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Der Lärm

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Textdaten
Autor: Theodor Lessing
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Titel: Der Lärm
Untertitel: Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens
aus: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Bd.9, Heft 54
Herausgeber: L. Loewenfeld
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1908
Verlag: J. F. Bergmann
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Erscheinungsort: Wiesbaden
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Quelle: Google-USA*, Kopie auf Commons
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Der Lärm.


Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens.




Von

Theodor Lessing.




Wiesbaden.

Verlag von J. F. Bergmann.

1908.


Grenzfragen

des

Nerven- und Seelenlebens.

Einzel-Darstellungen

für

Gebildete aller Stände.


Begründet von

Dr. L. Loewenfeld und Dr. H. Kurella.

Im Vereine mit hervorragenden Fachmännern des In- und Auslandes

herausgegeben von

Dr. L. Loewenfeld

in München.




Neunter Band (Heft 54).[WS 1]


Inhalts-Übersicht.


Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens. Von Theodor Lessing.

Einleitung.
Erstes Kapitel: Psychologie der Betäubung.
Zweites Kapitel: Lärm und Kultur.
Drittes Kapitel: Die Empfindlichkeit des Ohres.
Viertes Kapitel: Geräusche.
Fünftes Kapitel: Rechtsschutz wider den Lärm.
Schluss.
Zusätze.




Nur zum kleineren Teil habe ich wissenschaftliche, literarische Absichten, indem ich mich anschicke, einige Betrachtungen über den Lärm und die Geräusche niederzuschreiben. Zunächst aber, vor allem andern, liegt mir daran, mich von quälender Spannung langen Grolls und sachlichem Zorne zu entlasten. Darüber hinaus möcht ich auf möglichst viele Menschen wirken. Möchte sie aufrütteln, Gefahren und Mängel des Lebens aufzeigen und Wege zu ihrer Abhilfe und Aufbesserung! Dabei ist mir gleichgültig, in welche Gebiete der Wissenschaft die folgenden Darlegungen gehören. Gleichgültig, wenn sie in viele Gehege besser Wissender einbrechen; diesen oder jenen verstimmen; von diesem oder jenem missverstanden werden. Es handelt sich um alltäglich-menschliche Dinge. Es wäre zu wünschen, dass recht viele über sie frei ihre Meinung äussern, denn es könnte wohl manch einer wichtige Erfahrungen und Beiträge zu unserem Thema mitzuteilen haben. Man kann dieses Thema mit bestem Recht als „Grenzfrage des Nerven- und Seelenlebens” bezeichnen, (wofern man überhaupt einräumen will, dass es solche „Grenzfragen” gibt; und wofern man den Forscher nicht auf die Wahl beschränkt, Gegenstände wie den Lärm, entweder vom physiologischen oder vom psychologischen Standpunkt aus betrachten zu sollen). Aber auch viele andere Arbeitsgebiete haben an ganz dem selben Gegenstand Interesse und Anteil: Die Tonpsychologie, Musik, Otologie, Physiologie der Sinnesempfindungen, Psychophysik. Sodann auch ganz besonders die Hygiene, die Wirtschafts- und die Sozialpolitik. – Man sollte aber die folgenden Blätter nicht missachten, weil auf ihnen simple Dinge des täglichen Lebens zu Fraglichkeiten und Vorwürfen philosophischer Betrachtung werden. Es gibt für die Philosophie keinerlei Stoff, der an und für sich wichtiger wäre, als ein anderer. Ich wünschte nur, ich könnte dartun, wie von jedem Punkte der Erfahrung aus man in[WS 2] Hinter- und Untergründe des Lebens hinabtauchen kann, wie in jedem Gegenstande subjektiven Erlebens alle generellen Energieen mitwirken, zusammenfliessen und sich durchdringen; das ganze Menschengeschlecht, der ganze Kosmos. Es ist alles gleichmässig nichtig und wichtig; es ist gleichgültig, wo man beginnt. Das aber ist nur eine falsche „Wissenschaftlichkeit”, für die just das Feierliche, Profunde, Ausdrückliche – Anlass zum Nachgrübeln enthält. Sich mit Gott und dem Ende der Menschheit beschäftigen ist nicht an und für sich bedeutender, als die Beschäftigung mit den tausend konkreten Kleinigkeiten der Praxis. Diese bilden schliesslich doch immer die eigentliche Sorge unsrer Lebenstage, wirken am unerbittlichsten und verhängnisvollsten, und werden von jedermann im Grunde seines Herzens für das Notwendigste seines Lebens gehalten. – Ein allgemein menschlicher, tagtäglicher Notstand aber steht hier in Frage. Die treffendste Form unserer Sprache, die konzentrierteste Geisteskraft auf seine Durchleuchtung und Höherwürdigung zu verwenden, wäre mein Wunsch. Gleichwohl können sich unter den fünf Kapiteln meiner Schrift mehrere Abschnitte, (besonders die beiden ersten allgemeineren Kapitel), nur an Wenige, Anspruchsvolle wenden. Jene Leser, denen ausschliesslich das praktische Interesse, das „Meritorische” des Buches am Herzen liegt, mögen getrost diese oder jene Seite überschlagen. Sie sollen dort zu lesen beginnen, wo es sich für sie um aktuelle, greifbare, sinnfällige Erlebtheiten handelt, um Gebiete, die jeder kennt und in denen jeder mithelfen muss. Denn das letzte Ziel, das ich mir setze, ist dieses, einen Feldzug zu predigen. Mein Buch soll Signal werden zu einem allgemeinen Kampf gegen das Übermass von Geräusch im gegenwärtigen Leben. Es möge geschicktere oder volkstümlichere Federn in Bewegung setzen. Möge vielen Veranlassung bieten, seine Anregungen weiter zu tragen. Ja, ich hoffe auf Verwirklichung eines allgemeinen, internationalen Bundes wider den Lärm, der Einfluss auf Strafgesetz, Zivilgesetz, Verwaltungs- und Polizeigesetzgebung erlangt. Auf seinem Banner soll stehen: „non clamor sed amor”.…

Erstes Kapitel.

Psychologie der Betäubung.


„Kant hat eine Abhandlung über die lebendigen Kräfte geschrieben; ich aber möchte eine Nänie und Threnodie über dieselben schreiben, weil ihr überaus häufiger Gebrauch, im Klopfen, Hämmern und Rammeln mir mein Leben hindurch zur täglichen Pein gemacht hat. Allerdings gibt es Leute, ja recht viele, die hierüber lächeln, weil sie unempfindlich gegen Geräusch sind: es sind jedoch eben die, welche auch unempfindlich gegen Gründe, gegen Gedanken, gegen Dichtungen und Kunstwerke, kurz gegen geistige Eindrücke jeder Art sind: denn es liegt an der zähen Beschaffenheit und handfesten Textur ihrer Gehirnmasse.”
Schopenhauer.

Ungeheuerliche Unruhe, grauenhafte Lautheit lastet auf allem Erdenleben. Um sie in ihrer letzten Tiefe zu verstehen, ist es notwendig, zunächst zu zwei fundamentalen Seelenmächten hinabzusteigen, die an allen Gebilden der Menschenkultur weben und in allen Erscheinungen menschlicher Wirtschaft lebendig sind. –

Einmal schlummert in unserem Geschlechte die Neigung, das Leben zu immer höherer Geistigkeit emporzutreiben! Der Mensch strebt zum „Bewusstsein”. Über das dunkle Chaos seiner rastlosen Begierden und primitiven Leidenschaften wirft er das formende Netz vernünftiger Disziplin. Er gestaltet das Leben „rationell”. Er militarisiert und uniformiert es. Er bändigt und bindet es in „Vernunft”. – Dem aber widerstrebt eine zweite, ganz anders gerichtete und doch ebenso unausrottbare Seelenneigung: Das Bedürfnis nach Bewusstlosigkeit und Vergessen, unser Hang zu alle Dem, was das bewusste Wissen betäubt oder verdunkelt. Dieser Zug zum „Subjektiven” oder „Irrationalen” spricht sich gleichfalls in tausenderlei Gestaltungen der Wirtschaft aus. – So wie kein animalisches Lebewesen sich dauernd auf der Höhe bewusster Wachsamkeit, in schlafloser Gewecktheit zu erhalten vermag, keines den Wechsel von Nacht und Tag und den Wechsel zwischen Selbstbewusstheit und vegetativer Erneuerung im Schlafe entbehren kann, so kann auch das Menschengeschlecht als Ganzes eine dauernde Gewusstheit des Lebens nicht ertragen. Dieses Leben würde aufgebraucht, würde in all seinen Energieen von der geistigen Aktivität erschöpft werden, wenn die Entwickelung zu Vernunft und Denken hin nicht durch jene ganz andersartigen „irrationalen” Seelenmächte hemmend reguliert würde.… Wie nach der Vorstellung der heutigen Physik alle kosmischen Energien sich in eine einzige Energieform umsetzen, nämlich in die Form der Wärme, um in dieser schliesslich zum Aufbrauch, ja zum erstarrten Stillstand der Lebensbewegung, zur sogenannten „Entropie“ des Kosmos zu führen, – so scheinen auch alle Regungen der Seele zuletzt in eine einzige Energie zu münden, nämlich in die intellektuelle Energie, d. h. in die Form der „Bewusstheit”, um in ihr zur Ruhe zu kommen. Somit aber wird der „Geist” zum nagenden und zerstörenden Parasiten des „Lebens”. Die bewusste Regelung der Lebensfunktionen unterbindet und verbraucht die Energie zahlloser instinktiver, reflektorischer Fähigkeiten, durch die das Tier oder der „Naturmensch” dem „höheren“ Menschen überlegen ist. Die unermessliche Mehrung und Verfeinerung jener wunderlichen Gebilde der grauen Hirnrinde, an die die Fähigkeit des wissenden Denkens geknüpft zu sein scheint, – sie erfolgt nur auf Kosten des Grosshirns und Rückenmarks. So bedroht der Fortschritt menschlicher Weltbewusstheit die Lebenskraft, die diesen Fortschritt tragen muss. So scheint unser Aufstieg zur Geisteskultur zugleich Abstieg des „Lebens” zu werden. So umdüstert die Ideale der gepriesenen „Entwickelung” der wachsende Schatten der Dekadence, der Depopulation, oder mindestens doch einer vitalen Schwächung und physischen Minderung des Menschengeschlechts.

Hier aber greifen jene anders gearteten Lebensmächte steuernd und konservierend in das Getriebe aller vorwärts peitschender Gewalten ein. Das, was Nacht und Schlaf unsrer körperlichen Erhaltung leisten, das leisten diese Mächte für die hohe Geistigkeit psychopatisch gefährdeter, komplizierter, später Individuen. Sie sind geistesfeindlich, antilogisch. – Es ist daher berechtigt, dass man sie unter dem Gesichtswinkel „fortschrittlicher Ethik” als „reaktionär” und „konservativ” zu kennzeichnen versucht. Aber von einer anderen Seite aus gesehen, verwalten gerade sie die „Heilkraft der Natur” und erscheinen unentbehrlich und tief notwendig. Auch erweisen sie sich als in der letzten Tiefe der Seele verwurzelt. Und das am meisten bei jenen zahllosen Menschen, die bei einem Übermass rationeller Momente der Lebensführung in ihrem Weltgefühl oder in ihren Idealen gleichsam vor sich selber davonlaufen.

Welches sind denn nun diese antirationalen, das Bewusstsein „retardierenden Lebensgewalten”? Es dürfte ohne weiteres klar sein, dass sie nur im konservativsten Element der Seele, im „Gefühle” gründen können. Sie müssen die Lichtkraft des Verstandes, die Helligkeit[WS 3] des Wissens ebenso fliehen, wie sie sich an der dunklen Schwüle des „Gemütes” zu entzünden pflegen. Dieses gerade kennzeichnet sie als Antagonisten jener intellektuellen Energieen, die alle Wärme des Lebens gefrieren, ja vergletschern machen und zuletzt nichts übrig lassen als nur die eine weisse, kalte Flamme des „Bewusstseins”.… Alle die Gewalten „reinen Gefühls“ werden somit vor allem in religiösen Erlebnissen zentriert sein. Denn „Religion” ist die Macht, welche Gefühle, Stimmungen, Impulse des Menschen am radikalsten von ihren natürlichen Verwebungen mit aktuellen Interessen und faktischen, empirischen Elementen des Alltags ablöst. In ihr stellt die Seele ihr persönlichstes Hoffen, Streben, Lieben und Verlangen nackt und unvertrübt gleichsam in ein objektiveres Wertbereich hinüber. In ihr spiegelt sich das Ich befreit von Tatsächlichkeit und Empirie. In ihr werden alle realen Inhalte vom tragenden Weltgefühl, von der kosmischen Lebensstimmung abgestreift. Nur dieses Weltgefühl, nur diese Lebensstimung selber ergreift sich in mytischen Bildern oder beziehungreichen, Vieles erregenden Symbolen. Alle grossen Leitmotive, die im aktuellen Leben eingebettet liegen, werden damit aus ihren zahllosen praktischen Vertrübungen hervorgeholt. Sie werden in einem überempirischen, „transzendenten” Bereiche gesammelt, um von ihm aus, rückstrahlend, allem faktischen Leben Heiligung und Weihe zu verleihn. Alle Hoffnung ist hier nichts als Hoffnung. Alle Liebe ist hier nichts als Liebe. Alle Angst, alle Sehnsucht, alles in der Wirklichkeit stets unerfüllte, verkümmernde, unerfüllbare Streben blüht sich hier aus und findet ein Ziel, jenseits jedes bestimmten Zieles.… Diese Emanzipation der „rückwärts bindenden“ Mächte des Gemütes von allen den rationalen, korrigierenden, beständig umformenden Störungen seitens der Wirklichkeit gibt der Religion ihre eigentümliche Sonderstellung unter allen Gewalten des Lebens. – Nur eine einzige Lebensmacht kommt ihr gleich, ja übertrifft die religiöse an Absolutheit und Selbstherrlichkeit der Gefühlsbefriedigung, nämlich die Kunst; als die kontemplativ einfühlende, zwecklos-betrachtende, ästhetische Stellungnahme zu den bunten empirischen Dingen dieser „Welt”. Und innerhalb dieses ästhetisch–betrachtenden Erlebens der „Welt” ist es wiederum die Musik, die am innigsten der religiösen Erlebensform verwandt, am rücksichtslosesten von allen faktischen und zweckvollen Bestimmtheiten der Wirklichkeit gelöst ist. Denn auch Musik ist, wie Religion, eine alogische, irrationale, gefühlsmässig-unmittelbare Lebensmacht. Sie hat, genau wie die Religion, das bunte Narrenkleid des wirklichen Lebens von sich gestreift. Sie bietet nie etwas Bestimmtes, Einzelnes, Glatt-Umschreibbares. Sondern in ihr reduplizieren sich alle die tragenden Grunderlebnisse der Seele; all ihr Fluten und Ebben, Gehemmtsein oder Emporsteigen, Gesteigert- oder Bedrücktsein, alles Spannen, Entspannen, Zögern, Straucheln, Eilen, Stürmen; alles Stauen, Angleichen, Ausgleichen, Verwickelt- oder Befreitwerden, in dessen Formen unsre Willens- und Gefühlserregungen sich abspielen. Was wir aber diesen zahllosen Formen von Erregung etwa an deutenden Gedanken und symbolischen Erfahrungen unterlegen; auf welche empirischen Inhalte wir sie beziehen, oder welche rationalen Gegenstände und konkreten Bilder des Lebens für einen jeden von uns aus dem Strome der Musik auftauchen und über ihrem Lebensbrause schweben, wie die Seelen der einst Lebendigen über den rastlosen Gewässern der Styx, das ist für das Wesen der Musik vollkommen gleichgültig! Denn dieses Wesen steht vollkommen jenseits (oder diesseits) aller konkreten Gegenständlichkeit! Nur so etwa, wie man das Leben eines jeden Tages auch mit in[WS 4] den Schlaf hinübernimmt, so dass es im Wandeln und Weben dunkler Gefühle, aus den „Träumen”, wie aus einer neuen und doch eigenartig bekannten Dimension sich wiederspiegelt, so etwa nehmen wir das vertraute Denken und Sein des Alltags mit in die Musik hinüber. Dies aber geht die Musik selber nichts an. Für die Musik selber ist es so unwesentlich, wie etwa für „reine Zahlenlehre“, dass man sie auch als Rechenkunst, für „reine Logik“, dass man sie auch als Denktechnik betreiben kann. An und für sich bietet Musik nichts als abstrakte Form von Lebensregung. Tempo, Dynamik Agogik, Rhythmik, Modulation von Erlebnisverläufen; ähnlich wie Mathematik (ohne alle Rücksicht auf faktische Anwendbarkeit und konkrete Belege) abstrakte Notwendigkeiten der Vernunft überhaupt festlegt. Musik geht also dem Strombett des Lebens nach, wie Mathematik das des Geistes nachzeichnet.


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Nun ist es eine alte, tiefe Erfahrung, dass sich tragenden Mächten des Lebens alsbald ein „Gegenpart“ zugesellt, als ihr komisches oder tragikomisches Widerspiel, das, aus ganz den gleichen Herzensanrechten entsprungen, sie dennoch nur wie in einen Hohlspiegel, wie in karikierende und vertrübende Sphäre hineinstellt. Dies ist die grosse Wahrheit von den „Affen des Ideals“. So wie der Teufel, den Luther als „Afterbild Gottes“ bezeichnet, genau die gleichen Wesens- und Machtqualitäten aufweist, die Gott selber besitzt, nur eine jede ins Negative gewendet, – so gibt es nichts Hehres, Edles und Lebenerhebendes, das nicht alsbald von seinem Gegenspiele aufgegriffen und eben dem aufgepfropft würde, was es seinem reinen Sinne nach überwand und negierte. Wo ist je ein berechtigter Gedanke ausgesprochen, eine nützliche Partei oder Gesellschaft begründet, eine wertvolle Massregel vertreten worden, ohne dass sich alsbald der Mob darüber hergemacht, das Gemeine damit liiert und irgend eine vulgäre Politik der „Interessen“ sich darangehängt, sie vertrübt, verbogen oder gar verlächerlicht hätte? Die allgemeine Form, in der dies zu geschehen pflegt, ist immer diese, dass die ideale Macht der abstrakten Sphäre enthoben und neuerdings mit groben faktischen Zwecken und konkreten Bedürfnissen verknüpft wird, deren Abstreifen und Dahintenlassen gerade das Wesentliche der tragenden Sehnsucht gewesen war. Auch jetzt noch wird zwar ein ideelles Bedürfnis befriedigt; aber es geschieht sozusagen in handfester, plump primitiver Form. In diesem Verhältnis steht z. B. aller Aberglaube (vom Animismus und Schamanismus unentwickelter Völker bis hinan zu okkulter Mystik und roh konkreter Metaphysik), – zu dem elfenzarten, schmetterlingsleichten Himmelskinde Religion. In diesem Verhältnis „psychischer Verschiebung“ oder „Konkretierung“ stehen mannigfache Formen von Zwangneurose zur „Religiosität“. Der höchste Aufschwung, mächtigste Überschwang, dessen der Mensch fähig ist, wird wieder herabgezerrt in die dumpf gewohnte Bahn kausaler, naturalistischer Weltorientierung. Dem nun analog besitzt die Musik ihr karikierendes „Afterbild”: den Lärm.…


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Alle dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben, womit der Mensch seine Aktionen zu begleiten pflegt, steigt, so gut wie Sprache und Musik, aus vitaler Notwendigkeit empor. Daher würde aller Kampf wider die Lärmseite des Lebens nicht um einen Schritt voran bringen, wenn wir nicht zuvor die seelischen Untergründe sondieren, in denen all das geräuschvolle Tosen des Lebens notwendig verankert liegt. Denn die schönste Musik wie der schrecklichste Lärm, die reinste Religiosität wie die krauseste Mystik, die poetisch verklärte Liebe, wie gemeine sexuelle Obszönität, – sie wurzeln an ganz der selben Stelle, in der selben untersten Tiefe der menschheitlichen Seele. Nur die bergenden, nährenden Bodenschichten, durch die diese seelischen Wurzelkräfte aus dem selben Keime hervorbrechen, färben und wandeln, vertrüben oder läutern ihre Wesensnatur so entscheidend, dass schliesslich an der einen Stelle des Lebens eine weltferne, zarte Himmelsblume, an der andern ein ekles beschämendes Zwittergewächs emportaucht.… Mit der oft gehörten Behauptung freilich, dass hinter allem Lärme ein „Kampf ums Dasein“ und gegenseitiges Erschrecken, Besiegen oder Sichbehauptenwollen stehe, ist im Grunde gar nichts gesagt. Und auch damit nicht, dass man betont, hinter allem Menschengelärme wohne die notwendige Kraftentspannung und das Bedürfnis nach aktiver Machtbetätigung und Selbstbewährung. – Solche Aktivitätssteigerung und Selbsterweiterung muss schliesslich in jeder „Ausdrucksbewegung“ aufzufinden sein. Sie kann daher nicht die spezifische Psychologie des Schreiens und Lärmens erläutern. Wichtig dagegen ist dies, dass wir im Lärm nicht ein zufälliges Akzidenz des „gesteigerten Verkehrslebens“, nicht ein bloss zeitgeschichtliches Symptom der Unrast und Heimatlosigkeit moderner Seele zu betrachten glauben, sondern den Ausdruck unausrottbaren, allmenschlichen Triebes. Diesen „Trieb“ zum Lärme kann man nicht mit polizeilichen Vorschriften und staatlichen Massregeln ausmerzen. Denn gesetzt, es würden künftig immer neue Mittel gefunden, um das Leben in seinen äusseren Ausdrucksformen relativ geräuschlos zu machen; gesetzt man würde Patente erteilen auf Vorrichtungen, die ermöglichen, Polstermöbel und Teppiche geräuschlos zu klopfen; gesetzt das Gros der Kulturmenschen wäre nachgerade so musikalisch geworden, dass es ihm genügte, Partituren zu lesen; gesetzt endlich man würde gar den Vorschlag jenes Biologen befolgen, der anempfahl die künstliche Stummheit der Haustiere heranzubilden, „indem man immer wieder den Rekurrensnerven durchschneidet, um durch Auslese lautlose Lebewesen hervorzubringen“; gesetzt auch dies, dass man die sorglichsten Vorschriften zur Vermeidung des Strassenlärms besässe und alle des täglichen Gerassels der elektrischen Bahnen, Dampfbahnen, Motorwagen, Automobile, – es würde dennoch eine grosse Anzahl lärmfreudiger Leute sich über all diese Sicherungen gefährdeter Nerven mit Lust hinwegsetzen! Sie würden ihre Teppiche lieber geräuschvoll klopfen! Würden lieber mit der Peitsche knallen; würden viel zu entbehren glauben, wenn sie nicht ihren Geschäften mit Singen, Pfeifen und beständigem Geschrei nachgehen könnten. Sie würden Stöcke und Schirme geflissentlich gegen Stakete und Gitter rasseln lassen oder mit Säbel und Sporen stolz über den Marktplatz klappern, auch wenn alle das wohl entbehrlich und gar leicht vermeidbar wäre. Ein merkwürdiger, unbezähmbarer Impuls steht also dahinter, ein „Urtrieb“, in dem der lustvolle, positive Charakter des Lärmens fundiert liegt. Er reiht sich jenen zahllosen allmenschlichen Neigungen ein, die die „Bewusstseinsnarkose”, d. h. die beständige Übertäubung des stummen, bewusst denkenden Geistes und somit den fortwährenden Traum- und Rauschzustand des Gesellschaftslebens unterhalten. …


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In primitiver, trüber und noch roher Sphäre haben wir hier ganz die selbe Ressource, die selbe Schutz- und Bremsvorrichtung der Lebensfähigkeit vor Augen, die (wie wir vorhin betonten), auch der Religion oder der Musik die letzte Sanktion und Notwendigkeit für das Leben verleiht. Wir können diesen Zusammenhang klarer durchschauen, wenn wir den Lärm mit dem Alkohol vergleichen, oder mit einem der vielen Stimulantien und Narkoticis, wie Haschich, Opium, Kola, Nikotin, oder endlich mit jenen unentbehrlichen Alkaloiden nutritiver Reizmittel, denen keine Speisehygiene, keine Abstinenzbewegung jemals völlig beikommen wird, weil sie organische Bedürfnisse befriedigen und nur in ihrer jeweiligen Dosierung, in ihrer quantitativen oder distributiven Verwendung im physischen und psychischen[WS 5] Lebenshaushalt einer Generation, nicht aber an und für sich selber entbehrlich und bekämpfbar sind. Alle diese Reiz- oder Rauschmittel nämlich dienen genau wie der Lärm, um die Trieb- und Gefühlssphäre, (also die subjektive Seite des Lebens) frei zu machen, zu erweitern und momentan emporzusteigern. Oder anders ausgedrückt: sie dienen dazu, die intellektuellen, rationalen, bewussten (also „objektiven“ Funktionen der Seele) zu dämpfen, zu verengern und zurückzudrängen. Dieses freilich vollzieht sich vollkommen ungetrübt nur in jenen religiösen, musikalischen oder ästhetischen Wertrichtungen der Kultur, denen just nüchterne, trockene, affektiv dürftige Individualitäten als den Kompensativmächten ihrer rationalen, objektiven, die Persönlichkeit abtragenden Lebensbewährung am kritiklosesten zu verfallen pflegen.


