?“

In der That, Dora wußte das sehr genau – Mondschein hatten die letzten Abende nicht mehr gebracht – so wenig wie Nachtigallenschlag!




11.

Es war Nacht geworden. Der alte Herr hatte sich mit Andreas’ Hülfe zu Bett begeben und noch lange über seinen Adoptionsplan, der eine so wunderliche und ihm ganz unerklärbare Aufnahme gefunden, nachgesonnen; dann war ihm störend die nebelhafte Gestalt des Kaisers Heinrich des Vierten dazwischen getreten, und Fräulein Bertram hatte als Mathilde von Tuscien sich aus dem Söller von Canossa vorgebeugt, um in den Burghof niederzuschauen, wo eben der büßende Kaiser sich müde an die Wand lehnte und – langsam einschlief. Er war auch eingeschlafen, der alte Herr.

Mit desto wacheren Sinnen weilte Regine in ihrem Zimmer. Sie dachte nicht an Ruhe; rastlos wandelte sie in dem ihr zum Wohnzimmer dienenden ehemaligen Spielcabinet hin und her; die Kerzen auf den alterthümlichen Porcellanleuchtern, welche zwischen den japanischen Kistchen und Schachfiguren auf dem Kaminsims standen, brannten noch immer an dieser Stelle vor dem hohen Spiegel, und in diesem tauchte von Zeit zu Zeit immer wieder das bleiche Bild des ruhelosen jungen Mädchens auf.

Sie kam sich jetzt in der still und stiller werdenden Nacht, in ihrer einsamen Verlassenheit, wie ein innerlich gebrochenes Wesen vor. Es war ihr, als ob alle die Energie, all der elastische Lebensmuth, deren sie sich bisher mit einem gewissen frohen und stolzen Selbstgefühl bewußt gewesen, dahin sei – kraftlos, morsch und in verglimmende Asche aus einander gefallen, wie die Asche eines Strohfeuers. Ihr Leben schien ihr zu Ende mit diesem schweren Schlage, mit der bitteren Erkenntniß, die heute über sie gekommen – und dazu hätte sie verzweifeln, sie hätte vor zorniger Verzweiflung aufschreien mögen, daß sie so empfinden, daß sie sich diese Empfindung mit klarster Bestimmtheit aussprechen mußte. War es denn wirklich so entsetzlich, unerhört und vernichtend, was sie erlebt? War es nicht das Loos von Tausenden von Frauen, daß ihnen Liebe gelogen wird um ihres Vermögens willen? War es nicht ein Glück, daß sie früh genug zur Erkenntniß gekommen, um frei zu bleiben? Und war es nicht verächtlich, die Demüthigung ihrer Eitelkeit, welche in dieser Entdeckung lag – freilich eine gallenbittere Demüthigung – nicht mit dem ganz wenigen Seelenstolz, der dazu gehörte, verwinden zu können? Was machte sie so grenzenlos unglücklich, was vernichtete ihr so den Lebensmuth und das Leben, was zerbrach ihr so das Herz in der Brust? Die Entdeckung, daß er, daß der Mann, den sie über alle Männer in der Welt gestellt, schlecht, gemein wie alle, daß Keinem, keinem Einzigen mehr Treu und Glauben zu schenken sei?

Nein, das war es nicht, das nicht allein! Was sie innerlich zerbrach, war die unglückselige Macht einer Leidenschaft, welche sie selber bisher in sich nicht gekannt, welche wie eine dämonische Offenbarung ihr aufging in dem Augenblicke, wo sie den Gegenstand derselben verloren – es war die Ueberzeugung, daß sie diesen doch nie, niemals werde mit ihren Gedanken verlassen, ihn nie werde vergessen und aus ihrem Lebensbuche streichen können, daß sie rettungslos, hoffnungslos sich selber verloren sei – daß ihr für immer die Zukunft vergiftet und verdorben sein werde.

Diese Leidenschaft, das Bewußtsein dieser dämonischen Macht, gegen die keine Empörung der Vernunft fruchtete, und des inneren Elends, welchem sie damit auf immer verfallen, war es, was Regine hätte Rufe zornigen Schmerzes ausstoßen lassen mögen in der lautlosen Stille, welche sie umfing.

Wie lange sie so, von Zeit zu Zeit ihre Hände ringend, dann wieder stehen bleibend, um diese heißen Hände an ihre Schläfen, auf ihre Stirn zu drücken, auf- und abgegangen – sie wußte es nicht. Sie trat jetzt an das Fenster, um die fiebernde Stirn an die kühlen Scheiben zu drücken und zu den Sternen aufzublicken, zu denen seit Jahrtausenden so viele arme verzweifelnde Menschenkinder fragend aufgeblickt haben, ohne daß die Sterne eine Antwort gaben.

Als dadurch das Geräusch ihrer eigenen Schritte verstummt war, vernahm sie andere wie langsam auf- und abwandelnde. Ueberrascht horchte sie auf. In der That, in dem Raume vor ihrem Gemache, in dem großen melancholischen Saal war es. Und schwere langsam hin- und widergehende Männerschritte ließen sich dort deutlich vernehmen. Es war seltsam – wer konnte um diese Stunde in dem Raume, der am Tage nur selten durchschritten wurde, umher gehen? War es Andreas? Oder gab es Gespenster auf Dortenbach?

Beunruhigt lauschte Regine eine Weile – dann, als das Geräusch sich gleichmäßig fortsetzte, ergriff sie einen der Leuchter auf dem Kaminsimse und schritt der Thür, die in den Saal führte, zu, um diese zu öffnen und hinaus zu leuchten.

Als sie auf die Schwelle trat, sah sie eine Männergestalt, die, sich wendend, in diesem Augenblicke ihr das Gesicht zukehrte. Auf dem Tische in der Mitte des Saales brannte ein Wachslicht in einem silbernen Handleuchter, aber es erhellte den großen Raum nur so unvollkommen und dämmernd, daß es des Lichts der von Regine jetzt hochgehobenen Kerze bedurfte, um sie erkennen zu lassen, wer es war, der sich so rasch ihr zugewandt hatte und jetzt auf sie zuschritt.

Es war Sergius von Sander.

„Verzeihen Sie, Fräulein Regine!“ sagte er mit ängstlich beklommener Stimme, „ich fürchte, mein Erscheinen erschreckt [323] Sie – es ist so spät – ich hatte auch deshalb nicht den Muth, bei Ihnen einzudringen; da ich Sie auf- und abgehen hörte, dachte ich, Sie würden mich, wenn ich hier auch auf- und abginge, schon hören und dann herauskommen –“

„Aber ich bitte Sie, Herr von Sander,“ fiel ihm Regine erstaunt in’s Wort, „was wollen Sie denn? Was wollen Sie in aller Welt hier um diese Stunde?“

„Ihnen eine Mittheilung machen – etwas ganz Unaufschiebbares – ganz Dringendes Ihnen sagen –“

„Mir? Jetzt?“

„Ihnen und jetzt, ehe noch der Morgen da ist –“

„Vorausgesetzt, daß ich Ihre unaufschiebbaren Mittheilungen anhören will.“

„Sie werden sie anhören! Sie trauen mir nicht zu, daß ich eine solche Stunde gewählt hätte, Ihnen Eröffnungen zu machen, hätte ich nicht die allerdringendsten Gründe.“

Regine sah ihn zweifelnd an, dann sagte sie:

„Nun, dann sprechen Sie rasch! Was ist es?“

„Rasch? Es wird so rasch nicht gehen, denn was ich Ihnen zu sagen habe, ist etwas – etwas sehr Wichtiges, Entscheidendes – vielleicht für unser Leben, unser Beider Leben, Entscheidendes –“

Regine trat erschrocken einen Schritt zurück.

Was sagte er, dieser Sergius? Hatte sie recht gehört? Der Leuchter in ihrer Hand zitterte so, daß sie ihn auf den Tisch neben den andern stellen mußte, aber sie zwang sich, einen festen, fast herausfordernden Ton in ihre Stimme zu legen, als sie antwortete:

„Wenn Sie nicht mit wenig Worten sagen, was Sie wollen, werde ich gehen und Sie hier stehen lassen.“

„Wie ungnädig Sie sind, Fräulein – Cousine,“ antwortete Sergius mit einem halb herablassenden, halb verlegenen Lächeln. „Nun denn mit wenig Worten: ich weiß, daß Sie nicht Regine Bertram heißen, sondern –“

„Ach,“ fiel ihm Regine auf’s Aeußerste erschrocken in’s Wort, „das wissen Sie, Sie?“

Sergius nickte überlegen lächelnd. Der zornige Schrecken, mit dem Regine das ausgerufen, gab ihm seinen ganzen Muth wieder. Daß Benning sich nicht getäuscht, sah er ja!

„Ich weiß es nicht erst seit heute, Cousine, wie die Andern; nein …“

„Also – die Andern – Ihre Verwandten,“ fiel in höchster Bitterkeit Regine ein, „wissen es ebenfalls bereits? Nun, ich sah es ja voraus; es war das, was unvermeidlich kommen mußte.“

„Seit heute wissen sie es,“ fuhr Sergius fort, „ich wußte es früher; mir sagte es ein Etwas, ein innerer Sinn schon früher; mir sagte es mein Herz, nachdem ich Sie gesehen, nachdem ich den Klang Ihrer Stimme gehört; ich sah den Adel auf Ihre Stirn geschrieben, sah den Adel aus Ihren Augen leuchten – Cousine; Sie können nicht anders, Sie müssen es wahrgenommen haben, welchen Eindruck Ihre Erscheinung auf mich gemacht hat, in welchem Bann Sie mich befangen gehalten, wenn Sie auch nicht wissen und nicht ahnen können, wie leidenschaftlicher Art die Gefühle sind, welche mich zu Ihnen ziehen.“

Regine hatte ihn angestarrt; sie hatte dann nach ihrem Leuchter gegriffen, um Sergius den Rücken zu wenden – aber es war doch zu ungeheuerlich, zu verwegen, was dieser Mensch ihr gegenüber – in dieser Stunde – wagte; sie suchte nach einem zerschmetternden Worte, um ihn fühlen zu lassen, wie empört sie war. Unterdeß hatte er, den Arm ausstreckend, um den Leuchter aus ihrem Bereich zu schieben und ihr Forteilen zu verhindern, schon weiter gesprochen:

„Sie zürnen mir, Cousine, und haben Recht, mir zu zürnen, daß ich Sie mit meiner Erklärung in dieser Weise erschrecke – aber ich durfte diese nicht aufschieben; ich war es Ihrer Sicherheit schuldig, so zu Ihnen zu sprechen und Ihnen den Weg der Rettung zu öffnen; denn Ihre Sicherheit hier ist auf’s Aeußerste bedroht; man hat sich verbündet, Sie zu überfallen, und so lange zu bedrängen, zu mißhandeln, wenn es sein muß, bis Sie den Verzicht Ihrer Mutter auf Ihre Erbrechte unterschreiben, wiederholen und auf diese Weise für immer zu entsagen schwören. Schon hat man dafür gesorgt, daß Sie sich dem nicht durch die Flucht entziehen können.“

„Ach,“ fiel hier Regine tief aufathmend ein, „man hat wohl deshalb die Zugbrücken … nein, es ist unglaublich, es ist – es wäre entsetzlich, abscheulich, wenn es nicht,“ setzte sie mit einem gezwungenen Auflachen unsäglichster Verachtung hinzu, „wenn es nicht so gründlich wahnwitzig, wenn es nicht so komisch wäre …“

„Komisch nennen Sie es? Glauben Sie mir, Sie sind im bittersten Ernste dem Aeußersten und Unerhörtesten ausgesetzt, und es giebt nur einen Weg für Sie, für uns, ihm vorzubeugen. Geben Sie mir eine Hoffnung, Cousine, ein gütiges Wort, welches mir die Erhörung meiner Leidenschaft für Sie verheißt – ich bin zufrieden mit einem einzigen gütigen, freundlichen Wort – und ich schwöre es Ihnen, kein Haar Ihres Hauptes soll Ihnen gekrümmt werden, kein beleidigender Blick nur sich zu Ihnen erheben – keine Stimme laut werden, die in Ihnen nicht die Herrin von Dortenbach verehrte.“

„Und Sie glauben – ich – ich wollte die Herrin von Dortenbach werden – um es mit meiner Hand Ihnen – um es Ihnen zu übertragen?“ rief Regine mit demselben harten Auflachen aus.

Sie hatte dem Absurden und Lächerlichen von Sergius’ Unterfangen gegenüber ihre ganze Sicherheit und ihren vollen Muth wieder gefunden, und sich kurz abwendend, ging sie dem Klingelzuge neben der Eingangsthür zu.

„Was wollen Sie thun?“ rief Sergius erschrocken, indem er von der andern Seite um den Tisch herumflog, ihr in den Weg zu treten.

„Ich will dem Bedienten läuten, damit er Ihnen leuchtet, Herr von Sander,“ versetzte sie ironisch.

„Sie werden das nicht thun – Sie werden nicht!“ rief er den Arm ausstreckend, „um’s Himmels willen nicht! Es darf Niemand ahnen –“

„Daß Sie so Ihren eigenen Kriegsplan – hinter der ‚Anderen‘ Rücken gemacht – ich kann mir’s denken, aber ich will nun einmal Andreas zu meiner Sicherheit hier haben – berühren Sie mich nicht, Herr von Sander, oder –“

Sergius hatte dennoch ihren Arm ergriffen, um sie zurückzuhalten, während er außer sich rief:

„Aber, mein Gott, so hören Sie doch – hab’ ich Ihnen denn nicht Alles gesagt? Haben Sie denn gar kein Herz, um eine Sprache zu verstehen –?“

Regine war kräftig genug, um sich frei zu machen, und nun auf’s heftigste an dem Klingelzuge zu reißen. Sergius stieß einen Fluch aus.

