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Literaturbriefe an eine Dame/XXIX

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Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame/XXIX
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 381–383
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Über Émile Zola und neue deutsche Romane: Hans Hopfen, Hans Wachenhusen, Wilhelm Jensen und E. Vely.
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Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.
XXIX.

Unsere neue Romanliteratur, verehrte Freundin, schielt zum Theile wieder etwas nach der Seine. Obschon wir durchaus nicht im Schlepptau der Franzosen sind, abgesehen von vielen hauptstädtischen Theatern und ihrem Gefolge, so wirkt doch jede neue Richtung, die in Paris von einem tonangebenden Autor eingeschlagen wird, immer auf die deutsche Dichtung zurück. Diese Wirkungen sind oft leise, aber doch dem aufmerksamen Auge wohl bemerklich. Besonders wenn ein Autor in Frankreich sich eines großen Erfolges rühmen darf, so sucht man in Deutschland dahinter zu kommen, auf welchen Grundlagen dieser Erfolg sich aufbaut, und ist rasch bei der Hand, den gleichen oder ähnlichen Grund zu legen. Die Unterhaltungsliteratur ist ja von der Mode abhängig, und die Mode wird in Paris gemacht.

Ich glaube nicht, verehrte Freundin, daß Sie zu den Frauen gehören, welche in Zola’s „Nana“ französische Sprachstudien gemacht haben. Das Buch eignet sich freilich dazu; denn es bringt eine beträchtliche Zahl neufranzösischer Wendungen, welche allerdings zum Theil der Zigeunersprache der Liederlichkeit angehören: es ist ein unangenehmes Buch; es ist dem Autor nicht gelungen, aus den Bestandtheilen der Pariser Cloaken Eau de mille fleurs der Poesie zu bereiten. Gleichwohl ist es in Deutschland viel gelesen und gekauft worden und hat auch diesseits des Rheines einen Skandalerfolg erlebt. Der neueste Roman Zola’s „Pot-Bouille“ zeigt denselben brüsken Ton wie „Nana“, dieselbe das Gebiet der fixen Idee streifende Vorliebe für den Schmutz der Existenz. Diese Vorbilder sind indeß zu craß, um in deutschen Originalromanen nachgeahmt zu werden. „Was ist die deutsch Sprak für ein plump Sprak,“ sagt Riccaut de la Marlinière, und diese Plumpheit der deutschen Sprache macht sie ungeeignet, Situationen von haarsträubendem Cynismus mit der nöthigen Lebenswahrheit zu schildern. Was im Französischen noch immer leidlich klingt, würde sich im Deutschen allzu empörend ausnehmen. Einem deutschen Schriftsteller würde die Entrüstung des Publicums begegnen, wenn er die organischen Basen der Zola’schen Romandichtung auch nur in verdünnten homöopathischen Dosen überreichen wollte. So kann bei uns von eigentlicher Nachdichtung der neufranzösischen Muster nicht die Rede sein; wohl aber findet man in neueren deutschen Romanen kühne Streiflichter, welche wenigstens beweisen, daß die Sonne Zola’s auch bei uns leuchtet.

Doch Zola ist nicht blos ein Romanschriftsteller von herausfordernder Keckheit; er hat auch in einer Reihe von Essys seine Theorie vertreten, und die Einwirkung dieser kritischen Thätigkeit [382] macht sich in Deutschland schon fühlbar. Nicht nur die einfachste Naturwahrheit ohne alle Einschränkung gilt ihm für das höchste Gesetz der Kunst, welchem er in seiner dichterischen Praxis mit der Aufnahme des Widerwärtigsten und Ekelhaftesten in den Kreis seiner Darstellung huldigt, er will auch nichts wissen von einem harmonisch gegliederten und abgeschlossenen Kunstwerke: eine Lehre, die er in die Rumpelkammer der Aesthetik wirft; jedes Stück Leben, abphotographirt, wie es gerade sich giebt, soll im Stande sein, einen Roman zu bilden; wo man dabei anfängt oder aufhört, das gilt ganz gleich; poetische Erfindung ist überflüssig und störend, künstlerische Gruppirung und Architektonik ein Attentat gegen die Lebenswahrheit. Diese Lehren haben etwas Verführerisches für unsere deutschen Realisten und finden hier ein geneigtes Ohr; ein leises Echo derselben tönt uns aus einigen neuen Romanen – ja, bisweilen selbst aus den besten unter denselben – entgegen.