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Hinter allen diesen Erfahrungen steht ein folgenschwerer Zusammenhang. Schon die älteste Psychologie (die der Inder) hat in der Lehre vom dukha-satya, d. h. von der „Identiät des Wissens und Leidens“ einer grundlegenden Beobachtung primitiven Ausdruck gegeben. Allezeit aber verknüpfte sich mit dieser Erkenntnis die religiöse Bevorzugung und teleologische Höherwertung der ungewussten, selbstvergessenen, instinktiven Seiten des Lebens, gegenüber seinen rationalen Gewinnposten an Wissen und Erkennen, an ethischer, intellektiver und technischer Naturbeherrschung. Es überkommt wohl jeden denkenden Menschen zuweilen die Ahnung, es sei zu allem Fortleben eine ewige Selbsttäuschung notwendig, es könne menschliches Leben nur auf dem Hintergrunde dauernden Nichtwissens und traumhaften Rausches erträglich bleiben. Diesen „Rausch“ trägt der junge und gesunde Mensch schon im Blute. Der Starke, Junge, Lebendige lebt an und für sich in einer normalen Trunkenheit. Er entbehrt daher nicht jener Stimulativmächte, die (mit unbewusstem Raffinement) auch im abflauenden, vernüchterten, klug und ohnmächtig, weise und ängstlich gewordenen Leben einen bestimmten Grad täglicher Betäubung unterhalten. –


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Alle psychischen Störungen, die durch bewusste Klärung noch nicht oder nicht mehr überwindbar sind, können dadurch überwunden werden, dass man sie vergisst und nicht zu genau betrachtet. Der Knoten, an dem das Leben sich jeweils staut, kann nicht rationell aufgelöst und muss immer wieder zeitweilig gelockert werden. Insofern nämlich als Bewusstwerdung, Aufmerken, bewusstes Apperzipieren von Reizen, allemal Verengung und Konzentration der Seelenbewegung an einem individuellen „Punkte“ in sich schliesst, ist es schon seiner Natur nach mit Unlust verbunden. Das „Bewusstsein“ entbehrt zum mindesten jener eigentümlichen Note lebendiger Kraft, die in allen Erlebnissen der Freude schwingt. Denn Freude schliesst umgekehrt nicht Konzentrierung, sondern Erweiterung des Ichbewusstseins in sich, bis zur vollendeten Auflösung seiner selbst, bis zu jenem Gipfel, wo der Einzelne Alles umfasst und kein Gesondertes mehr bewusst begreift. Man bezeichnet in specie wohl den Wein als Quell des Vergessens oder als „Sorgenbrecher“, aber man könnte schliesslich an jedem Lusterlebnis (vom Genuss einer Zigarre bis zur Freude an einer Symphonie) das Moment der „Auflockerung der Gefühlsseite“ studieren, diese Abdämpfung des wachen Wissens, in dessen Fokus die affektive Energie der Seele sich aufstaut und schmerzlich sammelt. Ein Bestreben aber von der wachen Bewusstheit seiner selbst los zu kommen wurzelt zu tiefst in jedem Individuum. Sei es nun, dass die chaotische Unermesslichkeit der Fraglichkeiten und Probleme zu gross wird, um einheitliche Einfügung in ein Bewusstsein noch zu gestatten. Sei es, dass ein bestimmter Bewusstseinsinhalt, mit dem die Persönlichkeit sich nicht abfinden kann und der „wie ein bedrohlicher Block“ stauend im Bewusstsein liegt, für eine Weile fortgeschwemmt werden muss. Sei es endlich, dass der vulgäre Mensch das Bewusstsein seiner selbst als das einer leeren, inhaltlosen, kleinlichen oder missratenen Existenz zu fürchten hat. Immer verschreibt er sich den Mächten der Betäubung mit allem, was die Kulturgesellschaft Freude oder Vergnügen nennt. Man betäubt sich in den Genüssen der Stadt und Strasse. Man betäubt sich in Theater und Salon. Betäubt sich im Medisieren und Räsonieren. In dem üblichen Kunstgeschwätz und Philosophatsch der Journale und Zeitungen. Im Sport, oder im Kokettieren mit „sozialer Arbeit“. Übertäubt sich in Etiketten und konventionellen Sitten, in den luxuriösen Restaurants der Grossstadt, in armseligen Kellern und Spelunken; in den rohesten Ausschweifungen, in poetischen Flirts und religiösen Ekstasen. Was aber am wunderbarsten und beweisend für die Notwendigkeit dieser Rauschmächte des Lebens ist, das ist der Umstand, dass auch die rationell-bewusste, ethisch-intellektuelle Lebenshaltung, die den Charakter von Mühe, Askese und Arbeit trägt, sich aus einer künstlichen und zunächst unlustvollen Bindung des Lebens zu einem ganz neuartigen Reizmittel zurück verwandeln kann. Auch die Arbeit unterstellt sich jener allgemeinen Tendenz der Bewusstseinsbetäubung. Auch der „arbeitende” Teil der Menschheit scheint sich mit jeder Art ethisch-intellektueller Betätigung nur das Mittel zu monotonen Narkosen des Ichbewusstseins zu beschaffen. Das Leben gerade der tüchtigsten „Pflichtmenschen” hat keinen anderen Sinn als den, sechs Tage lang das individuelle Bewusstsein mit Arbeit zu betäuben, um dadurch die Möglichkeit zu gewinnen, am siebenten eben das selbe mit Mitteln des „Amüsements”, oder vermittelst Musik oder Religion zu tun. –


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Der Lärm nun ist das primitivste und plumpeste, zugleich aber das allgemeinste und verbreitetste Mittel der Bewusstseinssteuerung. Dies erweist sich an seiner natürlichen Verbindung mit dem Alkohol. Es erweist sich in der bezeichnenden Wendung, dass der Mensch gerne sich dort bewege, wo es „laut und lustig” zugeht…

Nun aber tritt etwas sehr Merkwürdiges ein! Jene „narkotischen Funktionen”, die wir ursprünglich als Schutz- und Trutzmittel wider die „Bewusstheit” zu betrachten haben, können auf einem bestimmten Niveau nervöser Erschlaffung neuerdings zu einem Reizmittel für Bewusstsein werden. Und dies gilt auch für den Lärm. Er ist ursprünglich nur verfeinertes Faustrecht und die Rache, die der mit den Händen arbeitende Teil der Gesellschaft an dem mit dem Kopfe arbeitenden nimmt, dafür dass der ihm Gesetze gibt. Aber gleich wie ein beunruhigender Gedanke oder eine Sorge auf dem Gipfel ihrer einseitigen Lebendigkeit keinen Ausweg mehr gestatten als den, dass „man sich in sie einwühlt”, sich ihnen völlig hingibt und gleichsam im Denken selber berauscht oder zernichtet, so kann auch umgekehrt jedes Bewusstsein übertäubende Mittel schliesslich zum Mittel der Bewusstseinssteigerung werden. Hierfür sprechen so komplizierte und seltene Fälle wie die folgenden, die nur scheinbar meine Psychologie des Lärmtriebes, als des „Triebes zur Bewusstseinsretardierung”, Lügen strafen…


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In der Biographie Mozarts lese ich, dass der grosse Mann in einer engen Stube unter dem fröhlichen Gelärme, seiner spielenden Kinder geschaffen habe. Von diesem Lärme äusserte er gelegentlich, dass er sein Produzieren nur dann störe, wenn ein einzelnes Geräusch fesselnd an die Aufmerksamkeit heranträte, während die unbestimmte Lautheit der Umgebung sogar stimulierend auf seinen Schaffenstrieb wirke. – Hierin äussert sich zunächst eine oft bestätigte Erfahrung. Wer über die russische Steppe gereist ist, der weiss, dass man beim Geheule ganzer Rudel Wölfe ruhig schlafen kann, während der Schrei eines einzelnen hungrigen Wolfes furchtbar beunruhigt und den Schlaf verscheucht. Je farbloser, unbestimmter also das Geräusch ist, um so interesseloser bleibt es und um so weniger Bewusstsein oder „Aufmerksamkeit” vermag es zu binden. Eigentümlich also wäre in dem Falle Mozarts lediglich dieses, dass der Lärm anregend auf das bewusste Schaffen wirken konnte, während wir ihn doch als die Waffe gegen „Bewusstsein”, als Mittel zur Betäubung zu würdigen versuchen. Etwas ganz Ähnliches nun lese ich auch in der Selbstbiographie John Stuart Mills. Dieser ungemein bewusste, fast pathologisch wache Geist pflegte zur Zeit einer dumpf nervöser Apathie in einem neben seinem Arbeitszimmer befindlichen Raum eine Pauke aufzustellen; darauf musste ein Junge kräftig Lärm schlagen. Mill behauptet, dass dieses Dröhnen seine erschlaffende Denkkraft neuerdings anzuregen vermochte. Gleichwohl empfand er jedes spezielle Geräusch als sehr störend. Er meinte, dass grosser Lärm ebenso anspornen könne, wie die Einzelgeräusche ablenken. Auch Hegel, der sein Hauptwerk (angeblich) am Abende der Schlacht von Jena vollendete und unter dem Donner naher Geschütze schrieb, äusserte sich dahin, dass der gleichmässige Lärm seine Gedanken geschärft und beflügelt habe. Dieses also wären Fälle, wo Lärm scheinbar nicht bewusstsein-übertäubend, sondern im Gegenteil bewusst-sein-stärkend gewirkt hat. Die Erklärung dafür suche ich im folgenden. – Eine nicht sehr affektive oder in einer Zeit psychischer Erschöpfung geübte Denktätigkeit bedarf eines gewissen Maasses abnormer Anreizung und Anregung um so viel „psychische Energie” aufbringen und frei machen zu können, als nötig ist, um einen Gedanken überhaupt aufzugreifen… Etwas dem Verwandtes sehe ich in der Psychologie des „Einschlafens” und Einschlafenkönnens. Der Schlaf ist seiner Natur nach eine Herabdämpfung und Herabminderung bewussten Vorstellens. Gleichwohl kann er nicht eintreten, wo das Bewusstseins- und Vorstellungsleben schon so erschöpft und herabgemindert ist, dass die Kraft zur Konzentration einer einzelnen Vorstellung nicht mehr ausreicht[1]. Man findet daher zuweilen, dass medikamentöse Reizmittel, die beim „normalen Individuum” das Einschlafen hindern würden, in Erschöpfungspsychosen umgekehrt dazu dienen, die Fähigkeit des Einschlafens wieder herzustellen. Hier, bei der Psychologie des Lärmens begegnet uns nun etwas dem Analoges. Während der Lärm seiner Natur nach kein bewusstes Denken aufkommen lässt, sondern nur auf Gefühl und Willen einwirkt (und daher auch als Volksgetöse, Schlachtgeschrei, Barditus, Hurra- und Hipp-Hipp-Gebrülle zum Beseitigen der Überlegung und zum Erwecken des Willens benutzt wird), – kann doch in bestimmten abnormen Fällen der Lärm auch dazu dienen, dasjenige Mass affektiver Belebtheit auszulösen, das notwendig ist, um nicht gefühlsbetonte, abstrakte Gedanken aufgreifen und festhalten zu können. Ja, es ist möglich, dass bei Individuen, die an äussere Unruhe gewöhnt sind, der Fortfall akustischer Reize mit dem Willens- auch ihr Bewusstseinsleben vollkommen brachlegt. Hierher gehört jene bekannte „Psychose der Stille”. Jene Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit, die ganz besonders der Grossstädter in den Alpen erleidet! Auch solche Provinzen der Seele, denen der Lärm an und für sich feindlich wäre, verfallen bei vollkommener Abwesenheit aller Geräusche der allgemeinen psychischen Lähmung, weil jene stündliche „Aufkicherung” fehlt, an die der Mensch vom akustisch-motorischen Typus (vom „kinetischen Typus” wie die amerikanischen Psychologen sagen) sich längst gewohnheitsgemäss angepasst hat. Dies aber sind Ausnahmen von der generellen Regel, dass Lärm ein Kampfmittel der im Menschen wirksamen anti-intellektuellen Seelenmächte gegen die intellektuellen ist…




Zweites Kapitel.


Lärm und Kultur.


„Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Thränen. Die tätige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt… Alle Schmerzen verbeissen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts… Nicht so der Grieche!… Er will uns lehren, dass nur der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer sein könne, indess der ungesittete Trojaner, um es zu seyn, alle Menschlichkeit vorher ersticken müsse.”
Lessing (Laokoon).

Eine nie endende Kette von Qual und Pein zieht sich durch das Leben aller mit dem Gehirne arbeitender Menschen. Inmitten des unerschöpflichen Gelärmes, das unserm kurzen, schnell entflohenen Leben den Charakter der Börse oder Handelsmesse gibt, atmen wir unter dem Drucke einer Not, die keiner versteht und die uns niemand nachfühlt. Wir wissen, dass in uns nie zur Reife kommen wird, was Stille und Einsamkeit, Unabhängigkeit und Ruhe zu seiner Reife nötig hätte. Wir ringen vergeblich danach, Sammlung zu erlangen, um „im Reiche des Unhörbaren”, Ideen und Stimmungen zu verfolgen, die gleich Merkutios Königin Mab nur auf einem Wagen von Spinnweb kommen; zarter, flüchtiger, ungreifbarer als der Staub auf dem Flügel des Schmetterlings. Die Hämmer dröhnen, die Maschinen rasseln. Fleischerwägen und Bäckerkarren rollen früh vor Tag am Hause vorüber. Unaufhörlich läuten zahllose Glocken. Tausend Türen schlagen auf und zu. Tausend hungrige Menschen, rücksichtslos gierig nach Macht, Erfolg, Befriedigung ihrer Eitelkeit oder roher Instinkte, feilschen und schreien, schreien und streiten vor unsern Ohren und erfüllen alle Gassen der Städte mit dem Interesse ihrer Händel und ihres Erwerbs. Nun läutet das Telephon. Nun kündet die Huppe ein Automobil. Nun rasselt ein elektrischer Wagen vorüber. Ein Bahnzug fährt über die eiserne Brücke. Quer über unser schmerzendes Haupt, quer durch unsere besten Gedanken. Das Heraufholen und Verfolgen objektiver Werte wird zur Tortur. In jede geistige, jede theoretische Schöpfung bricht lärmender Pöbel ein und das praktische „Interesse” lärmenden Pöbels. Alle seelische Kraft wird zur Überwindung dieser ewigen Spannungen verbraucht. Der Mangel an gesundem, tiefem Schlaf zerrüttet unsre Nerven. Die Möglichkeit unsrer Arbeit wurde uns zerstört, bevor wir noch zu arbeiten begannen. Alle Augenblick ein neues unangenehmes Geräusch! Auf dem Balkon des Hinterhauses werden Teppiche und Betten geklopft. Ein Stockwerk höher rammeln Handwerker. Im Treppenflure schlägt irgend jemand Nägel in eine offenbar mit Eisen beschlagene Kiste. Im Nebenhause prügeln sich Kinder. Sie heulen wie Indianer, sie trommeln an den Türen. Ein „grosses Reinemachen” steht bevor; ich fliehe aufs Dorf. Dort ist gerade „Schützenfest”. Ein Karussel wird just vor meinem Fenster aufgebaut. Dieses dreht sich acht Tage lang und spielt an jedem dieser acht Tage, acht Stunden lang das Lied von der „stummen Liebe”. Ich fliehe in das nächste Dorf. Das Wirtshaus scheint stille zu sein; aber morgen früh um fünf Uhr kommt „gerade zufällig” der Kaminkehrer. Es verfolgt mich ein Dampfpflug, das Geräusch der Tenne, das Gehämmer des Kesselschmieds, die beständige Klage des Kettenhunds, das Liebesleben aller möglichen Geschöpfe, der Katzen, der Hühner, der Frösche. Dazu klappernde Fensterläden, im Winde scheppernde, lockere Dachziegel, Wetterfahnen, Windharfen. – Es bleibt mir nichts übrig als dem Rate Multatulis zu folgen, ich werde irgendwem die Taschenuhr stehlen, um mir wenigstens Anwartschaft auf etwas Ruhe im Zellengefängnis zu verschaffen…


*     *     *


Lieber Leser! Begib dich in das tiefste, weltfernste Alpental, du wirst mit Sicherheit einem Grammophon begegnen. Fliehe in eine Oase der Wüste Sahara, du wirst einen Unternehmer finden, der dort einen Musikautomaten mit Glockenspiel und Trommelschlag soeben aufstellt. Du bist nicht auf den Halligen, nicht in pontinischen Sümpfen davor sicher, dass unvermutet „Ich komme vom Gebirge her” dir entgegendröhnt. Es gibt für Menschen auch in heiligster Gottesnatur kein Glück ohne Geschrei und lärmende Entäusserung! In manchen Gegenden Deutschlands, wo neuerdings starke Hotelindustrie erblüht, z. B. in Oberbayern, in Tirol, in der sächsischen Schweiz ist die Lärmverseuchung so furchtbar, dass ein ganzes Tal, hügelauf, hügelab vollgestopft ist mit Marterinstrumenten, wie Schlagzithern, Gitarren, Mandolinen und schlechten Klavieren. Überall wo Menschen gedeihen, überflüssig und zahllos wie Störe, Kaninchen oder Bandwürmer, allüberall Geschrei und Gelärm, das die Unschuld der schönen Landschaft entweiht! Wo vor einigen Jahren noch der schlafende Pan dich schützte, die Luft vor Schweigen und Stille zu zittern schien und nichts zu erlauschen war als Grille und Biene und wo nur, wenn der Wind den Klang verwehte, ein bescheiden Glöcklein weidenden Viehs oder des Hirtenbubs beschauliche Flöte herübertönte, aus weiter Ferne, – da stellt heute der Berliner Hotelier für ein internationales Publikum den neuesten Phonographen auf, damit für zehn Heller jedes Kind aus Frankfurt oder Liverpool den „Einzug in die Wartburg” höre. Man kann nächstens auf der Jungfrau belauschen, wie „Herr Caruso in New York” den „Hymnus an die Einsamkeit” in den Phonographen singt. Man wird jede bescheidene Trift mit Pensionshäusern und Villen übersäen. In jeder dieser „Villen” wird sich alsbald ein Klavier und eine müssige Dame aus Leipzig zusammenfinden. Auf den sogenannten Villen prangen schöngemalte Namen wie, „Waldeszauber“, „Bergfried”, „Alpenrose”, „Tiefeinsamkeit” und „Käthchens Ruh”. Man malt auch ganze Sprüche darauf, wie etwa „my house, my castle” oder „Trautes Heim, Glück allein”. Und diesen Inschriften entsprechen die Pensionspreise. Man kündet durch Inserate, dass man ein Eldorado an Frieden und Glück zu vergeben habe. Und wahrhaftig, auch der Augenblick ist nicht fern, wo der letzte südamerikanische Urwald mit dem Ton der Dampfpfeife und des elektrischen Läutwerks durchzogen wird. Und wohin dann der „Fortschritt” und der „gebildete Europäer” kommt, da wird es „Lärm setzen”. Ja, es scheint der Lärm das tiefste Charakteristikum des Menschen schlechthin zu sein. Denn das erste, was ein „Mensch” unternimmt, sobald er ins Leben tritt, ist, dass er zu schreien beginnt. Dieser Schrei ist das spezifische, anthropologische Moment, durch das er sich von der Niederung des sprachlosen und stummgeborenen Wesen abhebt. Kein Tier schreit so unaufhörlich, nachdem es den Mutterleib verlassen hat. Nur der Mensch ist ein von Haus aus schreiendes Wesen. Und er bleibt seiner Wesensart konsequent getreu, bis zu seinem immer noch allzu späten Tode. Er schreit mit seiner gesamten Existenz. Er schreit sogar, wenn er schweigt. Er erfand ein sozusagen brüllendes Schweigen. Auch in der Kunst, auch in der Wissenschaft wird überall nur geschrien. Man schreit in Zeitschriften, Zeitungen, Journalen, denn diese sind nichts anderes als fortgesetztes, unaufhörliches öffentliches Betten- und Teppichklopfen. Auch die keuschesten Dinge werden „besprochen”. Was gibt es denn, worüber sie nicht „redeten”? Und selbst in ihren zarten Konfidenzen schreien sie sich an! Nichts, nichts fällt den Menschen schwerer als schweigend zu sterben. Und doch ist dies der ganze Inhalt ihrer „Kultur”, ist das Einzige, wodurch ein Mensch sich auszeichnen und aus dem unergründlichen Gewimmel von Naturwesen emporsteigen kann. Man sagt wohl, dass ihn die Sprache, oder gar dass das Tintenfass vom seelenlos-sinnlichen Vieh ihn unterscheide. Man sollte lieber sagen, dass nur Schweigen absondere. Eine tiefe Weisheit liegt darin, dass bei Homer die Trojaner mit grossem Schlachtgeschrei in den Todeskampf ziehen, während die Griechen ohne einen Laut sich in den letzten Kampf begeben.


2.[WS 6]

Es ist das wichtigste Merkmal von Kultur, dass sie die „Unmittelbarkeit” seelischer Regungen unterdrückt. Betrachten wir den „unerzogenen”, „natürlichen” Menschen, dann finden wir, dass er zu allem und jedem in Sym- und Antipathien spontan „Stellung nimmt”, dass er liebend oder hassend, lustvoll und unlustvoll auf jedes Begegnis unmittelbar zu „reagieren” pflegt. Je kultivierter, erzogener dagegen der Mensch ist, um so eher wird er geneigt sein, vorsichtig sein Urteil zu „suspendieren”. Erfahrung und Urteilskraft lehren Duldung. Ehrfurcht und Scham gebieten die stete Zurückhaltung. – Das, was ich (oben) die „Vergeistigung” des Lebens genannt habe, aber auch Rationalisierung, Logisierung, Ethisierung, oder kurzweg „Kultur” hätte nennen können, äussert sich zuvörderst in der strengeren Bindung aller Impulse des Fühlens und Wollens. Das Lieben oder Hassen der Menschen wird indirekter. Die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, wie die Beziehung zwischen dem „Subjekt” und seinem „Gegenstande” erfährt beständig wachsende „Distanzierung”. Wenn in Anfängen der Kultur Persönliches und Sachliches so eng ineinander geschmolzen sind, dass das Individuum gar nicht abzulösen wäre von zufälligen, historischen Beziehungen, in die es durch Geburt und Zufall hinein gerät, so ist auf späten Lebensstufen im Gegenteil die Spannweite zwischen dem Menschen und seiner Welt objektiver Ziele und Zwecke so gewaltig geworden, dass das „Sachliche” mit eherner Unerbittlichkeit als eine selbständige, alles Subjektiv-Gefühlsmässige ausschliessende Macht dem Menschen eisern und kalt gegenübersteht. Darum wird die Seele immer, immer einsamer. Die primitive Bildung, die überall mitten in der Natur und mitten unter Ihresgleichen lebt, formt jeden Eindruck sogleich zum Urteil, jedes Urteil sogleich zur Tat. Die Unreife ist mit allem und jedem schnell fertig. Denn es ist das gute Recht der Jugend alles danach zu bewerten, ob es ihr taugen könne oder nicht. Die Reife dagegen und in ihr das wachsende biologische Alter des Menschengeschlechts dokumentiert sich vor allem in der Fähigkeit vielseitigen Begreifens, die unter dem Gesichtspunkte der natürlichen Vitalität ebenso sehr eine praktische Gefahr, eine biologische Schwächung umschliesst, als man sie unter dem Gesichtspunkt der Kultur als wahre Blüte der Humanität bewundern muss. Die Bändigung und Vergeistigung der Naturen macht sich nun aber vor allem in der Minderung des Lärmes geltend! Sie macht sich geltend in dem wachsenden Schweigen, das uns als Ausdruck wachsender Weisheit und Gerechtigkeit umgibt. – Es ist lehrreich, Völkertypen von verschiedener Domestizierung der Seele in dieser Beziehung zu vergleichen. Es erweist sich zunächst, dass der Unterschied zwischen Lärmhaftigkeit oder Schweigsamkeit des äusseren Lebens mit der Frage zusammenhängt, ob eine Bevölkerung mehr der spielenden oder der arbeitenden Kultur nahesteht. Wo der Mensch noch das grosse spielende Kind der Erde ist, (unter Völkerstämmen Afrikas, Asiens, Australiens und im romanischen Süden Europas), da herrschen durchaus sinnliche Lautheit und Buntheit, die in keinem richtigen Verhältnisse stehen zu den ganz banalen Zwecken, die durch alle diesen Aufwand von Lärm und sinnlichem Anreiz angestrebt und erreicht werden. Der Südländer lärmt eben aus eitel Betäubungslust. Er lärmt mit Behagen. Er übt ganz naiv jene Triebhaftigkeit betäubender Funktionen, die zugleich mit der rationalen Bewusstheit und „Zweckbestimmtheit” auch den Schmerzen der Existenz aus dem Wege geht. Der furchtbare Lärm, der sich auch in alle nachdenklichen und feierlichen Stunden des südlichen Lebens drängt, das Geschrei, mit dem diese kindlichen Menschen ihre Toten begraben, ihre Schicksalsschläge zerteilen, ihre Sorgen abwälzen und alle ihre Mängel und Qualen voreinander ausbreiten und auskramen, ja noch persönlichste Verwundungen laut und öffentlich aneinander rächen, – dieses ganze Schrei- und Lärmgetriebe entspricht jener primitiven „Tendenz zur Verbequemlichung des Lebens“, eben der selben Tendenz, der auf komplizierteren, schwierigeren, arbeitreicheren Lebensstufen nur noch bewusste Ökonomisierung der Kräfte genug tun kann. Dieser naive Lärm besitzt daher ausnahmslos und überall natürlichen Zusammenhang mit spontaner Vergeudung oder mit einem Leben luxurierenden Müssiggangs. Je verspielter und unrationaler die kindlichen Existenzen sind, in um so lauteren Formen des Lebens werden sie sich in der Regel verbrauchen. Alle lebendigen Kräfte, die nicht in „Sanktionen” eingespannt werden und sich nicht auf positive, das Leben heiligende und determinierende Ziele eingestellt haben, sie „verpuffen” in einer Orgie unaufhörlichen Karnevals. Das ganze Leben scheint noch Mummenschanz, Willkür und Sinnlosigkeit zu sein; Taumel oder allerlei vague Begeisterung; unverstandener oder unverständiger Fanatismus; wüste und wilde Demolierungssucht! Und hinter all diesem Gelärme und Getöse der grossen, zwecklosen Masse steht doch ein unbändiges, grundloses Selbstgefühl. Die Furcht und Flucht vor Langenweile einerseits und andererseits die lebendige Freude an innerer Entspannung überschüssiger und lungernder Kräfte, – sie toben sich aus in Formen höchster Selbstgefälligkeit. Für diesen inneren Zusammenhang des Lärmes mit menschlichem Macht- und Aktivitätswillen ist unverkennbar charakteristisch, dass jede Klage über Lärm (der doch so viele reine Erhebungen, so viele unwiderbringliche Stunden des Menschengeschlechts rücksichtslos mordet), von den Meisten unverzüglich mit einem feinen Lächeln schadenfrohen Wohlgefallens quittiert zu werden pflegt. In diesem leisen Lächeln verbirgt sich die geheime Befriedigung darüber, dass Klage über ein Leiden stets die Anerkennung einer Macht involviert. Denn die Lust, seinesgleichen oder gar höher gearteten Wesen subtile Schmerzen zufügen zu können, ist für den rohen, primitiven, gemeinen Menschenwillen durchgängig ein Hauptmotiv, das ihn bei allen erdenklichen Gelegenheiten zu Skandal und Lärm als zu seiner natürlichen Lebenswaffe greifen lässt. Nur mit ihr weiss er sich „durchzusetzen”, andere zu belästigen, ja schliesslich moralisch tot zu machen…


