Der Heidenhof

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Autor: Fr. von Bülow
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Titel: Der Heidenhof
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 504, 506–508
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der Heidenhof.

Eine Reise-Erinnerung von Fr. von Bülow.


Dienstliche Verhältnisse veranlaßten mich, längere Zeit in Schleswig-Holstein zuzubringen. Ich lernte dabei eine der merkwürdigsten Gegenden Deutschlands genau kennen: die Geest mit ihren spärlichen Dörfern, ihren öden sandigen Heiden und großen einförmigen Torfmooren, die sich als breiter Höhenrücken mitten durch die Halbinsel zieht. Der guten Straßenverbindungen über dieselbe giebt es nicht viele, und wird man gezwungen, sie an Stellen zu passiren, welche dem allgemeinen Verkehr ferner gerückt sind, so ist man auf die oft zweifelhaften Landwege angewiesen, die sich meist durch nicht ungefährliche Moorgebiete hinschlängeln.

Zum Standquartier hatte ich schon seit Monaten den Gasthof eines Dorfes gewählt, welches auf der Grenzscheide zwischen Geest und Ostküste liegt. Kurz vor Schluß der dortigen Arbeiten erhielt ich an einem Oktobertage den Auftrag, mich am nächsten Frühmorgen zu dringender Besprechung in einem Orte jenseit der Geest einzufinden. Der Befehl scheuchte mich aus behaglicher Ruhe, doch war ihm nicht auszuweichen. Das Unangenehmste bei der Sache blieb, daß pünktliches Eintreffen nur ermöglicht werden konnte, wenn ich sofort aufbrach und den direkten Weg über die Geest wählte.

Das Wetter war hierzu nicht einladend, vielmehr unfreundlich und naßkalt. Trotzdem fuhr ich, mit dem nothwendigsten Reisegepäck versehen, auf leichtem Wagen in den sinkenden Tag hinein und fürchtete nicht im Geringsten den uns prophezeiten Sturm, da mein Kutscher, der junge Wirthssohn Christian Nissen, zu den ortskundigsten Männern der Gegend zählte und seine Pferde an Kraft und Ausdauer nichts zu wünschen übrig ließen.

Die Prophezeiung sollte sich in der That bald als richtig erweisen. Die bis dahin trägen, regenschweren, grauen Wolken wurden lebendig. Einzelne Windstöße und schwere Tropfen bildeten ein kurzes Vorspiel, dann begann es am Himmel droben immer eiliger zu werden. Das Wolkenmeer erschien wie eine wilde Jagd, bei welcher jedes einzelne Glied das erste am fernen Stelldichein sein wollte. Die Böen wurden steifer, dann und wann von einem kurzen Regenschauer unterbrochen, und als vollständige Dunkelheit eintrat, hatten wir gegen einen Weststurm zu kämpfen, wie man ihn in solcher Wildheit oft genug auf der Geest erlebt. Nur die vortrefflichen Pferde machten es möglich, wenigstens noch Schritt um Schritt vorwärts zu kommen.

Auch mir war die Gegend nicht fremd, ich kannte ihre Gefahren genau. Ein nur geringes Ablenken vom Wege führte in sogenannte Bebemoore, deren Betreten selbst am Tage die größte Gefahr in sich birgt, wie viel mehr zu solcher Stunde!

Es mochte neun Uhr geworden sein, als das Wetter einen Grad von Heftigkeit annahm, welcher zeitweise den Wagen zum Stillstand brachte. Der jetzt wolkenbruchartige Regen peitschte an uns herum, jedes Schutzes spottend, und von Minute zu Minute mußte man auf ein Umwerfen gefaßt sein. Nach meiner Berechnung waren wir mindestens noch drei Stunden vom Ziele entfernt. Die Hoffnung, dasselbe noch in der Nacht zu erreichen, schwand vollständig, und da an ein Umkehren bei der schmalen Straße auch nicht zu denken war, so faßte ich den Entschluß, im nächsten Gehöft um Obdach zu bitten.

