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Der Freischütz

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Textdaten
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Autor: C. v. K.
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Titel: Der Freischütz
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 490–492
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Freischütz.

Theatralische Rückerinnerungen.

Ich beschäftige mich eben mit dem Studium der Biographie Karl Maria’s von Weber.[1] Der Verfasser und Herausgeber derselben, des Verewigten ältester Sohn, Max Maria von Weber, hat dem deutschen Volke in ihr nicht blos ein treues Conterfei seines großen Vaters, ein lebensvolles Bild des Menschen und Künstlers Weber, des nationalsten und volkstümlichsten aller deutschen Tondichter gezeichnet, sondern er entrollt uns in dieser Biographie daneben auch ein Stück Cultur- und Zeitgeschichte, die das Buch als eine doppelt beachtend und dankenswerte Gabe erscheinen läßt und ihm auch nach dieser Seite hin einen ebenso hohen als unvergänglichen Werth sichert. Ich habe darum auch sehr bewußt absichtlich gesagt: ich beschäftige mich mit dem Studium der Biographie Weber’s, denn ein solches Buch darf man nicht einfach blos lesen, wie man etwa hundert andre Bücher liest, ein solches Buch muß man studiren. Ueber seinem Studium werden Erinnerungen mannigfacher Art in mir wach. Zwei davon, die den Freischütz betreffen und deren eine meinen Kinder- und Jünglingsjahren, die andre meinem Gauklerleben angehört, will ich hier mittheilen.

Am 18. Juni 1821 war unter dem begeisterten Zujauchzen fast der gesamten Bevölkerung in Berlin der Freischütz zum ersten Mal in Scene gegangen von dort aus dann seinen Siegesflug über die Theater Deutschlands nehmend. Daß kleinere und kleine Bühnen, besonders Wanderbühnen sich seiner erst nach zwei, drei Jahren bemächtigen konnten, ist in Betracht der damaligen Vermittlungsverhältnisse sehr erklärlich. Somit war es sicher in gewissem Sinne ein Zeichen bedeutender Thatkraft und schön nationalen Strebens, wenn z. B. ein Wanderbühnen-Director, wie Brökelmann (mehr noch als ihm selbst ist eigentlich seiner ebenso liebenswürdigen als feingebildeten und künstlerisch hervorragenden Gattin, Julia Brökelmann, das Verdienst zu vindiciren!) der doch immer nur verhältnißmäßig sehr mittlere Städte wie Stralsund, Greifswald, Anklam etc. besuchte, schon im Winter 1822 seinen Theaterorten den Freischütz brachte.

Die Melodien der Oper waren allerdings schon gleich nach ihrer Aufführung in Berlin und Hamburg im ganzen Norden Deutschlands bekannt geworden. Reisende, namentlich Handlungsreisende, mehr oder weniger gesangeskundig, Alle aber geschworene Freischützenthusiasten trugen die originellen, und deshalb leicht behaltbaren Weisen des Trinklieds Caspar´s, des Jungfernkranzes, des Jäger- und Spottchores, der Arie des Max: „Durch die Wälder, durch die Auen“, bis tief in die Abgelegenheit der kleinsten Städtchen. Der Freischütz war ein Epoche machendes Ereigniß, das die Theilnahme aller Schichten der bürgerlichen Gesellschaft gleich gewaltig in Mitleidenschaft zog.

Auch in meiner Vaterstadt, einem saubern, behäbigen und wohlhabenden Landstädtchen Mecklenburgs, spielten alle Claviere, die vorhanden waren. nur die Melodien des Freischütz, sangen begeisterungsvoll alle jungen Mädchen mit und ohne Stimme – die schwärmerischen und sentimentalen. „Wie nahte mir der Schlummer“ – und: „Und ob die Wolke sie verhülle“ – die mehr keck, leichtblütig und heiter temperamentirten. „Kommt ein schlanker Bursche gegangen“ – während die Herren Primaner des Gymnasii sich entschieden an des Kaspar famoses Trinklied hielten, unglücklich liebende Handlungsdiener aber das klagende Recitativ des Max aus der Flöte in die Nacht hinausbliesen, Handwerker und Mägde dagegen dem Jägerchore und dem Jungferkranz den Vorzug gaben.