*     *     *


Lichtenberg hat vom Lärm gesagt, dass er ihn nur dann unerträglich fände, wenn er den „Zweck” störender Geräusche nicht einsehen oder billigen könne. Daher pflege er, wenn er eine Horde unnützer Jungen vor seiner Türe lärmen höre, sich lebhaft vorzustellen, dass eben der selbe Lärm der selben Jungen, vielleicht dienen werde, die Franzosen oder Engländer im nationalem Kampf aus dem Felde zu schlagen. Das pflege ihn versöhnlicher gegen die Lärmbolde zu stimmen. Das nenn ich in der Tat echt nordisch-rationell gedacht! – Als ob nicht aller Jugendlärm von Kindern und Völkern seinen „Zweck” und seine „Rechtfertigung” eben in sich selber trüge?! Die „Rechtfertigung” des ganz unnennbaren Lärmes in italienischen Städten, die Sanktion der unzähligen völlig entbehrlichen Geräusche (die schon das Epos des Malers Bronzino tragikomisch aufzuzählen versuchte), – sie liegen ausschliesslich in der triebhaften Freudigkeit, mit der alle die lärmenden Existenzen, diese Fruchthändler, Hausierer, Limonadenverkäufer, Bettler, Lazzaroni, Taugenichtse, Hochstapler und naiven Gauner, ihr Vergnügen an der Sonne in die blauen Lüfte hinausschreien[2]. – Dagegen betrachte man das Antlitz intellektueller und ethischer Kulturen! Die späte biologisch-alte Zivilisation des gelehrten Chinesen, des frommen Buddhisten, des gebildeten Türken, sie bewährt sich vor allem in der stummen bewundernswerten Selbstbeherrschung und kontemplativen Ruhe, die über dem ganzen Leben wahrhaft gebildeter Menschen liegt. Man glaube ja nicht, dass jene grobe Beobachtung richtig ist, die den vornehmen Asiaten phlegmatisch und apathisch schilt. Plötzliche, unerwartete Ausbrüche lange aufgestauter und niedergezwungener Fanatismen widerlegen diese Zumutung. Der Asiat ist kraftvoll und leidenschaftlich; aber zugleich innerlich disziplinierter und gebundener als die jungen europäischen Völker im Durchschnitt zu sein pflegen. Darum schwebt über dem Leben später Buddhisten die Weihe stummer Würde und Ehrfürchtigkeit. In ihr dokumentiert sich jene überlegene Rationalisierung des Trieblebens, die der Mensch nur der Schule der Not, nur einem langen, geschlechterlangen Leiden danken kann. – Diese „Überlegenheit der Intellektualisierung des Trieblebens” äussert sich aber auch in der ungleichen seelischen Anlage der Geschlechter. Die Frau ist immer und überall „rationaler” als der Mann. Der psychologische Unterschied des weiblichen und des männlichen Vertreters des selben Typus läuft allemal auf ungleiche intellektuale Bindung psychischer Energieen hinaus. Diese ungemein wichtige psychologische Wahrheit habe ich seit vielen Jahren in Schriften und Vorträgen vertreten. Aber ich bezeichne als „Rationalität des psychischen Erlebens” keineswegs objektive Bewusstseinsinhalte. Ich meine nicht irgendwelche faktischen Kenntnisse und Bildungsmomente, noch auch etwa Übung in den Funktionen bewussten Denkens. Die Frau hat lediglich eine ältere und höhere Seelenkultur. Sie verdankt sie der langen Hemmung ihrer äusseren Kraftentfaltung. Sie dokumentiert sich in der zweckvolleren Ökonomik der Lebenskräfte, in der grösseren Selbstbeherrschung und Tragfähigkeit weiblicher Naturen. Eben diese schweigende Überwindung des Lebens aber gibt dem Menschen seine besondersartige, menschliche Würde. Sie ist das Ziel aller Erziehung und der seelische Gewinn aller Kultur. Denn Erziehung ist Erziehung zum Schweigen. Und Kultur lehrt das „Leiden ohne Klage”. Der wohlerzogene kultivierte Mensch wird sich (ganz gleich welcher inhaltlichen, objektiven, materialen Kultur er angehöre und auf welcher Kenntnis- und Bildungsstufe er verharre) immer und überall durch Schweigen und durch Feindschaft gegen undisziplinierte, laute Lebenshaltung auszeichnen.


3.

Kultur ist Entwickelung zum Schweigen! – Selige Ruhe liegt über allem Vollendeten. In keusche Stille sind alle grossen Werke der Menschheit gehüllt von hehrer Lautlosigkeit durchtränkt. Dieses hängt damit zusammen, dass alles was im Bereiche zweifellosen Wertes liegt, jenseits des Kampfes stehen muss, dessen ureigenstes Stigma Lärm und Lautheit ist. In der „Welt des Zweifellosen” gibt es keinen Streit. Darum weiss schon Plato von seinem Himmel reiner Ideen nichts Kennzeichnenderes zu sagen, als dass man in seinen Sphären keine Geräusche höre. Denn alles Geräusch hängt in der Wurzel mit irgendwelchem struggle for life zusammen, sei es in Form der Konkurrenz, oder sei es in Form der Abwehr. Lärm ist nichts anderes als ein grosses Streitmittel, mit dem ein Geschöpf dem andern zu imponieren versucht. Und auch hinter der subtilsten Art geflissentlichen Lärmes steht noch der Machtwille und die Unvollkommenheit … Ein altes Sprichwort sagt, dass „Hunde, die am lautesten bellen, am seltensten beissen”; – es zeigt sich in der Tat, dass alles, was sich lärmend anzuempfehlen oder durch Lärmen zu erschrecken sucht von der Sicherheit des Siegers am weitesten abwohnt. Jedes Lebewesen aber kämpft mit Waffen, die Not und Schicksal ihm leihen. Das Insekt, das nicht duften kann wie die Lilie hat wenigstens die Macht, sie zu besudeln. Und so kann auch jeder Fuhrknecht, der das verfeinerte Faustrecht des Lärmens übt, Gedanken im Haupte selbst eines Tasso zerbrechen. Damit wehrt und verteidigt er sich gegen die Macht des Geistes, der auch sein Leben langsam in die leidensreiche Fessel der Kultur einschmieden will. Man beachte also, womit die Masse des Volkes immer und überall zu argumentieren und zu kämpfen gewohnt ist! In jeder Volksversammlung entscheidet die Lunge. Missliebigen Staatsmännern zeigen sie durch Gejohle ihre „Weltanschauung” an. Missliebige Gelehrte boykottieren sie durch „Katzenmusik”. Mit nichts anderm beteiligt sich die kompakte Majorität an Aufständen und Revolten, ja an allen ungewöhnlichen Augenblicken der Geschichte, als mit unaufhörlichem Geschrei. Und die sich in Können und Tat am kläglichsten und feigsten erweisen, sind die frechsten und lautesten Schreier! Kein Unglück wird schweigend, kein Kampf in Stille durchkämpft; es muss alles an die Glocke! Überall in der menschlichen Gesellschaft wird lamentiert, medisiert, gebetet, gebettelt und geweint. Denn das sind Mittel, mit denen sich Leiden und Problematik betäuben, mit denen jeder Konflikt sich auf andere abwälzen lässt. Alles aber, was der Mensch noch bespricht, deutet auf einen Wunsch, nicht aber auf Besitz. – Wenn nur die vitale Energie, die bei einem einzigen unsrer Schützen-, Turner- und Sängerfeste im chauvinistischen Selbstgefühl und patriotischem Gerede verpulvert wird, täglich und stündlich in den Dienst produktiver nationaler Arbeit gestellt würde, dann könnte das deutsche Volk bald das vornehmste und beste aller Völker sein! Aber es ist das untrügliche Zeichen unsrer nationalen Unreife, dass bei uns zu vielerlei gelärmt, gewollt und gesprochen wird, während der kulturelle Besitz und die Reife schweigen und leisten würden. Es ist symbolisch, dass die sicherste und edelste Kultur, die es heute gibt, die Kultur der englischen Gentlemen auch die knappste, schlichteste und leiseste Sprache redet. Der Sprachgebrauch eines polynesischen Inselstammes verwendet im täglichen Umgang mehr Worte, Bilder, Tropen und Metaphern als die konzise und schmucklose Sprache der grossen, modernen englischen Denker besitzt. Wenn wir Deutsche auf die erhabenen Werke und Menschen der Gegenwart, auf die Schriften Nietzsches, auf die Dramen Wagners mit Recht stolz sind, so könnten dennoch künftige Geschlechter auch in ihnen zu viel Rhetorik und „Kakozelie” finden, um sie als den Ausdruck wahrer kultureller Reife schätzen zu können. Die Überlegenheit der stilleren, englischen Kultur, die das „never interrupt” das elfte Gebot genannt hat und in der puritanischen Heiligung des Sonntags einen wahren Segen für Kopfarbeiter schuf, zeigt sich vor allem darin, dass sie die Menschen besser hören lehrt. Es ist nicht häufig, dass jugendliche Völker und Menschen an der Kunst der Sprache Mangel leiden. Dagegen mangelt ihnen stets die Kunst des Zuhörens. Bei uns redet alles. Am meisten unsere Staatsoberhäupter. Und niemand hat Ohren, niemand versteht zu hören …


*     *     *


4.

Unendlich bevorzugt und liebenswürdig sind die seltenen Menschen, die einem sie anregenden Gegenstande gegenübertreten, ohne Bedürfnis, sich höchstselbst, in eigener Person dazu in Rapport zu versetzen. Eine schöne Blume muss gepflückt und berochen, ein anmutiges Kind geküsst und gestreichelt werden. Ein seltenes Tier wird alsbald geneckt und betastet; eine schöne Frau belästigt und haranguiert. – Wenn die gemeine Roture einem überlegenem Geiste, einem Reicheren, Stärkeren, Mächtigeren gegenübersteht, so ist unverkennbar ihr einziges Bemühen, dass sie nur ja „Eindruck mache“, „ernst genommen“, „estimiert“ werde, während der wahrhaft gebildete Mensch gerade dem Bessergestellten gegenüber sich schweigend zurückhalten, überall aber lernen und empfangen wird. Er wird lieber sprechen lassen, als sprechen. Es ist ihm gleichgültig, was man von ihm glaubt und hält. Er fühlt auch; dass es das gute Recht anständiger Leute ist, sich unbeschadet ihrer „Autorität“ mindestens dreimal an jedem Tage „blamieren“ zu dürfen. Nun aber blicke man auf das, was allen wohl gefällt und was sie alle lesen und schreiben. Man blicke auf all dieses „Reden über“. Dieses gegenseitige Sichbespiegeln, Sichsezieren, Sichbeobachten. Alles aus der Perspektive machtwilliger Eitelkeit und der Freude, andere nicht anerkennen zu brauchen oder im „Anerkennen“ sich selbst eine Folie zu geben. Der meiste „Publizismus“ lebt von diesen rohesten Formen seelischer Konkurrenz. Aber auch die meisten ernsten Bücher, die irgendwelche, Modeerfolge haben, wollen durchaus die „Menschheit erziehen“, fanatisieren und moralischen Einfluss nehmen durch Schreien und Lärmen. Und was wird nicht vollends an Erziehungsanstalten und Universitäten gepredigt, gelärmt und gebessert! Man gewinnt schliesslich den Eindruck, dass es aller Welt nur darauf ankomme, mitzureden, dabei zu sein und lärmende Macht auszuüben. Darauf deutet auch die unsinnige, deutsche Einrichtung der „Diskussion“, – wenn etwa nach dem künstlerisch geschlossenen Vortrage eines Sachkundigen Hinz und Peter aufstehen, um irgendwas Nebensächliches, Konfuses oder Verwirrendes ahnungslos und selbstüberzeugt zu Markte zu bringen, worauf es alsbald „in die Zeitung kommt“. Wie wenige ahnen, dass alles Reden Irrtum einschliesst. Den Irrtum, dass man zu keinem Gegenstand „Distanze“ hat, in dem man unmittelbar lebendig ist …


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Auf dem Gipfel trägt Kultur das Ideal allwissenden Schweigens. Jenes Ende, das Fiesole im Bilde des Petrus Martyr gezeigt hat. – Es liegt eigene Wahrheit darin, dass auch die Religion das letzte uns verheissene Paradies und die „ewige Seligkeit“ als „Hort des Schweigens“, dagegen die Hölle als Stätte unausgesetzten Lärmes schildert. – Im Hades wird kein lautes Wort mehr gesprochen. Selbst das Ruder des Charon erregt keinen Laut in stummen Wellen. Der letzte Lärm, der den Scheidenden entlässt, ist der Ruf der am Ufer harrenden Seelen, die sehnsüchtig auf den erlösenden Nachen warten. Im „Christenhimmel” freilich geht es nicht ohne Posaune und Engelchöre ab und die grässliche Aussicht auf verklärte, singende und schmausende Philister. Dafür bieten wenigstens die Schilderungen der Hölle, wie sie die Kirchenväter entwerfen, eine um so energischere Verurteilung des irdischen Gelärmes. Ihre Schilderungen schwelgen in dem fürchterlichen Höllengeschrei, das die rachsüchtigen Teufel erheben und in der Vorführung des Jammers, der die sündhaften armen Seelen „tönen macht“ …


*     *     *


Dante schon sang von der Erfindung eines Teufels. Eine ungeheuere, grässlich dröhnende Glocke, die Tag und Nacht geläutet wird. An ihren Schallmantel wird das arme Opfer festgeschnallt. Die Schläge der Glocke treffen unaufhörlich sein Ohr, so dass der ganze Körper mitbeben muss, bis schliesslich der Wahnsinn dem Gemarterten Erlösung bringt. Das ist das wahrhafte Symbol für den Lärm unseres Menschenalters …




Drittes Kapitel.

Die Empfindlichkeit des Ohres.


„Macht dich der brausende Sturm beklommen?
Zweierlei Hoffnung bleibt dir im Braus,
Durch das Getöse hindurch zu kommen
Oder aus dem Getöse heraus.“
Rückert.

Eine endlose Schar von Blutzeugen wider den Lärm wandelt an uns vorüber: Alle geistigen Führer, alle die seelischen Repräsentanten des Menschengeschlechtes, die unter der ewigen Torturierung gelitten haben, deren Gehirn Tag um Tag ihres kurzen Lebens von dem ehernen Hammer zermürbt worden ist. – „Ich finde“, so sagt Schopenhauer in seiner Philippika wider Lärm und Geräusch, „Klagen über die Pein, welche denkenden Menschen der Lärm verursacht, in den Biographien oder sonstigen Berichten persönlicher Äusserungen fast aller grossen Schriftsteller, z. B. Kants, Göthes, Lichtenbergs, Jean Pauls, ja wenn solche bei irgend einem fehlen sollten, so ist es bloss, weil der Kontext nicht darauf geführt hat“. – Es gibt indessen zweifellos geistige Arbeiter, die vermöge aussergewöhnlicher Empfindlichkeit des Gehörs und abnormer Reizbarkeit für Geräusche mehr als irgendwelche andere Menschen unter dem Lärme zu leiden haben. Es sind dies fast immer Individuen von spezifisch akustisch-motorischem Typus, wie denn überhaupt bei vorwiegend geistig und abstrakt arbeitenden Menschen das Gehör in weit höherem Masse als das Auge in Anspruch genommen wird und für manche Leistungen und Fähigkeiten des Gesichtssinns vikariierend eintritt. Jeder kann durch Selbstbeobachtung herausfinden, ob er mehr dem akustischen oder dem visuellen Typus zuzurechnen sei, ob er z. B. vor dem Einschlafen vorwiegend von visuellen Bildern oder von Tönen und Wortvorstellungen erfüllt ist, ob in seiner Erinnerung an vergangene Erlebnisse mehr das Bild und die Physiognomik des Geschehnisses oder ein darangeknüpfter „Sinn“ und abstraktes „Interesse“ lebendig zu bleiben pflegt. In der Regel wird man bemerken, dass gesteigerte Empfindlichkeit für akustische Eindrücke die grössere Insichgekehrtheit des geistigen Erlebens zur Voraussetzung hat …