„Nun, so komme, was folgt, über Sie! Nun sind Sie verloren, weil Sie’s nicht anders wollen.“

Damit ergriff er hastig seinen Leuchter und stürzte davon; in der sich eben rasch öffnenden Flügelthür prallte er auf Andreas, der herbeigeeilt kam.

Dieser schaute ihm in höchster Bestürzung nach, wie er in der Dunkelheit des Corridors verschwand.

„Um Gottes willen, Fräulein Bertram,“ rief Andreas, die Nachtmütze von seinem weißen Mähnenhaar reißend, „was ist denn geschehen – was geht hier vor?“

„Es gehen sehr unwürdige Dinge vor – hier auf Dortenbach, Andreas. Aber mir geschieht Recht – weshalb bin ich hierher gekommen – hierher, wohin ich nicht gehörte, wohin ich niemals in meinem Leben den Fuß setzen wollte?! Das ist die Strafe – die verdiente Strafe. Sehen Sie zu, ob das Schloß meiner Thür sich wohl versichern läßt und zuverlässig schließt!“

Andreas sah sie höchst verwundert an, und als sie selbst sich der Thür, die zu ihrem Zimmer führte, zuwendete, folgte er ihr und untersuchte das Schloß.

„Das Schloß ist sicher – auch ein Riegel daruner angebracht,“ sagte er dann, und mit seinem halb verwunderten, halb kummervollen Gesichte zu ihr aufblickend, setzte er hinzu: „Wie bleich und verstört Sie aussehen, Fräulein Bertram!“

„Thut Fräulein Bertram das?“ erwiderte sie bitter auflachend. „Gehen Sie jetzt, Andreas! Ich hoffe, ich kann mich wenigstens auf Sie so weit verlassen, daß Sie sich meiner Sicherheit in dieser Nacht und bis ich abreisen kann, annehmen – kann ich das?“

Andreas schüttelte voll Erstaunen den Kopf.

„Abreisen?! – Aber, Fräulein, Sie werden doch nicht …“

„Es ist gut, gut – gehen Sie jetzt nur!“

Sie wandte sich von ihm, trat in ihr Wohnzimmer und schloß es ab.

Andreas stülpte sich die Schlafmütze wieder über den jetzt [324] ganz wirr gewordenen Kopf und suchte in hülfloser Bestürzung seine nahe gelegene Kammer auf.

„So mußte es kommen,“ sagte sich unterdeß Regine in ihrem Wohnzimmer wieder allein. „Diese thörichten Menschen! Spielen vielleicht auch sie eine Rolle im Plane der Intrigue? Soll, da ich die Adoption so schnöde von der Hand gewiesen, jetzt anders auf mich gewirkt werden? Will man meinen Willen, meinen Oppositionsgeist, meine Widerstandskraft aufstacheln, damit ich mich dagegen empöre, dem Zwange zu gewähren, was ich bisher frei gewollt? Mich widersetze, wo man mit Gewalt droht? Es wäre möglich – wenn es nur nicht so thöricht wäre!“

Regine war außer sich. Wie auf dem Kriegsfuße mit aller Welt fühlte sie sich. Es hatte fast etwas Erleichterndes für sie; der furchtbare Druck, der auf ihr gelastet, der tiefe Seelenschmerz bekam einen Zusatz so zorniger Empörung, daß ein gut Theil davon unterging in der unbeugsamsten Entschlossenheit.

Sie wollte gehen – fort von Dortenbach, das sie nie hätte betreten dürfen – die Menschen, unter welche sie hier gerathen, zeigten ihr ja, wie Recht sie gehabt, es nie betreten zu wollen; sie wollte fort, sobald sie vermochte – am morgigen Tage.

Und Leonhard? Leonhard wollte sie nie in ihrem Leben wiedersehen.




12.

Regine hatte die Nacht schlaflos zugebracht. Erst gegen Morgen war sie in einen unruhigen Schlummer verfallen, der, als die Sonne emporgestiegen, tiefer und fester geworden, sodaß sie erst sehr spät erwachte. Sie blickte durch’s Fenster in einen grau verhangenen Nebeltag – der Wind, der die nahen Tannen leise bog, schien zu ohnmächtig, die trübe Blässe von den Wangen der Natur zu scheuchen – er konnte wie guter Wille, der helfen möchte wider allgemeine Trübsal, nichts, als einzelnes nur noch mehr plagen.

Regine war mit ihren ersten erwachenden Gedanken sich ihres Entschlusses bewußt. Als sie sich angekleidet hatte, begann sie sofort ihre Vorbereitungen zur Abreise. Dabei wuchs ihre Erregung so, daß sie von Zeit zu Zeit sich setzen mußte, um dem Andrang ihrer Gedanken nachzugeben, den Sturm sich beschwichtigen zu lassen, der in ihrem Innern tobte. Sie setzte sich dann an’s Fenster und starrte hinaus, starrte – sie wußte nicht auf was, noch wie lange. So entfloh die Zeit. Sie vernahm ein lautes Pochen an der Thür des vorderen Raumes, ihres Wohnzimmers. Sie ging, zu öffnen.

Es war Andreas, der besorgt eintrat.

„Fräulein Bertram, ich war besorgt um Sie,“ sagte er. „Sie erscheinen gar nicht, obwohl der Morgen vorgerückt ist. … Ich habe Ihr Frühstück längst auf den Tisch im Saale gestellt. Aber Sie haben gewiß nicht gehört, daß ich dabei anpochte. Jetzt, wo ich es wegräumen will, seh’ ich, daß es ganz kalt geworden. Soll ich frisches bestellen?“

„Lassen Sie das, Andreas! Auch das kalte genügt mir. Und – ich will, wenn ich etwas zu mir genommen, abreisen, Andreas –“

„Sie wollen abreisen – wollen wirklich gehen – für immer?! Unmöglich!“

„Ich will fort – noch am Vormittage, Andreas. Ich habe gepackt und bin entschlossen. Sie werden mir einen Wagen besorgen – sobald wie möglich! Einen Wagen bis zur nächsten Station der Eisenbahn.“

Andreas schlug die Hände zusammen.

„Das jagt mir einen Schrecken in die Glieder – ich kann es Ihnen gar nicht sagen: wie! Meinem alten Herrn melde ich das nicht. Das thu ich ihm nicht an. Dazu bringen mich nicht vier Pferde. Denn das müssen Sie wissen – die Alteration, die er davon haben wird –“

„Ich verlange nicht, daß Sie es ihm sagen, Andreas,“ unterbrach ihn Regine. „Ich werde ihm selber sagen, weshalb ich gehe. Besorgen Sie mir eiligst den Wagen! Sobald wie möglich!“

Andreas sah sie noch einen Augenblick mit einem Ausdruck rührenden Flehens an; dann schlich er gedrückt und in seinen Bart murmelnd davon.

„Treue, alte Seele!“ flüsterte Regine vor sich hin, „der beste Mensch in diesem Hause ist der niedrigste, der Lakai.“

Sie trat in den Saal und setzte sich, um ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen, aber kaum hatte sie damit geendet, als behutsam die Flügelthür vom Corridor her geöffnet wurde.

Es war Dora’s Kopf, der ein wenig ängstlich, ein wenig bleich hereinschaute und dem mit schüchterner Langsamkeit Dora’s schlanke kleine Gestalt folgte.

„Fräulein Regine – Fräulein Cousine …“ sagte sie furchtsam aufathmend, „darf ich? Ich möchte Ihnen so gern, so sehr gern einige Worte sagen.“

„Sie, Fräulein Dora … mir?“

„Ja, sehen Sie, Fräulein Regine; es hängt so viel, so grausam viel von … von meinem ganzen Lebensglück davon ab …“

„Daß Sie mir einige Worte sagen? So kommen Sie mit mir in mein Zimmer!“

Sie ging vorauf; Dora folgte ihr.


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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 21, S. 354-356
Novelle – Teil 8

[354] „Setzen Sie sich da an’s Fenster, Dora,“ sagte Regine, „und dann reden Sie! Ich höre!“

„Sehen Sie, Fräulein Regine,“ hub Dora, abwechselnd bleich und roth werdend und zu Regine, die vor ihr stehen geblieben, schüchtern aufblickend, an, „sehen Sie, da Sie nun unsere Cousine Regine Horstmar sind – nicht wahr, Sie sind es?“

„So ist es – ich bin Regine Horstmar. Und nun?“

„So sind Sie auch die Erbin hier und werden am Ende doch wohl Alles erhalten – ich bin nur ein dummes Ding, aber was die Mutter und was die Generalin reden, daß man Sie schon zwingen werde, und was auch Damian und Sergius meinen, das will mir nicht einleuchten; denn wenn man Sie gezwungen hat …“

„Also man glaubt mich wirklich zwingen zu können?“ fiel Regine bitter ein. „Wie will man das anfangen? Mich schlagen, einsperren, hungern lassen, mit dem Tode bedrohen? Das Alles ist ja so aberwitzig …“

„Ich weiß nicht,“ unterbrach Dora sie, „ich bin nur ganz voll Schrecken von all den bösen Dingen, die man wider Sie vorhat. Aber sehen Sie, ich fürchte, es hilft uns das Alles am Ende doch nichts, denn hernach sagen Sie: man hat mich mit Gewalt gezwungen, und dann …“

„Dann gilt es nichts,“ sagte Regine mit bitterem Spott. „Nein, dann gilt es nichts; wie klug Sie sind, Dora, noch ein wenig klüger als der ganze Kriegsrath, den man, scheint es, bei Ihnen drüben gehalten hat! Aber beruhigen Sie sich. Man wird mich nicht zwingen …“

„O, glauben Sie das nicht, und –“

„Weil man mich gar nicht zu zwingen brauchen wird. Ich will von der ganzen Erbschaftsgeschichte, von der ganzen Verwandtschaft nichts wissen, nichts hören, will Dortenbach niemals wiedersehen –“

Dora sah sie sehr überrascht an. Dann schüttelte sie mit einem schlauen Lächeln den Kopf.

„Glauben Sie mir nicht?“ fragte Regine.

„Nein,“ antwortete Dora mit Bestimmtheit. „Wer wird Ihnen das glauben? Kein Mensch! Auf so etwas verzichtet man nicht. Weshalb wären Sie denn sonst hierher gekommen? Und weshalb wollen Sie denn jetzt augenblicklich abreisen? Wenn Sie wirklich nichts verlangten, thäte Ihnen ja Niemand etwas hier, im Gegentheil –“

[355] „Aber wie würde ich es denn sonst sagen?“

„O, Sie sagen es – freilich – Sie sagen es, damit man Sie in Ruhe läßt, und weil Sergius Ihnen wohl schon verrathen hat, was man gegen Sie beabsichtigt – nun sagen Sie es, in der Angst davor –“

„Was wissen Sie von Sergius? Sie wissen, daß er –“

„Mein Gott, die Fräulein Diering hat es ja schon in der Frühe unserer Jungfer erzählt. Sergius ist ganz spät – in der Nacht – bei Ihnen gewesen. Und wozu kann er bei Ihnen gewesen sein? Er ist verliebt in Sie – das haben wir längst gemerkt. Und nun hat er gedacht, es wäre ein genialer Streich von ihm, wenn er allein zu Ihnen ginge, wenn er Ihnen verriethe, was beschlossen worden, und wenn er Sie ganz allein für sich einfinge – dann hätte er Dortenbach und Alles und wir nichts! Damian schäumte vor Wuth, als er es hörte. Es ist nur gut, daß Sie Sergius die Thür gewiesen haben; Sie haben so Andreas zu Ihrem Schutze herbeigeklingelt – nicht wahr, Sie haben es?“

„Ein Verrath an dem schönen Familiencomplot, welches die Ihrigen abgekartet haben, scheint es allerdings, Fräulein Dora, was Sergius zu mir führte,“ sagte Regine mit steigender Bitterkeit, „aber Sie kommen ja nun auch heimlich, sicherlich ohne der Ihrigen Wissen zu mir. Wozu? Wollen Sie für die Ramsfeld die Partie gleich machen?“

„O nein, o nein, daran habe ich ja mit keiner Silbe gedacht,“ entgegnete das junge Mädchen lebhaft; „aber sehen Sie, da nun Sergius einmal das ganze Vorhaben verrathen hatte, wurde mir immer beklommener; es wurde mir immer mehr zu Muthe, als ob nun Alles verloren sei, als ob Sie, so gewarnt, nun sich schon vorsehen würden, und dann, dann ist ja für uns Alles verloren, die ganze Erbschaft – wir haben dann nichts, gar nichts zu erwarten; Herr Benning hat es uns gesagt und Alles aus einander gesetzt, und dann bin ich arm, und es wird ein so schreckliches Unglück für mich sein – mein ganzes Lebensglück ist dahin, dahin für immer; ich weiß nicht, was wir dann beginnen, wo wir bleiben sollen …“

„Die Mutter und Sie?“

Dora war in Thränen ausgebrochen.

„Die Mutter und ich …“ schluchzte sie, „ja, auch die Mutter, aber dann auch …“

Dora schluchzte so heftig, daß sie nicht weiter reden konnte.

Regine legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Trösten Sie sich, Dora!“ sagte sie, ohne daß ihre Stimme durch den Anblick dieses Kummers sehr erweicht gewesen wäre. „Ich weiß, was Sie sagen wollen, was Ihnen schwer wird, über die Lippen zu bringen. Und Sie haben Recht, zu stocken, es mir nicht zu sagen. Sprechen Sie kein Wort weiter, Dora! Es wäre unnütz wie Ihr ganzer Kummer – wie all Ihre Sorge. Sie wollen meine Theilnahme erwecken, wollen mein Versprechen, daß ich, wenn ich die Erbin von Dortenbach geworden, Ihnen einen Ersatz für Ihre verlorenen Hoffnungen gewähre, genug, um Ihnen eine Verbindung mit Edwin Klingholt, in der Sie Ihr Lebensglück sehen, zu ermöglichen … Ist es nicht so? Ist es nicht das, weshalb Sie kamen?“

Dora nickte heftig mit dem Kopfe.

