Der Mäusethurm
Wer die reizenden Gegenden des Rheins von Mainz bis Koblenz durchwanderte, oder auf den klaren Fluthen des alten deutschen Stroms die großen Bilder einer großen Natur vor dem trunkenen Auge magisch vorüberziehen ließ, dem zaubert auch gewiß die Erinnerung das Bild des alten wankenden Thurms herbei, dessen Namen er hier als Ueberschrift liest; sieht ihn wieder vor sich, wie er auf der kleinen Insel unter Bingen, nahe dem linken Ufer, dem Rhein entsteigt, und hört noch den geschwätzigen Schiffer, der ihm mit ernster Miene die seltsame Mähre des Thurms erzählte, und schaudernd, ob des schrecklichen Beispiels von bestrafter Pfaffengrausamkeit alter Zeiten, ein „Gott sey bei uns!“ ausrief.
Es war nämlich im Jahre nach Christi Geburt 968, als Hatto II., der Ostfranken Herzog, mit dem Beinamen Bonosus, Abt zu Fulda, ein Mann von großer Klugheit und überhaupt glänzenden Geistesgaben, zum Erzbischof von Mainz erwählt ward. Er war aber ein hartherziger Mann, und dem Geize sehr ergeben, häufte daher Schätze auf Schätze, und verwahrte sie sorgfältig.
Während seiner Regierung geschah es nun, daß zu Mainz und in der umliegenden Gegend eine so große Hungersnoth eintrat, daß die Armen, aus Mangel an Lebensmitteln ihr Leben nicht mehr zu fristen vermögend, dahin starben. Ein großer Haufe drang vor Hatto’s Schloß, und bestürmte ihn mit flehentlichen Bitten um Linderung ihrer Noth.
Der hartherzige Mann verweigerte es ihnen, und schalt sie, daß sie müßiges schlechtes Volk wären, und nicht arbeiten wollten. Die Armen wurden ungestümer, und forderten mit furchtbarer Stimme Brot. Da ließ Hatto eine große Anzahl Hungriger, unter dem Scheine, als sollten Früchte und Lebensmittel unter sie ausgetheilt werden, in einige Kornhäuser sich sammeln, ließ sie dann zuschließen und in Brand stecken, so daß alle den elenden Tod in den Flammen starben; und während der Unglücklichen Klagegeschrei aus dem Feuer himmelan stieg, rief er mit ruchloser Fühllosigkeit den Mithelfern des Verbrechens zu: „Hört ihr, wie die Mäuse pfeifen!“ –
Aber es schwieg nicht bei dieser Gräuelthat die Rache des Himmels, die einen wunderbaren und noch nie erhörten Tod über Hatto verhängte. Es entstand nämlich und stürzte aus der Asche der erbärmlich Verbrannten ein solches Heer Mäuse auf ihn zu, daß, wohin er sich auch wenden mochte, diese Thiere mit Bissen ihn verfolgten. Flüchtete er sich auf die steilsten und höchsten Oerter, – an den Wänden hinauf kletterten sie ihm nach. Schloß er sich noch so eng ein, so drangen sie durch die kleinsten Ritzen, stürmten in überschwenglicher Menge auf ihn los, und bissen, zerfleischten und zernagten ihn. Und so groß war ihr Ungestüm, daß, je heftiger man sie abzutreiben suchte, mit desto stärkerer und erneuerter Wuth sie auf ihn los gingen, – ja, wo sie an Wänden und Tapeten seinen Namen fanden, den nagten sie weg.
Als sich nun der Bischof in dieser jämmerlichen Lage zu Lande nirgends sicher sahe, da suchte er im Wasser Hülfe. Er ließ deshalb schleunig einen Thurm in den Rhein bauen, und floh in einem Nachen dahin. Durch doppeltes Bollwerk sich sicher während, hoffte er, der reißende Strom werde den Mäusen den Zugang zu ihm verwehren, und er so vor ihrer Wuth gerettet seyn. Allein auch hier entging er der göttlichen Rache nicht. Die Mäuse schwammen in so ungeheurer Anzahl über den Strom, daß sie, obgleich eine Menge ersoff, dennoch Tausende am Thurme anlangten. Nun kletterten sie an den Mauern hinauf, drangen überall ein, dem Bischofe nach, und zerfleischten ihn so, daß er endlich des jämmerlichsten Todes sterben mußte.
Schauerlich genug ist diese Sage, aber ohne allen historischen Grund. Hatto’s Thurm, oder der Mäusethurm, ist eine Warte, wahrscheinlich errichtet, die Schiffenden vor der Gefahr das nahen Bingerlochs zu warnen, oder auch zur Erhebung des Rheinzolles. Hatto war der Freund und Rathgeber Kaiser Otto’s, und streng gegen die Mönche, die von der Zucht abwichen; auch mochte er dem Müßiggange nicht hold seyn, und so ersann man das Mährchen seines Todes, welches schon Trithenius in seiner Hirschauischen Chronik S. 35 widerlegt.
Merkwürdig ist es, daß es eine beinahe gleichzeitige polnische Sage giebt, die mit dieser große Aehnlichkeit hat. Als eine nicht deutsche bleibt sie von dieser Sammlung ausgeschlossen, man kann sie aber im 42sten Stück des Morgenblattes von 1812 nachlesen. – Schreiber’s Taschenbuch für Reisende am Rhein, 1812. 8. S. 286. Morgenblatt, 1812. 42s St. Denkwürdiger rheinischer Antiquarius, Frankfurt 1744. S. 587. – Eine poetische Bearbeitung dieser Sage hat Langbein in seinen neuen Gedichten, Tübingen 1812. 8. S. 21, geliefert.