Die Landkarte hatte ich gut im Kopf. Nach derselben mußten wir nicht weit vom Heidenhof sein, einem größeren Anwesen, das zugleich als Wirthshaus bezeichnet war. Auf die Frage, ob man dort ein Unterkommen finden dürfte, bekam ich anfangs von meinem Nissen gar nichts zu hören. Erst wiederholte Aufforderung erzwang die Antwort:

„Ein Unterkommen wohl, aber ich rathe Ihnen nicht dazu.“

„Und weßhalb nicht?“

Wiederum eine lange Pause, dann hieß es:

„Weil im Heidenhof kein Reisender des Nachts bleibt. Schon so Mancher ist hier verschwunden, und die Spnr verlief sich stets in der Gegend des Hofs. Das Moor heißt nicht umsonst das Todtenmoor. Wollen Sie durchaus dorthin, nun gut! Doch noch einmal, ich warne Sie, es ist nicht geheuer im Hofe.“

Diese Worte wurden mit solcher Ueberzeugungstreue gesprochen, daß sich vielleicht mancher Andere dadurch veranlaßt gesehen hätte, dem Rathe zu folgen. Mir aber wollten keine Furchtgedanken kommen; in unserer friedliebenden Zeit an Räuberherbergen zu glauben, erschien mir kindisch und lächerlich.

Offenbar unwillig vernahm der junge Rosselenker meinen Entschluß und versuchte mich nunmehr auf Umwegen darin wankend zu [506] machen. Er wurde redselig. Mehr als einmal mußte ich ihm Aufmerksamkeit auf die Pferde empfehlen, doch immer von Neuem erzählte er irgend eine grausige Geschichte, wo doch das Wetter an Graus schon genug bot.

Noch kurze Zeit, und wir hielten unter dem landesüblichen, scheunenartigen Vordache des Heidenhofes.

Ein matter Lichtschimmer blickte durch das Fenster. Ich rief so kräftig wie möglich, aber Niemand kam; die Stimme mochte auch im Tosen des Sturmes verhallt sein. Da der anscheinend ängstliche Nissen erklärte, bei den unruhig gewordenen Pferden nicht vom Bocke steigen zu können, mußte ich allein heruntertappen.

In demselben Augenblick aber, wo ich festen Boden unter den Füßen fühlte und dem Kutscher noch einige Befehle zurufen wollte, kam mir dieser schon zuvor. Mit einem: „Hier bleibe ich nicht!“ peitschte er die Pferde an und war in der nächsten Sekunde meinen Augen im Dunkel der Nacht entschwunden.

Da stand ich, mit Koffer und Aktenmappe beladen, im Sturm und Regen, vor der Räuberherberge allein! Meinen Freund Christian so von mir scheiden zu sehen, ärgerte mich gewaltig. Seine Furcht vor dem Hause mußte in irgend einer Weise gerechtfertigt sein, unmöglich wäre er sonst davongefahren. Daß meine Stimmung in dieser Lage keine angenehme wurde, kann sich Jeder leicht vorstellen.

Ein längeres Zaudern oder Ueberlegen, was zu thun oder zu lassen sei, verbot sich von selbst.

Die Hausthür war verschlossen. Erst auf längeres, nachdrückliches Pochen hörte ich schwere Tritte nahen. Es wurde geöffnet, und vor mir stand ein riesengroßer, breitschulteriger Mann, in Wahrheit eine Hünengestalt. Eine kurze dunkelblaue, zweiknöpfige Jacke, bocklederne enganliegende Beinkleider und die unbeholfenen Holzschuhe gaben ihm das echte Gepräge des Geestbauern. Das borstige, ins Röthliche spielende Haar und der dänisch gestutzte Kinnbart machten mir, im Verein mit dem nichts weniger als einladenden Blick, durchaus keinen anheimelnden Eindruck. In meiner zierlichen Mittelfigur kam ich mir ihm gegenüber wie der Däumling vor, der dem Menschenfresser begegnete.