„Nun wohl, so können Sie getröstet von mir gehen. Ich habe Ihnen meine Antwort ja bereits gegeben. Sie glauben nicht an den Ernst meines Entschlusses. Das bedauere ich, es ändert aber nichts daran. Sie können alles, was ich Ihnen gesagt habe, auch den Ihrigen mittheilen und hinzufügen, daß ich alle directen Verhandlungen mit ihnen zu vermeiden wünsche. Sagen Sie ihnen das recht nachdrücklich – wollen Sie es thun? Sagen Sie ihnen, daß es derselben wirklich nicht bedarf – aber freilich, Sie werden ja nicht eingestehen wollen, daß Sie bei mir waren – nun, dann gehen Sie jetzt, Dora – ich will auch gehen …“

In diesem Augenblick klopfte es leise an die Thür, Regine öffnete und blickte in Andreas’ runzelvolles, bekümmertes Gesicht.

„Fräulein,“ sagte er, „ich habe mit dem Kutscher gesprochen …“

„Nun?“

„Ich habe ihm gesagt, daß Sie sogleich den Wagen verlangten, daß er Sie zur Eisenbahn zu fahren habe. Aber er will nicht.“

„Er will nicht?“

„Nein, er weigert sich. Sie bekämen weder Wagen noch Pferde. Der Herr von Sander und der Herr von Ramsfeld hätten es ihm schon gestern Abend verboten, für Sie einzuspannen. Er thäte es nun einmal nicht.“

Regine gerieth bei dieser Meldung in die äußerste Entrüstung. Also man wollte sie wirklich als eine Gefangene hier zurückhalten! Und diese Verwandten erlaubten sich das hier im Hause, wo sie doch nur die Gäste waren – es war zu empörend, zu frech – in hellem Zorn sagte sie:

„Dann will ich sehen, ob wirklich in diesem Hause kein andrer Herr mehr ist, als – Sergius oder Damian! Ich will sehen, ob ich bei meinem Oheim Schutz dawider finde oder nicht – ich bin arglos, vertrauensvoll in sein Haus gekommen, und er wird, er soll die Kraft haben, mir wenigstens den Ausgang zu bahnen.“

Damit verließ sie raschen zornigen Schrittes das Zimmer und eilte durch den Saal in die Wohnung des Barons. Sie hatte ja auch jetzt nichts mehr zu schonen. Seit Leonhard sie dem Oheim verrathen, seit beide den Adoptionsplan geschmiedet – was war da noch zu verhüllen? Sie trat in ihrer Erregung ohne anzuklopfen in das Zimmer des Barons.

Er saß in seinem Schlafrock bequem in den Lehnstuhl zurückgelehnt, sein Buch, „die Gänge nach Canossa“, auf den Knieen, das ihm aus der Hand gesunken zu sein schien.

„Ah,“ sagte er, bei Reginens raschem Eintritt nervös zusammenfahrend. „Sie erschrecken mich, Kind – welcher Sturm weht Sie herein?“

„Ich bedauere, daß ich Ihnen einen Sturm bringen muß,“ antwortete sie, „ich kann Sie leider damit nicht verschonen. Um es kurz zu machen: seit Ihnen der Doctor Klingholt so abscheulich wortbrüchig verrathen hat, wer ich bin, seit nun Jedermann hier im Hause dies weiß, seit man mich mit Gewalthandlungen bedroht – mit lächerlichen albernen Gewalthandlungen, kann ich länger – keinen Augenblick länger bleiben. Ich will fort, natürlich fort – auf der Stelle, um nie zurückzukehren; ich werde ewig bereuen, daß ich so thöricht war …“

„Aber um Gottes und aller Heiligen willen,“ rief der Baron schreckensbleich geworden und seine beiden zitternden Hände erhebend, „was sagen Sie mir da? Mich trifft der Schlag – und ich verstehe doch keine Silbe von alledem.“

„Sie verstehen doch, daß ich fort will, und nun will man mich nicht fortlassen; man will mich als eine Gefangene behandeln – und deshalb komme ich zu Ihnen – Sie werden, und wenn ich auch tausendmal Ihre Verwandte, Ihre Nichte bin, nicht vergessen, daß Sie mir vor Allem Schutz für meine persönliche Freiheit schuldig sind; so viel Energie und Kraft werden Sie besitzen, so viel ritterliche Ehrenhaftigkeit, um dafür zu sorgen, daß ich kommen und gehen darf, wohin ich will.“

Der alte Herr hatte sie angestarrt wie ein Gespenst; er mußte nach Athem ringen; er klammerte seine Hände krampfhaft um die Arme des Sessels.

„Dies ist mein Tod,“ sagte er mit hin- und herwankendem Kopf. „Dies ist mein Tod. Wenn ich nur etwas davon verstände! Wenn ich nur verstände, wie Sie meine Verwandte, meine Nichte sein können, und wer, was Sie dann forttreibt? Doctor Klingholt? Gewalthandlungen? Drohungen?“

„Nun ja, nun ja! Die Gewalthandlungen, die Drohungen würden mich nicht vertreiben; denn ich verachte sie, aber Sie müssen doch selbst begreifen, daß ich jetzt, wo Klingholt mich Ihnen verrathen und Sie zum Werkzeuge seiner Absichten gemacht hat –“

„Immer räthselhafter, immer räthselhafter!“ sagte mit seinem vor Rathlosigkeit schwankenden Kopfe der alte Herr. Er bot ein wahres Jammerbild dar, wie er so dasaß und, Schrecken in jeder seiner Mienen, sie anstarrte.

„Was kann Ihnen denn dabei rätselhaft sein?“ eiferte Regine weiter, ohne sich dadurch irgend erweichen zu lassen. „Leonhard Klingholt hat Ihnen gesagt, daß ich Ihre Nichte Regine Horstmar bin, er hat Ihnen aber auch gesagt, daß ich nichts wissen, nichts hören will weder von dieser Verwandtschaft mit Ihrem Hause, noch von Rechten, die sie mir geben könnte. Und nun hat er Sie bewogen –“

„Mein Kind, mein Kind!“ rief hier der alte Herr in heller Verzweiflung und schlug, als ob er sich dadurch eine Erleichterung verschaffen könnte, die Hände mehrmals auf die Knäufe seiner Sesselarme, [356] um sie dann wieder in tiefster Wehmuth zu falten; „mein Kind, dies überwältigt, dies überwältigt mich vollständig … Du also, Du bist meiner Schwester Sabine Kind – meiner armen Schwester Sabine – und Du bist zu mir gekommen, um mir dies zu sagen, sodaß ich den Tod vor Alteration und Schrecken davon habe … daß ich nicht weiß, wo aus noch ein bei allem Dem, womit Du auf mich einfährst –“

„Aber Sie wissen es ja doch nun einmal …“ unterbrach sie ihn mitleidig.

„Wissen? Ich wissen? Woher sollt’ ich? Deine Eltern – Gott weiß, daß ich meine Schwester Sabine lieb gehabt – aber Deine Eltern hatten solch einen Haß auf uns geworfen – ich habe es ja auch einmal versucht, sie zu versöhnen – vor langen Jahren – ich schrieb Deiner Mutter – damals, als ich nach meines älteren Bruders Tod der Erbe von Dortenbach geworden und mich vermählt hatte – ich meldete es ihr; ich schrieb ihr, daß ich den innigsten Wunsch hätte, ihr die Bruderhand zu reichen, aber sie antwortete darauf nicht; sie nicht – Dein Vater that es – er schrieb, das Tischtuch zwischen uns sei nun einmal zerschnitten – Alles, was aus Dortenbach komme, könne seiner Gattin nur bittere Empfindungen bereiten; er wünsche sie damit verschont zu sehen; gegenseitigen Beziehungen sei schon damals, als Deine Mutter ihr Vaterhaus verlassen, so gründlich ein Ende gemacht worden, daß ihre Wiederbelebung für alle Zukunft unmöglich sei. Das ist das Letzte gewesen, was ich von Deiner Mutter gehört habe. Und nun stehst Du da vor mir – ihr Kind, ihre Tochter – o mein Gott, ich habe das ja gefühlt, geahnt; Du bist mir so lieb geworden in wenig Tagen, so lieb, und es würde mir das Leben verlängern, wenn Du – aber Du kommst nur, um mir zu sagen, daß Du gehen willst; Du kommst wie ein Sturm, der einen morschen Baum niederwirft – Gott stehe mir bei!“

Der alte Herr hatte mit Mühe gesprochen; jetzt, wie in sich zusammensinkend, seufzte er tief, tief auf, und auf den Boden starrend, setzte er flüsternd hinzu:

„Ihr Kind – ihre Tochter – Sabinens Kind – aber auch so hart, so unbeugsam, so fest wie sie! Ihr Blut, Sabinens Blut!“

Reginens Zorn war geschwunden. Es war nicht allein der Anblick des klagenden alten Mannes, des Mannes, der ihr nächster Verwandter auf Erden war, – nein, was sie erweicht hatte, war auch die Einsicht, daß sie in vorschnellem Urtheile Leonhard ein großes Unrecht gethan. Es war klar, das Geheimniß, welches er ihr gelobt, hatte er nicht verrathen – er nicht! Ihr Oheim – daran konnte kein Zweifel sein – hatte nicht geahnt, wer sie war. Wer es den Andern verrathen haben konnte – das wußte der liebe Gott – Leonhard war unschuldig daran. Dies wenigstens hatte sie ihm abzubitten.

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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 22, S. 370-372
Novelle – Teil 9

[370] „Und nun willst Du also gehen?“ hub der alte Herr nach einer Pause wieder an. „Du willst gehen? Weshalb? Weshalb denn jetzt gehen?“

„Sehen Sie denn nicht ein, daß meines Bleibens hier nicht länger ist? Ich hätte ja gar nicht hierher kommen dürfen – ich handelte damit gegen den Willen, den ausgesprochenen Willen meiner entschlafenen Eltern. Wie sollte ich mich nun noch länger Denen gegenüber hier behaupten, welche Sie umgeben und Ihr Haus füllen?“

„Aber sie werden ja sicherlich sofort gehen, sobald Du da bist, Du, meiner Schwester Kind, Du, mein nächstes Blut, Du, die einzige Erbin von Allem, was ich besitze.“

„Ich Ihre Erbin? Nein, das eben will ich ja nun und nimmer sein. Das eben will ich nicht.“

„Du willst es nicht? Auch das gut! Alles wie Du willst! Mir ist es recht. Was geht’s mich an, was nach meinem Tode wird! Wenn nur Alles geschieht, was Du willst! Alles, was Dich bewegen kann, zu bleiben!“

Regine sah stumm auf ihren Oheim nieder. Ihr Herz wallte von einem Mitgefühl mit dem kranken Manne über, das es ihr nun doch schwer machte, bei ihrem Willen zu verharren.

„Wenn,“ sagte sie endlich zögernd, „wenn Sie so völlig einverstanden mit meinem Entschlusse sind …“

„Dann, dann … wirst Du bleiben?“ fiel ihr Oheim eifrig ein.

Sie erschrak nun schon über ihr Zugeständniß. Sie wollte ja Leonhard nie, nie wiedersehen. Er hatte ihr das Bleiben ja unmöglich gemacht.

„Lassen Sie mir Zeit, mich zu fassen!“ antwortete sie rasch. „Sie dürfen sich auch nicht länger durch ein Gespräch wie dieses aufregen. Versprechen Sie mir, daß Sie den Kutscher heraufkommen lassen und ihm selbst einschärfen wollen, er habe unbedingt und augenblicklich zu gehorchen, wenn ich einen Wagen verlange – wollen Sie das?“

„Gewiß, gewiß, wie Du willst! Zieh die Klingel, damit Andreas den Kutscher herauf holt! Du magst selbst hören, wie ich’s ihm befehle, Kind. Was Du nur willst, soll geschehen.“

Regine ging, die Klingel zu ziehen. Aber noch bevor sie die Schnur erreicht hatte, ward die Thür aufgerissen und angst- und schreckensbleich stürzte Dora herein.

„O Fräulein, Fräulein – ich weiß mir nicht zu helfen – mein Bruder Damian stirbt, wenn Sie uns nicht beispringen – mein Bruder ist wie todt, ganz wie todt, und Niemand von uns weiß, was wir beginnen sollen.“

„Damian – Ihr Bruder? Was ist denn geschehen?“

„Er ist schwer verwundet; sie haben sich geschlagen, und nun ist er wie todt, und die Mutter hat den Kopf verloren und steht da und wehklagt und jammert, und ich weiß nicht, was ich anfangen soll … und so bin ich zu Ihnen gestürzt – o, bitte, bitte, kommen Sie! Sie wissen uns gewiß einen Rath zu geben.“

Regine besann sich nicht einen Augenblick. Sie war freilich kein Arzt, nicht einmal das, was sie hier vorgestellt hatte, eine Krankenpflegerin – aber sie war die Tochter eines Arztes und war sicher eher im Stande, etwas Hülfreiches zu thun, als diese kopflosen Frauenzimmer. So folgte sie augenblicklich Dora, die vor ihr her eilte, in die Wohnung der Frau von Ramsfeld; im Wohnzimmer seiner Mutter lag Damian auf den Sopha, regungslos, die auf der Brust aufgerissenen Kleider mit Blut überströmt, das Haupt über der Lehne des Sophas zurückgesunken. Hinter ihm saß Frau von Ramsfeld mit thränenüberströmtem Gesicht, während Andreas daneben stand und dem Verwundeten die Stirn mit Kölnischem Wasser rieb – Frau von Ramsfeld schien wie gelähmt und nichts thun zu können, als zu jammern und zu schluchzen.