Auch hier also Freischützenthusiasmns im höchsten Grade, der nahezu fieberhaft und bedenklich wurde, als sich plötzlich die Nachricht verbreitete. „Brokelmann ist mit seiner Gesellschaft in Anklam und giebt den Freischütz.“

Den mercantilen und sonstigen Verkehr zwischen meinem Heimathstädtchen und der schifffahrttreibenden nachbarlichen preußischen Handelsstadt Anklam, dessen Handel damals weitaus bedeutender war als heute, vermittelten außer der Post, die wöchentlich einmal cursirte, auf irreguläre Weise die Kornwagen der um mein Städtchen liegenden Landgüter, die im Winter in Anklam ihrer Felder eingeheimsten goldnen Segen in gemünzten Segen des Bergbaues um setzten; auf reguläre Weise jahraus, jahrein aber ein heimischer Frachtfuhrmann der, je nach Bedürfnis wöchentlich ein- auch zweimal mit seinem starken Biergespann den im Sommer theilweise mahlend sandigen theilweise fettlehmigen im Sonnenbrand dann starrend holperig trocknenden, im Herbst und Frühling [490] dagegen überall fast grundlosen Landweg befuhr und zu jeder Reise, trotz kaum mehr als drei Meilen betragender Entfernung, hin und zurück seine ausgeschlagenen drei Tage brauchte. Dieser Frachtfuhrmann nun auch hatte die erwähnte aufregende Nachricht mitgebracht, leider aber vergessen, sich nach den Tagen der Aufführung zu erkunden.

Ein vorzugsweise freischützbegeisterter erbgesessener Patriciersohn erklärte sich aber sofort bereit, nach Anklam hinüberzureiten und genaueste Nachricht heimzubringen. Seine Rückkehr konnte erst spät in der Nacht erfolgen, da es so fest stand wie das Amen in der Kirche, daß, wurde an diesem Abende der Freischütz in Anklam wiederum aufgeführt, der begeisterte Bote auch durch die Schrecknisse eines Heimritts in rabenschwarzer Nacht auf entsetzlichem Wege und obendrein durch nicht ganz geheuren meilenlangen Forst sich nicht würde zurückhalten lassen, die Vorstellung zu genießen. Hunderte von Leuten aller Stände blieben über Nacht auf, den Gesandten zu erwarten. Mehr als fünfzig Männer und Frauen, jung und alt, harrten seiner in Gemeinschaft in einem Patricierhaus, das gastfrei den Freischützenthusiasten, an deren Spitze es selbst stand, seine Räume geöffnet hatte. Sogar der Kastengeist, der nirgends schroffer hervortritt als in kleinen Städten, besonders in alten mit ausgedehnter Autonomie, verkroch sich vor der allgemeien Begeisterung, wenn er auch spottlächelnd aus seinem Winkel herausschielte und auf seine Zeit mit Ruhe wartete, von der er sicher wußte, daß sie wieder kommen mußte. Heute Nacht freilich war er machtlos. Die Gesellschaft, so bunt gemischt sie war, vereinte ein und dasselbe Gefühl, und das ließ sie für den Augenblick alle Standesunterschiede vergessen.

Gegen fünf Uhr Morgens endlich sprengte auf schweißtriefendem schäumenden Gaul, mit den unsaubern Bestandtheilen der Landstraße, Lehm und feuchtem Sand, vom Kopf bis zur Zehe, Mantel, Hut und Reitstiefel bedeckt, der Delegat vor die Pforte des Patricierhauses, schon gefolgt von allen den Aufgebliebenen, die in der Straße wohnten, in die er einritt, und die der Hufschlag seines Pferdes hinter ihm her gelockt hatte, wie die Pfeife des Rattenfängers von Hameln.