Er ließ mich wortlos in das große Wirthszimmer treten, das, mit einigen Tischen und Bänken besetzt, die ganze Tiefe des Hauses einnahm. Nachdem er die Thür wieder verschlossen und verriegelt, musterte er mich eine Weile von Kopf zu Fuß und fragte rauh:

„Was wollen Sie hier?“

Mit möglichst viel Ruhe erklärte ich meine Lage und bat um Unterkunft. Als ich zum Schluß den Namen des Kutschers erwähnte, zog ein verächtliches Lächeln über das breite Gesicht, und leise, doch für mich verständlich, murmelte er vor sich hin:

„Der Teufel möge ihn holen!“

Wie mit seinen Gedanken am Kreuzweg stehend, ob er noch etwas sagen sollte oder nicht, fuhr er sich mehrere Mal mit der Riesenhand durch das Haar. Die Wage des Schweigens mußte schwerer sinken, denn plötzlich machte er kurz Kehrt und klappte quer durch das Zimmer einer an der entgegengesetzten Seite befindlichen Thür zu, durch die er verschwand.

Die Einleitung zum Räuberdrama ließ nichts zu wünschen übrig, und lebhafte Erinnerungen an Jugendmärchen tauchten auf. In richtiger Reihenfolge wurde jetzt wohl das große Messer geschliffen, dann kam der Schreckliche wieder, schlachtete mich gemüthlich ab, schleppte die Ueberbleibsel in das Todtenmoor, und Christian Nissen behielt Recht. Außer Regenschirm und Taschenmesser besaß ich keine Waffen; selbst eine Flucht war nicht möglich, die vergitterten Fenster und die verschlossene Thür sorgten dafür.

Der Räuberhauptmann schien indeß meine Zeit noch nicht für gekommen zu halten – weder er noch sonst Jemand zeigte sich. Aber auch mich plagten andere Sorgen; ich war durch und durch naß, ohne Kleidung zum Wechseln, in einem Raume, wo kein Ofen brannte – befand mich also in einem keineswegs beneidenswerthen Zustande.

Die Wanduhr schlug zehn, halb elf Uhr, und noch immer kümmerte sich kein Mensch um mich. Mindestens ein dutzendmal hatte ich das Zimmer schon durchmessen. Die kleine Lampe auf dem Schenktische knisterte bedenklich, auch sie schien vergessen. Immer trüber und trüber wurde ihr Schein und hüllte den weiten Raum in unbehagliche Dämmerung. Ich räusperte, huftete, nieste, pfiff, sang, Alles vergebens.

So konnte es nicht länger fortgehen. Auf die eine oder andere Weise mußte Klärung geschafft werden. Irgend eine mitleidige Seele gab es sicherlich auch hier – aber wo sie finden?

Die Thür, durch welche der Riese verschwunden, war offen. Die Lampe in der Hand, begab ich mich auf die Wanderung. Stufen führten hinab; ich folgte ihnen. Licht blinkte mir entgegen. Ich ging dem Scheine nach, öffnete eine zweite Thür und stutzte. Eine große, düstere Küche lag vor mir, die reine Hexenküche aus dem Märchen. Auf dem Herde brannte offenes Feuer, darüber hing an einer Kette ein Kessel. Eine alte Frau, deren grausträhniges Haar sich wirr um die Schläfe wand, stand davor und rührte. Ein schwarzer Kater saß daneben und sah mich mit seinen grünen Augen herausfordernd an, während ein gezähmter Rabe, den Kopf unter den Flügeln, auf einer Stuhllehne hockte. Der Sturm heulte durch die Esse, stieß den Rauch zurück, und der Widerschein der prasselnden Flamme lag grell auf dem Antlitz der Alten.

Sie hatte mein Eintreten offenbar nicht bemerkt. Erst auf das „Guten Abend!“ sah sie sich mit schreckensvollem Aufschrei um. Es wurde mir daraus klar, daß sie keine Kenntniß von meiner Anwesenheit im Hause besaß. Ich beruhigte sie mit einigen Worten, führte mich noch einmal als obdachsuchender Reisender ein und bat um eine Lagerstatt und um etwas zu essen und zu trinken. Ganz verstört folgte sie meiner Rede, und es bedurfte langer Minuten, bis sie sich soweit gefaßt hatte, mir brockenweise die räthselhafte Antwort zu geben:

„Aber wissen Sie denn nicht, wie es hier steht – – der Heidenhofbauer – und – und – und –“

Damit war es aus. Was mit dem Hofbauer vorlag, erfuhr ich nicht. Mit Gewalt das hier obwaltende Geheimniß zu lüften, verspürte ich keine Lust; ich wäre am liebsten trotz Regen und Sturm wieder in die Nacht hinausgegangen, aber der Bauer hatte ja die Thür fest verschlossen, und das Oeffnen derselben wollte ich nicht verlangen, um keine Zeichen der Furcht oder Unruhe zu geben. Das endliche Ergebniß des Küchenintermezzos war, daß die Alte versprach, mir Essen und Nachtlager zu beschaffen und die Ingeborg zu rufen.

Ich wanderte hierauf in die Wirthsstube zurück.

Also noch eine dritte Person sollte ich kennen lernen. Wer war Ingeborg? Wenn der schöne Name auch im nördlichen Schleswig nicht selten ist, reizte er doch die Neugierde. Ich saß noch in Gedanken vertieft, als es an die Thür klopfte. Auf das „Herein“ that sich die Thür auf, und wer trat über die Schwelle?

Ich sehe es noch vor mir, dieses Mädchen, von einer Schönheit und einem Liebreiz, wie ich kaum jemals etwas Aehnliches geschaut. Gleich einer Fee, die mich aus diesem Zauberschlosse zu erlösen kam, erschien es mir. Die hohe, schlanke und doch volle Gestalt besaß etwas Königliches. Das überreiche blonde Haar wallte in Goldschimmer lose den Rücken herab. Eine schneeweiße Blouse fügte sich an den groben eigengemachten Hausrock. In der einen Hand das Licht, in der andern ein Tablett, auf dem sich Brot und Wein befand, schritt sie auf mich zu. Ihr großes tiefblaues Auge ruhte durchdringend auf mir, und wie unter einem Banne stand ich unter seinem Einfluß.

Sie setzte schweigend das Gebrachte vor mich hin, und die darauf folgende Bewegung ließ schließen, daß auch sie mich wieder allein lassen wollte. Ihr Entschluß wurde jedoch schwankend, sie wandte sich wieder um und fragte mit volltönender Stimme:

„Was führte Sie zu dieser Stunde nach dem Heidenhofe?“

Ein Anflug von besserer Erziehung, wie man ihn nicht selten bei den Töchtern der dortigen reicheren Hofbesitzer trifft, klang aus dem ganzen Tonfall wider und versprach wenigstens von dieser Seite keine rauhe Räuberbehandlung.

Diplomatische Geheimnisse besaß ich nicht, und was ich schon der Alten und dem Hofbauern gesagt, wurde zum dritten Mal Wiederholt. Das Mädchen hatte sich inzwischen auf die Bank mir gegenüber gesetzt. Die schöne und doch arbeitsgewohnte Hand stützte Kopf und Stirn, und nur mitunter schlug sie die langbewimperten Lider gegen mich auf.

„Und was hat Ihnen mein Vater gesagt?“ fragte sie von Neuem, als ich schwieg.

Ich konnte nur die Wahrheit erwidern: „Nichts!“

[507] Im gleichen Maße, wie mein Interesse für das schöne Wesen wuchs, befestigte sich in mir das angenehme Gefühl, nicht verlassen zu sein. Jeder Schatten von Unbehagen war mit ihr geschwunden, und ich lachte mich selber aus, daß flüchtig Gedanken an die Räuberherberge bei mir hatten unterlaufen können.

Das „Nichts“ ließ gar keinen Eindruck zurück. Sie mochte Derartiges vermuthet haben. Um so tiefer wurde sie von der gewiß unschuldigen Frage berührt:

„Ist Ihr Vater nicht zu sprechen?“

Statt jeder Antwort überfloß dunkles Roth ihre Wangen, und weitester Spielraum würde mir gegeben gewesen sein, neue Vermuthungen anzustellen, wenn ich nicht die Absicht hierzu schon so entschieden aufgegeben hätte. Ich verfolgte die Frage selbstverständlich nicht. Dagegen mußte ich auf die Weiterfahrt am nächsten Morgen bedacht bleiben. Die dahinzielende Bitte erregte die ganze Aufmerksamkeit meines Gegenüber, und schnell war das Wort bei der Hand.