„O wie gut, daß Sie kommen – wie gut Sie sind!“ rief Frau von Ramsfeld beim Anblick Reginens. „Sagen Sie mir, ob er todt ist, sagen Sie es mir!“

Andreas sah mit einem mitleidigen Blick zu Reginen auf.

„Es ist nicht so arg,“ sagte er mit merkwürdiger Ruhe, „aber die gnädige Frau will mir nicht glauben. Es ist nur eine Ohnmacht, gewißlich nur eine tiefe Ohnmacht; er wird schon wieder zu sich kommen – der Athem wird schon stärker, merklich stärker –“

Regine nahm rasch Andreas das Kölnische Wasser und das Tuch ab, mit dem er dem Ohnmächtigen die Stirn wusch, und übernahm diese Hülfleistung selbst, um Andreas nach kaltem Wasser auszusenden; die Wunde, welche sich an der Schulter befand, blutete noch – das Blut mußte gestillt werden. Regine nahm sich eifrig des Verwundeten an, und als Andreas zurückkam, war Damian bereits wieder zur Besinnung gekommen und starrte mit irren Blicken um sich her.

„Es scheint, die jungen Herren haben sich geschlagen,“ nahm nun Andreas das Wort, „im Walde auf Pistolen geschlagen – wenigstens sagt Herr Edwin Klingholt so, der dabei wohl den Secundanten gemacht hat. Herr Edwin Klingholt hat ihn denn auch mit Mühe hergeschleppt; ich traute meinen Augen nicht, als ich, eben unten durch den Flur gehend, die Beiden herangeschlichen und herangewankt kommen sehe. Wie wir ihn dann erst hier oben hatten, und wie er nun erst hier im Zimmer auf das Sopha sank, überkam ihn die Ohnmacht; Herr Klingholt ist dann fortgestürzt, um seinen Bruder zu holen – der Herr Doctor [371] wird ja bald hier sein und uns sagen, was es mit der Verwundung auf sich hat.“

Regine gab Andreas den Rath, jetzt fortwährend nasse Tücher auf die Wunde zu legen. Dann sprach sie einige beruhigende Worte zu Frau von Ramsfeld, die endlich wieder zur Vernunft zu kommen schien und zu jammern aufhörte, und sagte ihr, daß sie weiter nichts zu thun und zu rathen wisse, daß der Doctor ja wohl bald da sein würde, um zu helfen; dann ging sie rasch wieder, in der Angst, Leonhard zu begegnen, der also jeden Augenblick hier eintreten konnte. Sie ging, um , wie sie sagte, dem alten Herrn zu berichten und seiner Spannung ein Ende zu machen.

Der schreckhafte Anblick des blutüberströmten Damian’s hatte sie heftig erschüttert. Halb Mitleiden, halb Empörung fühlte sie wider diese wüsten und dabei so thörichten Menschen. Es war offenbar, Damian hatte an Sergius den begangenen Verrath rächen wollen; sie waren sich mit Mordwaffen entgegengetreten – Alles nur in der Gier nach ihrem, nach Reginens Erbe, einem Erbe, das sie ja gar nicht wollte. Es war so verächtlich und doch so schrecklich! Dennoch dankte Regine fast dem Himmel dafür, daß diese häßliche Episode ihres Aufenthalts auf Dortenbach, wenn sie einmal eintreten sollte, gerade in diesem Augenblick eingetreten war, wo sie nahe daran gewesen, aus Rührung über ihres Oheims flehentliches Bitten und um des alten Mannes willen, der in ihrem Gehen ein solches Unglück für sich zu erblicken schien, ihrem festen Entschlusse untreu zu werden. Tief und stürmisch aufathmend, sagte sie sich: Nun ist’s genug. Was meine Eltern hier erlebt haben, das weiß ich ja – und nun habe auch ich genug erlebt in dem alten stolzen Hause meiner Väter. In diesem hochmüthig mit seinen Thürmen aufragenden wappengeschmückten Ahnenschloß! Welch Friedensasyl für seine Angehörigen es ist, welcher Geist der Eintracht an seinem Herde waltet, habe ich nun selbst gesehen. Freilich, Blut ist darin schon seit Jahren nicht mehr geflossen. Es wurde Zeit – es mußte einmal wieder fließen; fast könnte ich sagen um meinetwillen, damit das alte Schloß mir noch im rechten Augenblick zurufe, daß ich ihm fern bleiben solle, fern allen den Menschen, die mit ihm zusammenhängen und daher gekommen!

Daher gekommen! Daher gekommen war ja vor Jahren auch Leonhard. Sie hatte es anfangs nicht gewußt. Hätte sie es gewußt, vielleicht hätte sie dann eine innere Warnung empfunden wider diesen Mann und ihr Herz behütet. Aber sie hatte es erst erfahren aus seinem Munde, als es zu spät gewesen, als sie ihr Vertrauen, ihr Herz, ihr ganzes Seelenleben schon an ihn weggegeben hatte. Und nun war das Unglück geschehen, das fürchterliche Unglück; dieser wühlende, zur Verzweiflung treibende Schmerz in ihr mahnte sie, daß ein fortgegebenes Seelenleben sich nicht zurücknehmen läßt – das Gefühl beherrschte sie, daß es für immer an ihn fortgegeben blieb, an einen Mann, den sie doch hätte hassen, verabscheuen, tief, tief verachten müssen.

War es denn möglich – konnte ein Herz denn lieben, wo es nicht achtete? Half denn das Recht, das helle sonnenklare Recht, zu verurtheilen und zu verdammen, gegen eine solche verächtliche Liebe nicht? Selbst bei einem Wesen wie dem ihrigen nicht? Hatte sie doch immer ein starkes, ausgeprägtes Gefühl für das Recht empfunden; hatte er selbst sie doch oft neckend eine „rechtwinkelige Natur“ genannt! Es war so empörend, daß man sich selbst verachten könnte – – aber Regine riß sich gewaltsam von diesem Gedanken los, sie mußte ja eilen, dem Oheim ihr letztes Adieu zu sagen – auch das, fühlte sie, würde ihr trotz des Rechtes, das sie hatte, schwer und schmerzlich werden; auch an den schwachen, willenlosen alten Mann schon fühlte sie sich gebunden; auch für ihn schon empfand sie etwas von einer Liebe, welche sie neben ihm festhielt – aber sie mußte zu ihm hinüber, damit sie bei ihm nicht Leonhard begegnete, wenn dieser von Damian kommend zu ihm hinaufgehen würde.




13.

Als sie bei ihrem Onkel eintrat, fand sie diesen wie in einem Halbschlummer in seinem Sessel liegend. Er schlug müde sein mattes Auge zu ihr auf.

„Du kommst, Kind,“ sagte er, „mir zu melden, daß Damian’s Verwundung nicht so arg ist, wie sie aussah – nicht gefährlich – mir hat es schon Andreas hinterbracht, Gottlob … obwohl die Alteration für mich die gleiche bleibt – ich bin sehr, sehr angegriffen.“

„Ich bedauere es um so mehr,“ versetzte Regine, „als ich zu Ihrer Pflege nun nichts mehr beitragen kann, lieber Onkel. Aber Sie werden mir nicht zürnen, wenn ich nun gehe, werden mir glauben, wenn ich Ihnen sage: ich kann auf Dortenbach nicht bleiben, kann es nun einmal nach allem, was in mir ist, nicht; es ist in mir etwas Unwiderstehliches, was mich forttreibt.“

Der alte Herr seufzte tief auf.

„Ja, ja,“ sagte er matt, „ich glaube Dir. Weshalb sollte ich Dir nicht glauben, Kind, wenn Du so zu mir sprichst? Wenn Du bleiben könntest, es wäre so schön gewesen! Ich hätte Jemand neben mir gehabt, der mir gehörte, der mich liebte, mein Blut, fast meine Tochter. Ich habe nie Jemanden gehabt, der mir gehörte, nie. Als ich verheirathet war, gehörte ich einer Frau, die mich so lange glücklich machte, bis wir’s Beide nicht mehr ertrugen. Und nun finde ich eine Nichte, eine Tochter, ein schönes, liebes Geschöpf, das aber nur zu mir kommt, um mir zu sagen: Oheim, ich gehe wieder! Also Du gehst wieder und läßt den alten Onkel so einsam, so verlassen, wie er war. Du willst nicht bleiben, ihm seine wenigen letzten Tage zu verschönern? Du willst Dir nicht von ihm erzählen lassen, wie farblos trübe sein Leben dahinfloß? Nun ja, Du bist jung, und was geht’s Dich an! Du willst Dir auch nicht von ihm erzählen lassen von Deiner Mutter, von der armen Sabine, wie sie als Kind war, als heranwachsendes Mädchen – ach, sie war so reizend damals! – willst nicht hören, wie sie spielte und sich tummelte, wo sie ihren kleinen Garten angelegt hatte, wo ihr Pony im Stalle stand, und dann – aber Du willst es ja nicht, Du willst auch dem alten Onkel, wenn nun seine letzte Stunde kommt, nicht den Schweiß von der Stirn trocknen –“

„O, hören Sie auf, hören Sie auf,“ rief in Thränen ausbrechend Regine, „ich kann, ich kann ja nicht hier bleiben, wo … Gott ist mein Zeuge, daß ich es nicht kann.“

„Nein, nein,“ fiel der alte Mann, leise mit dem Kopfe nickend, ein, „Du kannst es nicht – Du hast Recht, o so Recht, daß Du gehst. Was solltest Du hier Deine schönen Tage vertrauern in diesem Hause des Unglücks unter hadernden Menschen? Dortenbach! Du hast Recht, daß Du nichts davon wissen willst. Ich wollte, mein Bruder wäre am Leben geblieben und ich nie an dieses Haus gefesselt worden. Dortenbach hat mir das Leben traurig verödet, trauriger als Du Dir ausdenken kannst … Geh, geh, und bleibe fest bei Deinem Willen, nie wieder mit Deiner unglückseligen Verwandtschaft zu schaffen haben zu wollen! Beim Himmel, könnte ich mit Dir gehen …“

„Mit mir gehen?“ fragte Regine, „mein Gott, welche Eingebung! Gewiß könnten Sie zu uns kommen, zu der Tante und mir in die Stadt – die sorgsamste Pflege würde Sie umgeben; die Tante ist so gut, und das Leben in der Stadt so erleichtert – aber Eins, Eins freilich …“

„Was stockst Du, Kind?“

Regine athmete schwer auf, ehe sie antworte:

„Es ist nur … daß Sie auf die Behandlung durch Leonhard Klingholt, als Ihren Arzt, verzichten müßten …“

„Verzichten? Weshalb? Er wohnt ja in Eurer Stadt?“

„Und dennoch … sehen Sie … ich muß es Ihnen gestehen … und warum sollte ich es nicht, warum sollte ich nicht ganz offen gegen Sie sein? … ich war Klingholt’s Braut … und Klingholt hat mich getäuscht … bitter, bitter getäuscht … ich habe hier sehen müssen, daß er nur um mich warb, weil er die Erbin von Dortenbach in mir sah.“

Der alte Herr sah sie höchst betroffen an.

„Klingholt war – er war Dein Bräutigam?“ fragte er, als ob er Mühe habe, sich in das Gehörte zu finden. Dann schüttelte er den schwankenden Kopf. „Und er hat Dich getäuscht? Darin irrst Du, Kind,“ sagte er. „Du irrst. Leonhard Klingholt? Nein, Leonhard Klingholt betrügt nicht.“

„Sind Sie dessen so sicher?“ antwortete Regine mit bitterem Lächeln. „Ich habe es aus seiner eigenen Mutter Munde, daß er sich mir genähert, mich aufgesucht hat, nur weil er wußte, wie nahe ich Ihnen stand … während ich nach gar nicht ahnte, daß er von hier, von Dortenbach gekommen.“

„Siehst Du darin ein Verbrechen? Wenn ein Mädchen entdeckt, daß ihr Bräutigam sie nicht blos ihrer Schönheit willen [372] liebt, sondern auch ihres Herzens willen nicht blos ihres guten Herzens willen, sondern auch ihres Geistes willen, nicht blos ihres Geistes willen, sondern auch ihres hohen Ranges, ihres stolzen Namens, ihres glänzenden Erbes willen – mein Gott, was thut das? Wenn er Dich nur liebt! Was thut’s dann.

„Aber das ist’s ja eben. er liebt mich nicht, weil er nur …“

„Ein Mann ist anderer Natur, als Ihr schönen Frauen,“ fuhr der alte Herr, ohne auf sie zu hören, fort. „Ihr Frauen wollt durchaus nur durch Euch, Euch allein beglücken … ich weiß, ich hab’ es erfahren, wie Ihr uns beglücken wollt; nur durch Euch selbst, durch Euer bloßes Dasein – der Mann soll daneben nicht eine Cigarre rauchen, nicht einen Blick in seine Bücher werfen, nicht sich hinter einen Becher Wein setzen dürfen, sondern nur sein Glück in Euch finden. Der Mann denkt anders, mein Kind; er denkt und fühlt anders; das ist seine Natur. Er legt nebenbei auch noch auf das Nichtätherische Werth. Er wählt nicht um des Erbes willen – das wäre gemein; er lügt Euch nicht Liebe, wo er nur den Mammon liebte aber wenn Ihr ihm nun einmal ein Erbe mitbringt, weshalb sollte er das verschmähen? Wenn Ihr den Mammon habt – weshalb soll er ihn von sich stoßen? Er muß in die Zukunft blicken; er hat die Sorgen – er wäre ein Narr, wenn er ihn verschmähte."

„O Gott, Oheim,“ unterbrach ihn Regine, „was hilft mir das Alles, wo ich doch weiß …“

„Was weißt Du, Kind? Du weißt nichts Schlechtes von Leonhard Klingholt.“

„Ich weiß, daß er nur mich aufgesucht, sich mir nur genähert hat – ich sagte es Ihnen ja.“

„Und ich glaube nicht daran; ich – aber da ist er ja – da ist der Angeklagte – wie Sie im rechten Augenblick kommen, Klingholt!"