„Ich habe den Freischütz gehört und gesehen,“ meldete den stumm Lauschenden der Heimgekehrte. „Ihn Euch zu beschreiben – dazu fehlt mir nichts weiter als Alles! Seine Schönheit, sein wunderbarer Reiz sind eben unbeschreibbar. Für morgen Abend sind alle Plätze schon verkauft, aber für übermorgen und den Sonntag habe ich noch je dreißig Plätze glücklich erstritten. Hier sind die Billets.“

Für beide Tage begann nun ein Rüsten von Kleidern, Rossen und Wagen, das die ganze Stadt in Aufruhr setzte. An guten Pferden fehlte es nicht, wohl aber an Chaisewagen. Man behalf sich indessen so gut es eben ging, nahm auch zu strohausgeflochtenen Leiterwagen seine Zuflucht, und an beiden Tagen Morgens früh um vier Uhr setzte sich die Karawane in Bewegung.

Und glücklich waren auch diese Freischützpilger heimgekehrt – entzückt, verzückt, in förmlichem Begeisterungstaumel ob des gehörten und geschauten Schönen und Wunderbaren; ihre Erzählungen und Berichte machten in den Anderen, die für diesmal, gezwungen von der bitteren Notwendigkeit, noch hatten zurückbleiben müssen, die schon an und für sich so mächtige Begierde, auch selbst zu hören und zu schauen, noch reger, und eine neue Karawane sammelte sich und begann sich zu rüsten. Da, o herbes Geschick! brachte der Postillon statt der erhofften Billets die Trauerbotschaft. „Brökelmann verläßt schon morgen Anklam, um in Stralsund seine Winterstation zu machen.“ Wie ein kältender Regen fiel diese Nachricht auf die von Erwartung flammenden Gemüther. Obgleich ein einmal machtvoll angefachtes Gefühl des Enthusiasmus für gleichviel welche Sache in kleinen Städten mit seinem einfachen täglichen Kreislauf viel länger anhält, viel nachhaltiger in seinen Wirkungen ist, als in großen Städten, wo die Ereignisse sich häufen und Eins schnell das Andere verdrängt, so mußte doch auch hier die immense Sensation, die der Freischütz so allgemein hervorgerufen, naturgemäß nach und nach sich verringern, zumal da das Begeisterungsfeuer ohne Nahrung blieb, denn von all’ den kleinen reisenden Schauspielertruppen, die im Laufe der kommenden Jahre das Städtchen heimsuchten, brachte keine den Freischütz. –

Mehr als fünfzehn Jahre waren nach dem eben Erzählten in’s Land gegangen. In meinem guten Heimathstädtchen hatte sich wenig verändert während dieses Zeitraums, desto mehr freilich ich mich selbst. Ich war aus einem Jungen in angehenden Flegeljahren ein junger Mann geworden, der, außer den Schul- und Collegienbänken, auch schon manche Erfahrungen hinter sich hatte, die man nur im Strom der Welt immer und überall erwerben wird, besonders wenn man seine Wirbel und Schnellen nicht scheut. Die Irrpfade des Gauklerlebens hatte ich indessen noch nicht beschritten.

Es war im Frühling des Jahres 1838, – ich saß gerade gemächlich wieder einmal auf der heimischen Scholle – als die Seiltänzertruppe Jean Weitzmann’s in mein Städtchen einzog. Der Vater der Weitzmanns, die noch heute in zwei selbstständig umherziehenden, aller Orten wohlbekannten Seiltänzerfamilien floriren, war, trügen mich meine Nachrichten nicht, bis an’s Ende der zwanziger Jahre der Führer und das Haupt einer Kunstreiter- und Seiltänzertruppe, die in Oldenburg und Holstein ihr Wesen trieb. Bei ihm, Weitzmann dem Vater, hat auch Renz, dem die Gartenlaube ja früher einmal den Titel „König der Kunstreiter“ beilegte, seine Lehrjahre durchgemacht. Ich selbst sah Renz noch bei der Truppe von Brilloff und Brandt auf dem Drahtseil mit jenem kühnen Schwung der Begeisterung arbeiten, die ihm im Sattel noch heute eigen ist.