„Und kamen Sie nicht zu Wagen?“

„Gewiß, aber der Kutscher flüchtete vor dem Heidenhofe.“

„Und wer brachte Sie zu uns?“

Als ich den Namen Christian’s nannte, trat eine auffallende Veränderung in ihrem Benehmen ein. Erregt sprang das Mädchen auf, legte die merklich zitternde Hand auf meine Schulter, und hastig stürzten die Worte über die Lippen:

„Sprechen Sie, reden Sie! Welche Richtung hat er eingeschlagen? Die Brücke über den Riedbach ist inzwischen unfahrbar geworden, wie es heißt, und benutzte er den gleichen Heimweg, so ist er in dieser furchtbaren Nacht verloren!“

Diese große Theilnahme für den Durchgänger vermochte ich nicht mit den wenig freundlichen Ansichten desselben über den Heidenhof in Einklang zu bringen. Reine Menschenliebe hätte sich bedachter ausgesprochen. Nach meiner Ueberzeugung saß Christian sehr wahrscheinlich wohlgeborgen an guter Stätte und wartete daselbst mein Eintreffen ab. Dieser Ueberzeugung gab ich auch vollen Ausdruck, doch das Mädchen hörte kaum darauf hin, achtete nicht meines begütigenden Zurufs und stürmte geflügelten Schrittes zur Thür hinaus.

Also wieder allein! Diese grellen Gegensätze von Licht und Schatten behagten mir nicht. Die Geschichte wurde immer rätselhafter. Es ging stark auf Zwölf. Die Nacht auf einer Bank zuzubringen, fühlte ich wenig Lust, und so entschloß ich mich zu einem zweiten Streifzuge nach der Küche.

Die Alte traf ich noch mit Kater und Raben am Herde. Aeußerst geschäftig trippelte sie hin und her, als ob sie Tausenderlei zu thun hätte.

Ich erzählte in aller Kürze, wie es mir mit Ingeborg ergangen, und der Schlußakt der Flucht erzielte hier den gleichen Eindruck wie bei dem Mädchen die Erwähnung Christian Nissen’s. Jedes weitere Wort streute mehr Sorge über die eingefurchten gutmüthigen Züge der Alten, die in tiefer Kümmerniß vor sich sprach:

„O du mein Herrgott, was wird das Ende dieser Nacht sein!“

Was auch das Ende sein sollte, ich konnte mich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Füßen halten, energisch machte ich daher das Recht einer endlichen Entscheidung über mein Schlafschicksal geltend und drohte, im Weigerungsfälle mir die Lagerstatt selbst zu suchen.

Dies wirkte. Fast apathisch ergriff die Alte eine Leuchte, und unter stillem Seufzen winkte sie mir, zu folgen. Durch einen Seitenausgang traten wir in einen Vorflur, eine schmale, steile Treppe hinan, und ein winziges Stübchen, das kaum Raum für Bett und Stuhl bot, nahm mich auf. Sie setzte das Licht auf den Stuhl, und mit träumerischem Gutenacht und schwerem Ach ging sie von mir.

Der guten Gewohnheit, mich genau in dem Zimmer umzuschauen, worin ich zum ersten Mal die Nacht zubringe, wurde ich auch damals nicht untreu. Hierbei wurde mir die unangenehme Entdeckung, daß das einzige kleine Fenster vergittert war und die Thür weder Schloß noch Riegel besaß.