Leonhard war eben erregt eingetreten. Er hatte bei der Verwundung Damian’s das Nöthige rasch gethan, und kam in der Sorge um seinen Patienten und die Folgen, welche für diesen die Aufregung haben konnte.

„Sind Sie wohl?“ fragte er zu ihm tretend, während Regine, nun es zu spät war, ihm auszuweichen, sich zwang, mit möglichster Ruhe aufzublicken und mit fester Stimme zu sagen:

„Adieu, Oheim, ich weiß Sie jetzt in besseren Händen als den meinen und gehe …“

„Nein, nein,“ rief der alte Herr erschrocken, „geh’ nicht – noch nicht! Ob ich wohl sei, Klingholt? Ich bin matt, Doctor, matt zum Sterben. Aber davon nachher! Ehe Sie den Arzt bei mir machen, muß ich ihn bei Ihnen machen – den Seelenarzt oder den Beichtvater, wenn Sie wollen. Sehen Sie, Regine – meine gute Nichte Regine hat mir Alles gestanden; in dem Augenblick, wo sie von mir gehen will, hat sie mich in ihr Herz blicken lassen – in ihr braves Herz, das so tapfer zu verachten weiß, worauf andere Menschen sich mit wilder Gier stürzen. Und Sie wissen das auch, nicht wahr, Klingholt, wenn es sein muß, wissen Sie es auch? Es war zwar nicht schön von Ihnen, daß Sie mir nicht die Wahrheit sagten, daß Sie meiner Schwester Kind als eine Fremde bei mir einführten. Aber um’s goldene Kalb tanzen … ah bah – lächerliche Vorstellung! Es ist nicht wahr, daß Sie Regine blos deshalb aufgesucht, blos deshalb um sie geworben haben, weil Sie wußten …“

„Nein, das ist nicht wahr,“ fiel mit dem Tone aufrichtigster Entrüstung Leonhard ein, „bei Gott nicht! Wer beschuldigt mich dessen? Es war der glücklichste Zufall meines Lebens, der mich die Bekanntschaft von Fräulein Regine Horstmar machen ließ …“

„Siehst Du, Kind, siehst Du, daß Du ihm Unrecht thatest!“ rief der alte Herr freudig aus. „Du wirst an seinem Wort nicht zweifeln."

„Nein,“ sagte nach einer Pause Regine bewegt. „Ich zweifle an seinem Worte nicht. Es wäre zu abscheulich … nein, nein, ich zweifle nicht! Aber …"


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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 23, S. 383-384, 386-387
Novelle – Teil 10

[383] „Und dann wäre ja Alles wie es soll, Alles gut,“ unterbrach der Baron Regine. „Ich könnte mit Euch gehen, und Ihr Beide pflegtet mich; ich ließe mir von Benning eine Rente senden, und im Uebrigen möchte aus Dortenbach werden, was da will. Nicht wahr,“ wandte er sich an den Doctor, „auch damit sind Sie einverstanden – Sie sind einverstanden, daß Regine nie mehr mit dem Worte Dortenbach gequält werde, daß man ihr nie wieder von ihren Erbansprüchen rede …“

„Nein,“ sagte Leonhard ruhig. „Damit kann ich nicht einverstanden sein. Regine ist meine Braut, und ich habe als Verlobter das Recht und die Pflicht, Einspruch wider ein so thörichtes Verzichten zu erheben.“

„Nun sehen, nun hören Sie es selbst, Oheim!“ rief Regine zitternd vor Aufregung.

Der Baron sah ihn verwundert an, dann sagte er:

„Ich höre es selbst, Kind – ich höre es mit Verwunderung. Aber eigentlich – weißt Du, daß er eigentlich Recht haben wird, wenn wir ihn nur ausreden lassen?“

„Wozu noch viele Worte darüber verlieren?“ fuhr Regine fort. „Das Recht, Einspruch gegen meinen festen Entschluß zu erheben, hat Niemand; das Wort, welches ich gegeben, habe ich längst im Stillen zurückgenommen und nehme es hier laut zurück. Und nun lassen Sie mich gehen, Onkel!“

Leonhard sah sie, abwechselnd erröthend und erbleichend, an.

„Regine,“ sagte er, sich zur Ruhe zwingend; „das können Sie nicht …“

„Weshalb nicht? Habe ich nicht das Recht dazu?“

„Das Recht, ja – tausendmal das Recht. Aber nicht die Macht. Wie Sie das Recht, aber nicht die Macht haben, auf Ihr Erbe zu verzichten.“

„Was soll mich hindern?“

„Das, was uns an jedem Tage in unserem Leben hindert, unser volles Recht zu behaupten. Wehe der Welt, wenn das Recht in ihr herrschte, wenn das Höchste das Recht wäre! Die Liebe steht höher, und Liebe gewinnen ist ein fortwährendes Verzichten auf Rechte und Rechthaben.“

„Liebe!“ sagte Regine mit unsäglicher Bitterkeit.

„Ja, Liebe. Sie können mir die Liebe mit dem Munde aufkündigen, aber Sie können sie nicht aus dem Herzen reißen, höchstens sie in die lügenhafte Maske des Hasses kleiden. Das ist Alles, Alles, was Sie können. Und das ist auch Alles, was ich kann. Wir sind einfache, volle und ganze Naturen, Regine; Sie wie ich. Wir können uns nicht hingeben, ohne es ganz, voll und für immer zu thun. Als solche haben wir uns gefunden und in uns unsere Schicksale. Sie mögen verzichten können, auf was Sie wollen, auf Ihre Natur können Sie nicht verzichten, nicht auf das, was das Große und Edle Ihrer Natur ist.“

„Und darauf trotzen Sie?“ fragte, ungeachtet ihrer inneren Erschütterung wie verachtungsvoll die Lippen aufwerfend, Regine.

[384] „Ich trotze nicht darauf, ich tröste mich damit. Denn den Gedanken, Sie wirklich zu verlieren, kann ich nicht fassen. Es wäre wie ein Aufhören meines Lebens. Wer glaubt an das Aufhören seines Herzschlages, an das Stillstehen seines Athems – Niemand – und wie mein Herz nicht aufhören kann, zu dem Ihren hinüber zu schlagen, wird auch das Ihre …“

Regine wandte sich rasch. Es war etwas in ihr, was sie zur Flucht vor Leonhard’s Worten, zur Flucht vor sich selber trieb. Sie wollte fest bleiben, und wozu dann noch seine Worte, die so dämonisch klar und überzeugend in ihr nachzitterten, und die doch nur Trug und Täuschung waren, anhören? Es war nicht gut, noch länger den groß und mit einem eigenthümlichen Leuchten auf sie gerichteten Blicken Stand zu halten – Blicken voll eines verrätherischen Zaubers, als ob sie von Seelengröße und Geistesadel nur so zu glänzen und zu flammen verständen. Noch hätte sie gern, ehe sie schied, sich dem armen Oheim da vor ihr an die Brust geworfen, zum Lebewohl – aber dann wäre sie gewiß nicht Herrin über sich selber geblieben; sie wäre in krampfhaftes Schluchzen ausgebrochen, und davon sollte Er nicht Zeuge sein. Weinen sollte Er sie nicht sehen; Er nicht, nein – eisern wollte sie ihm erscheinen. O, sie haßte ihn so, haßte ihn um so mehr jetzt aus dem tiefsten Grunde des Herzens, seit er von diesem Herzen und von seinem ewigen Gebundensein ihr mit kühlster Ruhe Dinge gesagt, die so empörend wahr waren, daß sie ganz unmöglich sie sich sagen lassen konnte! Und so ging sie stolz aufgerichtet rasch davon.

„Ihr entsetzlichen Menschen!“ stöhnte, als sich die Thür hinter ihr geschlossen, der Baron auf. „Welche Scenen sind dies! Ihr bringt mich um damit. Ihr alle seid verschworen mich umzubringen.“

Leonhard hörte nicht auf ihn. Er stand wie versteinert, den Boden anstarrend.

„Gehen Sie doch – folgen Sie ihr nach, Klingholt – sprechen Sie zu ihr! Sie haben ihr ja kein einziges Wort zu Ihrer Vertheidigung gesagt – gehen Sie und schwören Sie ihr, daß …“

„Was soll ich schwören?“ fiel ihm Leonhard in’s Wort. „Daß ich ein ehrlicher Mensch bin und unfähig, Liebe zu lügen, wo ich sie nicht empfinde? Daß ich nicht um alle Schätze der Welt mein Herz verkaufe? – Nein, Baron, das werde ich ihr nicht schwören – das nicht, und machte es mich für immer unselig, ich werde solch ein Wort nicht über meine Lippen bringen … lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich frei nur eine halbe Stunde! Vielleicht gelingt es mir, zur Besinnung und Fassung über dies Alles zu kommen!“

Und auch er stürmte hinaus und ließ den alten Herrn in seiner Hülflosigkeit allein.



14.

Der Abreise von Fräulein Regine stand diesmal nichts im Wege. Das feindliche Lager war ja zwiespältig geworden; es schien auf jedes Vorgehen verzichtet zu haben. Andreas war nach Leonhard’s Auftrag um Damian beschäftigt, und so ging der andere Diener statt seiner und kam nach einer Weile zurück, um ihren Koffer zu nehmen und zum Wagen zu bringen. Regine folgte ihm; mit heftigem Herzpochen schritt sie die Treppenstufen in diesem für sie nun auch so verhängnißvoll gewordenen Hause hinab und trat in die graue nebelerfüllte Luft, die trüb und beengend über dem Hofe und den Thürmen und Dächern von Dortenbach lag.

Sich enger in ihren Mantel hüllend und dicht den blauen Schleier vorziehend, bestieg sie den Wagen, der wenige Augenblicke darauf über die längst wieder friedlich niedergesunkenen Bohlen der Zugbrücke rollte. Und dann ging es raschen Trabes unter den feuchten Wipfeln einer Ulmenallee über eine chauffirte Straße dahin – raschen Trabes auch noch auf den ungepflasterten Wegen zwischen Ackerfeldern und durch kleine Gehölze weiter und weiter. Regine war zu tief in ihre Gedanken versunken, um dieser Wege irgend zu achten.

Endlich, als der Wagen langsamer sich durch den Wald bewegte, schlug sie den Schleier zurück und blickte um sich. Es waren offenbar weithin sich dehnende Waldgründe, in denen sie sich befand. Leiser grauer Nebel wallte in einzelnen Flockenmassen unter den hohen Baumstämmen dahin, langsam in eine Thalsenkung zur Linken hinabziehend; eine rege Phantasie hätte sich Gestalten daraus bilden können, langbärtige graue Mantelträger, im Zuge schweigsam dahinwallend, Priester einer Waldgottheit, Druiden, zu ihrem innersten Waldheiligthum ziehend. Regine war zu erschüttert, zu schmerzlich und stürmisch bewegt, um sich Gebilden ihrer Phantasie hinzugeben, aber dennoch wirkte der eigenthümliche Zauber der Stille unter dem grünen Laubgewölbe uralter Stämme auf ihr Gemüth. Der Eindruck einsamster Weltentrücktheit, in feuchter schlummeriger Luft, kam ihr wie etwas Wohlthätiges, das jeden, auch den schmerzlichsten Herzschlag in der Menschenbrust abzudämpfen, zu beschwichtigen vermag, wenn man nur nie wieder aus solchem Wald-Bering hinaustritt und in seinem Banne verweilt.

Das war nun freilich gerade das Entgegengesetzte von dem Drang, der sie fort und in die Welt zurücktrieb. Sie war auch nicht mehr möglich, solche Romantik, solch ein Leben einer Genoveva, der ja auch im tiefsten Walde der Schmerz und die Sehnsucht nicht vergangen. Sie hätte obendrein auch die souveraine Herrin solch eines Waldgebietes sein müssen, um darin nicht täglich gestört zu werden. Die Herrin hätte sie nun allerdings sein können – gewiß gehörte der Wald noch zu Dortenbach; es hätte ihr dann nur ein Wort gekostet und …

Regine mußte plötzlich an die Wirkung solch eines Wortes denken. Wenn sie jetzt, wo sie mit Leonhard für immer gebrochen, die Erbin von Dortenbach wurde, welche Strafe war dies für ihn, wie rächte sie sich dann an seiner Falschheit! Verführerischer Gedanke! Jetzt, ja jetzt war es Zeit, seine abscheuliche Hinterlist so grausam zu bestrafen und ihn fühlen zu lassen, was er verloren; denn dann würde er es fühlen, was er in dieser Stunde vielleicht noch leichten Herzens ertrug. Aber das war ein thörichter Gedanke. Sie konnte ja nicht, durfte nicht, wollte nicht sich selber untreu werden. Doch war der Gedanke nicht so leicht gescheucht. Wie zerstreut fragte sie den Kutscher:

„Gehören diese Wälder noch zu Dortenbach?“

Der Mann antwortete ihr, ohne den Kopf zu wenden, mit einem lakonischen: „Ja!“

Aber war sie denn bei der Herreise durch einen so ausgedehnten Wald gekommen? Sie entsann sich dessen nicht. Es war Abend gewesen; sie hatte darauf auch damals nicht geachtet. Aber so geschüttelt war sie damals nicht worden, wie jetzt, wo die Pferde langsamer gingen und Mühe zu haben schienen, in den tief ausgefahrenen, offenbar selten benutzten Geleisen weiter zu kommen.

Eine Weile noch schwieg sie, indem sie um sich blickte und in ihrer Erinnerung suchte. Aber nichts kam, worauf ihr Auge schon einmal, so viel ihr bewußt war, geweilt hatte. Der Wald um sie her wurde dichter und dichter; der Wagen schwankte weiter, von einer Seite auf die andere.