*     *     *


Eine ungewöhnliche, ja krankhafte Reizbarkeit des Gehörssinnes, die man als eigentümliche „Lärmneurose“ ansprechen könnte, zeigt das Leben Thomas Carlyles. Bei ihm spielte der Lärm eine tragikomische groteske Rolle. Dafür, dass Thomas Carlyle in seinen Schriften selber redlich gelärmt hat (obwohl er, wie Spencer erzählt, mit Vorliebe vom „heiligen Schweigen“ zu – reden liebte), dafür ist er aufs härteste durch die subjektive Qual, die seine Lärmempfindlichkeit ihm bereitete, gestraft gewesen. Man kann beinahe sagen, dass die Tagebücher und Briefe von Jane Welsh Carlyle, (einer der genialsten englischen Frauen), von nichts und wieder nichts handeln als von der fortgesetzten Sorge, wie sie ihrem hypochondrischen Gatten ein Menschenalter lang besseren Schlaf bereiten und ruhige Arbeitsgelegenheiten schaffen musste. Die Frage, wie „Er“ während der letzten Nacht geschlafen hatte, entschied über das Glück oder Unglück eines jeden ihrer Tage, ja jeder Stunde ihres armen Lebens. Und eine Bagatelle, ein Nichts, das Gackern eines Huhns, ein vorüberrollender Lastwagen, das ferne Ticken einer Uhr genügte, um Carlyles Nachtruhe zu vernichten. – Tyndall erzählt in seinen schönen Erinnerungen, von einer Reise, die er mit Carlyle gemacht hat. Als er eines Morgens in Carlyles Kammer trat, fand er ihn völlig verwandelt, strahlend, wie verklärt. Er wusste sich nicht genug zu tun in Dankbezeugungen für den guten Freund, dessen Fürsorge er acht Stunden festen Schlafes zu verdanken glaubte. Er wollte durchaus das Bett ankaufen und mit nach Schottland nehmen, in dem er so gut geschlafen hatte. Es ist halb rührend und ergreifend, halb aber komisch oder empörend zu lesen, welche Schliche und Kniffe die arme Jane anwenden musste, um diesem masslos launischen, ganz unausstehlichen Manne die nötige Stille zu verschaffen. Denn obwohl er in den besten Verhältnissen, verhätschelt und umsorgt in der tiefster Abgeschiedenheit in einem einsamen Hause zu Chelsea lebte, klagt er unaufhörlich über Mangel an Stille. Da werden die jungen Hähne und Hühner, die seine Morgenruhe stören, für schweres Geld aufgekauft; junge Damen durch zarte Aufmerksamkeiten veranlasst, während seines Aufenthaltes nicht auf dem Klaviere zu üben, denn bei dem ersten Tone gerät der grämliche Carlyle in Zorn und beginnt seine ständige Lamentei: „Bei diesem Lärm kann ich weder denken noch existieren.“ Ein Hund, der sich herausnahm, Ideen, die den Preis menschlichen Heldentums und das Heil des englischen Volkes bezwecken, durch Geheul meuchlings im Keime zu töten, wird mit List fortgeschafft, nachdem sein Herr, ein benachbarter Schnapsbrenner durch einige Flaschen edlen Weines bestochen ist. Obwohl das Arbeitszimmer Carlyles doppelte Wände hat, zwischen denen eine den Schall dämpfende Torfschicht deponiert ist, scheint doch niemals die zur Arbeit und zum Schlafe notwendige Stille zu herrschen und bei jedem neuen Buche träumt der grosse Schriftsteller davon, es in einer Wüste oder auf einem Schiffe allein, einsam im Ozean schreiben zu dürfen. Es war eine bestimmte, gar nicht seltene Form von Autosuggestion, durch die Carlyle sein Leben sich verbitterte. Er schlief nur darum nicht, weil seine Aufmerksamkeit sich einseitig gewohnheitsmässig auf das Erdenken von Schlafstörungen eingestellt hatte. Er fühlt sich nicht zufrieden, wenn er keinen Grund sieht, unzufrieden zu sein. Das Schlimmste in solchen Fällen aber ist die suggestive Macht solcher ungewöhnlich energischen „moralischen Dyspeptiker“. Carlyles Einfluss auf andere fügte es, dass seine Form von Neurasthenie sich auf seine ganze Umgebung übertrug. Weil er nicht schlafen konnte, schlief sein ganzes Haus nicht, denn nichts kann man so leicht lernen oder verlernen als den Schlaf … Einen Leidensgenossen von recht eigentümlicher Art hatte Carlyle an dem Mathematiker Babbage. Auch dieser litt an einer Idiosynkrasie gegen Lärm. Diese aber bezog sich auf eine ganz spezifische Lärmsorte, nämlich auf den Klang der in englischen Dörfern überaus häufigen Drehorgeln. Das Lied der Drehorgel machte Babbage weinerlich und arbeitsunfähig. Darum bestimmte er ein für allemal einen Teil seiner Einkünfte dazu, alle Orgeln, die sich irgendwo in seinem Reviere hören liessen, aufkaufen zu lassen. Dies wurde alsbald bekannt und veranlasste eine allgemeine Auswanderung der Orgelmänner zu dem Reviere, wo Babbage wohnte. Dort versuchten sie ihre alten verspielten Instrumente möglichst teuer abzusetzen … Goethe berichtet, dass er in seiner Jugend sich die Empfindsamkeit gegen Lärm nicht durchgehen lassen wollte und dass er in Strassburg hinter der Trommel der Soldaten einherzog, um sein empfängliches Ohr für Geräusche langsam abzuhärten. Aber es hat ihm wenig genützt. Denn auch Goethe blieb sein Leben lang für jede Art Lärm und Geräusch sehr empfindlich. In dem ruhigen idyllischen Weimarländchen, unter den glücklichsten und würdigsten Lebensbedingungen, unter denen je ein Dichter in Deutschland schaffen durfte, hatte er gleichwohl noch beständig über Unruhe und Lärm zu klagen. Ja, in seinem Alter kaufte er ein in Verfall geratenes Haus neben dem seinigen, nur, um den Lärm bei seiner Ausbesserung nicht mit anhören zu müssen. – Wir finden fernerhin in der Biographie Byrons, Shelleys, Beethovens, Schillers, Mussets, Viktor Hugos, Zolas ausdrücklich erwähnt und durch eine Fülle von Einzelzügen bestätigt, dass sie für Geräusche empfänglich waren und unter Lärm sehr zu leiden hatten. In der Lebensbeschreibung Konrad Ferdinand Meyers erwähnt seine Schwester, dass er schon als Knabe eine übergrosse Empfindlichkeit gegen Geräusche geäussert habe. Einen fast schrullenhaften Zug berichtet auch Peter Hille aus seiner eigenen Jugendzeit. Er konnte Flintenschüsse und Pfiffe nicht ertragen und ging in kein Theater, weil er in Furcht war, unerwartete Schüsse oder Pfiffe hören zu müssen. – Einen halb tragischen, halb komischen Charakter hatte der Widerwille Heinrich Heines gegen Lärm. Er dokumentiert sich mit wahrem Galgenhumor, wenn der Dichter in seiner „Matratzengruft“, wo ihn tausend subtile Geräusche quälen, ein Testament aufsetzt, in dem er verfügt, er wolle auf dem Cimetière Montmartre, nicht aber auf dem näheren Père la Chaise begraben werden, „weil es dort ruhiger sei und er weniger gestört sein werde”. – Auch von Richard Wagner, der in seinen Briefen neben allen seinen andern Lamentos, auch über den Lärm und die Sorge um eine ruhige Wohnung beständig lamentiert, hören wir, dass er Glassplitter und Scherben unter seine Fenster streuen liess, um Kindergeschrei von seiner Wohnung fernzuhalten. Auch Fr. Th. Vischer war ein herrlicher Kämpfer wider den Lärm. Neben Schnupfen, Katarrh und Influenza, neben der Bosheit der Hemden- und Kragenknöpfe und der „Tücke der kleinen Objekte“ hat ihn nichts so tief wie Lärm erbittert. Halb grimmig, halb lächelnd hat er gegen ihn angekämpft. Als im Sommer 1877 neben dem Stuttgarter Polytechnikum der Stadtgarten angelegt wurde, in dem während der Sommervorlesungen Vischers ein Promenadenkonzert stattfand, da schrieb er im „Neuen Tageblatt” geharnischte Aufsätze wider die Rücksichtslosigkeit seiner schwäbischen Mitbürger. In einem dieser Aufsätze heisst es folgendermassen: „Vor meinen Zuhörern werde ich so vieler Worte nicht bedürfen. Da brauche ich nicht erst zu beweisen, dass die Wissenschaft Stille bedarf, dass, wer sie vorträgt, nicht mit Pauken und Trompeten um die Wette schreien kann; da ist keine Besorgnis, auf die Missachtung der Wissenschaft zu stossen, die in dieser Sache als eine traurige Erscheinung in unserer Hauptstadt mehrfach hervorgetreten ist. … Es wäre auch noch ein Wort von Belästigung vieler Umwohner durch die laute, lang dauernde Musik zu sagen; da gibt es auch ausser Lehranstalten immer solche, die jetzt keine Musik hören wollen, weil sie zu anderen Dingen Sammlung bedürfen, gibt es Kranke, kommt es vor, dass Tieftrauernde ein Sterbebett umstehen, denen die stürmische Aufforderung zur Freude wie Hohn erscheint. Gerade der Freund der Musik muss wünschen, dass sie nicht aufdringlich sei, nicht da sich aufwerfe und lange Stunden hindurch breit mache, wo sie zwar einige belustigt, aber andere belästigt.“ – Ein andermal beklagt sich Vischer in einem Brief über einen heulenden Hund mit folgenden Worten: „Meine Arbeit verlangt strenge Sammlung des Geistes und diese ist rein unmöglich, während man solche Jammerlaute eines Tieres mit anhören muss. Unter allen störenden Geräuschen ist es gerade dieses, welches in eigentümlicher Art die Aufmerksamkeit dessen, der sich geistig beschäftigen muss, von seiner Arbeit ablenkt. An den Lärm, der mit manchem Handwerk verbunden ist, kann man sich gewöhnen, denn da mengt sich kein Mitleid ein, diese Geräusche schneiden nur ins Ohr, nicht in die Seele. Wer nur einmal versucht hat, während eines nahen Hundegeheuls zu studieren, der weiss aus Erfahrung, dass man auch in den Pausen, in denen das arme Tier schweigt, zu keiner geistigen Sammlung gelangen kann, weil man immer acht geben muss, wenn er wieder beginnt.“[3] – Eine der merkwürdigsten Äusserungen aber speziell über das Geräusch der Musik findet sich bei Kant. Sie lautet folgendermassen: „Es hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, dass sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt auf die Nachbarschaft, ausbreitet und so sich gleichsam aufdrängt, mithin der Freiheit anderer ausser der musikalischen Gesellschaft Abbruch tut, welches die Künste, die zu den Augen reden, nicht tun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will. Es ist hiermit fast so, wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt. Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen und nötigt sie, wenn sie atmen wollen, zugleich zu geniessen, daher es auch aus der Mode gekommen ist.“ – Endlich kann ich mir nicht versagen, ein paar Sätze eines ausgezeichneten Pathologen, Georg Strickers, hierher zu setzen: „Man gibt sich in der Schule so viele Mühe, die Augen zu schonen, warum vernachlässigt man die Ohren der Jugend? Die Lage der meisten Schulgebäude gestattet es, dass das Getöse der Strasse quälend und zerstreuend zu den Ohren der Schüler dringt. Was für Störungen und überflüssige Anstrengungen beim Denken, beim Lernen, beim Lesen durch Lärm und Geräusche aller Art hervorgerufen werden, weiss jeder, der nicht ganz ohne Hingebung und Ernst bei seiner Arbeit ist. Allerdings gibt es Leute, die im grössten Lärm, wie sie behaupten, geistig arbeiten können. Es ist eben ihre Arbeit und ihr Geist danach. Je feiner ein Gehirn gebildet ist, desto gröblicher wird es von zwecklosen Gehörseindrücken in seiner Tätigkeit gestört. … Die Erholung, welche der Städter immer und immer wieder im Gebirge, auf dem Lande, am Meere sucht, ist wesentlich eine Erholung seiner vom Ohr aus erschöpften Nerven. Was dieser Lärm bedeutet, merkt er meistens erst, wenn er ihm eine Zeitlang entrückt war. Dann begreift er kaum, wie er sich wieder gewöhnen soll an das Gerassel der Bäckerkarren und Fleischerwagen, welche in der Frühe um die Wette toben, an das Gepolter und Geläute der Lastwagen, der Pferdebahnen, der elektrischen Bahnen, welche ihnen bald folgen, an das Getöse der Strassenreinigungsmaschine, die in tiefer Nacht die anderen Lärmmaschinen ablöst und donnernd das Haus des müden Bürgers umkreist, an all die anderen fürchterlichen Töne, mit welchen die Stadtbahn, der Güterbahnhof, nachbarliche Akkumulatoren usw. ruhelos zu allen Stunden der Nacht das Wort des Dichters verhöhnen: „Ringsum ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Gasse.“ Freilich gewöhnt man sich wieder daran, wie man sich an Gift gewöhnt, das heimlich die Gesundheit untergräbt und nicht mehr für ein Gift gehalten wird, bis der plötzliche Zusammenbruch der Kräfte es schrecklich lehrt. Für einen gesunden, nervenstarken Erwachsenen mögen ein paar Ferienwochen alljährlich genügen, die schädlichen Wirkungen des Stadtgetöses auszugleichen. An einem Kinde, das seit den ersten Tagen der zartesten Jugend in Wochen und im Schlafe von der „erfreulichen Stimme der Kultur“ verfolgt wird, gehen die Wirkungen nicht schadlos vorüber. Die grössere Häufigkeit der Gehirnentzündungen, der schwerere Verlauf der Fieberkrankheiten in den Städten ist nur eine auffallendere, nicht die schwerste und allgemeinste Wirkung des Stadtlärmes.“


2.[WS 7]

Wenngleich man sich vorzustellen vermag, dass ein Lebewesen auch mit anderen als den uns bekannten Sinnesorganen sich eine „Welt” aufbauen und lebend in ihr orientieren könne und dass somit nur „Zufall” ist, wenn wir uns mit Auge und Ohr und nicht durch irgendwelche andere unfassliche, uns unbekannte Sinne verständigen, so obwaltet doch in Entwickelung, Höhersteigerung und gegenseitigem Verhältnis der gegebenen Sinne die sicherste Notwendigkeit. Es scheint mir hierbei ausser Frage zu sein, dass die Verfeinerung des menschlichen Gehörs einer komplizierten, entwickelungsgeschichtlich späteren Stufe zukommt, als selbst die differenzierteste Empfänglichkeit für Phänomene des Lichtes und der Farbe. Die „Welt“ des Ohrs ist die reichste und subtilste! Die Erlebnisse des Ohrs sind zarter, mannigfaltiger und intensiver als alles, was durch das Auge erlebt werden kann. – Hiermit aber hängt auch der Umstand zusammen, dass das Gesicht ein weit trägerer, jüngerer und weniger eingeschliffener Sinn, als das Gehör ist und dass Reaktionen auf Schallreize schneller und prompter, als Reaktionen auf Licht- und Farbenreize zu erfolgen pflegen. Es besteht die merkwürdige Relation, dass je subtiler und je reicher gegliedert eine Klasse von Empfindungen zu sein pflegt, um so stärker auch die „Empfindlichkeit“ für eben dieses Bereich von Empfindungen sich entwickeln muss. Dies nämlich ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass sich eine noch weitere faktische Differenzierung der betreffenden Empfindungssphäre an uns vollziehen kann. Hieraus aber folgt, dass auf jedem Sinnesgebiete die Empfänglichkeit für quantitative Steigerung der Reize zugleich mit der Fähigkeit der Wahrnehmung für neue qualitative Unterschiede anwachsen muss …


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Es ist eine praktisch oft erprobte Erfahrung, dass das selbe Individuum für die feinsten Unterschiede eines Sinnesgebiets zwar „empfindlich“ ist, dennoch aber der gröbsten Anstösse bedarf, um diese feinsten objektiven Unterschiede zu bemerken. – Daher kann ohne Widerspruch geschehen, dass die feinste psychische „Reizbarkeit“ mit der schlimmsten objektiven Vergröberung der Reize, dass z. B. der zarteste Farbensinn mit dem rohesten Farbenmissbrauch, oder das feinste Gehör mit dem schrecklichsten Gelärme zusammengeht und sich gar wohl verträgt. – Gleichwie ein Gourmet, der nur noch in den seltensten Anreizen der Zunge einen neuen Genuss findet, sich schliesslich gerade zu den allerprimitivsten Genüssen bekehrt, so geht auch im Gebiete höherer Sinnlichkeit, Verinnerlichung des Empfindens und Roheit der faktischen Empfindungsausdrücke sehr oft zusammen. Wenn ich ein Beispiel aus einer nur scheinbar entlegenen Sphäre heranziehen darf, so möchte ich auf die Entwickelung unseres Theaterwesens hinweisen. Roheit und Feinheit, wüster Sensations- und Kolportagestil einerseits und fast krankhaft geistige Finesse andererseits sehen wir auf unsern Theatern immer gemeinsam auftauchen. Es erscheint gerade so, als wenn unsere Nervensysteme zugleich stumpf und hypererethisch geworden seien. Sie sind zwar empfänglich für die leisesten Anreize, und leiseste Anstösse genügen schon, um starke Wirkungen auszulösen, aber sie bedürfen zugleich starker „Anlässe“, damit diese überfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit de facto in Kraft trete …


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Dieser subtile Zusammenhang kehrt nun auch in der Geschichte des Lärmes wieder. Wir sind zugleich entsetzlich laut und entsetzlich musikalisch geworden. – Wenn (nach Schopenhauers Angabe) Thomas Hood von den Deutschen sagte for a musical people, they are the most noisy I ever met with, so steht wohl eine ganz unrichtige Beobachtung dahinter. Denn Stumpfheit gegen Lärm und Empfänglichkeit für Musik, grosse Lärmhaftigkeit des Volkslebens und qualitative Verfeinerung des Gehörs bilden durchaus keinen konträren Gegensatz. Vielleicht sind die feinsten musikalischen Ohren in Stadtvierteln zu Hause, vor deren Getöse ein unmusikalischer Kannibale die Flucht ergreifen würde. Der „Naturmensch“, der ein weit undisziplinierteres und gröberes Gehör besitzt, ist zugleich für Gehörseindrücke aufmerksamer und bewusster als der Kulturmensch. Umgekehrt scheint das selbe Individuum zu einer extremen Lautheit des äusseren Lebens zu neigen, das doch zugleich für die geistigsten Intervalle der Musik und für die zartesten Naturgeräusche, (wie Rauschen im reifen Korn, Rieseln des Regens auf Gebüsch und Sand, Knistern aufbrechender Knospen oder Rascheln fallender Blätter) tief empfänglich ist. Dieser moderne Mensch scheint so „nervös” zu sein, dass ihn nur das ganz zarte oder das ganz laute Geräusch zu fesseln vermag. Nur Sinneseindrücke auf sozusagen mittlerer Linie übergeht er in gewohnheit-gewordener Stumpfheit …


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Auf dieses merkwürdige Beieinander von Feinheit und Lautheit deutet vor allem die Entwickelung der modernen Musik hin! Ist es nicht geradezu ungeheuerlich, wenn auf einem internationalen Musikfest zu Boston unlängst 20000 Solisten beiderlei Geschlechts, 2000 Mann Orchester und mehrere hundert Dampforgeln mitgewirkt haben? – Und wenn ich in der Zeitung des heutigen Tages lese, dass Kaiser Wilhelm gestern abend zunächst ein Kanonenstück von Wildenbruch und danach „Wer hat Dich Du schöner Wald” aus 1200 sangesfreudigen deutschen Männerkehlen genossen hat, heute früh aber bereits wieder durch den „Huldigungsmarsch von Schultze ausgeführt von sämtlichen Kapellen der Garnison” geweckt worden ist, dann erfasst mich halbwegs staunende Bewunderung für solchen Nervenapparat, halbwegs ein grosses Mitgefühl. – Und hat nicht endlich das Opernwesen seit Richard Wagner eine „Dynamik“ erreicht, die an die Reaktionsfähigkeit des kultivierten Ohres scheinbar nicht mehr zu überbietende Ansprüche stellt? – Dennoch ist diese Entwickelung zur Lautheit mit einer entschiedenen Verfeinerung des Gehöres zusammen gegangen!


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Man liest oft die Behauptung, dass das „Tier“ (insbesondere Katze und Dammwild) ein „feineres Ohr als der Mensch besitze“. Das ist vollkommen unrichtig. Wir kennen kein Lebewesen, dessen Gehörapparat so fein und kompliziert wie der menschliche wäre. Wohl aber bemerken wir bei vielen Tierarten eine grössere Empfänglichkeit für Geräusche, weil ihre „Aufmerksamkeit“ noch einseitig auf Schallwahrnehmungen eingestellt ist. Ein grosser Teil der Tierwelt ist gezwungen, um seiner Nahrung und Sicherheit willen, sich beständig durch das Ohr zu orientieren. Der Mensch aber würde gerade vermöge seiner höheren nervösen Reizbarkeit in kurzer Zeit zugrunde gehen, wenn er alle Geräusche, die von seinem Gehöre perzipiert werden oder für sein Ohr perzipierbar sind, auch de facto apperzipieren wollte. Die notgedrungene Gewöhnung an Umgebungsgeräusche jeder Art, wie Zischen, Stossen, Kreischen, Pfeifen und Schreien bewirkt, dass beim Menschen durch andauernde Schwingung der vielen Gehörteile zahllose Nervenstränge chronisch erschlaffen. Sein Hören wird schliesslich zu einer rein empfindenden Tätigkeit und die unzähligen Einzelgeräusche im Hause und auf der Strasse kommen nicht mehr in sein wissendes Bewusstsein. In der Gewohnheit, nur komplexe Klänge zu apperzipieren, wissen wir schliesslich nicht mehr, aus welcher Art „Tönen“ Geräusche zusammengesetzt sind. Gleichwohl hören wir doch alle diese Töne und Untertöne feiner als jedes Tier. Darauf deutet sowohl die Möglichkeit der Klanganalyse, wie der anatomische Bau unseres Gehörorgans. Der Mensch besitzt zirka 15500 Hörzellen und wenn wir auch nur vermuten dürfen, dass jede einzelne Hörzelle auf einen anderen Ton abgestimmt ist, so können wir doch bei einiger Übung mindestens 4000 Töne mit voller Sicherheit unterscheiden. Wie fein aber ein Gehör ist, das auch nur 1000 Töne voneinander scheiden kann, ermessen wir an der Tatsache, dass unsere grössten Konzertflügel nur 87 Töne besitzen. Allein zwischen den Tönen a und b vermag das normale Menschenohr wenigstens dreissig weitere Zwischentöne wahrzunehmen. – Die Katze, die scheinbar viel feiner hört und jedenfalls auf den leisesten Ton reagiert, hat doch nur 1200; der Hase aber, der wiederum feiner hört als die Katze, hat nur 7000 Gehörzellen. Dieses alles beweist, dass die Abgestumpftheit des Menschen gegen leise und mittlere Geräusche keineswegs auf verminderte Empfänglichkeit seines Gehörsinns deutet. Man muss die Anregungsschwelle und die Ausdrucksschwelle, die faktische Empfänglichkeit und den Ausdruck der Empfänglichkeit wohl unterscheiden.


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Niemand darf jedoch glauben, dass das ewige Schwingen in Ohr und Hirn, wenn es auch schliesslich nicht als bewusstseinweckende Hemmung empfunden wird und darum keine Reaktionen mehr auslöst, nun für menschliches Leben und menschliche Gesundheit gleichgültig geworden sei. Die Natur hat Schnecke und Cortisches Organ wohlweislich zutiefst in die Schädelhöhle gelegt, weil es von allen unsern Organen das komplizierteste und empfindlichste ist und mit der geistigen Bewusstheit des Menschengeschlechtes die innigste Verbindung besitzt. Hierauf deutet auch der entwickelungsgeschichtliche Umstand, dass seine Reife und Ausbildung die längste Zeitdauer erfordern. Denn wie überall das Kompliziertere später zur Reife kommt als das minder Komplizierte, so kommt auch das Gehör zugleich mit der Sprache erst dann zu seiner vollen Entwickelung, wenn jede andere sinnliche Reaktionsfähigkeit schon auf ihrem Gipfel angelangt ist. Auch lässt in der Regel im Prozesse des Alterns die Kraft des Auges früher wieder nach, als die des Ohres… Wir empfinden jedoch die von uns beständig perzipierten Geräusche unserer Umgebung schliesslich nicht mehr als Hemmung und somit auch nicht als gegenständliche Gegebenheit, weil sie für das gewohnte Leben keine Gefahr und eben darum keinen Ansporn zu apperzeptivem Aufmerken in sich schliessen. Gleichwohl sind diese Geräusche doch beständig da. Sie üben beständig ihren bohrenden, unterminierenden, kraftverbrauchenden Einfluss. Man könnte sie etwa mit dem Druck der uns umgebenden Atmosphäre vergleichen, der auch nicht bemerkt und niemals störend empfunden wird, zweifellos aber zu seiner Überwindung ein bestimmtes Kraftmass in unserem Lebenshaushalte, ein bestimmtes Mass vitaler Energieen dauernd in Anspruch nimmt. Ich möchte vermuten, dass mancherlei allgemeine physiologische „Dispositionen”, die wir als Organgefühl, Gemeingefühl, Stimmung und dergl. ansprechen, auf Konto dieses uns unbewussten Perzeptionszwanges zu setzen seien. Zumal der Grosstädter empfindet häufig dunkles Unbehagen, Erschöpfung oder nagendes Ermüdetsein, dessen Quell ihm erst klar wird, wenn die Aufmerksamkeit zufällig auf Geräusche der Umgebung fällt, deren Einwirkung vielleicht schon Tage und Monate von den Nerven ertragen wurde, ohne dass diese Störung irgendwie bemerkt worden wäre. Ja, es geschieht beständig, dass die schädigende Wirkung von Geräuschen uns erst bewusst wird, nachdem sie zu wirken aufgehört haben, während doch in jedem anderen Sinnesgebiet das Geltendmachen von „Schmerz“ das unmittelbare Dasein biologischer Schädigung anzeigt[4].


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Wir arbeiten somit scheinbar ungestört unter dem Einflusse ferner Flintenschüsse oder Trommelwirbel, rammelnder Handwerker oder klappernder Schreibmaschinen, so wie der Schmied das Dröhnen seiner Hämmer, der Uhrmacher seine Uhren und der Müller das Schlagen seiner Räder nicht mehr wahrnimmt. Aber sobald einmal Stillstand im Geräusche eintritt, beginnen „die Ohren zu summen“. Es beginnt sich die aufstachelnde Wirkung des Geräusches nachträglich an seinen Folgen zu zeigen. – Man hat an fast allen Arbeitern, die lange in einer Kesselfabrik oder in Appreturen gearbeitet haben, eine eigentümliche Krankheit gefunden, die man „Kesselmachertaubheit” genannt hat. Das Trommelfell verdickt sich unter Einwirkung des Lärms. Das Gehör wird gegenüber dem spezifischen Hammerlärm schwächer, bis schliesslich auch Schwächung für jede andere Art Geräusche und zuletzt vollkommene Taubheit eintritt. Was sich hierin geltend macht, ist eine wahrhaft heilsame Schutzvorrichtung des gefährdeten Organismus. Und zwar des ganzen Organismus; denn jede Reizung oder Überreizung eines einzelnen Sinnesgebietes trifft zweifellos den gesamten Nervenapparat, so dass es zur Lebensforderung des Individuums wird, dass ein dauernd gefährdetes Organ gegenüber Anforderungen, denen es sich nicht anpassen kann, schliesslich zur Degeneration gezwungen werde. Eine bloss partielle Abstumpfung oder Unbewusstheit dagegen könnte uns nicht beschützen, da sie ja keine „Unempfindlichkeit“ in sich schliesst, sondern mit der fortdauernden feinsten Wahrnehmungsfähigkeit gar wohl verträglich ist …


*     *     *


3.

Welche Unsummen von Gehörseindrücken wir in jedem Augenblick des Lebens de facto perzipieren, bemerken wir nur, wenn wir uns die[WS 8] Mühe geben, irgend ein komplexes Geräusch, das in eine dem Lärme abgewandte Arbeit unbewusst hineintönt, uns bewusst machend, zu analysieren. – Eine einzelne „quietschende“ Türangel z. B. produziert pro Sekunde etwa 1000 bis 3000 Hin- und Herbewegungen zahlloser Eisenteile, dem die gleiche Anzahl Schwingungen des Trommelfells, des Mittelohrs und Labyrinthes entsprechen muss. Ein heftiges Türenwerfen im Hause, wie es bei unerzogenen Menschen so beliebt ist, entwickelt ein Konglomerat von Geräuschen, die durch zahllose Schwingungen zahlloser Eisen-, Holz- und Glasteile bewirkt werden und zu ihrer Wahrnehmung sämtliche Membrane des Ohrs und die gesamte Klaviatur der Hörzellen in unaufhörliche, schmerzliche Vibration versetzen. – Wenn ein schweres Lastfuhrwerk über den Strassendamm rollt, dann teilen sich die Schwingungen des Pflasters sämtlichen Häusern der Umgebung mit, die in den Grundvesten erzittern. Diese Schwingungen aber übertragen sich auf sämtliche Gegenstände jedes Zimmers, deren jeder in einem bestimmten Eigenton in die allgemeine Erschütterung einstimmt, während das Stampfen der eisernen Hufe auf dem harten Strassenpflaster alles überlärmende Tonfolgen von d’’ bis fis’’’ hervorlockt, die ein zur Erde geneigtes Ohr noch aus mindestens zwei Kilometer Entfernung deutlich vernehmen könnte. – Versuchen wir aber vollends in das zu unserem Fenster dumpf emporbrausende Geräusch der Strasse hineinzuhorchen, so können wir in jeder Sekunde jeden von den 4000 für uns vorhandenen Tönen deutlich hervorholen und wenn wir einen beliebig abgestimmten Resonator ans Ohr halten, so findet sich, dass jeder mögliche Ton auch in einer scheinbar „ruhigen” Umgebung fortdauernd in unsere Ohren einbrandet. – In diesem Augenblick z. B. höre ich (während ich in einer Wirtshausstube über den Lärm schreibe) von der Strasse her viele charakteristische Vokale im Rufe verschiedener Menschen- und Tierstimmen; höre melodische Terzen und Quinten der Ausrufer von Kartoffeln und Fellen und bestimmte Töne, an denen ich Typen des Ganges oder der Bewegung unterscheiden würde, auch wenn ich nicht sehen könnte, wer an den Fenstern vorübergeht. Wenn eine Modedame auf hohen Absätzen vorüberrauscht, dann höre ich deutlich ein bestimmtes Knarren im hohen e jeden andern Laut übertönen. Stampft ein Bauer auf klobigem Schuhwerk daher, so produziert sich das in kleinen g. Wenn aber ein Offizier den Säbel über das Pflaster schleift, so hört man eine Tonskala, deren Grässlichkeit höchstens mit dem Rasseln eines Spazierstocks über den eisernen Gartenzaun oder mit dem Aneinanderwetzen zweier geschliffener Messer verglichen werden kann[5].