Ein nicht verschließbares Schlafzimmer ist schon an und für sich ein Uebelstand; in diesem geheimnißvollen Hause wurde er zu einem sehr großen. Das Bett erwies sich als ganz vorzüglich. Mit größtem Behagen streckte ich mich aus, und mit der festen Absicht, keine weiteren Befürchtungen in mir aufkommen zu lassen, gab ich mir Mühe, einzuschlafen. An dem guten Willen hierzu mangelte es nicht, der Wille reichte aber nicht aus. Die Augen wollten sich schon schließen, da begannen noch einmal, ganz verstohlen, alle heutigen Erlebnisse an mir vorüber zu ziehen. Ich mochte sie verscheuchen wie ich wollte, die anfänglichen Nebelbilder wurden nur um so klarer. Fragezeichen reihte sich an Fragezeichen, und eins zeigte sich immer bedeutungsvoller als das andere. Ehe ich es nur recht wußte, befand ich mich in einer Gedankenjagd, wie sie aufregender nicht geritten werden konnte. Die Mahnung Christian Nissen’s: „Im Heidenhof ist es nicht geheuer,“ drängte sich mir peinigend auf. Die Phantasie wurde lebendig, und der jetzt mächtige Argwohn machte lange Schritte. Namentlich die nicht verschließbare Thür beschäftigte mich lebhaft; Schloß und Riegel fehlten vielleicht mit Absicht. Eine Flucht durch das Fenster war abgeschnitten, jeder Hilferuf nutzlos. Konnte Nissen doch mit dem Todtenmoor Recht haben? Dabei fachte sich der Sturm zu neuer Wuth an, rüttelte und schüttelte das Haus, als ob dessen letzte Stunde nahe wäre. Jn den wunderlichsten Tönen heulte es um mich herum; aus allen Ecken und Fugen blies, pfiff und sang es; oft glaubte ich Menschenstimmen, Angst- und Wehgeschrei zu unterscheiden; dann klang es in schaurig mächtigen Tönen wie die Posaune des jüngsten Gerichts. Als das Unwetter ein wenig nachließ, legte ich mich aufs Horchen, sprang auf, um an der Thür zu lauschen – kein Laut rührte sich im Hause, es schien wie ausgestorben.

Ich konnte keine Ruhe finden. Mitternacht mußte längst vorüber sein.

Plötzlich fuhr ich auf. Es war keine Täuschung. Deutlich unterschied ich in den unteren Räumen Männerstimmen. Man sprach schnell und geschäftig, dann wurde es still. Kaum merklich knarrende Laute ließen ein vorsichtiges Oeffnen und Schließen von Thüren erkennen. Was ging dort vor? Mein Herz schlug vernehmbar. Sollte man doch etwas gegen mich im Schilde führen? Und nicht einmal eine Waffe besaß ich zur Vertheidigung!

Ich griff nach dem Taschenmesser, die Klinge war wenigstens nicht schlecht. Der Mörder sollte mein Leben so theuer wie möglich erkaufen.

Zur Ueberlegung des Vertheidigungsplanes blieb keine Zeit, die Sachen entwickelten sich schneller, als ich dachte. Auf der Treppe hörte ich schleichende Tritte. Ich richtete mich auf. Jetzt waren sie bis zur Thür gelangt. Krampfhaft umfaßte ich das Messerheft, der erste Stoß mußte von mir geführt werden. Die Thür öffnete sich leise, leise. Ich hielt den Athem an. Die eingetretene Person blieb stehen, sie horchte jedenfalls, ob ich schliefe. Sie schien beruhigt, that einen weiteren Schritt vorwärts und lauschte wieder. Jetzt war sie am Fußende des Bettes – der nächste Augenblick mußte die Entscheidung bringen. Alle Fibern waren bis zum Zerreißen gespannt – der Arm hatte sich schon zum Stoß auf Tod und Leben erhoben.

Der Mörder schien den direkten Angriff verzögern zu wollen. Er ließ sich zur Erde nieder, bückte sich, und ich fühlte deutlich, wie sich die Gestalt unter die Bettstatt schob. Doch nur Sekunden verweilte sie, und es begann auf gleiche Weise die Rückwärtsbewegung. Die Person erhob sich, schritt so leise, wie sie gekommen, zur Thür, schloß dieselbe sacht, schritt die Treppe hinab, und ihre Tritte verloren sich.