Erschrocken rief sie endlich den Kutscher an:

„Dies ist unmöglich der Weg zur Eisenbahnstation. Wohin fahren Sie denn, wo sind wir?“

„Bald wieder auf dem richtigen Wege,“ lautete die Antwort; „ich habe mich ein wenig in diesen Waldwegen geirrt, aber ich kenne die Richtung, und wir werden bald wieder auf dem Fahrdamm zur Station sein.“

„Verirrt? So halten Sie doch! Sie gerathen nur immer weiter in die Irre,“ rief sie aufspringend. Ein ganz unsäglicher Schrecken hatte sie erfaßt bei der Vorstellung, tief im Walde mit dem Menschen allein zu sein, und noch mehr bei dem eigenthümlichen Klange der Stimme des Kutschers, der fortfuhr, ihr den Rücken zuzuwenden, dessen Stimme ihr aber, obwohl sie verstellt klang, doch nur zu bekannt vorkam.

Er peitschte[WS 1] auf die Pferde und fuhr weiter.

„Halten Sie – wenden Sie augenblicklich!“ rief Regine in ihrer Angst, „oder ich springe aus dem Wagen.“

Der Kutscher wandte ihr jetzt halb sein Gesicht zu – er hatte es bisher durch den aufgeschlagenen Kragen seines Mantels verborgen gehalten. Regine sah, daß sie sich nicht getäuscht, daß es wirklich und in der That Sergius von Sander war, der da vor ihr auf dem Bocke saß und die Pferde in diese Waldwildniß hinein gelenkt hatte. Er war geflissentlich mit einer wahren Schurkenabsicht in die Irre gefahren. Das schoß ihr durch’s Hirn, während er sagte:

„Springen Sie nicht aus dem Wagen, Fräulein Regine! Sie allein würden sich aus diesen Waldgründen nie wieder herausfinden. Vertrauen Sie sich ruhig meiner Führung an, theure Cousine, oder vielmehr, fahren Sie fort, mich unter Ihren Schutz [386] zu nehmen – ich mache Ihren Kutscher ja nur um dieses Schutzes willen, nur um mich zu flüchten und unaufgehalten davon zu kommen.“

Regine hatte das Leder der Halbchaise, in der sie fuhr, schon zurückgeworfen, um im nächsten Augenblick den Wagen verlassen zu können.

„Unter meinen Schutz? Was soll das heißen?“ fragte sie heftig.

„Das soll heißen, daß ich mich flüchten muß, weil ich meinen Vetter in einem Duell schwer verwundet habe – sehr schwer – um Ihretwillen, Cousine, habe ich mich geschlagen; nun muß ich fliehen, um nicht verhaftet zu werden, und kein besseres Mittel, unbeachtet davon zu kommen, gab es, als an des Kutschers Stelle mich auf den Bock zu schwingen.“

„Ich glaube Ihnen von dem Allem nichts, gar nichts –“

„Auch nicht, daß ich mich Ihretwegen geschlagen und mein Leben auf’s Spiel gesetzt habe?“

„Was geht es mich an, wenn Sie sich mit Ihrem Vetter raufen – Sie sollen jetzt halten, wenden und mich zurückbringen, oder –“

„Oder – was werden Sie thun, wenn ich Ihnen nicht gehorche?“

„Ich springe aus dem Wagen und suche mir selbst meinen Weg zurück!“

„Sie werden ihn nicht finden. Seien Sie vernünftig, Cousine!“ sagte Sergius, der die Pferde im Schritte immer weiter gehen ließ. „Ich habe mir die Gelegenheit verschafft, vernünftig und ruhig, ohne eine Störung wie am gestrigen Abende befürchten zu müssen, mit Ihnen zu reden. Sehen Sie nicht da vor uns am Ende dieses Weges ein kleines Gebäude? Ich kenne es. Wir fahren einem verlassenen Jagdpavillon zu, den ich und Damian zuweilen benutzt haben, wo es sich gut ruhen und in der weltabgeschiedenen Waldstille friedlich reden läßt –“

Einem Jagdpavillon zu! Diese Ankündigung fehlte nur noch, um Regine vollends zu erschrecken. Sie schwieg, überlegte; wenn dieser verwegene Mensch sie da einsperrte – ihre aufgeregte Phantasie malte sich alles Fürchterliche einer solchen Lage aus – wenn er nichts scheute, seine Absichten durchzusetzen – mit ihrer schwachen Kraft war sie verloren – es war hundertmal besser, sich so lange, als sie frei war, auf ihre Füße zu verlassen und auf und davon zu gehen.

Schnell band sie den Schleier fest um ihren Hut, zog ihren Ueberwurf um die Schultern, erhob sich und sprang aus dem Wagen.

Als sie im Sturze die Erde berührte, fiel sie in die Kniee, raffte sich wieder auf, machte einige rasche Schritte und empfand einen heftigen Schmerz am linken Knöchel; sie verbiß ihn und eilte rückwärts den Weg, den sie gekommen, davon.

Sergius stieß einen Fluch aus, hielt an, kletterte vom Bocke und schlang behende seine Zügel um eins der Wagenräder. Dann eilte er ihr nach.

„Regine – ich bitte Sie, Cousine, so hören Sie doch –“

Sollte sie stehen bleiben, um erst den Schmerz an ihrem Knöchel zu überwinden? Er wurde so furchtbar heftig. Aber nein, es war ihr ja, als höre sie ferne Schritte – ferne, durch das vorjährige Laub raschelnde Schritte – kam ein Mensch, irgend ein Mensch heran, so war sie ja gerettet – und da, eine Strecke vor ihr sprang ein Jagdhund von rechts her aus dem Gebüsche auf den Weg – vielleicht war es der Förster, der Vater Leonhard’s, den ihr der Himmel in ihrer Noth entgegensandte – sie stieß den lauten Ruf: „Hülfe, Hülfe, zur Hülfe!“ aus.

In diesem Augenblicke hatte Sergius sie eingeholt. Er umspannte ihren Oberarm, und heftig rief er:

„Begehen Sie doch keine Thorheiten, Regine! Bei Gott, ich dulde es nicht; ich sehe ja, daß Sie sich verletzt haben – Ihren Fuß – Sie sollen – kommen Sie sogleich zum Wagen zurück! Aber zum Teufel – wer kommt denn da?“ fügte er, vor Zorn erblassend und mit den Zähnen knirschend, hinzu.

Ein Hund stand schnuppernd vor der Gruppe, und um sich blickend sah Sergius die Gestalt eines kräftig gebauten Mannes von rechts her auf einem Seitenwege herankommen – er war nicht hundert Schritte mehr entfernt und stapfte zwischen den grauen Stämmen her hastig heran.

Der Förster Klingholt war es nun doch nicht – er, von dem sich Regine in ihrer Noth am liebsten hätte retten lassen – aber gleichviel! es war Benning, der Rentmeister, und auch er kam in diesem Augenblicke wie ein Himmelsbote.

„Kommen Sie mir zu Hülfe – hierher zu meiner Hülfe, Benning!“ rief ihm Regine außer sich entgegen; „dieser Mensch will mich gewaltsam an einen Ort bringen, wohin ich nicht will; stehen Sie mir bei, daß ich zurückkomme!“

„Das Fräulein ist völlig unvernünftig,“ rief dagegen Sergius dem Rentmeister zu; „sie begreift nicht, daß ich bei ihr den Kutscher machen und sie weiter fahren muß, um mich in Sicherheit zu bringen; die Polizei fahndet auf mich – wegen des Duells, wissen Sie –“

Benning stand jetzt vor ihnen – mit ziemlich verblüfftem Gesicht. Er nahm den Hut ab, wischte sich mit dem Taschentuche über die Stirn und ließ dabei seine umherfahrenden Blicke forschend vom Einen zum Andern irren.

„Helfen Sie mir, das Fräulein in den Wagen zu bringen!“ eiferte Sergius weiter, „sie hat sich den Fuß verstaucht; sie kann gar nicht gehen; ich werde sie ganz sicher führen –“

„Und ich,“ rief Regine, „ich befehle Ihnen, mir beizustehen, und mich von diesem Menschen zu befreien …“

Benning hatte offenbar Zeit gehabt, sich zu besinnen. Es zuckte etwas um seinen Mund wie ein boshaftes Lächeln – dann sagte er:

„Sie befehlen mir, Fräulein, und Herr von Sander befiehlt mir auch. Sie hören, wie er mir befiehlt. Nur leider nicht dasselbe, was Sie mir befehlen. Da können Sie mir nicht übel nehmen, daß ich mich frage, wem ich zu gehorchen habe.“

„Wie,“ fuhr Regine über diese Antwort auf’s Aeußerste empört ihn an, „Sie sehen eine Hülflose in Noth und Bedrängniß und können noch zaudern, können noch fragen –“

„Eh!“ unterbrach Benning sie achselzuckend, „ich bin kein fahrender Ritter, sondern ein abhängiger Diener meiner Herrschaft, welcher in Geschäften dieser Herrschaft bei einem Pächter revidiren geht. Ich muß dem gehorchen, Fräulein, der das Recht hat, mir zu befehlen! Das müssen Sie doch einsehen und können mir’s nicht verübeln. Wenn Sie fortreisen wollen, weil, wie Andreas mir erst vor einer Stunde gesagt hat, weil Sie mit Dortenbach nichts zu schaffen haben mögen –“

„Sie werden wissen, daß ich Ihre Herrschaft, Ihre künftige Herrschaft bin, daß Sie mir zu gehorchen haben, Benning,“ rief Sergius dazwischen.

Regine war immer empörter geworden über den Menschen, der ihr in ihrer Lage den Beistand versagen konnte; es war eine unglaubliche Schlechtigkeit. Dazu kam das Gefühl absoluter Hülflosigkeit, kamen die sich steigernden Schmerzen des Fußes – sie hätte laute Wehe- und Hülfeschreie ausstoßen mögen, wenn nur irgend eine Hoffnung dagewesen wäre, daß diese etwas anderes bewirkt hätten, als das Echo der Stämme in dem weiten todtenstillen Walde zu erwecken. Ihr blieb in der Welt nur Eines übrig, und in ihrer nicht zu beschreibenden Aufregung ergriff sie dieses Eine:

„Nun,“ sagte sie, „so hören Sie denn – hören Sie es – ich sehe ja, ich kann nicht anders, und bei Gott, so will ich denn auch nicht anders – hören Sie, daß Andreas Ihnen die Unwahrheit gesagt hat: ich will mein Erbrecht auf Dortenbach behaupten, behaupten gegen wen es sei auf Erden – nicht einen Halm von Dortenbach, nicht einen Buchstaben von meinem Rechte will ich aufgeben für Leute wie Herr von Sander! Und nun wehe Ihnen, wenn Sie nicht mir gehorchen –“

„Ah bah!“ schrie Sergius dazwischen, „Ihr Erbrecht ist eine thörichte Voraussetzung, da –“

Benning sah ihn mit seinem boshaften Lächeln und einer eigenthümlich verschmitzten Miene an.

„Das,“ unterbrach er ihn, „kann ich nun hier aber doch nicht untersuchen, Herr von Sander – das müssen auch Sie einsehen, und mir schon zu Gute halten, wenn ich zunächst doch das Fräulein als meine künftige Herrschaft betrachte und ihr gehorche. Sie ist unseres Herrn nächste Verwandte, und also – bitte, steigen Sie nur wieder ein, Fräulein, stützen Sie sich auf meinen Arm! Oder befehlen Sie, daß ich Sie trage?“

„Nein, nein!“ wehrte Regine ab – „aber Ihren Arm habe ich nöthig.“

Mit Widerstreben stützte sie sich auf den dargebotenen Arm des ihr verhaßt gewordenen Menschen. Er brachte sie zum Wagen [387] und hob sie hinein. Dann erkletterte er den Bock, fuhr noch eine kleine Strecke, um Raum zum Wenden zu gewinnen, und lenkte den Wagen rückwärts.

Reginens Blicke suchten Sergius; mit bleichen, wuthverzerrten Zügen stand er noch an derselben Stelle, wo sie ihn verlassen; er starrte dem Wagen nach. Doch schien ihm eine abermalige Begegnung mit der energischen, schönen Cousine nicht wünschenswerth – er wandte sich rasch um und ging auf demselben Wege, auf welchem Benning gekommen war, in den Wald hinein.

Regine verband sich mit ihrem Taschentuch den verletzten Knöchel, ohne daß die Schmerzen darum viel geringer wurden.

Benning fuhr, so rasch es anging, auf dem Waldwege zurück. Die Aufregung, die Schmerzen ließen Regine nicht zur Besinnung über ihre Lage kommen. Sie fühlte nur in sich das Fortzittern des Zornes. Nun wollte sie auch ganz das sein, wozu Alles sich verschworen zu haben schien, sie zu machen. Halbheit lag nicht in ihrem Charakter. Mußte sie nun einmal die Erbin, die Herrin von Dortenbach sein, war es nun einmal wie ein unentrinnbares Schicksal, ein dämonisches Muß – nun wohl denn, so hatte sie die Kraft, es ganz zu sein, und es zu zeigen, es empfinden zu lassen, daß sie es war.

Die Schmerzen, welche die Stöße des Wagens ihr verursachten, steigerten nur die Bitterkeit, mit der sie solchen Entschlüssen nachhing. Zum Glücke zeigte sich nach etwa einer Viertelstunde Fahrens rechts vom Wege eine Wasserquelle, die unter den Wurzeln einer alten Buche hervorquoll und einen winzigen, aber klaren Teich zwischen Gestein, Moos und Farrenkräutern bildete. Sie ließ halten. Benning mußte ihr beistehen, auszusteigen; dann ließ sie sich neben der Quelle auf dem Wagenkissen, das Benning herbeibrachte und auf das feuchte Moos legte, nieder und begann, während Jener, discret abgewendet, bei den Pferden stand, ihren Fuß zu kühlen.