Die Weitzmanns, von denen ich hier spreche, producirten am Tage auf dem Marktplatz meines Städtchens ihre Seiltänzerkünste und gaben Abends in einem Saal dramatische Vorstellungen. In ersteren Productionen leisteten sie Vorzügliches, machten ihre Sachen mit einer liebenswürdigen Grazie und Anmuth und obendrein mit einer Decenz, die um so achtungswerther erschien, je seltener sie sonst die Begleiterin derartiger Darstellungen zu sein pflegt. Der familienhafte Charakter der Truppe machte seine Wirkung auch auf ihre öffentlichen Schaustellungen geltend; die Weitzmanns waren und sind in ihrer Art das, was zu ihrer Zeit die weitberühmten Tänzerfamilien der Chiarinis und Cafortis waren.

Bezüglich ihrer Kunst der Menschendarstellung leisteten sie in kleinen Kotzebue’schen und anderen Stücken mehr, als viele andere wohlorganisirte Schauspielertruppen, die sich nur ausschließlich mit Menschendarstellung befassen, sehr häufig zu leisten pflegen. Man sah es der Art und Weise ihrer ganzen Darstellungen an, daß die Kinder des Kunstreiterprincipals Weitzmann bis zu emem gewissen Grade auch eine Erziehung und Bildung genossen hatten, die nicht blos das Handwerk im Auge gehabt hatte.

Dies Alles nun, war es auch schon ein Erhebliches mehr, als der gewöhnliche Habitus sonstiger Banquisten, wäre doch immerhin noch nichts so Besonderes gewesen, daß es mich berechtigte, ihrer hier zu erwähnen, aber wir Alle im Städtchen waren überrascht, auf’s Höchste erstaunt, als es eines Tages lautete: „Die Weitzmanns geben den Freischütz.“ Alte Erinnerungen rief dieser Name bei Hunderten auf’s Lebhafteste wiederum wach, die einstige Freischützbegeisterung schien wieder neu zum Leben erweckt, nur machten sich mannigfache Zweifel geltend, ob diese Leutchen im Stande sein würden, der Oper auch nur annähernd gerecht zu werden.

Der Tag der ersten Vorstellung kam. Der ziemlich große Saal, in welchem die Bühne aufgerichtet war, füllte sich im Umsehen bis zum Erdrücken, und erwartungsvoll harrten Alle dem Beginn. Unseres alten Stadtkunstpfeifers Capelle war zwar nicht besser, aber auch nicht schlechter, als die Capellen der Kunstpfeifer kleiner Landstädte in der Regel zu sein pflegen. Jean Weitzmann selbst, der handlich Geige strich und etwas zu dirigiren verstand, hatte die Oper mit der Capelle einstudirt, der alte Kunstpfeifer sammt seinen Gesellen und Lehrbuben gaben sich die möglichste Mühe, zahlreiche Proben waren gehalten worden - die Execution der Ouverture schon befriedigte die Musikverständigen und selbst die, welche damals die Oper in Anklam mit Brökelmann’s trefflicher eigenen Capelle gehört und mit einer gelinden Voreingenommenheit gegen die hiesige Darstellung in den Saal gekommen waren.

Jean Weitzmann, mit einem sehr kräftigen und ausgiebigen, wenn selbstverständlich auch nur durchaus naturalistischen Baß begabt, sang den Kaspar, sein jüngerer Bruder Robert mit einer ansprechenden, weichen Tenorstimme den Max; den Kilian ein Herr Julius, der in seinem charakteristischen Costüm und mit seiner [491] kurzen, untersetzten, gedrungenen Figur (er war eigentlich seines Zeichens ein Athlet, der mit eisernen Kanonenkugeln und Centnergewichten Fangball spielte!) den auf seinen Sieg über den Jäger eitlen Bauernschützenkönig mit einer prächtigen Draftit zu verkörpern wußte. Francisca Weitzmann sang die Agathe, ihre jüngere Schwester Louise das Aennchen. Zum Brautjungfernchor hatten sich stimmbegabte Dilettantinnen genug gefunden, und den Jägerchor verstärkten sangeskundige junge Männer des Städtchens mit bestem Willen.