Ich athmete auf. Mit dem Morden war es also vorläufig nichts. Um so wunderbarer erschien mir aber die Handlungsweise des Eindringlings. Welcher Zweck hatte ihn zu mir geführt? Ich dachte an giftige Betäubungsmittel oder eine kleine Dynamitsprengung, und zündete rasch das Licht an. Ich leuchtete umher, jede Bettfuge wurde untersucht – weder unter noch neben dem Bette war etwas zu entdecken; selbst die Stiefeln standen auf dem richtigen Platze. Ich sann und sann, stellte Vermuthung über Vermuthung auf, da endlich wußte ich Bescheid, man hatte das Stübchen bestohlen – – der Stiefelknecht war verschwunden.

Ich lachte so laut, daß ich dem Sturm ein Paroli bog, und Friede zog ein in die geängstete Seele. Bald schlief ich friedlich.

Goldene Sonnenstrahlen, die sich mein Haupt zum Spielball ihrer neckischen Launen ausersehen hatten, weckten mich. Der Tag hatte schon lange das Morgenkleid abgestreift und winkte mit blauem Himmel, den ein frischer Nordost schmuck gefegt, fröhlich zum Fenster herein. Schnell war ich in den Kleidern und ebenso schnell im Wirthszimmer drunten.

Auch dort hatte die goldene Sonne Wohnung genommen, glitzernd lag sie auf den blanken Tischen und freute sich des frisch gestreuten Sandes. Ein Blick nach dem großen Hofe, wo Knecht und Magd in fleißiger Arbeit schafften, überzeugte mich zur Genüge von der hier [508] waltenden strengen Zucht und Ordnung. Die Straße zeigte frisches Leben; mächtige Wagen, hoch mit Torf beladen, fuhren vorüber, lustiger Peitschenklang oder ein munteres Lied begleiteten sie. Im Gedanken an die vergangene Nacht trat mir dies Alles wie Bilder einer Luftspiegelung entgegen.

Nicht lange nach mir kam der Hofbauer. Ich erkannte den Mann kaum wieder. Selbst die Hünengestalt mußte von der lachenden Sonne schönen Gruß erhalten haben, nur Freude und Glück sprach ihm aus dem Angesicht.

Er schüttelte mir kräftig die Hand und sagte in biedrer, offener Weise:

„Nichts für ungut, Herr, für gestern Nacht. Was mögen Sie von mir gedacht haben! Sie kamen zu einer Stunde, wo mir so viel im Kopfe hing, daß ich vollauf mit mir selbst zu thun hatte. Ich kann es Ihnen ja anvertrauen. Als Sie anklopften, war ich im Begriff, mich reisefertig zu machen. Ich mußte ohne Verzug den Doktor holen, es hing Leben und Tod davon ab. – Nicht ganz mit Unrecht sagt man mir nach, daß ich ein wohlhabender Mann sei. Der Himmel hat mir dabei ein gutes, braves Weib beschert, und eine Tochter besitze ich, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Nur Eins fehlte mir, – ein Sohn. Den Heidenhof dereinst aus der Familie zu wissen, hätte mir die Sterbestunde schwer werden lassen. Der Adebar vergaß den Hof schon so manches lange Jahr, diese Nacht besann er sich und schenkte uns einen Prachtkerl von Erben. Damit werden Sie sich am besten selbst alle Rathlosigkeit, Unruhe und Sonstiges erklären können.“

Die einfachen, ungeschminkten Worte gefielen mir wohl; der Schleier der Nacht wurde damit gelüftet, wenn auch lange noch nicht ganz gehoben.

Dem Anliegen zu möglichst baldiger Weiterbeförderung wurde bereitwilligst nachgekommen, doch mußte ich das feste Versprechen geben, bei der Rückkunft einzukehren, um auch eine gute Stunde im Heidenhof zu erleben.

Während der Wirth das Nöthige für die Fahrt ordnete, brachte Ingeborg das Frühstück.

Sie kam mir noch schöner vor als am Abend. Von der allgemeinen Freude aber, die doch auch bei ihr hätte Widerklang finden müssen, sah ich nur das Gegentheil. Ein Trauerflor, wie ihn in solchem melancholischen Schimmer nur Liebeskummer webt, umhüllte sie.