Im Anfange schien Herr Benning nicht recht den Muth zu finden, mit dem aufgeregten Fräulein eine Conversation zu beginnen. Endlich aber, nachdem er sich mehrmals geräuspert, siegte sein Mittheilungsbedürfniß.

„Sie waren da in einer üblen Lage, Fräulein,“ begann er, „mit diesen verwogenen Herrn Sergius. Daß er sich flüchten müsse, flüchten wegen eines Duells, von dem doch noch Niemand etwas gehört haben kann, das war nur …“

„Eine Lüge!“ unterbrach ihn laut Regine.

Ganz sicherlich eine Lüge! Wir haben weder Gerichte noch Polizei hier so dicht in unserer Nähe. Können’s dem lieben Gott danken, Fräulein, der mich just im rechten Augenblick dahersandte. War wahrhaftig, als ich ausging, nicht darauf gefaßt, daß ich das Glück haben würde, Ihnen einen solchen Dienst zu leisten.“

„Das schienen Sie allerdings nicht. Gefaßt auf eine Dienstleistung für mich! Es bedurfte viel Zeit, ehe Sie zu so viel Fassung gelangten!“

Benning überhörte den Vorwurf, der in diesen Worten lag, und fuhr nach einer kurzen Pause fort:

„Lassen Sie mich Ihnen noch einen Dienst leisten, Fräulein, wenn man mit einem guten Rathe das kann! Darf ich? Wenn etwas an dem ist, was Andreas mir gesagt hat, daß Sie von Dortenbach nichts wollten, so kann es nur sein, weil man Sie geflissentlich irre geführt und Ihnen die Angst erweckt hat, Sie würden mit den anderen Verwandten theilen und wegen der Theilung dann lange kostspielige, ärgerliche Processe führen müssen. Das könnte doch nur der Grund sein. Lassen Sie sich aber auf solche Reden nicht ein, Fräulein, hören Sie nicht darauf – das ist mein Rath, Fräulein Horstmar! Es ist ganz gewiß nicht an dem. Dortenbach ist ein ganz freies Gut. Wenn der alte Herr, Ihr Onkel, die Augen schließt, so fällt es Ihnen als der allernächsten Verwandten zu. Daran ist ganz und gar kein Zweifel. Und wenn Sie es haben, so können Sie damit machen, was Sie wollen. Können es behalten, können es verpachten, können verkaufen …“

Benning, der noch immer abgewandt bei den Pferden stand, hielt eine Weile inne. Da er aber vergeblich auf eine Antwort wartete, fuhr er fort:

„Sie werden es wohl verkaufen wollen. Natürlich! Was soll eine junge Dame hier sich in unserer Einsamkeit vergraben! In der Stadt, wenn man Geld hat, wohnt es sich so viel plaisirlicher. Da sieht man Menschen, hat Vergnügen; jeden Tag ein neues. Werden ein hübsches rundes Sümmchen sich zahlen lassen können für Dortenbach, Fräulein – ein hübsches Sümmchen; ich weiß, was es werth ist. Ich hoffe auch, Fräulein …“

„Was hoffen Sie, Herr Benning?“ fragte Regine kühl, während sie jetzt ihr Tuch, zu einer Compresse gefaltet und von dem kalten Naß triefend, um ihren Knöchel band, „was hoffen Sie von mir?“

„Daß Sie, wenn Sie es verkaufen, mich dabei nicht übergehen –“

„Sie – übergehen – Sie, Benning? Haben Sie denn Lust, Dortenbach zu kaufen? Sind Sie im Stande dazu?“ fragte Regine überrascht aufschauend.


Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Recht und Liebe
aus: Die Gartenlaube 1882, Heft 24, S. 394-396
Novelle – Teil 11

[394] „Im Stande Dortenbach zu kaufen?“ fragte Benning zurück. „Nun ja, Fräulein Horstmar! Aber Sie müssen nicht denken, daß ich das Vermögen hätte, es für mich zu kaufen – das gewiß nicht; ein armer abhängiger Mann, wie ich, ist nicht so reich. Ist ein ganz leidlicher Posten, den ich hier seit sechsundzwanzig Jahren verwalte, aber mit Frau und Kindern muß man zufrieden sein, wenn man ehrlich durchkommt; vom Zurücklegen ist da keine Rede, und nun gar, um Dortenbach kaufen zu können – –! Wohin denken Sie, Fräulein! Nein, es ist nur das, daß ich es besser kenne als jeder Andere, daß ich besser weiß, was es werth und was daraus, wenn man es richtig anfängt, im Einzelnen zu lösen ist. Und weil ich das weiß, kann ich auch eine hübschere Summe dafür bieten als jeder Andere, als jeder Speculant und Güterschlächter in der Welt.“

„Also Sie denken, ich werde Dortenbach, sobald es – was noch recht lange nicht eintreten möge! – mein geworden, Ihnen verkaufen, damit Sie es in Stücke, in kleine Stücke und Fetzen zerschlagen?“

„Ich würde Ihnen dazu rathen, Fräulein, entschieden dazu rathen; denn sehen Sie: wenn Sie warten wollten, bis eine Herrschaft kommt, welche Dortenbach ankauft, um es zu bewohnen oder zu besitzen oder aus der Verpachtung des Ganzen eine Rente zu beziehen, so müßten Sie eben lange warten, und hätte sich solch ein Liebhaber endlich eingefunden, so würde er Ihnen ganz sicherlich hunderttausend Mark weniger bieten müssen, als ich es bei einer Parcellirung könnte. Auch beim besten Willen müßte er es, wenn er anders auch nur ganz nothdürftig zu seinen Zinsen kommen wollte … Freilich, ich kann mir’s denken, die Herren Klingholt werden es Ihnen wohl schon anders vorgestellt haben – ich kann es ihnen auch nicht übel nehmen; denn jeder redet eben nach seinem Profit und seinem Interesse und in seine Tasche hinein –“

Regine fiel ihm hoch aufhorchend in’s Wort:

„Was sollen mir die Klingholt vorgestellt haben? Was soll ihr Interesse sein?“

„Ihr Interesse?“ versetzte Benning. „Nun, das ist doch klar: wenn das Gut an eine Herrschaft verkauft wird, welche es zusammen hält, so behält der alte Klingholt seinen guten, einträglichen Försterposten mit dem hübschen Gehalt und den Procenten von den Holzverkäufen, so bleibt er in dem warmen Nest, das ihm ja schon von seines Vaters und Großvaters Zeiten her wie angeerbt und das nach ihm seinem jüngsten Sohne so gut wie sicher ist. Wird das Gut aber parcellirt, werden die Wälder abgeholzt und die Gründe dann versteigert – du liebe Zeit – dann brauchen wir keinen Förster mehr zu füttern, und der Alte muß sehen, wo er einen andern Posten bekommt, wenn er bei seinen Jahren überhaupt nach einen bekommt!“

„So, so!“ sagte Regine sinnend, „das wäre sein Interesse bei der Sache –“

„Sein offenbares Interesse,“ fiel Benning ein, „und Sie, Fräulein, Sie werden jetzt wissen, was es auf sich hat, wenn diese Leute aus Leibeskräften gegen mich reden und Ihnen zumuthen sollten, sich Ihr Erbe um hundert-, ja um hundertfünfzigtausend Mark verkürzen zu lassen, indem Sie ihnen folgen.“

Regine nickte nachdenklich mit dem Kopfe. Sie war eine sehr kluge Dame, das Fräulein, und praktische Dinge begriff sie. [395] Benning sagte sich triumphirend, daß dies ein merkwürdig guter Tag für ihn sei, daß ihm solch ein Fräulein, um einen Handel mit ihr abzuschließen, weit lieber sei, als die adligen, hochmütigen, raubsüchtigen Tanten aus dem Schlosse droben. Benning hatte das Eisen geschmiedet, so lange es heiß war, und ließ mit zufriedenem Lächeln sein Auge hin- und hergehen zwischen dem Fräulein und seinen Pferden.

Regine erhob sich. Benning sprang herbei, um sie zum Wagen zurückzuführen, und während sie sich auf ihn stützte, sagte sie:

„Wenn Sie aber ganz Dortenbach ‚einschlachten‘,wie man’s ja wohl nennt, was beginnen Sie dann mit dem großen schönen Hause, dem ‚Schloß‘?“

„Das,“ meinte Benning, „taugte dann freilich nur noch zu Fabrikgebäuden. Welcher Art, das müßte man abwarten. Hab’ schon an eine Torfstreufabrik gedacht; Moore haben wir ja, nicht eine halbe Stunde entfernt, und die Torfstreu hat eine große, sehr große Zukunft, Fräulein.“

Regine nickte wieder mit dem Kopfe.

„Recht so!“ sagte sie um einem eigenthümlichen, bitteren Lächeln, „machen wir eine Torfstreufabrik daraus! Sie haben Ideen, Benning; in der That, Sie haben einen einschlägigen Kopf. Und nun fahren Sie weiter!“

Sie hatte den Wagen erreicht und sich von Benning hinein heben lassen. Der Schmerz am Fuß hatte sich ein wenig gemildert; genug, daß sie im Stande war, einer zusammenhängenden Gedankenreihe zu folgen. Und die Gedanken, welche auf sie einströmten, waren ganz der Art, um einen körperlichen Schmerz darüber zu vergessen. Wie eine zornige Demüthigung hatte sie es zunächst empfunden, daß dieser Mensch da vor ihr so als ganz selbstverständlich annahm, sie, wenn sie die Erbin von Dortenbach geworden, werde das Gut sofort verschachern. Sie, die bürgerlich geborene Person, dachte er, könne unmöglich einen schönen, vornehmen Besitz würdigen, sie werde nichts Eiligeres zu thun haben, als diese prächtigen Wälder zu vernichten, diese ehrwürdigen Riesenstämme in die Sägemühle zu senden, aus den alten feudalen Thürmen Dampfschlöte zu machen. An der Stelle des Schloßgrabens, die ihrem Herzen so geweiht und heilig war, ein schmutziges Schlackenlager aufhäufen und das Ganze in schwarzen, abscheulichen Rauch und Qualm hüllen zu lassen – welch ein abscheulicher Gedanke!

Es war in der That empörend! Die Voraussetzung, daß ihre bürgerliche Art zu empfinden nichts anderes mit sich bringen könne, als die Absicht, Dortenbach zu verschachern, trieb ihr das Blut in die Schläfen. Aber nicht lange gab sie sich dieser Empörung hin. Aus dem, was Benning über die Klingholt gesagt, war es ihr wie ein Lichtblitz gekommen: erschreckend und wie mit einer freudigen Ahnung erfüllend war das Licht in ihre Seele gefallen, wie ein sonniger Schein, der durch Wolkennacht dringt und der in kurzer Frist ein volles Durchbrechen von hellem Sonnenschein verheißt. Es löste sich etwas, es hob sich eine furchtbare Last von ihrem Herzen, daß es höher und höher schlug. Bestand nicht am Ende Leonhard’s ganze Schuld darin, daß er just das Entgegengesetzte von dem, was Benning bei ihr zu ihrer bitteren Kränkung voraussetzte, von ihr angenommen? Bestand sein Verbrechen nicht einzig darin, daß er von ihr überzeugt gewesen, sie werde als Erbin anders empfinden, anders handeln, und daß er sich um die Zukunft seiner Eltern gesorgt und geängstigt für den Fall, wenn ein Anderer als sie Erbe von Dortenbach werde? Ja, er hatte nicht gewollt, daß dieses Waldheiligthum seines Vaters – der Wald kam ihr in der That jetzt wie das Heiligthum still waltender Gottheiten vor – entweiht und vernichtet, daß die Menschen, die davon lebten, brodlos, daß seine Eltern von dem ererbten Herde vertrieben würden. O, welches Licht hatten dieses Benning Reden ihr aufgesteckt – welch helles und welch erwärmendes Licht!

„Benning, wohin fahren Sie mich?“ rief sie ihn laut an.

„Zum Schlosse zurück,“ sagte Benning. „Wir werden sogleich schon die Dächer und Essen vor uns liegen sehen.“

„So schlagen Sie den nächsten Weg ein, der zur Försterei führt!“

„Zur Försterei?“ fragte der Rentmeister betroffen.

„Wie ich Ihnen sage! Die Försterin wird mich am besten zu pflegen verstehen – ich will zum Försterhause.“

„Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein!“ versetzte Benning mit unterwürfiger Resignation.




15.

Eine halbe Stunde später lag Regine im Zimmer der Frau Klingholt mit verbundenem Fuße auf dem Sopha – in demselben Zimmer, in welchem ihr am gestrigen Tage eine so niederschmetternde Enthüllung gemacht worden. Jetzt ließ sie sich ruhig die eifrigen Hülfebestrebungen der erregten, mit vielen Worten sie beklagenden Frau gefallen, die dabei ein Mal über das andere an’s Fenster trat, um zu schauen, ob Leonhard noch nicht komme; er war auf dem Schlosse, wo ihn entweder Damian’s Verwundung oder der Zustand des alten Herrn zurückhalten mochte. Edwin war gleich nach Reginens Ankunft abgesandt worden, um ihn zu rufen.

„Endlich! Da kommen Beide!“ sagte die Försterin – und gleich darauf trat Leonhard mit hastigem Schritte in’s Zimmer.

„Sie – zurück – und verwundetet?!“ rief er, den Hut zur Seite werfend, „was ist geschehen, Regine?“

„Ich bin verletzt,“ sagte sie mit einem großen fragenden Blicke und leise errötend zu ihm aufschauend; „wie Sie sehen, gezwungen, nun doch – zu Ihnen zurückzukehren. Wollen Sie mir helfen?“

Er schien Zeit zu bedürfen, sich zu fassen. Spannung in jeder seiner Mienen, sah er sie an. Dann beugte er sich nieder, um die Verletzung zu untersuchen. Seine Mutter verließ discret den Raum.