*     *     *


Da der Lärm, gleich seiner edlen Schwester Musik, ausschliesslich das Affekt- und Willensleben des Menschen aufzurütteln vermag, so kann er zu Gewaltakten, ja zu Verbrechen verführen, die in Ruhe und Stille niemand zu begreifen vermag. Die geschichtliche Überlieferung bezeugt, dass „Gewaltnaturen” wie Alexander der Grosse und Erich der Gute, von Dänemark, durch die Wirkung aufreizender Musik zu Mördern ihrer vertrautesten Freunde geworden sind. Wir lesen auch von Napoleon, dass dieser „Eisenmensch” Musik und lautes Geräusch als so unerträgliche Nervenqual empfunden hat, dass er bei ihrem Anhören zum Weinen gezwungen wurde. Und in der Tat, jedermann weiss aus Erfahrung, dass es keinerlei emotionelle Regung gibt, die nicht auf dem Wege der Tonwahrnehmung in die Seele Einlass finden könnte. Eben darum ist es nur natürlich, dass das für Töne besonders empfängliche Individuum jedes Geräusch als Vergewaltigung und Zersplitterung seines Selbst empfindet und fürchtet. Alles, was in unsere Ohren eindringt, stellt ja die Forderung, uns in fremde Willens- und Gefühlszustände hineinziehen zu lassen. Je individueller daher unsere Arbeit und unser Leben ist, je mehr wir Sammlung, Einkehr und Selbstbewahrung nötig haben, um so furchtbarer muss der fortdauernde Anreiz zu Ablenkung und Zersplitterung, den eine laute, sich aufdrängende Umwelt ausübt, uns quälen, verbittern und demütigen. Hierzu aber kommt, dass die Orientierung durchs Ohr ein Spezifikum der geistigen Wesen und darum die vornehme Besonderheit des Menschen ist. Mehr als jedes andere Naturwesen ist der Mensch auf sein Gehör angewiesen. Das dokumentiert sich in der unvergleichlichen Schönheit und Bildungsfähigkeit seiner Stimme. Denn überall, wo die „Welt” aus Ton und Klang gewoben wird, ist auch die Stimme klangreich und wohltönend. Diejenigen Wesen dagegen, die sich vorwiegend durch die gröberen Sinne, insbesondere durch den Geruchssinn orientieren, haben auch rauhe, hässliche und ärmliche Organe. Organ und Gehör stehen im Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Man denke nur an Singvögel und Raubtiere…


*     *     *


Wir wissen kaum, in welchem Grade musikalische Elemente der Sprache, wie Tönung und Klangfärbung, bei allem Verstehn und Sichverständigen leitend sind. Nicht was wir „vernehmen”, sondern was wir hören, ist das für uns Wichtige. – Jene rein perzeptive Seelenfühlung, die die unbewusste Direktive auch für alle Menschen- und Weltkenntnis bietet, rechnet nur wenig mit dem, was einer redet; aber sie weiss sehr feinhörig das unbewusste Wie der Rede zu erlauschen, welches niemand klar in seiner Gewalt hat. Ja, ich glaube, dass der Mensch sogar sich selber nur so lange versteht, als er schweigt; sobald er aber zu reden beginnt, ist sicherlich irgend jemand unter den Hörern besser imstande, den Redenden zu verstehen, als er sich selber zu durchschauen vermöchte. Was sich aller Bewusstheit, Willkür und Verstellung entzieht und was niemand an sich selbst kennt (so wenig als das Auge sich selber sieht), das liegt ausschliesslich in den klanglichen Elementen der Stimme verborgen. Daraus erklärt sich auch, dass Blinde, die nach Shakespeares schönem Worte „mit den Ohren sehen”, einen besseren Schlüssel zur Seele und damit eine reichere Weltkunde besitzen, als Taube oder Taubstumme. In der Geschichte der Künste haben die Blinden stets eine bedeutende Rolle gespielt; Taube dagegen und Taubstumme nur selten reicheres Weltgefühl geoffenbart. Sie sind in der Regel misstrauisch, unzufrieden; ihr verzagtes, ängstliches, hilfloses Gesicht beweist deutlich, dass sie keinen Anteil an dem Glücke weiten geistigen Verständnisses haben, das das Antlitz der Blinden friedlich und ehrwürdig macht.


*     *     *


Wie gross der unbemerkte Einfluss ist, den viele Empfindungen von Tönen, Lauten, Klängen und Geräuschen auf unser Erleben ausüben, das erweist sich besonders an der Entwickelung der Sprache. Ich denke zunächst an die unbewussten „onomatopoetischen” Wortbildungen. Etwa an Tatsachen wie die, dass die Namen der meisten Geräusche das betreffende Geräusch selber hervorbringen, d. h. dass der Laut des Wortes der Höhe oder Tiefe des Geräusches entspricht, das durch das betreffende Wort bezeichnet wird. Man wird z. B. in den Worten brummen, donnern, poltern, rauschen, brausen, rasseln, knarren, schmettern, piepsen, piepen die Tonart des von ihnen bezeichneten Geräusches unschwer wiedererkennen. Auf dieser tonmalenden Funktion der Sprache beruht bekanntlich insbesondere der Reiz des Stabverses und der Alliteration. – Viel wichtiger aber als diese Produkte unbewusster Gehörsempfindungen sind die zahllosen rhythmisch-musikalischen Elemente der Sprache, hinter denen ebenfalls ungemerkte Gehörseindrücke stehen. Gerade die Erscheinungen des „Rhythmus” deuten auf anthropologische Verwurzelungen, deren Untersuchung den Wissenschaften der Tonpsychologie wie der Musikästhetik eine konkrete Grundlage gibt. Ich will daher wenigstens im Vorübergehen auf Tatsachen hinweisen, mit denen sich die Physiologie des Lärms und der Geräusche seit alters beschäftigt hat. Man weiss, dass durch Lärm und Geräusche sekretorische wie exkretorische Funktionen gesteigert, gemindert oder sonstwie verändert werden. Man hat auch versucht, die physiologische Wirkung bestimmter Töne und Tonfolgen festzustellen und das Altertum pflegte sogar die musikalischen „Tonarten” nach physiologischen Gesichtspunkten zu unterscheiden. Man meinte, dass eine bestimmte Tonart (die äolische, phrygische, dorische usw.) auf bestimmte körperliche Organe, auf Herz, Magen, Rückenmark usw. Einfluss habe. Hierauf begründete sich jene merkwürdige Therapie des Mittelalters, die durch bestimmte Töne und Instrumente gewisse Krankheiten zu heilen unternahm; etwa Wassersucht mit einer Flöte aus Zedernholz, Fieber durch Mollakkorde auf einer Weidenflöte u. dergl. mehr, abergläubisch-mystagogische Spielereien, hinter denen gleichwohl ein tiefer Einblick in die physiologische Wichtigkeit der Geräusche steckte. – Es ist freilich nicht viel damit getan, wenn man (wie noch neuerdings Th. Billroth versuchte), den Rhythmus und den Zeitsinn zu physiologischen Tatsachen, etwa zu Systole und Diastole des Herzens in Beziehung bringt. Aber es bleibt immerhin eine Aufgabe der Wissenschaft, alle somatischen Korrespondenzen von Tönen, Klängen oder Geräuschen und insbesondere ihre Beziehungen zu den Empfindungen anderer Sinnesgebiete wie z. B. der Farbenempfindung durch Experimente aufzuzeigen[6].

[38]
4.

Über die individuelle Empfänglichkeit verschiedener Menschen für Ton-, Klang- und Geräuschempfindungen hat man nun in der Tat mit den Methoden der experimentellen Psychologie mannigfache Untersuchungen angestellt. In einigen Kliniken sah ich folgende einfache Vorrichtung, mit deren Hilfe man die Empfänglichkeit für Geräuschwahrnehmungen während des Schlafens und somit die individuelle Schlaftiefe festzustellen wähnte. – In dem von der Versuchsperson bewohnten Schlafraum wird ein Kasten angebracht, aus dem alle paar Stunden Kugeln von bestimmtem Gewicht, aus bestimmter Höhe auf eine Metallplatte herabfallen. Sobald das Kugelgewicht die Platte berührt, wird ein Stromkreis geschlossen, durch dessen Einwirkung eine mit ihm verbundene Uhr, die Tausendstelsekunden anzeigt, zum Stillstehen kommt. Der Versuchsperson wird lediglich gesagt, dass, sobald von ihr während der Nacht ein Fallgeräusch gehört wird, sie auf eine an der Wand neben ihrem Bette befindlichen Knopf drücken solle. Dadurch wird dann die Tausendstelsekundenuhr wieder in Gang gesetzt. Mit Hilfe eines zweiten Zeigers der Uhr, der dauernd in Gang bleibt, kann der Experimentator konstatieren, wieviel Sekundentausendstel zwischen dem Fall der Kugel und der Wahrnehmung des Geräusches von seiten des Schlafenden verstrichen waren; oder ob der Schlafende das Geräusch etwa gar nicht bemerkt hat. Auf diese Weise konstatiert man, welche Geräuschstärken und Geräuscharten geeignet sind, um eine bestimmte Person, zu bestimmtem Termin, und unter vorbestimmten Versuchsbedingungen aus dem Schlafe zu erwecken. Vorzüglich wurden diese Versuche benutzt, um die einschläfernde Wirkung neuer Schlafmittel zu erproben. Oder man erprobte den Einfluss der Beschäftigung während des verflossenen Tages; – etwa den Einfluss körperlicher Ermüdung; oder untersuchte die Wirkung einer bestimmten Dosis Alkohol auf die Schlaftiefe. Indessen kommt bei jedem derartigen Versuche, (so weit man die Versuchsreihen auch ausdehnen mag), eine solche Fülle ungleichartiger und zum Teil unkontrollierbarer Faktoren im Resultate zum Ausdruck, dass man schliesslich nichts anderes ersehen kann, als eben die pragmatische Tatsache, wie tief ein bestimmter Mensch zu bestimmter Stunde geschlafen hat, ohne dass man die körperlichen und seelischen Einzelursachen irgendwie zu isolieren vermöchte. – Ebenso wenig überzeugend erscheinen mir die Resultate

von „Gehörproben”, die man mit exakten Untersuchungen des Zeitsinnes oder der Reaktionsgeschwindigkeit im wachen Zustand zu kombinieren versucht. Das schematische Verfahren bei diesen sehr variablen Experimenten ist etwa folgendes. Aus einer bestimmten, variierbaren Höhe fallen Gewichte auf eine Metallplatte, auf der durch diesen Fall qualitativ wie quantitativ verschiedene Geräusche oder Einzeltöne entstehen. Durch die Berührung der Platte aber wird ein Chronoskop in Bewegung gesetzt. Eine auf das Geräusch oder den Ton aufmerkende, im Nebenraum befindliche Versuchsperson (der die Schallquelle verborgen bleiben muss), hat im Moment der Apperzeption des Schalles eine Bewegung auszuführen, durch die das Chronoskop wieder zum Stillstehen gebracht wird. Somit kann an der Uhr abgelesen werden, wie viel Sekundentausendstel verstrichen sind zwischen dem Entstehen des Schalls und seiner Wahrnehmung…

*     *

Was aber hat man denn nun eigentlich mit diesen Experimenten erprobt? Es scheint sich zunächst um die „Reaktionsgeschwindigkeit” des Individuums zu handeln. Aber in diese geht als ihr immanentes Wesensmoment sehr Vielerlei ein. Einerseits die augenblickliche „Bereitschaft”, andererseits die perzeptive „Empfänglichkeit”; endlich auch die apperzeptive Übung der Versuchsperson… Niemals aber fällt eine faktische Reaktionsschwelle mit der Schwelle der „Reagibilität” einer Versuchsperson zusammen. Selbst auf dem Gebiet scheinbar reflektorisch-spontaner Sinnesreaktionen liegt ein Irrtum der Experimentalpsychologie darin, dass sie das spezifische Moment der Aktivität der Versuchspersonen ausschaltet und mit ihren Apparaten verfährt, als ob das Bewusstsein der Versuchsperson „automatisch” sei und als ob aus der quantitativen Natur von Reizen und Reizäusserungen nun auch auf die qualitative Impressionabilität geschlossen werden dürfe. Die spezifische Fähigkeit zu einer Reaktion hat nichts zu schaffen mit der Geneigtheit zu ihr. Und die „Geneigtheit” wiederum ist ein anderes als die „Bereitschaft”. Die „Bereitschaft” zu einer Reaktion ein anderes, als die Möglichkeit zu reagieren. Und diese „Möglichkeit” zu reagieren, könnte endlich auch noch von dem kontinuierlichen Reaktionsvermögen unterschieden werden. Was also untersucht man bei den geschilderten Reaktionsversuchen? – Ist es die spezifische Beeindruckbarkeit? Ist es der Ausdrucksdrang? Das Ausdrucksvermögen? Die Ausdrucksmöglichkeit?… Man gewinnt bei diesen verführerischen Experimenten der Psychophysik freilich sehr billig gesicherte Resultate, wenn man sich gegen die „philosophischen Analysen” des „Schreibtischpsychologen” die Ohren zustopft und die grosse Kompliziertheit gegenständlicher Auffassungsakte beiseite schiebt, nur um recht grob und deutlich das Auffassen einer Empfindung mit dem Empfinden selber und die Empfänglichkeit für Reize mit dem Bemerken von Reizen vermischen zu können[7]


Viertes Kapitel.

Geräusche.


Wohltuend ist für jedermann,
Wofern er sich entrüsten kann.

Wo soll ich beginnen? Welche aus alle den quälenden Lärmgewalten zuerst herausheben? – Schnell verbrauchte Bevölkerungen atmen und sterben im Getobe unermesslich anschwellender Riesenstädte. Atmen im Dunst und Gestank der Fabriken, im Abhub der Trottoire, im Staube ihrer kleinen Wohnungen; in der grässlichen Atmosphäre von Russ, Rauch und Schmutz, die über den Städten liegt. Hunderttausende, überarbeitet, überlastet, übermüdet! Auf engstem Raum in die riesigen, sonnenlosen steinernen Kästen gesperrt, wo sie leben und sich betäuben, streiten und Kinder zeugen; immer neue Hunderttausende; Sklaven der Geräte, Besitztümer und Institutionen. In der grauenhaften Eigenbrödelei der Einzelkochwirtschaft und Einzelhauswirtschaft, ein jedes streng auf sein „Eigentum” erpicht und eben darum beständig zusammenhockend und einander in den Ohren liegend. Ach, so hässlich an Gestalt und Gesicht! Recht eigentlich verunstaltet, deformiert, unnatürlich, verkümmert, ungesund! So leben sie am Leben vorüber, ruhelos einander den Kampf erschwerend, einer auf des anderen Nervenklaviatur spielend, roh, primitiv, abgeschmackt, zwecklos. Nicht bösartig, aber töricht und urteilslos. Nicht verantwortlich und frei, aber unschön und stumpf. Wie könnten denn auch wir in unserer Mischung von fordernder Sinnengier und bedürftigem Aberglauben des Lärmes entbehren? Er ist uns ein grosser Segen, denn – er betäubt. Er lässt uns nicht zum Bewusstsein unsrer selbst kommen, nicht zum Bewusstsein all dieser Armut, all dieser Armseligkeit…


1.

Aus diesem Gelärme will ich zunächst das niederträchtige, überflüssige Peitschenknallen denunzieren, über dessen Schändlichkeit schon Schopenhauer[WS 9] so lebendige Worte schrieb, dass ich nichts Besseres weiss, als wenigstens einen kurzen Passus seiner Abhandlung hierher zu setzen. „Die Sache stellt sich dar als reiner Mutwille, ja als frecher Hohn des mit den Armen arbeitenden Teiles der Gesellschaft gegen den mit dem Kopf arbeitenden. Dass eine solche Infamie in Städten geduldet wird, ist eine grosse Barbarei und eine Ungerechtigkeit, um so mehr, als es gar leicht zu beseitigen wäre durch polizeiliche Anordnung eines Knotens am Ende jeder Peitschenschnur. Es kann nicht schaden, dass man die Proletarier auf die Kopfarbeit der über ihnen stehenden Klasse aufmerksam mache; denn sie haben vor aller Kopfarbeit eine unbändige Angst. Dass nun aber ein Kerl, der mit ledigen Postpferden oder auf einem losen Karrengaul die engen Strassen einer volkreichen Stadt durchreitend, mit einer klafterlangen Peitsche aus Leibeskräften unaufhörlich klatscht, nicht verdiene sogleich abzusitzen, um fünf aufrichtig gemeinte Stockprügel zu empfangen, das werden mir alle Philantropen der Welt, nebst den legislativen, sämtliche Leibesstrafen aus guten Gründen abschaffenden Versammlungen nicht einreden. Aber etwas noch Stärkeres als Jenes kann man oft genug sehen, nämlich so einen Fuhrknecht, der allein und ohne Pferde durch die Strassen gehend, unaufhörlich klatscht: so sehr ist diesem Menschen der Peitschenknall zur Gewohnheit geworden, infolge unverantwortlicher Nachsicht. Soll denn, bei der so allgemeinen Zärtlichkeit für den Leib und alle seine Befriedigungen, der denkende Geist das Einzige sein, was nie die geringste Berücksichtigung noch Schutz, geschweige Respekt erfährt? – Fuhrknechte, Sackträger, Eckensteher u. dergl. sind Lasttiere der menschlichen Gesellschaft, sie sollen durchaus human, mit Gerechtigkeit, Billigkeit, Nachsicht und Vorsorge behandelt werden; aber ihnen darf nicht gestattet sein, durch mutwilligen Lärm den höheren Bestrebungen des Menschengeschlechtes hinderlich zu werden. Ich möchte wissen, wie viele grosse und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben. Hätte ich zu befehlen, so sollte in den Köpfen der Fuhrknechte ein unzerreissbares nexus idearum zwischen Peitschenknallen und Prügelkriegen erzeugt werden.” Gegen unnützes, brutales Peitschengeknall bietet in der Tat weder die Strafgesetzgebung, noch das bürgerliche Recht irgendwelchen Rechtsschutz. Die gesamte Regelung des Verkehrs der Privatfuhrwerke, Droschken, Hansoms, Gepäckwagen, Lastwagen, Omnibusse und Autobusse untersteht den Ortspolizeibehörden, die zwar allerlei Vorschriften und Verfügungen erlassen, in der Regel aber keine Machtmittel haben, um zahllosen Übergriffen der auf den Strassen lebenden Arbeiterklassen (wie Fuhrleute, Kutscher, Pflasterer, Trottoir-, Kanalarbeiter usw.) wirksam zu begegnen. Nur in wenigen Städten besteht eine ausgiebige Polizeigesetzgebung über Peitschenknallen, Räderknarren und das Schottern der Lastfuhrwerke. In Deutschland gibt es, wenn ich recht unterrichtet bin, bisher nur in Nürnberg einen „Verein zum Schutz gegen den Strassenlärm”, der seine Kräfte im Dienste von Schillers „erster Bürgerpflicht“ öffentlich geltend macht. Hingegen soll in England und Amerika schon weit mehr auf die Hygiene des Ohres geachtet werden als das in Deutschland und Österreich leider der Fall ist. Ich will eine Notiz aus einer New Yorker Zeitung hierhersetzen, aus der zu sehen ist, welchen Segen eine einzelne energische, hochgesinnte Persönlichkeit im Kampfe gegen das öffentliche Lärmgetöse zu stiften vermag. „Miss Rice schlug ein sehr zweckvolles Verfahren ein: sie ging nicht gegen den grosstädtischen Lärm überhaupt vor, sondern sie behandelte die Sache portionsweise. Zunächst eröffnete sie einen Feldzug gegen das Höllengetöse, das bisher im New Yorker Hafen durch die zahllosen Dampfpfeifen und Glocken der Schiffe, Petroleum- und Benzinboote, Vaporettos und Fähren veranstaltet wurde. Die energische Frau setzte sich mit Stadt- und Hafenbehörden, sowie mit einflussreichen Persönlichkeiten zu Lande und zur See in Verbindung und ruhte nicht, bis sie eine Verfügung der Hafenpolizei erreicht hatte, durch die das Lärmen mit Nebelhörnern und Sirenen sowie das überflüssige Tuten und Pfeifen allen Schiffen, welchem Lande sie auch angehören und was immer der Zweck ihrer Fahrten sei, innerhalb der Bai von New York strengstens verboten wurde. – Ihre nächste Massnahme war die Begründung eines Vereins zur Bekämpfung des Strassenlärms im Innern der nordamerikanischen Riesenstadt. Auch hier wird wieder schrittweise vorgegangen. In erster Linie soll der Lärm in der Nähe der Krankenhäuser unterdrückt werden. Der Leiter eines solchen veröffentlichte eine Erklärung, wonach lediglich infolge des fast unausgesetzt von allen Seiten in die Anstalt hereindringenden Lärms im Laufe eines Jahres zwei Kranke irrsinnig geworden sind. Auch andere Fachmänner und Hygieniker haben die Dringlichkeit von Vorschriften zur Sicherung der Ruhe der Krankenhäuser energisch betont. Man nimmt in New York allgemein an, dass demnächst die Behörden den Anträgen des von Miss Rice ins Leben gerufenen Antilärm-Vereins entsprechen werden. Dieser hat bereits eine Reihe ganz bestimmter Forderungen aufgestellt: in der Nähe von Krankenhäusern, Kliniken, Sanatorien und ähnlichen Anstalten soll das Läuten der Strassenbahnglocken aufhören, auch jeder Marktschreier, Drehorgelspieler wie jeder schreiende Trunkenbold durch einen Schutzmann fortgetrieben oder nötigenfalls verhaftet werden. Auch in der Nähe von Schulen, Erziehungsanstalten, grossen Pensionaten soll der Lärm inhibiert werden. Auch die Milchwagen, die in New York durch die aneinander schlagenden Blechkannen und unter Mitwirkung des meist erbärmlichen Strassenpflasters einen Heidenlärm veranstalten, sind schon ernsthaft aufs Korn genommen.” – Übrigens sei bemerkt, dass die Stadt New York auch schon früher den Anfang zu einer eignen Lärmgesetzgebung gemacht hat. So gilt dort als Gesetz, dass ein Kutscher, der Baumstämme oder Eisenstäbe transportiert, gehalten ist, die Enden des Holzes oder Eisens mit Tüchern oder Stroh zu umwickeln, widrigenfalls er Strafe bis zu 25 Dollars zu zahlen hat. Auch in London kommt man neuerdings notgedrungen zu ähnlichen Schutzbestimmungen. So untersagen die Reglements des London-Comity-Council spezialisierten Arten des Lastverkehrs die Benützung der City-Strassen zwischen abends zehn und morgens sieben Uhr. Lastfuhren können während dieser Zeit nicht die Strassen der Innenstadt befahren. – Es liesse sich wohl noch mancherlei durch Einführung eines besseren geräuschlosen Beton- oder Asphaltpflasters und ferner durch exaktere Verfügungen über die erlaubte Spurweite und den Radbelag der Lastwagen sowie über Nägel und Hufbeschlag der Pferde erreichen. Wir sehen an dem ungemein grossen beständig noch anschwellendem Bicykleverkehr (der nur durch die unaufhörlichen Warnungssignale geräuschvoll ist), dass Gummireifen im Verein mit geräuschlosem Pflaster keinen Verkehrslärm aufkommen lassen… Endlich ist nur Frage der Zeit, dass sich die Wohn- und Erholungssphäre der Grossstädter von ihren Verkehrsbezirken radikal abtrennt…

*     *     *

In einer Abhandlung über Entartung hat Max Nordau die wachsende Empfänglichkeit für Lärm (wie übrigens alles, was irgendwie auf Geschmack und Kultur hindeutet), als ein Symptom „sozialer Neurasthenie” gekennzeichnet. Seine Satire malt folgendermassen den lärmfreien Zukunftstaat der „Entarteten“: „Nachdem es sich häufig ereignet hat, dass aufgeregte Personen, die einem plötzlichen Zwangsantrieb nicht widerstehen konnten, aus ihren Fenstern mit Windbüchsen und sogar ohne den Versuch der Heimlichkeit im offenen Überfall Gassenjungen totgeschossen haben, die schrille Pfiffe oder grundlose Gellquietsche ausgestossen, dass sie in fremde Wohnungen, wo von Anfängern Klavierspiel oder Gesang geübt wurde, eingedrungen sind und Metzeleien angerichtet, dass sie Dynamitanschläge auf Pferdebahnwagen ausgeführt haben, deren Schaffner läutete oder pfiff, ist es gesetzlich verboten worden, auf der Strasse zu pfeifen oder zu grölzen; für Klavier- und Gesangsübungen sind eigene Gebäude hergestellt worden, die so eingerichtet sind, dass kein Ton aus ihrem Innern nach aussen dringt, das öffentliche Fuhrwerk darf kein Geräusch machen und gleichzeitig ist auf den Besitz von Windbüchsen die schwerste Strafe gesetzt.” – Was hier im Hohn und zum Spott ausgesprochen wurde, nehme ich als ernstes Postulat der Zukunft in Anspruch; einen Teil seiner Verwirklichung hoffen wir noch zu erleben…


2.