Sie schätzen mit mir, verehrte Freundin, Hans Hopfen’s schönes und liebenswürdiges Talent, das in Vers und Prosa eine markige Eigenart zur Schau stellt: seine Darstellungsweise hat etwas Apartes; man kennt sie stets wieder heraus, und dies ist immer ein Vorzug, sobald die stereotype Manier vermieden wird. Freilich trotzt der Dichter mitunter auf seine Originalität, welche alles Landläufige vermeidet, und dieser Trotz giebt seinen stets interessanten Zeichnungen bei allem dichterischen Werthe bisweilen etwas Hartes, etwas Herbes. Hierin berührt er sich leise mit Zola, dessen Theorie er, wie eine Stelle in seinem neuesten Roman „Die Einsame“ (2 Bände, Dresden und Leipzig, Heinrich Minden) beweist, zum Theil adoptirt: da erklärt er es für die höchste Kunst, der Natur nachahmend nahe zu kommen; es sei eine Kinderei, an der Menschennnatur Schönfärberei zu treiben und das gerade für Poesie zu halten; er erklärt sich gegen die „schönen Abschlüsse“ der Romane und zieht es denn auch gelegentlich vor, seinem Roman gar keinen Abschluß zu geben. Im Uebrigen ist freilich keine Spur jener ästhetischen Verirrungen Zola’s in dem trefflichen Romane dieses bedeutenden Schriftstellers zu finden, nirgends eine Speculation auf die Wirkungen brutaler Scenen; ja es fehlen selbst die gewagten Situationen, die bisweilen in den früheren Werken des geistvollen Dichters einen prickelnden Reiz ausübten.

Ein Hauch echter poetischer Empfindung durchweht das Ganze: besonders ist die Jugendliebe der Einsamen, der sie aus Gehorsam gegen die Eltern entsagt, mit dichterischem Reize geschildert. Mit Recht nennt der Dichter selbst die Geschichte ihres Lebens „ein wunderliches Märchen voll Sehnen und Thränen, voll ungestillter Liebe. Ein tyrannischer Vater, verblendet von der Gier nach Besitz, eine harte Mutter, dem eigenen Kinde wenig hold, das Ideal der Jugendliebe ein stolzer Mann, der, ihre Seelenkämpfe geringschätzend, über’s Meer geht und die Hülflose sich selbst überläßt, der Gatte ihrer Wahl plötzlich wie von einem Zauberschlag verwandelt, das Glück, das er versprochen, nicht zu gewähren fähig, ein dem Tode frühverfallenes Herz. Sie selbst mit dem besten Willen ein Spielball höhnischer Mächte. Zum Glück geboren, unselig durch Anderer Schuld, der Liebe fähig wie kein anderes Geschöpf, gemacht, um im Beglücken selig zu sein, und doch mit Willen vereinsamt, von aller Welt begehrt, Jedwedem abhold und sich selbst ein Gräuel.“

Das ist das Frauenbild, wie es uns der Dichter entwirft; möglich, daß es der Leser hier und dort etwas anders retouchirt. Jedenfalls ist diese Einsame ein höchst fesselnder, wenn auch widerspruchsvoller Charakter; ganz vortrefflich, obgleich hin und wieder im Barockstil, ist der Vater Fabian gezeichnet, ebenso der junge Kaufherr, der um ihretwillen seiner Braut untreu wird.