Wie oft ich auch schon vorher und später dann noch die Oper an großen Hofbühnen von Künstlern gehört, niemals doch bin ich weder vorher, noch nachher so innig befriedigt von dannen gegangen, als von der Freischützvorstellung der Seiltänzer Weitzmann. Auch das Costüm, welches die Seiltänzer für ihre Freischützdarstellung sich erdacht, paßte für den Wald und für den Charakter der Zeit weit besser, als das für die erste Aufführung in Berlin hergestellte, wo noch heute – es müßte denn in den letzten Jahren geändert sein, woran ich zweifle! – die Jagdgesellen im Freischütz im wilden, feuchten Forst in einem veritablen Tänzercostüm, in beknopftem und belitztem Wamms, grünen Tricots, befranzten Schnürstiefelchen und zierlichen Hütchen umherlaufen. –

Wiederum waren viele Jahre nach dem eben Geschilderten in’s Zeitenmeer hinabgeflossen. Ich war längst unter die Gaukler und Vagabunden gegangen und hatte unterschiedlicher Herren Länder und mancherlei Leute Gesichter gesehen. Tief aus Ungarn heraufkommend, wo ich zuletzt bei dem verunglückten Sommertheaterunternehmen des ehemaligen Balletmeisters N. (Clara Heinefetrer’s Mann) in O. engagirt gewesen war und des Unternehmers totalen Schiffbruch nolens volens hatte theilen müssen, wanderte ich eines kalten Spätherbstabends müde, frierend, hungrig und durstig und ohne die geringste landesübliche Münze in der Tasche, in ein kleines Nest in der Kurmark ein, wo eine kleine Bande Menschendarsteller gerade hausen sollte. Erfahren hatte ich diese Nachricht in der, einige Meilen von dem Nest entfernt, an der Eisenstraße liegenden größeren Stadt F., bis wohin zur Schienenfahrt meine Baarschaft, erworben durch Gastspiele den weiten langen Weg herauf an allen Orten, wo nur eine reisende Truppe mir aufstieß, noch bis auf den Pfennig gereicht hatte.

Mein gesammtes Hab und Gut bestand in dem Anzug auf dem Leibe, etlicher Wäsche, einem Paar seidener schwarzer Tricots und dem Schminkzeug im Wanderranzen, dem Wanderstab in der Hand und dem Capital, das ich an Rollen im Kopfe hatte, auf das mir aber keine Wirthin auch nur ein Glas Bier verabreichte. Als ich einwanderte in das offene Städtchen, war’s schon finster, und bei dem kältenden Regen, der fein aber dicht herabfiel, waren die Straßen menschenleer, so daß ich erst in ein Haus treten mußte, um das Theaterlocal zu erfragen. Auskunft zwar ward mir zu Theil, wenn auch unfreundlich genug gegeben. War ich doch in der preußischen Mark, wo die Leute im Allgemeinen schon nicht allzuhöflich gegen den Fremden sind, insbesondere aber nicht in kleinen Nestern gegen einen regennassen Menschen, der, die halbe Landstraße an seinen defecten Stiefeln tragend, Abends an die Thüren pocht und nach den Komödianten fragt.

Man hatte mir das Schützenhaus, das am Marktplatz liegen sollte, als Theaterlocal genannt. Ich fand es schließlich, fand auch den Director der Truppe und diese selbst. Es war Vorstellung angesetzt für den Abend, war auch bereits halb acht Uhr vorbei, aber noch keine erbarmungsreiche Publicumsseele hatte ein einziges Viergroschenstück gebracht, trotzdem der Director, von sämmtlichen Gliedern seiner Truppe, zwei Damen und zwei Herren, umgeben, erwartungsvoll bereits anderthalb Stunden an der Casse saß, wenn man einen mit Billets gefüllten Kasten, von Münze indeß so leer wie meine Tasche dazumal, Casse nennen will.