Wenn die Klage über den Peitschenknall heute weniger aktuell ist, als in Tagen Schopenhauers, so bedroht dafür unser Nervensystem ein neues Geräusch, das unvergleichlich schrecklicher ist, als aller lärmende Trubel, den die einst lebenden Geschlechter von toten oder lebendigen Radauinstrumenten erdulden mussten. Ich denke an die transportablen Maschinen, die Strassenlokomobile, das Motorrad, den Motoromnibus, vor allem aber an das Automobil. Diese Entvölkerungsmaschine, die das Ziel der Maltusschen Theorieen auch ohne Hungersnöte erfüllt, verändert vollkommen das Strassenbild der modernen Städte. Vierhundertpfündige Kraftbolzen rülpsen roh daher im tiefsten Tone der Übersättigung. Schrille Pfeifentöne gellen darein. Riesenautos, Achthundertpfünder, die „jeden Rekord nehmen”, stöhnen, ächzen, quietschen, hippen und huppen. Motorräder fauchen und schnauben durch die stille Nacht. Blaue Benzinwolken rollen mit grauenhaftem Gestank über die Dächer. Bleichen das Grün der wenigen Bäume, wandern über das kleine schmale Stückchen schmutziggrauen Himmel, das zwischen den kahlen Steinmauern irgendwo noch auftaucht. Grässliche Signale durchbrechen von Zeit zu Zeit die erstickende, bleierne Dunstschicht. Das ist die Morphologie der Stadt. Auf das stolze Zeitalter der stinkenden Steinkohlenbahn und lärmenden Dampfmaschine ist die lautere und stinkendere Periode der Kraftaufspeicherungs- oder Explosivmaschinen gefolgt. Der Zylindertyp weicht dem Turbinentyp, der Kohlengeruch dem Benzingestank. Niemals hat sich der Mensch mit mehr Gelärm, unter schrecklicherem Geruch über die Erde bewegt. Es ist wahr, wir sind von der Postkutsche und der romantischen Tuterei der Postillone erlöst. Wir sind erlöst von der ewigen Klingelei und holprigen Rasselei der kleinen Pferdebahn. Peitsche und Sattel kommen ausser Gebrauch. Das Pferd avanciert vom armen Arbeitssklaven zum Luxustier, und kein Vernünftiger wird die Droschke alten Kalibers dem modernen Auto vorziehen. Aber der Tausch überbürdet unsere Sinne mit einer entsetzlichen Belästigung, die so lange dauert, als die Region des Privatlebens und jene des Geschäftsverkehrs nicht getrennt sind und nicht das Maschinenleben auf eigens errichtete Fahrstrassen mit geräuschlosen Gleisen gebannt wird. Die heilige Theresia hat die Hölle als den Ort definiert, „wo es stinkt und man nicht liebt”. Vielleicht hat sie an die Friedrichstrasse in Berlin gedacht. – Ich glaube gewiss, dass Autos, Motorräder, Kraftwägen und lenkbare Flugmaschinen die Vehikel der Zukunft sind; ich glaube, dass erst die allgemeine Ausbreitung des elektrischen Vorortverkehrs schliesslich ganz neue Riesenstädte, voll Feldern, Parks und Gärten, möglich macht, deren eine einzige vielleicht so gross wie halb Belgien ist. Ich zweifle daher auch nicht, dass der momentan moderne „Autosport” etwas Besseres ist als ein Kind von Luxus und Langeweile. Aber so verständlich dieser Sport ist, so verführerisch und so verlockend, – es ist doch andererseits nicht zu verkennen, dass erst das Kraftfahrzeug die beispiellose Vernüchterung und Verrohung des reisenden Menschen vollendet und jenen letzten Rest von Ritterlichkeit und Anstand aus dem Verkehrsleben heraustreibt, den das Zeitalter der Eisenbahn und des Dampfschiffes etwa noch übrig gelassen hat.

*     *     *

Wenn die Lärmgrösse, mit der Volk und Einzelmensch sich durch die Welt bewegt, neben seinem Verbrauch an Wasser und Seife, ein Mass für die seelische „Bildung” bietet, dann sind wir im tiefsten Tiefstand der Seelenkultur angekommen. Dass aber gar die deutschen Bundesstaaten ohne Einspruch der Landtage zu unseren alljährlich stattfindenden „Herkomerfahrten” und „Automobilrennen” unsere öffentlichen Landstrassen hergeben, kann ich nicht begreifen. Es ist bisher noch nicht eine einzige Wettfahrt vorübergegangen, die nicht wenigstens ein halbes Dutzend Leben geopfert hätte. Man baue eigene Strassen, wie für die Eisenbahnen, die meist weniger tückisch dahersausen als ein Automobil. Vor allem aber zwinge man die Automobilbesitzer zu einer Haftpflichtgenossenschaft. Nach der Reichsstatistik sind innerhalb von sechs Monaten (1. April bis 30. September 1906) 2290 Automobilunfälle in Deutschland vorgefallen. Hierbei konnten in 283 Fällen die Besitzer der Fahrzeuge nicht ermittelt werden. In 17% aller Fälle floh der Fahrer feige davon. In weiteren 3% versuchte er zu entfliehen. 987 Sachbeschädigungen sind zu verzeichnen. 1519 Menschen wurden verletzt; 51 Menschen getötet. Dabei gibt es im Deutschen Reich vorerst nur ca. 27 000 Automobile. Während die vielen tausende Berliner Strassen- und Vorortsbahnen alljährlich 27 Menschen töten, kommen allein durch 2400 Automobilfahrer in Berlin jährlich 10 Personen ums Leben. Man hat nun neuerdings den wehmütig stimmenden Plan ausgeheckt, die Lüneburger Heide in eine deutsche Automobilrennbahn umzuwandeln. Eine niedersächsische Heimatgenossin schreibt darüber Klagen, die ich so schön finde, dass sie hier stehen mögen: „Die Lüneburger Heide soll zu einer Automobilrennbahn mit grosser Chaussee, künstlichen Hügeln und Fabrikanlagen umgewandelt werden. Das Heidekraut, das in unübersehbaren Feldern blühte und aus dem der beste Honig der Welt kam, soll niedergewalzt werden; die Marschen, die sich voll so unendlicher Grazie und Schwermut zum Meere, dem deutschen Meere, niedersenkten, sollen applaniert und Gott sei Dank endlich einmal mit Kies beschüttet werden; Plakate von Opel und Darracq werden die Eintönigkeit der Fläche munter beleben; Automobilgaragen, Tribunen, Restaurants, erstklassige Hotels… und an Stelle des überflüssigen Thymians wird das sehr viel nützlichere Benzin zum Himmel riechen, in ganzen ungeheuren Wolken, und weithin von dem endgültigen Sieg der deutschen Industrie Zeugnis ablegen. Gewiss, es muss ja sein, und von rein praktischem Standpunkt lässt sich gegen die Idee nicht viel einwenden. Wenn Automobilrennen sein müssen, so ist es immerhin vorteilhafter, wenn sie in der Einöde des Nordens, als wenn sie im dichtbewohnten Süden unseres Vaterlandes abgehalten werden. In Frankreich und in England wurden die grossen Automobilhetzen –, solange sie dort noch erlaubt waren – in den einsamen Distrikten, in der Auvergne und in Irland abgehalten, und unsere Rennen mitten durch den starken Verkehr Hessens hindurch waren schon mehr als bedenklich. Und dass es richtiger ist, einsames Heidekraut als Bauernwagen umzurennen, das gibt auch der Naturfreund, wenngleich zögernd, zu. Und doch, schade drum, schade um unsere Lüneburger Heide. Sie war keine Sehenswürdigkeit, kein grossartiges Naturdenkmal, etwa wie in Frankreich der Wald von Fontaineblau. Aber sie war deutsch, war alles in allem der letzte Rest unberührten und unverfälschten deutschen Bodens inmitten der mehr und mehr der Industrialisierung verfallenden Welt. Während die Kultur allenthalben siegte, änderte sich seit Urzeiten hier nichts, in der stillen Einöde zwischen Aller und Elbe und der Küste des grauen Meeres. Die Dörfer sehen heute genau so aus, wie in den Urtagen unserer Rasse, unerbrochene Königsgräber künden fort und fort von alter, grosser Zeit, und zäh hält der sächsische Stamm, der hier sitzt, an alter Sitte fest. Diesen Sachsen konnte keiner beikommen. Drusus nicht und der grosse Karl nicht und nicht einmal die Eisenbahn der neuen eiligeren Zeit; erst jetzt werden sie ihre Meister finden; jetzt werden sie nur der Einwanderung französischer Chauffeure, Berliner Terrainspekulanten und Wiener Oberkellner weichen. Der Rhein ist reguliert, die Wälder verwandeln sich in Tummelplätze, auf den Montblanc fahren Extrazüge hinauf und die Wogen des Meeres werden mit Haaröl geglättet, und der einzige Einsiedler, den ich in meinem Leben sah –, im Schlesischen Gebirge, – handelte mit Ansichtspostkarten. Wohin sollen wir Träumer entfliehen? Vielleicht zu den Sternen hinauf? Nein, auch zu ihnen nicht; ihre Poesie verschwand, seitdem uns die Astronomen lehrten, dass auch die Sterne kanalisiert sind, wie das erste beste Rieselfeld.” –

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Wenn man auf dem Bahnhof eines „Knotenpunktes” das Getriebe der ankommenden und abfahrenden Reisenden betrachtet, wenn man alle diese gleichmässig rücksichtslosen und kaltsinnigen Menschen sieht, wie sie in die Wartesäle stürzen, sich stossen, schieben, drängeln, auf den Stationen möglichst schnell Kaffee, heisses Fleisch, Biere herunterschlingen, wie sie in dem Pferch der kleinen Coupékäfige sich gleichgültig mustern, durch Tabak, schlechte Luft, geschwätzigen Lärm einander belästigen, – dann begreift man das Heimweh nach der Posthornzeit, der Zeit einsamen Wanderns ins „Welschland”, das deutsche Ränzel auf dem Rücken. Beschauliche Fahrt durch stille verschlafene Städte, betrachtsame Einkehr und Schwärmerei, – das ist dahin. Alle Courtoisie, aller Stil des Reisens geht zum Teufel. Es ist in allen Fremdenstädten, Saisonplätzen, Bädern, Kurorten immer der gleiche Anblick. Der Durchschnittstypus ist der windige, lärmende Eisenbahnkommis, der überall „versierte”, ach so welterfahrene, ach so „gescheute” Reiseonkel. In beiden Hemisphären herrscht seine „Weltanschauung”; jene seelenlose Weisheit, die sich in Sätze kleidet wie diese: „Wein ist besser als Bier. Vergiss nicht warme Unterkleider. Brich nie dein Kapital an.” – So beschaut er seine „Welt” mit lichtlosen Augen, von erschreckender Gleichartigkeit. Ehrlich bis an die Grenze seines Vorteils; anständig herzlos; „Frechdachs” mit billigem „Gemüt”. Energisch und gewöhnlich, grossmäulig und unecht, kalt und sinnlich, und unaufhörlich in „Geschäften”. Jeder Versonnenheit, jedem Schweigen, jeder Ehrfurcht herzlich abhold. Das ist der anglo-amerikanische „Moneymaker”, der kapitalistisch-semitische „Tatsachenmann” der bierehrlich-deutsche „Biedermann mit Vorteil”. Diese Leute erobern die heutige Erde. Man kann ihnen eine in allen Sätteln gerechte, jedem Zufall gewachsene plattgeistige Kultur nicht absprechen. Eine Kultur, der die dritte Dimension fehlt.…[8]

*     *     *

Dieser „Kulturmensch”, der das „Kapital”, die „Entwicklung” und den „Fortschritt” beherrscht, floriert zurzeit im „Automobilsport”. Das aber stellt uns vor ein sozialbiologisches Problem. – Die gegebene Selektion geht auf Ausmerzung vieler diskreter Seelenseiten, auf Vertilgung alles Zart- und Feingefühls im öffentlichen Leben, auf Brachlegung der kleinen Rücksichten und täglich neu zu erübenden unscheinbaren Achtungserweise Mensch gegen Mensch. Im modernen Verkehr geht ein jeder rücksichtslos zugrunde, der sich allzulange unpraktischen Sentiments ergibt. Zudem scheint es die veränderte Selektion auf die bisher geübten Sinnesorgane abgesehen zu haben. Wenn ich mir den Kraftwagenverkehr auf Broadway, Oxford-Street oder Rue de Rivoli lebhaft vorstelle, dann möchte ich fast glauben, dass grosse anatomische Umwandlungen dem Menschengeschlechte bevorstehen. Insbesondere dürfte sein heutiger Riechapparat ihm so wenig erhalten bleiben, wie sich grüne Hasen oder violette Rebhühner zu erhalten vermöchten. Wer das dickste Trommelfell und eine undurchdringliche Nasenschleimhaut hat, besitzt einen Vorteil im Erhaltungskampf, der die Anwartschaft gibt, Vater oder Mutter des Übermenschen zu werden. Der Gewaltsieg, den die rollende Maschine und das randalierende, rasselnde, benzinstinkende Kraftfahrzeug über die primitive Naturkindschaft des Menschengeschlechtes davonträgt, muss zu biologischen Auslesebedingungen hinführen, die sich von allen Anpassungsnotwendigkeiten der Vorwelt wesentlich unterscheiden. Zumal die Nase, die doch ohnehin, seit wir Wolf und Hund in unsere Dienste gezwungen haben, eine beträchtliche Entlastung erfahren durfte, ist für den täglichen Existenzkampf so überflüssig geworden, wie etwa der Wurmfortsatz, die beiden falschen Rippen oder das Hundeschwänzchen der Wirbelsäule. Sie ist für uns nur eine störende Erinnerung an verflossene Liebesgeschichten. Ein schlichtes verdicktes Riechhäutchen würde schliesslich auch genügen. Was aber gar das Ohr betrifft, so müsste der Darwinismus dem vollkommen tauben Menschen den Lorbeer reichen, wenn nicht die Vermehrung des Lärms auch mit Vermehrung der Lebensgefährdung durch Maschinen verbunden wäre und der anschwellende Verkehr der Eisenbahnen und Kraftmotore die rascheste Orientierung durchs Ohr vor jeder anderen Sinnesreaktion wünschenswert machte. Wie sich also das unselige Menschenohr entwickeln mag, das wissen die Götter. – Es wird einerseits seine höchste Intensifizierung und Verfeinerung von Nutzen sein. Es wird andererseits diese Verfeinerung eine ewige Gefahr für die Nerven und die Gesundheit der Seele wie des Geistes umschliessen. Zweifellos aber wird die Natur ihre notwendigen Selektionen vollziehen. Vielleicht in der Art, dass sich ungleiche Gehörstypen herausbilden, deren einer geeignet ist, um in Berlin, im Eckhaus der Leipziger und Friedrichstrasse über die Theorie der Abelschen Funktionen nachzudenken, während der andere mit Sicherheit überfahren und durch Nasenkrankheiten, Gehirnhautentzündungen oder „Neurosen” dezimiert wird, falls er sich zu häufig ins Zentrum einer Grossstadt begibt. – Um Mitte des 19. Jahrhunderts traten medizinische Autoritäten mit der Behauptung hervor, dass die Gesundheit des Menschen die allgemeine Einführung der Eisenbahnen nicht überleben werde. Der Kohlenstaub und der Lärm werde ihre Degeneration herbeiführen. Ja, der Mensch, der viele Tage hintereinander auf der Eisenbahn lebe, werde durch Nervenerschütterung oder im Irrwahn zugrunde gehen. Die Zunahme der Irrenhausbevölkerung werde von den Folgen des Eisenbahnfiebers zeugen. – Aber die Menschheit hat die Eisenbahn überlebt; sie wird auch das Automobil überleben. Das Problem der künftigen Entwickelung wird nur dies sein, wie die weitere Differenzierung unseres feinsten, geistigsten Sinnes mit der kontinuierlichen, gewohnheitsmässigen Abstumpfung der bewussten Wahrnehmung zusammengehen kann. Denn die verfeinerte Fähigkeit der Gehörswahrnehmung ist ebenso notwendig geworden, wie die dauernde Faktizität verfeinerten Wahrnehmens und Aufmerkens für uns bedrohlich ist. Man muss also die Kunst erlernen, alles zwar hören zu können, aber wo nicht nottut, doch faktisch nicht hinzuhören.… Am besten kommt in der Welt vorwärts, wer viel Geräusch und Gestank aushalten und vollführen kann. – Ich kann also nur hoffen, dass die gegenwärtige Ära des Automobilsports das auf den 800pfündigen Kraftbolzen eingestellte differenzierte Töff-Töff-Ohr und eine dazu gehörige immune Benzinnase meinen Kindern und Enkeln hinterlassen wird.…

*     *     *
4.[WS 10]

On entre, on crie
Et c’est la vie.
On crie, on sort
Et c’est la mort.

Das Geräusch, von dem ich nunmehr sprechen will, ist ebenso störend und peinigend wie alle anderen. Aber es wird von den wenigsten Menschen als störend empfunden und als peinigend anerkannt… Vor sechs Jahren veröffentlichte ich einige Aufsätze gegen den Lärm, die unter den perhorreszierten Geräuschen auch das Tag und Nacht andauernde Geläute von Kirchenglocken, (zumal in den katholischen Ländern) zum Gegenstand eines Angriffes machten. Das erregte Missfallen und Widerspruch. Ein Wiener Journal entgegnete, das Läuten der Glocken sei „Musik”; auch entspräche es berechtigter Tradition, die die Heiligung unsres praktischen Lebens verwalte. Wenn ich nun trotz dieses Widerspruchs meine Auffassung auch heute wiederhole, so soll das keinerlei Verletzung von Kirche und Religion, keinerlei Verletzung geheiligter Gefühle umschliessen. – Es liegt im Wesen einer neuen Religiosität, dass liturgische Symbole und Akte, aus dem öffentlichen Leben verschwinden, um nur tiefer in das Sanktuarium des Menschenherzens eingeschlossen zu werden. Die Glocke, die alle Stunden des Tagewerks, alle Ereignisse eines Einzellebens mit ihrem Klange begleitet, ist das Überbleibsel einer Zeit, wo tatsächlich der Einzelne in das Leben kommunaler Verbände eingesenkt war. Die Kirche konnte sich damals als einzige sozialpolitische Autorität auch in jedes Anliegen der Tagesordnung einmischen. Die Religion war noch nicht „Privatsache“, noch nicht die innerste Angelegenheit, die ein Mensch nur allein mit sich selber ausmachen kann und darf. Sie wurde autoritativ eingeengt, vorgeschrieben, reglementiert und nivelliert. Heute aber verschanzt sich hinter der religiösen Freiheit das individuellste Recht des Menschen. Ein innigeres, persönlicheres Fühlen löst die „Religion” von politischen, sozialen und sogar von moralischen Zwecken ab. – Religiöse „Sünde” und sittliche „Schuld”, Sorge um das „Seelenheil” und ethische „Pflicht”, das ist für uns durchaus Zweierlei geworden. Dabei gewann sowohl das religiöse wie das wirtschaftspolitische und soziale Interesse an Klarheit und Reinlichkeit.

Was also hätte es heute für einen Zweck, wenn die Kirche ihr Hirtenamt auch auf gesellschaftliche Formen ausdehnen wollte, die nur an der Peripherie des Seelenlebens liegen, wenn sie Lebensverhältnisse bevormunden wollte, die nicht autoritativ zu regeln sind. Auf dem Lande, in ganz einfachen, patriarchalischen Verhältnissen, in allgemein gleichartigen Sitten und Lebensbedingungen, da hat es schönen, tiefen Sinn, wenn die Glocke zum Aufstehen, Vesper und Arbeitspausen mahnt, wenn sie Gebet und Tod, Gefahr und Freude, Morgen und Abend einläutet. Denn alle teilen ja beim gleichen Anlass die gleichen Gefühle. Alle orientieren sich willig an diesem Symbol. An Stätten dagegen, wo Menschen verschiedener Berufe, Daseinsformen und Arbeiten, verschiedenen Bekenntnisses und Weltgefühls eng beieinander wohnen und die Kirche viel weniger als jede praktisch wirtschaftliche Idee eine Vereinheitlichung des Lebens verwirklichen kann, da ist es störend, wenn sich Glockentöne, deren Bedeutung keiner fühlt und kennt, aus allen Richtungen der Windrose in Privatgefühle und Privatgedanken mengen. – Wo ergreift denn dieses Glockenspiel? Irgendwo im weltfernen Weiler, aus verlorenem Kapellchen, aus einsamem Kloster, hoch oben auf dem Fels. Aber wahrlich nicht, wenn aus hundert Domen, Kirchen und Kapellen immer die gleichen niemals einstimmig abgetönten Klänge uns entgegendröhnen. – Man läute die Glocken, wenn wichtige, nationale Anlässe gegeben sind, wenn ein grosser verehrter Mensch die Stadt besucht, ein gewichtiger Gedenktag gefeiert, ein Mächtiger begraben wird. Aber die ganze Gemeinde bei jeder Hochzeit und Kindstaufe allarmieren, hat kaum eine Berechtigung. Es ist auch unrichtig, bei jedem vorüberkommenden Leichenkondukt die Glocken zu ziehen, da niemand, der das Geläute hört, die Veranlassung kennt, und wirklich an den Toten denkt und da andererseits die ganze Erbaulichkeit jederzeit und für jedermann gegen feste Taxe zu erkaufen ist… Dieses alles muss nachfühlen, wer nur jemals unter den Glocken längere Zeit aus nächster Nachbarschaft gelitten hat. Ich habe viele Monate neben dem Glockenturme von Klöstern und Stiften wohnen müssen, habe, zumal in Innsbruck und Südtirol, Nacht um Nacht ein meinen Schlaf vernichtendes Glockengedröhn erlitten, und in kleinen Nestern einen Missbrauch der Glocke gesehen, der so weit ging, dass man nicht nur läutete, wenn irgendwo ein Kind zur Welt kam, sondern auch wenn die Kuh des Dorffürsten kalbte oder ein Gewitter in der Luft stand. Fast grausam ist es aber, Glockentürme oder Uhren mit Choralbegleitung und ähnlicher mechanischer Musikspielerei einer ganzen Stadt, unter deren Tausenden doch wahrscheinlich auch drei oder vier denkende Köpfe sich befinden, schlankweg aufzudrängen. Solche Musikkunstwerke, solche Mechaniker- oder Uhrmacherleistungen sind hübsch und respektabel, wenn sie uns hie und da einmal an entlegener Stelle begegnen, in der Sebalduskirche in Nürnberg, im Strassburger Münster, an der Rathausuhr in Prag. Aber ein reizbares, feines Gehör, ein kultiviertes Ohr empfindet dergleichen als Barbarei, wenn man, (wie mir in Liegnitz geschah)[9], gezwungen wird, neben einem Kirchturm zu schlafen, von dem Stunde um Stunde die selbe Choralmelodie seelenlos mechanisch herniederdröhnt, bis sie sich schliesslich in jede Arbeit und sogar allmählich in die Träume schiebt und die gesamten Funktionen des Organismus sozusagen auf ihren Rhythmus dressiert, den man, wofern solche Einwirkung in früher Jugendzeit erfolgt, sicher lebenslang nicht mehr aus dem Ohre bringt. Wie vornehm und würdig erscheint dagegen der einsame Ruf der Moslem von den Minarets und Moscheen zur Stunde des Gebets, wie würdig das schweigende Anzünden des durch den Abend brennenden Synagogenlichtes, wenn die Stunde zur Einkehr kommen ist. Fast gewaltsam erschien mir, wenn in den kleinsten italischen Berg- und Klosterstädten in der heiligen Christnacht oder zu Sylvester und Ostern alle Stunden ein Wald von Glocken über Kranke und Gesunde, Tanzende und Sterbende, Nachdenksame und Stumpfe dahinbrauste, einem jeden zurufend: „Höre hübsch zu. Wir wachen hier als deine Schicksalsmacht. Wir können den Schlaf deiner Nächte, die Einkehr deiner kurzen Tage vernichten, ob dich nun unsere Predigt angenehm oder unangenehm, sinnlos oder sinnvoll bedünke.” Freilich, jene Stunde, die Gustav Freytag in den „Ahnen” schildert, war schön und gross, die Stunde, wo der erste Glockenlaut über deutsche Lande dahinzog, denn Glockenklang und Sichelklang sind die heiligsten Klänge der Menschheit, Klang ihrer Andacht und ihrer Arbeit. Zweifellos gibt es Uhren, Türme und Glocken, deren Ton das Herz eigen beruhigt, wie Botschaft einer ganz anderen Welt, die in das Gebrause und in den Graus dieses empirischen Wahnsinns nur zuweilen von Ferne hineintönt. Ihr gilt dann die Strophe des Dichters: „Der Turmuhr grosser voller Stundenschlag hat zu Matrei mich wieder Schlaf gelehrt”. Andererseits aber wäre gar wohl zu bedenken, dass das ursprünglich Öffentlich-Allgemeine, Geburt und Taufe, Hochzeit und Tod, immer mehr jener Sphäre der Diskretion anheimfällt, die alles Privatleben einhegen muss, wenn nicht in wachsenden Grossstädten, wo Menschen wie Ameisen übereinander krabbeln, „Gesellschaft” und „Öffentlichkeit” zur unerträglichen Tyrannei entarten soll. Wäre dem nicht so, dann wären das Ideal jene Glockentürme des Campanella, die in der vollkommen sozialisierten Gesellschaft den Menschen sogar das Zeichen geben sollen, wann es Zeit sei, „in Gott Kinder zu zeugen”, oder wann sie Kunstwerke betrachten oder ihr Tagebuch führen sollen. Man bedenke also wohl, dass gerade der vertieften und innigeren Religiosität der Lebenshaltung das veräusserlichte Symbol und das Ausplaudern aller persönlichsten Ereignisse unkeusch erscheinen muss. Der Glockenschrei gebührt dem nationalen und kommunalen Anlass, nicht dem kleinen, alltäglichen individuellen Leben, das seine Heiligung im Gemüte findet und keiner politischen Sanktion mehr bedarf. Man hänge nicht alles „an die grosse Glocke” und denke: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen; Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt.” Welch Widersinn liegt in dem Bemühen, Menschen durch Lautheit zur Erbauung, durch Lärmen zur Einkehr zu bringen! Die Religion verwendet damit zwar nur jene primitiven Mittel der Betäubung, in denen die gleichen Triebkräfte wirken, die auch sie selber seelenmächtig machen. Aber sie verleugnet ihre Entwickelung zu Verfeinerung und Vergeistigung. – Darum hat das Vorgehen jenes Mannes meine Achtung, der in einem Alpendorfe für Gemeinde und Kirchenvorstand eine beträchtliche Geldsumme gestiftet hat, wofür sie sich verpflichteten, im Sommer während seines Dortseins alltags keine Glocken zu läuten. – Schliesslich möchte ich anregen, dass auch der Schlag der Turmuhren eingeschränkt werden möge. Ich sehe nicht ein, warum sie heute, wo auch der Ärmste eine Taschenuhr besitzt, jede Viertelstunde durch einen Schlag andeuten müssen; es würde genügen, wenn sie lediglich die vollen Stunden ausrufen und zwar jeweils durch einen einzigen Schlag, nicht aber etwa durch sechszehn. Der Umstand, dass dies genügt, ist Grund genug dafür, dass es geschehe. –

*     *     *
5.