Einige Reflexe Zola’scher Theorie zeigen sich auch in dem neuen socialen Roman von Hans Wachenhusen „Was die Straße verschlingt“ (3 Bände, Berlin, A. Hofmann u. Comp.). Der Autor hat früher mehrfach pikante Schilderungen des Pariser Lebens veröffentlicht; er ist also mit der neuesten französischen Literatur vertraut. Ganz mit demselben Ausdruck wie Hopfen spricht Wachenhusen von der Schönfärberei unserer romantischen Schule; aus Ueberdruß an derselben sei er mit diesem Stoff einmal aus dem romantischen Gehege des Idealismus ausgebrochen; er will ganz wie Zola keine Erfindung geben, sondern „ein wahres Lebensbild ohne Retouche“. Was uns Wachenhusen erzählt, das erinnert freilich stark an französische Muster; das sind Lebensläufe in absteigender Linie; die Ernte der Missethat steht in voller Blüthe; die Vergehungen und Sünden gegen das Sittengesetz häufen sich von Capitel zu Capitel, und das Ende der beiden Hauptheldinnen, der Mutter und Tochter, ist ein Ende im Pfuhl des Elends und der Verderbniß. Doch wie Wachenhusen erzählt, das unterscheidet ihn wieder von den Vertretern der Zola’schen Schule: bei aller Anschaulichkeit und Lebendigkeit vermeidet er doch das verweilende Ausmalen üppiger oder widerwärtiger Bilder und verzichtet damit auf den Ruhm der Meisterschaft in grellen und crassen Nachtstücken, wie ihn Zola sich errungen hat. Gleichwohl ist die Lebenswahrheit, auf welche das Werk Anspruch macht, eine trübe und niederdrückende. Wäre der Dichter nicht „aus dem Gehege des Idealismus ausgebrochen“, so würde er doch für eine mehr künstlerische Vertheilung von Licht und Schatten im Interesse des Gesammteindrucks Sorge getragen haben. Die Lebenswahrheit à tout prix kümmert sich freilich nicht um künstlerische Contraste. Der brave Richter und der schwache Karl Holstein, selbst die tüchtige Helmine wiegen zu gering in der Wagschale, um ein Gegengewicht gegen die allgemeine Verworfenheit zu geben. Freilich will uns Wachenhusen ein Bild geben von der zunehmenden Entwerthung des weiblichen Geschlechts durch die Unnatur unserer gesellschaftlichen und bürgerlichen Verhältnisse, durch eigene Schuld, durch Vernachlässigung der Erziehung, durch das Bedürfniß nach Luxus und das steigende leichtfertige Angebot auf dem Markte des Lebens, doch das Bild würde durch eine Verwebung mit dem Gegenbilde wesentlich gewonnen haben. Davon abgesehen, spricht aus dem Romane eine wohlerprobte Kenntniß der Menschen und Verhältnisse; die Darstellungsweise des Autors ist gewandt und lebhaft, oft pikant; sie hat einen gewissen weltmännischen Schliff, ein resolutes leichtgeschürztes Wesen. Auch fehlt es ihr nicht an poetischen Momenten, namentlich in den Schlußcapiteln.

Nicht an Zola, verehrte Frau, eher an die romantische Schule Frankreichs und ihren gefeierten Meister erinnert der neue Roman Wilhelm Jensen’s „Versunkene Welten“ (2 Bände. Breslau, Schottländer). Doch hat er auch soviele deutsch-romantische Züge, daß eigentlich jeder Vergleich mit französischen Werken ausgeschlossen ist. Traumhaft und visionair ist die Beleuchtung, die über dem Ganzen schwebt; „ein Schattenspiel“ nannte Jensen seine letzte interessante Erzählung in „Unsere Zeit“; ein Schattenspiel könnte man seine meisten Erzählungen nennen, besonders aber „Versunkene Welten“; denn wie von ahnungsvollem Lichte angeglüht bewegen sich hier alle Gestalten, in Haß und Liebe, bis der Ocean sein Riesengrab aufthut und ganze Städte verschlingt. Die Handlung spielt um das Jahr 1300 in Nordfriesland, in den beiden feindlich gesinnten Nachbarstädten Weddingstedt und Rungholt; der Bischof von Ripen zieht mit Heeresmacht gegen die rebellischen Friesen, mit ihm Herzog Woldemar von Schleswig, der Vormund des jungen Königssohnes Erich Menwed, des Thronerben. Als die Schlacht in der Nähe von Weddingstedt tobt, da bricht der Ocean herein, begräbt die Kämpfer, die Städte und das ganze Land in seinen Fluthen.