„Sie sehen,“ fuhr Regine mit einem schwachen Versuch, den Ton des Scherzes anzunehmen, fort, „am Ende flüchtet sich doch Alles zu Ihnen, dem Helfer Aller.“

Er sah wieder mit derselben Spannung in ihre bewegten Züge, die nun so, ihm Auge in Auge gegenüber, eine sich heftig steigernde Erregung verriethen – weshalb sprach er auch nicht – weshalb sah er nur so fragend, so gar nicht die Situation und was in ihr vorging begreifend, in ihr Auge? Hätte er denn nicht Alles errathen, nicht reden, nicht ihr das Reden ersparen können? Nichts als: „Der Knöchel ist verrenkt“ – zwang er nach einer Pause sich zu sagen – „es thut mir leid, daß ich Ihnen einen Schmerz bereiten muß, ihn wieder einzurichten.“

„Ich Aermste!“ versetzte sie mit wehmütigem Lächeln; „als ob mir nicht heute schon die verstauchte Vernunft schmerzlich genug eingerenkt wäre!“

Auch jetzt schien er noch nicht verstehen zu wollen. Es war grausam von ihm. Grausam auch erfaßte er ihren Fuß und – ihr einen leisen Aufschrei des Schmerzes erpressend, vollführte er mit seiner wunderbaren Geschicklichkeit rasch die nothwendige Operation.

Sie legte dann, bleich geworden und die Augen schließend, den schönen Kopf, der unter der Wirkung des schwindenden Schmerzes einen eigenthümlich idealen Ausdruck gewonnen, auf die Sophalehne zurück. Leonhard blickte tiefbewegt auf diese schönen Züge, welche eine so magische Macht auf ihn übten. Er vergaß darüber für eine Weile, was nun weiter geschehen mußte. Dann, wie sich besinnend, holte er es rasch nach.

Als mit Hülfe der von der Försterin schon früher herbeigebrachten Dinge der Verband gelegt worden war, erhob Regine das Haupt, und mit dem weichsten Tone ihrer Stimme sagte sie:

„Nun ist’s vorüber. Nicht wahr, Leonhard, Sie – wir werden uns jetzt nicht mehr wehe thun – nie mehr!“ Und ihm die Hand hinstreckend, fügte sie hinzu: „Sie werden auch keine schlimmere Buße von mir verlangen, als diese hier; ich bekenne offen, gedemüthigt von Allem, was mir widerfahren ist, daß mein eigensinniger Wille gebrochen ist. Und daß es plötzlich über mich gekommen ist, das Gefühl, daß ich Ihnen Unrecht gethan –“

Er nahm ihre Hand; er küßte sie – aber noch immer sprach er nicht – noch immer sah er sie ernst und fragend an – noch immer zwang er sie, zu sprechen, und Alles, Alles zu sagen.

„Ja,“ fuhr sie deshalb fort, „wenn ich es denn erklären muß – muß ich es? – ich fühle, Sie hatten Recht, als Sie nicht wollten, daß ich mein Erbrecht aufgebe, und fest dabei blieben. Sie hatten völlig Recht. Sie dachten dabei nicht an sich, Sie dachten an Ihre Eltern. War es nicht so? O, sagen Sie mir, daß es so war!“

„Gewiß, Regine, so war es. Wenn Sie bei Ihrem Entschlusse beharrten, war die Zeit, welche meine Eltern noch zu verleben haben, nur ein bitterer Leidenskelch. Und viele andere Menschen wurden unglücklich dadurch. Sie durften es nicht.“

„Aber weshalb sprachen Sie das Alles nie aus. … Hätte ich Ihnen zürnen können, wenn Sie mir gesagt hätten: Du denkst an deine Eltern, welche todt sind, und willst ihren Willen ehren; ich denke [396] an die meinen, welche leben, und will für ihr Glück einstehen. Der Lebenden Recht geht über das der Todten. Weshalb sagten Sie mir das nicht – vertrauten Sie mir nicht, daß ich begreifen würde, wie Recht Sie haben?“

Leonhard zog einen Stuhl herbei und, sich neben ihr niedersetzend, ihre Hand in die seine nehmend, antwortete er eifrig:

„Weshalb ich Ihnen das nicht sagte, Regine? Weil ich überhaupt Ihren Entschluß nicht mit Gründen bekämpfen, nicht mit Ihnen streiten wollte, und weil ich das Vertrauen zu Ihnen hatte, daß Sie ganz von selbst von einem unvernünftigen Entschlusse zurückkommen würden. Sobald Sie nur erst einmal hierher gekommen, Ihren guten Oheim kennen gelernt und eine Ahnung von der Zukunft in Ihnen aufgestiegen wäre, welche Ihr Erbgut bedrohte, wenn Sie darauf beharrten, sich einer heiligen Pflicht zu entziehen …“

„Einer Pflicht …? Darin kann ich Ihnen nicht Recht geben …“

„Doch, einer Pflicht! Der Mensch sei ‚edel, hülfreich und gut!‘; er darf also die Mittel, die sich ihm bieten, es zu sein, nicht fortwerfen; er darf es nicht. Welch ein thörichter, dummer Arzt wäre ich, wenn ich vor meinen Krankenbesuchen am Morgen damit begönne, meine Instrumente zu zerbrechen! Das ist Eines. Und ein Anderes ist, daß es alte ererbte, durch die Zeit gewebte Bande giebt, welche wir nicht einfach zerreißen dürfen, als wären wir Kinder der Stunde und unsere Stimmungen dürften souverain über unsere Entschlüsse entscheiden. Solche Bande sind die Beziehungen zu dem seit Generationen den Unseren gehörenden Boden und zu Denen, die mit diesem Boden zusammenhängen. Ist da stets Gutes gewirkt und geschaffen, so haben wir die moralische Verpflichtung, die Tradition des Guten lebendig zu erhalten und sie fortzusetzen. Ist da Böses geschehen, hat Schlimmes da gehaust, so haben wir es zu sühnen … Der Mensch ist innerlich ein Geschöpf seiner Geschichte, und um in Harmonie mit sich zu bleiben, soll er auch die Verantwortlichkeit für die Gestaltung seiner äußeren Geschichte nicht abwerfen wollen. Und das Alles – ich wußte es ja – würden Sie schon von selber einsehen. Was bedurfte es meiner Reden, die Ihnen nur das Verdienst geschmälert hätten, im richtigen Augenblick richtig zu handeln – aus der eigenen Erkenntniß, dem eigenen Gefühl heraus.“

„Aber Sie sahen doch, Leonhard, daß zu solcher Erkenntniß meine ‚rechtwinklige Natur‘ nicht reichte … bis fremde Lippen mir einen Aufschluß gaben. Sie hätten mir wenigstens doch sagen können …“ setzte sie weich hinzu, „nur einmal recht herzlich sagen …“

„Was? Daß ich Sie liebte, Sie, nicht dieses viel besprochene Erbe? Daß ich Sie liebte von dem Augenblicke an, wo uns der Zufall zusammenführte, der Zufall und nicht eine berechnende Absicht, ja, daß ich Sie liebte in dem Momente, wo ich Sie zuerst sah und mit Ihnen sprach? Nein, Regine, das durfte ich Ihnen nicht erst sagen. Das wäre meiner unwürdig gewesen. Sie mußten es glauben, fühlen, wissen, ohne daß ich sprach.“

„Stolzer Römer!“ sagte Regine scherzend. „Also in Allem wollen Sie Recht behalten?“

„O nein, nein,“ rief Leonhard lebhaft aus. „Ich habe so über nichts gestritten und will in Nichts Recht behalten. Das Recht, Regine,“ fügte er lächelnd hinzu, „ist Ihre Domäne – Sie haben nun gesehen, wohin man mit dem Rechte kommt. Man kann ein glänzendes Erbe und mit ihm das Glück Vieler damit zu Nichte machen; man kann einen armen alten Mann damit in seiner Hülflosigkeit allein lassen; man kann ein treues Herz voll aufrichtiger Leidenschaft damit von sich stoßen … und am Ende …“

„Gelangt man,“ fiel Regine mit hellen Thränen an den Wimpern und einem zärtlichen Blicke in Leonhard’s Züge ein, „am Ende, wollen Sie sagen, gelangt man damit in die tiefsten Waldgründe der Verirrung und verrenkt sich den Fuß … o Leonhard, ich will nie mehr Recht haben – das soll meine Buße sein – nur noch Deine Liebe will ich, nichts als sie.“

„Ueber alles Recht geht Liebe, über allen Zauber Liebe,“ sagte er, einen Kuß auf ihre Stirn drückend.




Für den guten alten Herrn sollte der Tag, der so stürmisch begonnen, mit einer neuen Aufregung enden – aber einer Aufregung so freudiger Natur, daß sie bald all den üblen Nachwirkungen ein Ende machte, welche die Erschütterungen des Morgens für ihn gehabt hatten. Aus der apathischen, beunruhigenden Schwäche, in welcher er in seinem Lehnstuhl lag, riß ihn die Nachricht, welche ihm an Nachmittage Leonhard brachte, empor, die Nachricht, daß Regine zurückgekehrt sei, um ihn nie mehr zu verlassen; diese Kunde erregte ihn so fröhlich, daß er nicht eher ruhte, als bis ihm Leonhard den Willen gethan, mit ihm den nicht kurzen Weg zum Försterhause zu machen, wo Regine für die nächsten Tage unter der Pflege von Leonhard’s Mutter bleiben sollte. Wie neu belebt, legte er tapfer den Weg zurück; und dann saß der alte Herr an Reginens Lager und ließ sich das Abenteuer, welches sie überstanden, erzählen – und endlich zeigte er einen an ihm völlig neuen Willensaufschwung und kündigte Entschlüsse an, wie man sie ihm gar nicht mehr zugetraut hätte. Es war eine Freude, ihn reden zu hören, so energisch sprach er sich aus unter dem Eindruck des Zornes, der endlich über Alles das, was man sich um ihn her erlaubt hatte, die weite tiefe Schale seiner Geduld überfließen gemacht. Eine Freude für Alle war es, nur nicht für Andreas, der ihm zum Försterhause hatte folgen müssen, und der sich jetzt zum Executor seines souveränen Willens ernannt sah. Nicht, daß Andreas nicht auch ein inneres Behagen dabei empfunden! Im Gegentheil, sein altes Herz schlug stürmisch dabei auf. Aber daß er nun dem Rentmeister Benning einen Bogen weißen Papieres überbringen mußte, auf welchem der alte Herr zu oberst die wenigen Worte mit seiner zitterigen Hand geschrieben hatte: „Meiner Nichte Regine Horstmar habe ich von heute an die ausschließliche Führung meiner Verwaltungsangelegenheiten übertragen, uneingeschränkt und in allen Dingen, wonach Sie sich zu richten haben …“ und daß Andreas dann gehen und der Frau Generalin andeuten sollte, wie der Herr Baron als Wohnung für Fräulein Horstmar die von der Frau Generalin bislang benutzten Zimmer zu bestimmen geruht habe – das waren sicherlich keine angenehmen Aufträge für Andreas.

Doch er ging und gehorchte. Als der alte Herr dann am Abend wieder in seinen vier Wänden war – zur Rückkehr hatte er nun doch seinen Wagen vom Hofe kommen lassen müssen – konnte ihm Andreas auch berichten, daß es ihm bei der Generalin besser ergangen, als er zu hoffen gewagt: er hatte die gestrenge Dame bereits eifrig mit dem Einpacken beschäftigt gefunden; der Wagen, der sie und Sergius fortführen sollte, sei auf die früheste Frühe des nächsten Morgens bestellt worden.

Mit solcher Eile abzureisen, war der Familie von Ramsfeld nun freilich nicht möglich – Damian’s Verwundung wegen. Auch stellte sich in den nächsten Tagen mit ihr ein ganz leidliches Einvernehmen her. Dora war dem alten Herrn immer „sympathisch“ gewesen, und was Frau von Ramsfeld anging, so war sie im Grunde eine gute Seele und eine leichtlebige Natur, die sich in unabänderliche Dinge zu finden wußte. Es kam, um sie zu trösten, hinzu, daß einige längere Unterredungen zwischen ihr und Dora, zwischen Leonhard und Edwin und Beider Müttern einen erfreulichen Erfolg ergaben und daß sie endlich, als sie mit ihren Kindern abreiste, mit einer guten Aussicht in die Zukunft, was Dora’s Glück und Versorgung betraf, scheiden konnte. Es war verabredet worden, daß Edwin in der geregelten Weise seine Studien fortsetzen, sein Examen ablegen und darauf als seines Vaters Adjunct angestellt werden sollte. Wenn die beiden jungen Leute dann noch mit derselben Innigkeit, wie jetzt, ihre verliebten Herzen zu einander gezogen fühlten, stand ihrer Verbindung kein Hinderniß entgegen. Für Dora’s Aussteuer würde gern der alte Herr sorgen, wie er Frau von Ramsfeld beim Abschiede erklärte; auch gab er ihr bereitwillig die Zusage seiner Beihülfe, falls sie dieser bedürfen werde, um Damian in irgend eine geregelte Laufbahn zu bringen. – –

Leonhard und Regine sind heute vermählt und leben auf Dortenbach, die letzten Tage des alten Herrn verlängernd und verschönernd. Er ist schwach, sehr schwach, aber schmerzlos und heiter; er ist so gut, und der gute Mensch bedarf so wenig, um sich glücklich zu fühlen. Leonhard hat sein Recht, daß Regine ihm in die Stadt seiner Wirksamkeit folge, wo ihm Ruhm und Ehren geblüht haben würden, der Liebe geopfert, der Liebe für sie, die nun mit wachsender Innigkeit an dem alten Oheim, an dem schönen Stammsitz ihrer Familie, an dem Wohl und Wehe ihrer von ihr abhängigen Umgebung hängt, der Liebe auch für sein der ärztlichen Pflege so oft bedürftiges und früher von ihr ganz verlassenes armes Landvolk.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: peitsche