Selbst ohne erfahrener Sachverständiger zu sein, konnte ich jetzt die Beziehungen Christian’s zu dem Mädchen wenigstens ahnen, und der Gedanke schlug fest Wurzel, als Helfer in der Noth den beiden jungen Menschenkindern zur Seite zu stehen. Hiervon ausgehend sagte ich zu Ingeborg:

„Jedenfalls treffe ich mit Christian zusammen. Haben Sie mir nichts an ihn aufzutragen? Ich bin verschwiegen und will Ihr Freund sein, Ingeborg.“

Sie sah mich so lieblich verschämt, so herzensfroh und dankbar an, daß ich in jenem Augenblick für das Mädchen durchs Feuer gegangen wäre. Dann ergriff sie meine beiden Hände, und mit gepreßter, fast schluchzender Stimme rief sie:

„Helfen Sie uns!“

Die Meldung, daß der Wagen bereit sei, sollte für jetzt jede weitere Erörterung unterbrechen. –

Meine Vermuthung zeigte sich als richtig. Der junge Nissen erwartete mich unterwegs. Das böse Gewissen vermochte er nicht zu verbergen. Als ich ihm nur mit dem Finger drohte und sein pater peccavi bei Seite schob, mußte er schon ahnen, daß ich manches Geheimniß errathen. Seinem dringenden Wunsche gemäß wurde das Gefährt gewechselt. Das nun folgende Zwiegespräch bestätigte meine Ahnungen. Der Hofbauer hatte ganz entschieden Verwahrung gegen die Heirath eingelegt und Nissen verboten, je wieder den Heidenhof zu betreten. Daraus wurde es mir auch klar, warum Nissen im Heidenhofe nicht einkehren wollte und mich durch räthselhafte Anspielungen auf Räuberherberge etc. von meinem Vorhaben abzubringen suchte. Als Grund seiner Weigerung gab der Heidenhofbauer an, daß er sich für einen solchen Sausewind, der noch nichts Tüchtiges im Leben geleistet, als Schwiegersohn bedanke.

Ich hatte dagegen ganz andere Anschauung von dem jungen Manne während meines Aufenthalts in seinem elterlichen Hause gewonnen. Christian war ein tüchtiger, fleißiger, aufgeweckter Mensch, dem man auch nicht das geringste Schlechte nachsagen konnte, und mehr als einmal hatte ich an dem braven, ehrlichen Charakter große Freude gewonnen.

In wenigen Stunden erledigten sich die Geschäfte, und gegen Abend hielt ich mit meinem Schützling wieder vor dem Heidenhofe.

Mein unumwundenes, zweifelloses Urtheil über Nissen galt dem Hofbauer viel, die frohe Stimmung über den nun vorhandenen Gutserben mochte auch das Ihre thun, und als wir bei einem Glase trefflichen Punsches bis tief in die Nacht hinein saßen, wurde nicht allein auf das Wohl des jungen Majoratsherrn, sondern auch auf das des Brautpaares angestoßen. –

Man ließ mich nicht fort. Die Großmutter führte mich wieder in das kleine Stübchen hinauf. Ehe sie von mir ging, leuchtete ich unter das Bett – der bekannte Stiefelknecht war am richtigen Ort. Ich wies lächelnd auf ihn hin. Die Alte gab mir das Lächeln zurück und sagte:

„Sie merkten es also doch. Wir haben nur einen im Hause, und der Herr Doktor, der ein wenig ruhen wollte, war seiner benöthigt: da half es eben nichts, ich mußte ihn holen.“

Als ich am nächsten Morgen den Hof verließ, um ihn nie wieder zu sehen, wurde mir noch manches freundliche Wort zu Theil. Zum Andenken nestelte mir das schöne Kind der Heide den frischen Erikastrauß, der Heide einzigen Schmuck, aus dem Brusttuch. Ich bewahre ihn heute noch, er liegt in meinem Reliquienschrein. Und wenn er mir durch die Hand gleitet, sehe ich immer wieder das tief blickende blaue Auge vor mir, wie es mir in nicht zu sagender Lieblichkeit und Dankbarkeit das letzte Lebewohl grüßte.