Hochpoetisch ist das großartige Naturereigniß geschildert, und die Vorgänge und Menschen in den Städten vor der Katastrophe sind ebenfalls in warme dichterische Beleuchtung getaucht, namentlich die Liebe Edrum Holding’s zu Hemmo Hemmen in der Venusgrotte. Drei Gestalten des Romans aber erinnern an Victor Hugo: der halb irrsinnige Priester Roluf Ulfarts mit seinen mechanischen Erfindungen, der auf dem Wolfshund reitende Zwerg Thiomken, der, von des Ripener Bischofs Buhlerin geschlagen, dieselbe bei dem Hereinbruch der Sündfluth grausam martert, und der Riese Jork Gerkens mit seinem trotzigen Heidenthum, seiner eddahaften Poesie; es sind groteske Gestalten, wie sie eine Zauberlaterne an der Wand abschattet. So kräftig und treu die Volkssitten gezeichnet sind, der Thing bei Weddingstedt, der Heereszug der Bischöfe und Ritter, so meisterhaft die Landschafts- und Marinemalerei ist: es schwebt um alles und über allem ein phantastisches Licht, das aus der Tiefe einer die Welt und das Leben als Traum und Schattenspiel betrachtenden Weltanschauung hervorbricht.

Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie bereits einen Roman oder eine Erzählung von E. Vely gelesen haben, die unter den neuen Erzählerinnen einen hervorragenden Rang einnimmt? Was mich an ihr anzieht, ist die Wärme und Lebendigkeit ihrer Darstellung und die verschwenderische Hand, mit der sie ihre Gestalten und Motive ausstreut. Es giebt manche, auch recht namhafte Autoren, die hiermit sehr ökonomisch umgehen und „ihre Armuth sehr zu Rathe halten“, wie es in der bekannten Xenie heißt.

[383] Ich habe wenig Sympathie mit einer Meisterschaft, die aus der Noth eine Tugend macht; Kargheit der Phantasie und Kühle der Empfindung kann ich nie für Vorzüge halten, selbst wenn sich die ganze Modenwelt entschlossen hat, für Autoren zu schwärmen, welche beides in ihren Werken zur Schau tragen. E. Vely hat mehrere Novellensammlungen herausgegeben, so auch neuerdings eine solche unter dem Titel: „Südlicher Himmel“ (Herzberg und Leipzig, Verlag von C. F. Simon). Von den zwei Novellen der Sammlung verdient die erste: „Joca Davis“, den Vorzug; sie kam zuerst in „Unsere Zeit“ zum Abdruck und erregte damals durch ihr warmes, südliches Colorit – sie spielt in Dalmatien –, durch die Lebendigkeit der Schilderung und die spannende Handlung Aufsehen in der Lesewelt. Außer diesen Novellen hat E. Vely einen größeren Roman in vier Abtheilungen veröffentlicht: „Drei Generationen“ (drei Bände, Herzberg und Leipzig, C. F. Simon). Sie glauben vielleicht, daß „Die Ahnen“ von Freytag, die uns einen ganzen Stammbaum durch lange Jahrhunderte herunterturnen lassen, den Anlaß zum Roman der Frau Vely gegeben haben, doch in den Romanen eine Familienchronik mehrerer Geschlechter zu geben, ist schon früher üblich gewesen: ich erinnere Sie nur an die Romane von Henrik Steffens: „Walseth und Leith“ und Andere, besonders an den Roman der Fanny Lewald: „Von Geschlecht zu Geschlecht“, mit welchem das neue Werk der Frau Vely einige Aehnlichkeit hat; denn es beginnt ebenfalls mit Bildern aus der französisch-frivolen Cultur des vorigen Jahrhunderts.