Hier war die eigene Noth so groß, wie sie nur sein konnte. Dennoch wurde der einwandernde College freundlich empfangen und willkommen geheißen, ihm auch, nachdem endlich zwei bedauernstwerthe Jungen ihr Opfer in die Casse gelegt, und in das einstweilen noch stockdunkle Parterre gewiesen waren (Licht konnte erst geholt werden, wenn Geld da war!), ein Schnaps (der Leser verzeihe die Namenkündung eines so unästhetischen, plebejischen Getränks, aber – oportet ist ein Bretnagel!) credenzt und ein Butterbrod gastlich geboten, auch Obdach für die Nacht selbstverständlich zugesagt.

Schon seit sechs Wochen war die Truppe im Oertchen; das Geschäft war von Anfang an schlecht gewesen, seit vierzehn Tagen bereits ging es gar nicht mehr, und sie konnten nicht fort, die Armen, weil sie schuldenbelastet fest saßen, und doch ihre einzige fernere Rettung, das Handwerkszeug, nicht den Gläubigern im Stiche lassen mochten.

„Drei gute, volle Häuser nur!“ seufzte der Director und gab den drängenden Jungen Billets mit der Vertröstung auf morgen, womit sie, verblüfft, sich beschwichtigen ließen. „Drei gute, volle Häuser nur, und wir wären ’rausgerissen, könnten wenigstens fort! Aber womit diese vollen Häuser machen? Nichts mehr will ziehen! Könnt’ aus der Erde ich mir volle Häuser stampfen, mir wüchsen Thaler auf der flachen Hand! Gebt mir nicht einen Menschen, ewige Götter, nein! gebt mir jeden Abend hundert, und ich bin ein glücklicher Mann!“

„Lassen Sie uns“ – ich betrachtete mich natürlich sogleich als der Ihre, – Noth eint schnell! – „den Freischütz geben; wenn Sie ihn haben, der Samiel hilft vielleicht auch uns!“ sagte ich, mehr in einem Anflug jenes Galgenhumors, der, sobald man auf der Spitze des Pechs angekommen ist, mit Entsetzen Scherz treibt, als im Ernst.

„Den Freischütz?! Mensch! Der Gedanke entquoll keiner irdischen Brust! Ein Gott gab ihn Dir, und dem Himmel sei Dank und der heiligen Jungfrau! ich hab’ ihn, und er wird uns ’rausreißen! Wie ist’s nur möglich, daß mir, daß uns das nicht längst eingefallen!“ Er schlug sich vor die Stirn und schloß einen Augenblick gedankenvoll die Augen. Dann breitete er seine Arme aus und sprach im Ton eines zärtlichen Vaters, der den reuigen Sohn an sein Herz zieht. „An meine Brust, theurer College! Sie sind unser Retter!“

Der Schauspieler der Wandertruppen, zumal das Bühnenkind, überträgt auch sein theatralisches Pathos, seine Rollenreminiscenzen, immer und überll mit in’s gewöhnliche Leben, in die alltägliche Unterhaltung. Er kann einmal nicht anders, es klebt ihm an unwillkürlich, auch da, wo er’s selbst mitunter gern vermeiden möchte. Und erklärlich und begreiflich ist das, wenn man einesteils den engen Gesichtskreis in’s Auge faßt, den der Wanderkomödiant gewöhnlichen Schlages, und wiederum besonders das Theaterkind, nur den seinen nennt und auch nur nennen kann, anderntheils die Gewöhnung seines Handwerks, immer nur mit den Gedanken Anderer zu denken, in Betracht zieht, welche Gewöhnnung ihn sehr schnell unfähig macht, überhaupt selbstständig zu denken, ihn sogar verlernen läßt, einen eignen, ihm individuell zugehörigen Sprachton zu haben. Daher das Pathos auch beim Fordern eines Butterbrodes. Er spricht immer „Rolle“. Uebrigens – womit ich indessen weder einen unehrerbietigen Vergleich aufgestellt, noch etwas Unziemliches gegen die Hirtenwürde gesagt haben will! – es geht vielen Ehren-Pastoren auch nicht anders!