„Hunde heulen durch die Nacht,
Wie es mir das Herz befällt!
Ja, es schleicht was durch die Welt,
Das uns alle schaudern macht.”

Ich komme nun zu einer Art Geräusch, die sich von allen bisher namhaft gemachten wesentlich unterscheidet, ich meine die qualvoll störenden Lärmgeräusche, die aus dem Zusammenleben mit Haustieren erwachsen und den Kaufpreis bilden, mit dem wir die mannigfachen Freuden und Nutzen, die uns Tiere bringen, zu zahlen pflegen. Das Bellen und Heulen der Hunde zur Nachtzeit hinter den Verzäunungen der Bauplätze. Der merkwürdige, markerschütternde Schrei, den wir zuweilen vom Pferde hören, diesem rührenden „Caliban der Welt”, der so vieles willig trägt, weil er seiner überlegenen Kraft nicht bewusst ist. Das Schreien eingekäfigter Tiere in den Zoologischen Gärten und Menagerien. Der nächtliche Schrei der Katze, vor allem aber der Ton gefangener Stubenvögel, – das alles ist mehr als der gewöhnliche menschliche Werktagslärm und Feiertagslärm. Denn es zieht uns in das Leben fühlender Wesen ein, die in diesen Lauten ihre einzige Sprache haben. Und dieses ganze Leben ist unserer Verantwortung oder Willkür ausgeliefert. Dieser Lärm ist unerträglich, weil er immer irgendwelches Leiden offenbart, dem man nicht beikommen und helfen kann, unerträglich, weil er uns aufrüttelt und zugleich unsere tatlose Ohnmacht offenbart. Wenn ich auf Vogelstimmen vor meinem Fenster achte, dann weiss ich genau, ob ein Vogel aus Angst schreit oder locken will, brütet oder wirbt, seine Jungen warnt oder um Futter ruft. Eben darum ist es schwer, sich gegen diese Stimmen abzustumpfen. Hammer- und Arbeitslärm belästigt die Ohren; die Tiere aber würden die ganze Seele in Anspruch nehmen, wenn wir nur genug Seele besässen. Dann aber wüssten wir auch, dass es vor diesem Lärm keine andere Zuflucht gibt, denn stärkeres Verantwortungsbedürfnis gegenüber der Tierwelt. Insbesondere ist das Heulen und Jammern der Hunde meist eine Anklage. Sie schreien so wenig ohne Grund, wie ein gutgehaltener, gesunder Säugling grundlos zu schreien pflegt. Dies gilt vor allem von den wahrhaft vornehmen Hunderassen, insbesondere von Terrier, Jagdhund, Bernhardiner, Pudel, Spitz, Dogge und Mops, denn diese Hunde sind durchaus nicht zudringlich lärmend, sondern in der Regel würdiger und von vornehmerem Charakter als durchschnittliche Menschen. Wenn man aber diese Tiere an die Kette legt oder in engen Räumen eingesperrt hält, so ist es vollkommen gerecht, dass sie Grausamkeit mit bösartigem, zwecklosem Gebelle vergelten. Die Vergewaltigung gutartiger Tiere hat das ungeheure Schuldkonto des Menschen unsühnbar belastet. Solch ein gequältes Tier kennt nicht seinen Schmerz, sondern ist Schmerz. Es ist, wenn es zu leiden gezwungen wird, nichts als ein Haufe hilfloser Qual, die sich in spontanen Ausdrucksbewegungen, so gut das Geschöpf eben vermag, entlastet. Dabei sind die domestizierten Tiere so harmlos, dass der Hund, wie ich es mehrfach gesehen habe, wenn er zu Vivisektionszwecken geknebelt und wehrlos auf einem Drahtgestell daliegt, seinem Peiniger sterbend, mit aufgeschnitztem Leibe, noch die Hand leckt, weil er nicht gleich uns an der Kette kausalen Vorstellens sich im Leiden orientiert und somit auch nicht die Entlastung vom Schmerz besitzt, die uns das Wissen leistet. – Überhaupt würde der Mensch das Lärmen und Schreien der Haustiere mit vollkommen anderem Ohre hören, wenn er verstehen könnte, wie viel Geplagtheit dahintersteckt. Es gibt nichts Zerquälteres und Unglücklicheres als das Tier, und das Gros der Tierwelt ist nur darum hässlich oder bösartig, weil es gehetzt und ewig auf der Lauer ist… Wenn ein kleiner Kanarienhahn im Käfig Tag und Nacht singt, wie haben wir doch so billig, poetische Redensarten zu machen von „Sangeslust und Kunstfreudigkeit der Vögel!” Nichts liegt dahinter als die gehemmte Aktivität seiner angeborenen Natur, des rascheren wärmeren Blutes, der an beständige Bewegung gewohnten verkümmernden oder doch geschwächten Schwinge. Nichts als Drang nach Fliegen, Sichwiegen in Sonne und Laub, unter Seinesgleichen. Das gibt sich nun in Tönen aus! Wir würden sie anders bewerten, wenn an uns verfahren würde, wie wir ihnen tun… Horaz hat in einer Ode geklagt über das Vogelgezwitscher, das in der Frühe seinen Schlummer zerstöre; Platen und andere Dichter haben diese Klage wiederholt. Mit gutem Recht! Aber das sind nun einmal unvermeidliche Übel, denen jeder ausgesetzt ist, der in und mit der Natur lebt und die man tragen muss, wie die Welt uns trägt und uns verbraucht, wie wir eben sind. Das Geschrei der gekäfigten Singvögel dagegen ist eine künstlich gezüchtete Exzentrizität, gleich jenen einseitigen Dressuren des Variété, die man durch endloses Leidenmachen mürbe gequälten Geschöpfen schliesslich einprügeln kann. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass in Parks und Gärten geräumige Volieren mit schönen, seltenen Vögeln angelegt werden. Es mag auch kleine Blumenstübchen geben, in denen der Kanarienvogel frei umherflattern darf, zur Freude eines Kindes oder eines einsamen Menschen. Auch hat es Verstand, eine „Hecke” anzulegen, in der der Vogel unter Seinesgleichen lebt. Aber nur um des Luxus willen, ohne Liebhaberei, ein Tier in das Bauer mit ein oder zwei Sprossen käfigen und zu sehnsüchtigem Geschrei aufstacheln, das ist roh und verrohend. Der Kanarienvogel aber gehört meist zum obligatorischen „Hausrat”. Er bekommt Körner und Wasser ohne viel Aufmerksamkeit. Er steht in irgend einem Winkel, eine unbeachtete, vereinsamte Existenz, und schreit und schreit, bis dem fühllosen Herrn etwa nicht mehr beliebt, es mit anzuhören und das verschüchterte Tier mit Decken und Tüchern vom Lichte abgesperrt wird. – Ebenso ist das Geplärre der Papageien ganz unerträglich. Sie werden reineweg aus Modenarrheit gehalten; selten von Leuten, die sich wirklich mit Tieren abgeben wollen. Solch Papagei, der die selben mechanischen Sprachlaute viele Stunden lang unablässig wiederholt, kann einen arbeitenden Geist zu heller Verzweiflung bringen. Ein besonders unerträgliches Geräusch ferner ist das Gegacker des brütenden Huhnes und das Geschrei der Hähne in der ersten Morgenfrühe… Selbst wenn man sich auf dem Lande bemüht mit den Hühnern schlafen zu gehen, so ist doch die Legezeit der Hühner und das Schreien der Hähne so willkürlich, unberechenbar, dass man in jeder Stunde der Nacht darauf gefasst sein muss, dass ein Hahnenkonzert beginne; denn sobald der erste Hahn gleich nach Mitternacht kräht, fängt in der Runde der Wettkampf lärmender Stimmen an. Dies erwirkt einen fast fieberhaft angespannten Zwangsimpuls des Aufmerkenmüssens. Man erwacht um Mitternacht in der Erwartung: „Gleich wird es anfangen.” Und selbst wenn der Lärm für ein paar Stunden aufhören sollte, so kommt doch kein Schlaf mehr, weil man eben gezwungen ist, abzuwarten, ob die Störung nicht alsbald wieder einsetzen werde. So liegt man mit fieberhaft angespannten Nerven im Dunkel. Man hört jeden Laut auf Meilen im Umkreis. – Eine ähnliche Tortur wie das Lärmen des Haushahns verhängt auch die Nähe eines Unkenteiches oder der ununterbrochene Schrei röhrender Hirsche oder das Klagen des Uhus über nächtlich Wachende und Überwachte… In einer Reisebeschreibung finde ich ein Tal in den Walliser Alpen erwähnt, dessen Besuch der Gegenstand meiner Sehnsucht wäre, wenn der Berichterstatter wirklich die Wahrheit sagt: Im Val d’Anniviers, dem Eifischtal, sollen überhaupt keine Haustiere, insbesondere keine Hunde gehalten werden und zudem sollen die Anniviarden keine Musik treiben, weil sie vollkommen unmusikalisch sind. Ist das Wahrheit, gibt es ein Alpental, wo sich kein Grammophon, kein Klavier befindet, dann will ich für seine Unberührtheit beten…

6.

Die Herrn Leisetreter, die Herrn Superklug
Sagen stets: „Du nimmst den Mund zu voll,”
Ach, wo Wahn und Dummheit fallen soll,
Ist das Horn von Jericho nicht laut genug.

Jetzt aber will ich von einem Geräusche sprechen, das nicht so sehr um seiner eigenen Abscheulichkeit willen denunziert zu werden verdient, als darum, weil es Symptom von Missständen ist, mit denen sich kaum irgend eine andere Schädlichkeit unserer Wirtschaftsordnung vergleichen lässt. Von den Geräuschen der Hauswirtschaft soll die Rede sein; insbesondere von dem grauenhaften Gelärme des Teppich-, Polsterund Bettenklopfens.… Man vergegenwärtige sich ein grossstädtisches Wohnhaus! Zehn, zwanzig, oft fünfzig Parteien wohnen unmittelbar neben- und übereinander. Keine Partei kennt die andere. Keiner kümmert sich um den Nachbarn. Keiner nimmt am Ergehen des andern teil. Man hockt nur zufällig unter dem selben seelenlosen Dache. Man fühlt sich in keiner Weise solidarisch, in nichts füreinander verantwortlich. Es bleibt auch vollkommen der Willkür anheimgegeben, wann und wie oft ein jeder Hausbewohner seine Bekleidungsstücke, Decken, Bettstücke, Matratzen, Teppiche und Polstermöbel ausstauben will. Er kann das tun, wo ihm beliebt, im Hofe, im Hausflur oder auch im Treppenhause. So kommt es, dass kein Tag, ja keine Stunde im Tage vorübergeht, ohne dass irgend ein Bewohner der Proletarierkaserne ein plötzliches grosses Reinemachen inszeniert. Irgendwo wird immer geklopft, ein Teppich gebürstet, ein Läufer bearbeitet, ein Wäschestück oder eine Matte geschüttelt. Sollte aber wirklich einmal auf ein paar Stunden Frieden im Hause walten, dann kann man gewiss sein, dass von Baikonen der Hinter- und Nachbarhäuser her, oder von der gegenüberliegenden Strassenseite, von irgendwo, aus übervölkerten, mit Elend vollgestopften Mietkasernen das furchtbare, unablässige, ruhelose Geklopf und Gedröhne in Staub- und Schmutzwolken herüberschallt. Nun aber ist diese kontinuierliche Kanonade sämtlicher Hausfrauen und Dienstmädchen noch nicht das Schlimmste am Übel. So sehr das Ohr unter den Klopfgeräuschen leidet, so schwer es für den mittellosen, auf Duldung der Menschen angewiesenen „Breadwinner” ist, unter diesen täglichen Einbussen geistig zu schaffen, so schwierig es in Grossstädten wird, sich vor Schlaflosigkeit zu wahren und nicht durch schlaflose Erschöpfung frühzeitig zugrunde zu gehen, so sind dies alles doch nicht die eigentlichen hygienischen Schäden, die mit dem Lärm der Hauswirtschaft verbunden sind.

Blicken wir auf die nicht genug zu preisenden Fortschritte, die die Hygiene des Städtelebens während der letzten zehn Jahre gemacht hat, dann ergreift uns Verwunderung darüber, dass den Seiten des täglichen Lebens, von denen ich jetzt sprechen will, nicht mehr Aufmerksamkeit zugewendet wurde. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich die Hälfte aller infektiösen Erkrankungen auf mangelhafte Hygiene der privaten Hauswirtschaft, insbesondere aber auf die gegenwärtige Reinigung der Polstermöbel und Betten zurückführe. Man stelle sich beispielsweise vor, welche Verbreitungschancen die Phthisis oder Tuberkulose in einem volkreichen Proletarierviertel besitzt. Wir wissen, dass die Zeit noch nicht fern liegt, wo jeder zweite Arbeiter vor dem dreissigsten Lebensjahre starb, wissen, dass man noch vor zwei Generationen in England und Deutschland voraussetzte, dass jeder siebente Mensch eine tuberkulöse Infektion zu erleiden habe. Man machte aber in der Regel die Erfahrung, dass die Infektion schon im frühen Kindesalter zu erfolgen pflegte. Vor allem schien das Alter zwischen drittem und siebentem Lebensjahr den Gefahren der Infektionskrankheiten hervorragend ausgesetzt zu sein… Man rufe sich das Bild unserer frühen Kindheit vor die Seele, dieser Kindheit, durch die wir uns unbegreiflicherweise hindurchrangen, als eines von Millionen überflüssiger Grossstadtkinder, zwischen Fabrikschloten und Maschinenlärm, in dem mit Menschen überfüllten Wohnhaus, mitten im Staub des Geschäftslebens, wo wir kein Himmelsblau und keine Blume sahen und unsere ersten Welteindrücke empfingen. Wir krochen, unbehilflich, ohne dass jemand darauf achtete, auf dem Fussboden umher, auf Trottoiren und Treppenstiegen. Immer hatten wir schmutzige Händchen. Immer brachten wir sie mit allem in Berührung, was ins Bereich unserer ahnungslosen Neugierde kam. An allem wurde getastet, geleckt, gerochen. Und alles war überdeckt mit dem Auswurf und Staub kranker, leidender Leute. Überall schluckten die kleinen Organe grossstädtischen Schmutz; Schweiss und Dunst der Betten, die in dem ummauerten, gepflasterten Hofe auf unserem „Turnreck” geklopft wurden, während wir die klopfende Magd umspielten. Exkrete, Evaporationen ungesunder alter Menschen, die aus den zahllosen Teppichen, aus oft seit Jahren nicht gereinigten Polsterstücken hervorbrachen, die vor der Flurtür mitten im Treppenhause ausgestaubt wurden. Und wenn wir zum ersten Male die endlose Stiege hinaufkletterten und die kleinen Lungen von der Pein dieser Leistung keuchten, dann kam aus dem stets ungelüfteten Treppenhause ein mächtiger Staubschwaden in unsere Kehle, wurde niedergeschluckt und brachte vielleicht die Keime zu langem Siechtum in die kindliche Blutbahn… Wie oft hat nicht die Morgenmilch oder die Mittagssuppe auf dem Küchenbalkon zum Abkühlen im offenen Topfe gestanden, während drunten auf dem Hof ein fremdes Bett geklopft wurde. Wie oft trocknete nicht unsere Kinderwäsche auf dem Balkon des Hinterhauses in der Sonne, während aus dem Fenster darüber ein Bettstück ausgeschüttelt wurde. Und wehe, wenn in dem Bettstück ein Krebskranker, ein Tuberkulöser, ein mit Diphtherie oder Masern behaftetes Nachbarkind gelegen hatte. Dann entstand wieder eine jener Infektionen, bei denen jeder sich verwunderte, wie nur der Junge, den man sorglich behütet und von dem Verkehr mit Nachbarkindern abgehalten hat, plötzlich eine Übertragungskrankheit ins Haus bringt. Diese ganze Absperrungshygiene nützt ja nichts. Wir sehen täglich, dass es einfachere Wege gibt, auf denen Infektionskrankheiten über Kinder kommen, durch die tausende dahingerafft, andere tausende mit unerklärlichem, dauernden Siechtum geschlagen werden. Mag der Magen auch imstande sein, täglich zahllose Krankheitserreger, die mit der Nahrung aufgenommen werden, zu vernichten, niemand soll darum wähnen, dass es für kleine zarte Organismen gleichgültig sei, wenn Stoffteilchen Krebskranker und Schwindsüchtiger in die Nahrungsmittel gelangen. Wir erfahren immer neu, dass unter der Herrschaft der allein seligmachenden Einfamilienwirtschaft ein einzelner Phthisiker[WS 11] in der Lage ist, den gesamten Umkreis seiner Angehörigen (trotz der sorgfältigsten Vorsichtsmassregeln) zu vergiften, dass jedes kleine Kind, das den Stuhl des lungenkranken Vaters umspielt, in ewiger Gefahr für seine gesunde Entwicklung schwebt. Denn das Kind, das die Fingerchen zum Munde führt, während es auf dem Boden herumspielt, scheulos und ohne die hemmende Berührungsangst des Erwachsenen, nimmt in dem widerstandsunfähigen Körper unvergleichlich mehr Krankheitskeime auf als der normale Erwachsene. Es verfällt daher in tuberkulöser Umgebung rettungslos der Infektion, von der es durch rechtzeitige Isolierung und energische Separation der Kranken bewahrt worden wäre, auch dann, wenn seine leiblichen Eltern, beide, Phthisiker sind. Denn die Tuberkulose (selbst wenn man die Tatsache „organischer Disposition” zugibt) wird nicht als solche im Mutterleibe erworben, sondern kann erst durch Infektion irgendwie „ausgelöst” werden. – Nun aber bedenke man auch, wie alle diese Betten und Polster, deren tosendes Ausklopfen uns beständig in den Ohren liegt, durch öffentliche Unreinlichkeit und das üble Ausspucken belastet sind. Überall, an den harmlosesten Orten, kann sich in Zeugstoffe virulenter Auswurf in Form getrockneten Staubes nisten. Bei der grauenhaften Rücksichtslosigkeit der meisten sogenannten Menschen schwebt solch armes schutzloses Kind, das nicht zufällig als Generalstochter oder Bankierssohn in die Welt tritt, und nicht von waadländischer Amme oder englischer Gouvernante behütet wird, fortdauernd in der Gefahr, bei harmlosen Spielen die ekelhaften Gifte unreinlicher Menschen in sich aufzuspeichern… Man überzeuge sich nur in den Pferdebahnen und elektrischen Bahnen, in Eisenbahnwaggons, von der untersten bis zur obersten Klasse, in Fluren öffentlicher Gebäude, Universitäten, Akademien von der naiven Unverfrorenheit und Selbstverständlichkeit, mit der diese Menschen, Männer und Weiber, überall hinspucken, ohne dass irgendwem einfällt, solche Lamas verantwortlich zu machen und ihre Unsittlichkeit zu verbieten… Ferner denke man auch an die vielen Menschen, die ihr Leben lang Treppen zu steigen haben, täglich, Haus an Haus, hinauf und wieder hinab, deren Leben sich recht eigentlich auf den Treppen und in der Hausflur der anderen abspielt; Briefboten, Geschäftsboten, Hausierer, Gerichtsvollzieher, Agenten, Ärzte, Privatlehrer. Ermisst man wohl die Infektionslast, die wir täglich durch diese Unarten der Hausreinigung zu paralysieren haben? Da beim Treppensteigen Lunge und Herz heftiger arbeiten, so drängt sich der trockene Staub, den die ausgeklopften Möbel und Kleider in den lichtlosen, ungelüfteten Treppenhäusern hinterlassen, in die offenen Respirationsorgane, wird niedergeschluckt, verarbeitet und in die Blutbahn gebracht… Welche Bedeutung dieser spezifischen Art von Möbelreinigung für die Gesundheitsstatistik zuzuschreiben ist, zeigt sich an dem folgenden Beispiel, das ich dem Bericht eines in Tunesien lebenden Arztes entnehme. Dieser legte über die Verbreitung der Infektionskrankheiten bei in bezug auf „Rassenanlage” ungleichen Bevölkerungsschichten Statistiken an. Ihre Ergebnisse wünschte er durch die angeborenen Unterschiede der „biologischen Konstitution”, auf Grund verschiedener „genuiner Nosotropie” zu erklären. – Nun aber zeigte sich, dass unter den drei hauptsächlichen, ihrer Deszendenz nach verschiedenen Bevölkerungsschichten Tunesiens, der arabischen, europäischen und jüdischen Bevölkerung bestimmte Krankheitstypen in der Tat endemisch lokalisiert sind. Man findet insbesondere, dass der blondere, blassere europäische Typus den Erkrankungen des Blutkreislaufes, z. B. Anämie und Chlorose leichter ausgesetzt ist als der brünette Typ, dass bei den dunkel pigmentierten Individuen dagegen die nervösen Erkrankungen mannigfacher sind, ja dass man im groben von dem Typ des „Blutmenschen” und dem des „Nervenmenschen” reden könnte. In bezug nun auf die spezielle Verbreitung der Tuberkulose war auffallend, dass sie bei den tunesischen Juden nicht eben gross ist, obwohl diese zum grösseren Teil der allerärmsten Volksschicht zugehören. Die Sterblichkeit an Schwindsucht bei der arabischen, europäischen und jüdischen Bevölkerung Tunesiens verhält sich konstant wie 12:6:1. Da nun aber die „Nosotropie” der arabischen und jüdischen Bevölkerung sich im übrigen als fast gleichartig erweist, so muss hinter dieser Ausnahmestellung des Juden zur Tuberkulose noch ein besonderer Faktor zu suchen sein. Das Rätsel löst sich aufs allereinfachste. Der Jude darf in Bethäusern und Versammlungshäusern keinerlei Polster, Teppiche und Zeugstoffe verwenden. Er benutzt sie auch in den Privatwohnungen nicht und hängt sogar nur ausnahmsweise Vorhänge an die Fenster. Da er somit ausschliesslich Holzmöbel benutzt, so kennt er auch nicht die europäische Art der Wohnungsreinigung mit trockenen Besen, sondern er gebraucht feuchte Lappen, mit denen alle Gebrauchsgegenstände mehrmals am Tage abgestaubt werden. Damit ist eine zwar primitive aber ganz rationelle Hygiene der Hausreinigung gegeben. Denn es ist keine Frage, dass der viele trockene Staub bei der Hausreinigung (der so oft einfach unter die Schränke gefegt wird), dass ferner das gebräuchliche Daunenbett, dessen Schütteln und Klopfen auf Balkons und in Höfen die Luft mit Krankheitsstoffen erfüllt, und dass endlich das primitive Ausklopfen der Polstermöbel an dem Entstehen von Epidemien in Städten wesentlich beteiligt sind.