Von den Freytag’schen „Ahnen“ unterscheiden sich diese Romane dadurch, daß sie nicht, wie diese, über Jahrhunderte hinwegvoltigiren, sondern die Familienchronik dreier Geschlechter in ihrem inneren Zusammenhange darstellen. So greift in dem Vely’schen Roman die jugendliche Heldin der ersten Generation noch als Großmama in die Geschicke der dritten ein. Es ist einleuchtend, daß jeder dieser Romane eigentlich aus einem Romancyklus besteht, indem jede Generation ein begründetes Recht auf selbstständige Behandlung ihrer Erlebnisse hat.

Fanny Lewald hat in der That für ihren Cyklus acht Bände gebraucht, während E. Vely die Chronik dreier Geschlechter in drei Bänden erzählt. Das liegt in der Darstellungsweise der beiden Schriftstellerinnen; Fanny Lewald liebt das epische Verweilen, ja eine gewisse Langathmigkeit, während der schriftstellerische Puls der Frau Vely sehr beschleunigt geht; Fanny Lewald analysirt ihre Charaktere und die Entwickelung ihres Seelenlebens bis in’s Detail; Frau Vely begnügt sich oft mit einzelnen erhellenden Lichtern. Bei Fanny Lewald überwiegt die Verstandesthätigkeit, bei E. Vely das Gefühl, das sich oft in anmuthigen lyrischen Schilderungen und Ergüssen ergeht.

Sie erwarten gewiß, verehrte Freundin, daß in einem solchen Familienroman jene Frage der Erblichkeit der Anlagen und Charaktereigenschaften, wie ich selbst sie in meiner „Erbschaft des Blutes“ poetisch zu behandeln versuchte, eine Rolle spielt. Dies ist indeß nicht der Fall; Frau Vely scheint ein solches Gesetz der Vererbung nicht anzuerkennen. Da ist in der ältesten Generation eine kokett-graziöse Baronin von Ungleich, welche keine größere Ehre kennt, als die Maitresse ihres Fürsten zu werden; sie selbst ist ebenso wie ihr Mann, der zuletzt Minister wird, ganz grundsatzlos und von der frivolsten französirenden Richtung. Der Sohn aus dieser Ehe, Werner, ist aber ein tüchtiger Charakter, der sich an demagogischen Umtrieben betheiligt, zum Tode verurtheilt, zu langer Gefängnißhaft begnadigt wird und dann zugleich mit seiner Geliebten Hildegard sich vergiftet. In der anderen Linie ist der Wolf Ungleich der ersten Generation eine Kraftnatur, Anhänger revolutionärer Grundsätze, der seinen Adel ablegt, seinem Fürsten herausfordernd gegenübertritt. Sein Sohn aber, obgleich er die Befreiungskriege mitmacht, ist von schwächlicher Art. Zu Darwin’s Theorien hat Frau Vely keinerlei Beiträge geliefert. Den Hintergrund der ersten Abtheilung bildet die französische Revolution, welche die Pomadentöpfe der Rococowirthschaft in ganz Europa in Scherben schlägt; in die zweite fallen die Befreiungskriege und die demagogischen Bewegungen, in die dritte die liberalen Bestrebungen der vierziger Jahre.

Die landschaftlichen Bilder, wie die Liebesscenen des Romans durchweht ein echt poetischer Hauch. Alles in demselben ist freilich nicht niet- und nagelfest. Die Bekehrung der Gertrud durch den alten Juden hat etwas allzu Plötzliches und wenig Glaubhaftes, und daß die Baronin Aglaë dem wildfremden Mann, dem sie zufällig begegnet, die Papiere ihres Mannes ausliefert, erscheint mir durchaus unmotivirt, und doch giebt diese Handlung den Ausschlag für das tragische Ende Werner’s und Hildegard’s.

Sie sehen, verehrte Freundin, Sie haben die Wahl, in welches dieser Werke Sie sich vertiefen wollen, und wenn Sie am Strande sitzen und der von den fernen Horizonten des baltischen Meeres herüberwehende Wind Ihnen in den aufgeschlagenen Büchern blättern hilft, so gedenken Sie auch wohl des fernen Freundes, der in die endlose Fluth der Literatur untertaucht, um einige Perlen für Sie heraufzuholen.