Aus dem Wust der Bücherkiste wurden die Partitur, die Stimmen und die Rollen des „Freischütz“ allsogleich hervorgesucht und die Besetzung sofort noch bestimmt. Der Künstler, der den Max singen sollte, ein langer hagerer Mensch mit spärlich fahlblondem Haar, war ein wenig musikalisch, strich die Geige und übernahm die Einstudirung. Wie wir den Freischütz mit vier Männern und zwei Damen besetzten? O, mein theurer Leser! das Wort „unmöglich“ steht auch, wie’s nicht im Lexicon des großen Corsen stand, nicht in dem reisender dramatischer Künstlertruppen! Herr M. sang den Max, Herr B. den Kaspar und den Eremiten, ich den Kilian und den Ottokar, der Director den Kuno, dann spielte er den Samiel, donnerte, blitzte, besorgte die Irrlichter, das wilde Heer (das Hundegebell machten die Damen!), die feuerspeiende Wildsau, rasselte mit Ketten, knallte mit einer Peitsche etc., und agirte dann wiederum den Erbförster Kuno. Den Bauernchor sangen Alle mit auf offner Scene, wobei Agathe und Aennchen einstweilen noch als Bäuerinnen mitwirkten. Den Brautkranz brachte Aennchen allein (Dilettantinnen waren wegen Mangels an weißen Kleidern nicht zu haben gewesen!) und sang die Soli des Brautliedes; Agathe auf der Scene, ein wenig abgewandt vom Publicum, und wir Männer hinter den Coulissen sangen den Chor mit. Den Jägerchor konnten wir Vier, da wir Alle zugleich auf der Scene waren, ja vortrefflich singen, die Damen halfen von hinter der Scene verstärken, und einige kunstsinnige Maurereleven paradirten zur Belebung des Tableaus als Begleiter des Fürsten und als Jäger stumm im Hintergrunde. [492] Das Orchester bestand aus vier Mann, die sich in Violine, Contrebaß, Clarinette und Tenorhorn theilten.

Die Vorstellung des Freischütz ging vor sich und der Saal war am ersten Abend – ziemlich besetzt, am zweiten Abend – voll bis auf den letzten Platz! und als wir, die Citrone auszupressen bis auf den letzten Tropfen, noch eine dritte Wiederholung wagten, wiederum noch so angefüllt, daß wir durch die Gesammteinnahme uns als „’rausgerissen“ betrachten durften. Denn, nachdem der Director und die Mitglieder ihre Hauswirthe, der erstere, als contrahirt habendes Haupt, auch den Localwirth und den Fuhrmann, der uns fortschaffen sollte und, gegen Vorausbezahlung, menschenfreundlichst auch wollte, bezahlt hatten, konnten wir Jeder, o Freischützsegen! noch einen baaren Einstrich von zwölf Silbergroschen machen! Ich weiß es noch, als wär’s gestern geschehen, und niemals an Leben hat mir etwas so viel Freude gemacht, als diese wenigen – sage ich: Freischützgroschen!

Wie über alle Beschreibung elend und jammervoll diese Freischützvorstellung gewesen sein muß, kann der Leser selbst ermessen, ebenso aber auch, wie zauberhaft, wie packend, gewaltig und fesselnd die Macht seiner Melodien selbst bei elendester Ausführung überall noch auf die Gemüther ihre Wirkung auszuüben vermag.

Diese zwar schon alte Wahrheit wiederum auf’s Neue zu erhärten, das ist der einzige Zweck dieser kleinen Skizze und darin möge sie selbst ihre Rechtfertigung finden.
C. v. K.




  1. Karl Maria von Weber. Ein Lebensbild von Max Maria von Weber. 3 Bde. Leipzig. Ernst Keil