Haben wir dies alles erkannt, so wissen wir, was wir von dieser heimtückischen, gemeinsten Lärmart künftig zu halten haben. Die Gefahren der Polstermöbel sind längst gewürdigt. Aber man hat darum noch keineswegs die für das öffentliche Wohl notwendigen Massregeln getroffen. Man sollte bei der Einrichtung öffentlicher Gebäude, wie Gerichtssäle, Bibliotheken, Schulen, Banken, Galerien, Museen, Vergnügungs- und Speiselokalitäten niemals Polstermöbel und Sessel verwenden. Die üblichen roten Plüschsessel in den grossstädtischen Cafés, an denen jedermann sein Haupt scheuert, sind gar widerwärtig. Man besuche eine grosse moderne Privatbank oder die Bureaux moderner Grosskaufleute oder Industrieller, man überzeuge sich, wie geschmackvoll und solide, bequem und schön grosse Räume mit behaglichen Holzmöbeln oder Ledermöbeln ausgestattet werden können, ohne Stoffe, Plüsche, Portièren, schwere Teppiche. Man bedecke die Wände mit leichtem Farbenfirnis oder waschbarer Lincrustatapete, den Boden mit sauberem, häufig mit Karbollösung gereinigtem Linoleum; man verwende keine Ripps-, Samet- und Plüschstoffe, wohl aber festes waschbares Leder. Es ist eine Erfahrung, die jeder Reisende bestätigt, dass man mit der dritten Wagenklasse gesunder und gefahrloser in Bäder und Kurorte reist, als auf den bedrohlichen Polstern der beiden oberen Klassen[10]

*     *     *

Es wäre nun aber zu erfragen, wie denn die schrecklichen Begleiterscheinungen der Hausreinigung vermieden werden können? Man darf wahrlich nicht erwarten, dass in jeder kleinen Familie die einzige geplagte Dienstmagd oder die arme Hausfrau (etwa auf Handkarren) Bettstücke Treppenläufer, Matten und Teppiche auf ein vor der Stadt gelegenes vorgeschriebenes Klopfterrain hinausfahre, um dort fern von beleidigten Ohren nach Herzenslust zu lärmen. – Wohl aber wäre es ein Leichtes, das Geschäft der Hausreinigung zunächst wenigstens teilweise zu zentralisieren.

Das Ausklopfen von Polstern und Teppichen könnte einen eigenen Beruf bilden, dessen Ausüber täglich, in frühesten Morgenstunden durch die Strassen fahren, um die für den Tag zu reinigenden Möbelstücke auf Karren abzuholen, auf den Klopfplatz zu fahren und umgehend zurückzuliefern. Diese Abgabe des Betten-, Polster- und Teppichklopfens würde Gesundheit und Arbeitskraft vieler arbeitender Frauen ersparen. Der Unternehmer könnte einen guten Gewinn erzielen, selbst wenn er für jedes geklopfte Stück nur ein paar Pfennige erhielte. Endlich wird sich zeigen, ob etwa die Reinigung der Polster durch hydraulisch komprimierte Luft, wie sie gegenwärtig an einigen Orten eingeführt wird, schliesslich zu allgemeiner Anwendung kommen kann.

Alle die hier besprochenen Schäden wurzeln freilich letzten Endes tiefer, wurzeln in den vom Mittelalter überkommenen Wirtschaftsformen der Einzelkochwirtschaft und des separierten Familienhaushaltes, in denen auch der moderne Mensch die Grundlage des „Individualismus”, der „individuellen Gemütlichkeit”, ja schliesslich das ganze Wesen des Familienlebens und die einzig mögliche Form des „intimen und differenzierten Zusammenlebens” gleichgestimmter Seelen oft noch zu erblicken pflegt. Eben darum aber weil in diesen Formen der Wirtschaft persönlichste Gefühle und Stimmungen der Seele seit alters verankert liegen, ist, den meisten Menschen gegenüber, unmöglich, die Vergänglichkeit und Unzweckmässigkeit dieser Lebensformen objektiv klar zu machen, denn immer wieder wird die Vorherrschaft willkürlicher und subjektivistischer Formen als der Ausdruck persönlichen, individuellen Erlebens in Anspruch genommen. Aber gleichwohl werden einmal Zeiten und Menschen kommen, die unsere Lebensart nicht mehr begreifen. Sie werden sich immer von neuem wundern, wie wir nur unter den jetzt gegebenen Gestaltungen der Hauswirtschaft schaffen und altern konnten. So etwa wie wir uns wundern, wenn wir im Hause Dürers die alte Küche sehen, in der einst Frau Agnes ihrem Gatten das tägliche Mahl bereitet hat.

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Steckt denn nicht unbeschreibliche, grauenhafte Vergeudung von Menschenleben, von unwiderbringlichen Seelen- und Geistes-Kräften dahinter? Familienhäuser mit zehn, zwanzig, hundert Parteien! Eine jede kocht tagtäglich auf dem eigenen Herde die selbe Suppe. Aus einem Kellerverschlage wird jeder Eimer Kohlen einzeln die Treppen heraufgeschleppt. Jedes Geschirr, jeder Teller wird einzeln gespült und getrocknet; und das in Tagen, wo eine „kraftsparende Arbeitsmaschine” in ein paar Minuten mehrere hundert Teller selbsttätig spülen und trocknen, in ein paar Minuten die ganze Arbeit erledigen kann, zu der hunderttausende Frauen dauernd ihren halben Arbeitstag verwenden. Und jedes Pfund Zucker, Kakao oder Reis wird drüben, vom Kleinhändler einzeln „eingeholt”. Die Bereitung eines Koteletts benötigt ein halbes Dutzend Gänge, Verhandlungen und Übereinkünfte. Alles aber stöhnt über Müdigkeit und Überbürdung; alles lebt nur in suspenso, ewig überhetzt, beschäftigt und nicht bei sich selber. Und überall kommt die Schönheit, kommt die Würde zu kurz. Unsere Frauen altern und verblühn, leisten eine Arbeitsmenge, die kein Mann zu leisten vermöchte und erreichen doch nichts, als dass alle dieses, Kochwirtschaft, Hauswirtschaft, Kinderpflege ganz unrationell, unzweckmässig und dilettantisch geübt wird, als dass sie mit all ihrer undifferenzierten, planlosen Wirtschafterei sich und andern das Leben vergällen. Zumal der Vormittag und der frühe Morgen in den Familienhaushalten der „weniger Bemittelten” ist eine kleine Privathölle. Ein ewiges Schruppen, Kratzen, Bohnern, Umkramen und Umräumen. Ein Tollhaus knarrender, kreischender, wetzender Geräusche. Dazwischen Zurufe und Menschenstimmen. Wenn dann schliesslich die rasselnden Privatmaschinen der Familienhaushalte leidlich in Gang kamen, wenn genug geklopft, gewischt, gerückt und geschruppt ist, dann ist der halbe Tag herum. Die Sonne steht in Mittag; die Arbeitskraft ist verbraucht, die Seele müde und stumpf. Und neunzig Prozent aller Lebenden widmet sich doch ausschliesslich diesem Lebensziele, Kochtöpfe und Kleider in guter Ordnung zu halten, um erträglich essen und schlafen zu können. Die kleine Schar der Übrigen, der „Überflüssigen”, die inmitten dieser Wirtschaftshöllen nutzlosen „Idealen” nachgehen, wird rücksichtslos niedergestampft…

*     *     *

Wäre denn nun wirklich die Individualität bedroht, wenn man den Konsum unifizierte? Wenn man den Zucker, Reis, Kaffee, Tee, Kakao, mit Vermeidung alles Zwischenhandels und ungeheuerlicher indirekter Steuern, in grossen Quantitäten vom Orte der Produktion bezöge? Wäre denn wirklich euer „ideales Familienleben” in Gefahr, wenn ein Wohnhaus von 25 Parteien nicht 25 Badestuben, sondern einen einzigen grossen Baderaum mit allen nur möglichen Apparaten der häuslichen Hygiene und Gesundheitspflege aufwiese?… 25 Familien, die ein grossstädtisches Proletarierhaus in der Stadt Krähwinkel bewohnen, halten sämtlich das „Krähwinkler Intelligenzblatt” und beziehen aus ihm ihre Geistesnahrung. Gesetzt, sie vereinten sich, einen luftigen Parterreraum ihres Proletarierhauses zum Lese- und Bibliothekzimmer herzurichten, so könnten dort täglich 25 verschiedene Zeitungen ausliegen und von jedem eingesehen werden, und es würde nicht mehr kosten als heute ein jeder für das „Krähwinkler Intelligenzblatt” bezahlt. Die Verbilligung und Verbequemlichung, der Gewinn an individueller Freiheit, Unabhängigkeit und Musse, der in kleinen und dürftigen Verhältnissen aus der Sozialisierung der äusseren Wirtschaft erblüht, ist so sonnenklar, dass ich nicht begreife, warum überhaupt noch nötig ist, diese Selbstverständlichkeiten zu wiederholen. Selbstverständlichkeiten freilich nur für bedürftige und kämpfende Menschen; nicht für jene, die in separierten Familienvillen mit dem Aufwande grosser Dienerschaft leben können und im Grunde alle Funktionen der Hauswirtschaft, ja sogar die Wartung und Pflege, und die ganze Erziehung und Bildung ihrer Kinder auf dienende Kräfte abgewälzt haben. Die Bevölkerungsschicht der Aktionäre aber ist in der Wirtschaftsreform schlechterdings nicht massgebend; wer sich das Leben ohnehin einrichten kann, wie er will, hat kein Verständnis und hat in der Regel auch kein Gefühl für das, was dem Leben notwendig ist.

Können aber auch jene, die in den Formen des kleinen Haushaltes leiden und verkümmern, die Notwendigkeit neuer Haushaltsformen nicht einsehen, nun, dann sollen sie auch nicht klagen. Dann lebt und sterbt meinethalben unter der Tyrannei all der toten Objekte! Lebt für die Reinlichkeit eurer Kochtöpfe und Wäscheschränke! Sterbt für die Tadellosigkeit eurer Räucher- und Speisekammern! Aber fordert nicht von mir, dass ich vor dieser Unsumme zwecklos verbrauchter Frauenkräfte Ehrfurcht empfinden soll! Fordert nicht, dass ich bewundre, wenn freie Seelen für das Ziel leben, dass das Kotelett gemäss der „Individualität” der Familie gebraten werde und die Gänsehaut genau so knusperig gerät, wie Papa das am liebsten hat. Ich verstehe nicht, verstand wohl niemals, was an der Hausfrau und Mutter vom „alten Schlage” gar so liebenswürdig und verehrenswert ist. Die Syssitien[WS 12] der Alten boten ein schöneres Bild als die deutsche Bürgersfrau am Kochherd. Und was ist das wohl für eine Sorte von „Individualismus”, die die feinsten Kräfte der Seele den subjektiven Gourmandisen des Magens opfert?… Frühzeitig verblüht, unliebenswürdig und verbittert, im ewigen Übermüdet- und Überhetztsein, im engen Dunstkreis der geliebten Küche, nie zur Selbstverantwortlichkeit, zum Stolz, zum eigensten Selbst gekommen, – so vergeht heute das normale Frauenleben. Auf dem Sterbebett aber kann sie sich sagen, dass sie treu und ehrlich stets dafür gelitten hat, dass ER mittags und abends „sein Leibgericht” bekam. –

Ich will euch verraten, was in Wahrheit hinter dieser Willkür und Zufälligkeit verborgen liegt. Disziplinlosigkeit, Primitivität und rüpelhafte Unkultur des durchschnittlichen Mannes. Es soll alles nach Laune gehen. Ihr möchtet euch eben gehen lassen. Ihr habt weder echten Patriotismus noch echten Bürgerstolz; ihr habt nicht ein einziges Ideal, für das ihr im Tageskampf euch das geringste Opfer auferlegtet. Wofür würdet ihr denn wohl das Schaffot besteigen? „Behaglichkeit” ist eure einzige Göttin. Ihr seid nicht eigenartig, nicht „individuell” genug, um nicht fürchten zu müssen, dass mit der Willkürlichkeit der Lebensformen auch die Einkehr und Abgeschlossenheit eures Wesens dahinfällt. Ihr besitzt euch gar nicht selber; sondern ihr müsst euch erst abgrenzen und vermauern, um zu dem Gefühl zu gelangen, eine „Persönlichkeit” zu sein. „Individualismus” aber nennt ihr die Erlaubnis, nach Herzenslust spektakeln zu dürfen. Jede gesellschaftliche Schutzmassregel gegen das Gegacker jener lauten Narren, jener grossen Schreier, jener frechen Schwätzer, die ihr eure „starken Persönlichkeiten” nennt, erscheint euch als „staatliches Nivellement”, als Eingriff der Bureaukratie in die heiligen Rechte des „Individualismus”. Ihr schwatzt gar viel von Liberalismus und Freiheit; aber gibt man euch die Freiheit sittlich zu sein, dann ersehnt ihr nur die Freiheit von aller Sitte. Zufall und Chaos beherrschen euer Leben. Zufall und Chaos gebieten, welche Art Menschen in den Mauerlöchern, unter den roten Dächern der Steinverliesse zusammengewürfelt werden, sich lieben, hassen, Kinder zeugen und zu Tode quälen. Zufall und Chaos allein schweben um die Gestalten eurer Hausmütter und Hausfrauen. Alles, was in der praktischen Wirtschaftsarbeit am wichtigsten ist, Ernährung und Küche, Hausreinigung, Hygiene, Erziehung, Kinderpflege wird ohne inneren Beruf und Begabung, ohne Selbstdisziplin, Einsicht und Ehrfurcht, ohne Arbeitsteilung und spezialistische Vorbildung betrieben; die Frau kocht, wäscht, reinigt, lärmt und erzieht kraft ihrer „Vorbestimmung” und ihres Geschlechtes, heute genau so wie es ihre Grossmütter zur Zeit der Naturalwirtschaft getan haben. Kaum vermag der denkende Geist ohne Verzweiflung zu fassen, wie diese Milliarden dahin leben, Milliarden, die ihr armes, kurzes, unwiederbringliches Leben nur dazu bekommen haben, um sich in zahllosen kleinen Privathöllen zwischen viele überflüssige geschmacklose und hässliche Dinge einzusperren und ihre Ehre, ihre gesamte Lebenskraft darein zu setzen, nur ja korrekte Gesinnungen und korrekte Kleider zu tragen. Ach, so vorsichtig, so mittelmässig, beschämt, bequem und unselbständig. Und in aller Feigheit und Sehnsuchtlosigkeit so laut und ohne Ehrfurcht!

*     *     *

Rationellere Formen der Hauswirtschaft und des Familienlebens aber werden erstehen. Sie werden ein grosses Stück all des wohl entbehrlichen, ganz zwecklos und unnütz vollführten, dilettantischen Gelärmes beseitigen, durch das wir unter der Alleinherrschaft der gegenwärtigen Wirtschaftsform so oft und so bitter gelitten haben. Künftige Geschlechter werden uns belächeln. Sie werden nicht begreifen, warum die Räder unseres Wirtschaftsgetriebes so furchtbar knarren und dröhnen mussten, warum wir denn so gelebt haben und so gestorben sind. – Ihr könnt freilich billig höhnen, dieses alles sei Zukunftstraummusik. Aber ich sehe nicht ein, dass die Gegenwartsmusik des Staubklopfers und Teppichschlägers liebenswürdiger sei…


7.

„Wer nennt mir wohl das hochgelobte Land
Zeigt mir den Weg zur benedeiten Gasse,
Wo das Klavier noch keinen Eingang fand.
Dies Marterwerkzeug, das ich grimmig hasse.
Schriebst heut Du die Vernunftkritik, o Kant,
Ansammelnd mächtige Gedankenmasse,
Du müsstest taub sein, philosoph’scher Heiland,
Wo nicht, Dich flüchten auf ein wüstes Eiland.”

L. Fulda.

Wir sind ein Ohrenvolk, aller Anschaulichkeit und Sichtbarkeit bar. Aber wenn der Anblick unseres Lebens übertrieben, formlos, hässlich oder gar komisch sich ausnimmt, so besitzen wir doch auf einem Schaffensgebiete einen tröstenden Vorzug: im Reich der Töne sind wir tief innerliche Empfinder und Träumer. Die Musik ist die bestimmende Macht unserer Volksseele, der unbestreitbare Stolz deutscher Kultur. Das ist ein Vorzug, ist auch ein Nachteil. Denn wir sind dem entzückenden Teufel so vollkommen ausgeliefert, dass deutsche Kultur an musikalischer Elephantiasis schliesslich zugrunde geht… Kann man sich denn in Deutschland irgendwo unter Menschen getrauen, ohne auf Stunden dem Gesang oder Instrumentalspiel eines Dilettanten ausgeliefert zu werden? Gibt es irgendwo Wälder und Parke, wo man sicher ist vor dem Potpourri, vor dem Promenadekonzert und der Militärkapelle? – Ich rede hier nicht von grosser Kunst. Rede nicht von den wenigen, die Musik als ernstes Studium und Arbeit treiben. Diese werden mich schon verstehen, denn ihre ernste Freude hat nichts zu schaffen mit den Vergnügungen aller der Hunderttausende für die Musik ein gelegentlicher Zeitvertreib, eine Abladestelle billiger, flacher Gefühle, eine Salpeterplantage müssiger, spielerischer, exzitierender Erregungen ist. Ich wünsche nichts zu ungunsten allgemeineren Verständnisses der Musik zu sagen. Wer imstande ist, Partituren und Klavierauszüge der grössten Orchesterwerke, die Werke Bachs und die Lieder mancher neueren Meister im stillen Zimmer zu studieren, besitzt einen Reichtum, der ihn über alle Welt und alle Not der Welt hinaushebt. Aber was hat dies zu schaffen mit dem Zeitvertreib all der Müssiggeher, die sentimentale Melodien auf der Geige kratzen, Salonstücke und Tänze vortragen oder gar stolz darauf sind, dass sie Zither schlagen, auf der Guitarre die Zeit vertrödeln und allerlei Niedlichkeiten und Allerweltslieder vorführen können? Gewiss, wo tiefes, ernstes Leben entgegentritt, da besinn ich mich gern auf einen Spruch, mit dem Theodor Storm uns über Störungen durch unzeitige, unberufene Musik getröstet hat:

„In lindem Schlaf schon lag ich hingestreckt,
Da hat mich jäh Dein Geigenspiel erweckt,
Doch, wo das Menschenherz mir so begegnet
Nacht oder Tag, die Stunde sei gesegnet.“…

Soll nun aber jeder müssig herumlungernde, das Leben vertuende und vertändelnde Mensch, jeder Backfisch, jeder Student, dem die Musik nichts als gute Unterhaltung und angenehme Gefühlswallung zu bieten vermag, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht das Recht haben, in ernste, strenge Arbeit einzubrechen? Sollen sie mit ihren Fingerübungen und Etuden uns martern dürfen oder gar mit stundenlangen Solfeggien und platten lauten Gefühlsergüssen unser ganzes Tagewerk zerstören? Man klagt über die Unnatur unserer Lebensführung, bespöttelt und kritisiert den zunehmenden Hang der Gehirnkulis zu nächtlichem Schaffen. Aber dann gebt doch den Armen Lebensbedingungen, unter denen sie existieren können, unter denen ein nur auf die Kraft seiner Feder und die Gesundheit seines gemarterten Hirns angewiesener, beständig von der Gefahr des Hungerns oder des geistigen Zusammenbruches umlauerter Mensch noch zu schaffen und zu denken vermag… Ich weiss nicht, wie sich feine, zarte, empfindsame Gedanken in diesem Tagesleben erheben und halten sollen, wo man doch beständig von jeder Art Lärm und Geräusch umbrandet wird und wo zu alledem musikalische Aufregungen einwirken, die gerade den für Musik empfänglichen und reizbaren Menschen notwendig in ihr Interesse ziehen und Stimmungen, Dispositionen auf ihn übertragen, die er für seine Arbeit nicht ausnutzen kann, die ihn vielmehr nur zersplittern und ungenützt seine Seelenkräfte absorbieren. –

Im Gebiete der Sinneswahrnehmungen gibt es keinen tiefer einschneidenden Unterschied als den zwischen Menschen, die vorwiegend für Licht- und Farben-Intensität und -Verschiedenheit oder aber für Intensität und Verschiedenheit von Schall- und Gehörseindrücken empfindlich sind. Wer also zum „geistigen Typus” gehört, der wird Natur und Welt weniger in Form von visuellen, optischen Vorstellungen, als von motorischen Klang- und Wortvorstellungen verarbeiten. Er muss entsetzlich unter dem Dasein anderer leiden, die in weit höherem Grade auf konkretes direktes Wahrnehmen eingestellt und für alle die feineren, indirekten Vermittelungen durch das Ohr unzugänglich sind. Der Zwang aber, während der Nacht, dem Lichte entgegenarbeiten zu müssen, führt mit Sicherheit in immer tiefere Unnatur und Ungesundheit hinein. Nur zur Nacht, wenn alles still ist, wenn alle die Lärmer und Schreier zur Ruhe gegangen, dann erwachen die Gedanken, erwachen im ruhigen Sternenlicht, unter dem bleichen Monde. Aber sie lassen uns übernächtig, bleich und erschöpft zurück. Wenn die gesunden, natürlichen Menschen erfrischt und freudig aufstehen, in den frühen, reinen, heiligen Morgenstunden, dann sind wir zu aller Arbeit in der Regel am unbrauchbarsten. Diese Stunden sind uns zu laut, zu zersplittert und unruhig. Dazu kommt, dass die Zeit nach der Mahlzeit für jeden geistig Schaffenden durchweg unergiebig, unproduktiv verläuft. Es wird also die Gewohnheit, erst gegen Abend mit der Arbeit zu beginnen, durch alle Lebensbedingungen gefördert, die für den Nervenmenschen natürlich, für den gesunden normalen Muskelmenschen direkt schädlich und unnatürlich sind. Es ist unter den Verhältnissen der modernen Grossstädte unausbleiblich, dass der geistigere, verfeinerte Mensch zu einer unhygienischen Umkehrung der Tag- und Nachtzeit gedrängt, dass er immer mehr zu einem Abendmenschen gemacht wird. Alle seine entscheidenden wichtigen Erlebnisse gehen bei künstlichem Lichte vor sich. Er ist so unnatürlich und ungesund wie das allnächtlich, im Mondlicht gespielte Theater, das die eigentliche Domäne des gegenwärtigen Menschengeschlechtes geworden ist.

Nur eines könnte vor der gänzlichen Umkehrung der Tageszeiten schützen: energische Zwangsmassregeln zur Unterdrückung des Lärmes und der Geräusche des Tages. Für die „Hausmusik“ aber, gegen deren Missbrauch bisher noch nicht der mindeste Rechtsschutz geschaffen wurde, scheint mir das zu alleroberst nötig zu sein. Man besteuere endlich das Luxusklavier, besteuere musikalische Lustbarkeiten und Vergnügungen (nicht aber etwa belehrende Vorträge und bildende Veranstaltungen); man besteuere die Geige und die viel gemissbrauchte Guitarre. Man besteuere Spieldosen, Drehorgeln und Musikautomaten und übe diese Steuer rücksichtslos in alle den Fällen, wo nicht die Notwendigkeit der Musikinstrumente zu Studienzwecken oder zu selbsttätig ausgeübtem Erwerbe nachgewiesen werden kann, sondern wo Musik zu Unterhaltung und Zeitvertreib müssig gehender begüterter Kreise getrieben wird. Keine Luxussteuer wäre so berechtigt, keine besser angebracht… Sodann aber schaffe man feste Vorschriften, unter deren Befolgung allein, Musikinstrumente in Privathäusern gehalten werden dürfen. Man schaffe sie zunächst etwa in Form von Spezifikationen zum Grobe-Unfug-Pharagraphen (360, 11, R.St.G.B.), dessen gründliche Neubearbeitung ja doch in der allernächsten Zeit unausbleiblich ist. Dieser alberne Paragraph ist vortrefflich dehnbar. Überflüssiges Klavierspiel aber ist unbedingt als gröbster Unfug zu betrachten. Man sehe endlich auch im Polizeistrafgesetzbuch strenge Strafvorschriften vor, gegen willkürliche Ruhestörung durch Musiklärm. Man setze fest, erstens, dass in Privathäusern (ohne Gewerbeschein oder event. polizeiliche Dispensation) zu bestimmten Ruhestunden vor allem auch am Sonntag- und Feiertagsvormittag überhaupt nicht musiziert werden darf; zweitens, dass für die Dauer des Übens auf weithin tönenden Instrumenten die Fenster der Privatwohnungen zu schliessen sind; widrigenfalls stehe Geldstrafe, Haft und Konfiskation des benutzten Instrumentes zu erwarten. Ferner sollen sich die Hauswirte dahin einigen, dass sämtlichen Mietern in Häusern, die nicht von einer Partei bewohnt werden, nach 9 Uhr abends und vor 9 Uhr morgens das Musizieren schlechterdings verboten wird. Die Sonntagvormittage aber, die für Hunderttausende eine kurze Erholungsfrist bieten, sollten nimmermehr durch das Gelärm der Frühschoppenkonzerte, Biermusiken und Privatklaviere ihrem Zwecke, Sammlung und Ruhe zu gewähren, entzogen werden. Wie die gröberen Organe unseres Leibes durch die staatliche Autorität geschützt werden, wie man die Bevölkerung vor schlechten, verdorbenen oder verfälschten Nahrungsmitteln zu behüten versucht, so sollte auch das zarteste wichtigste Organ, das Ohr, zumal aber das Ohr der Schuljugend vor dem schlechten, verfälschenden, den Geschmack verpöbelnden Musiklärm geschützt werden. Göthe lässt im Wilhelm Meister diejenigen, welche sich der Musik widmen, eine gesonderte „pädagogische Provinz“ bilden, möglichst abgelegen und entfernt von allen anderen. Und in der Tat, es ist nicht einzusehen, warum nicht jede Stadt und jedes Stadtviertel eigene Gebäude für musikalische Studienzwecke, für Klavier- und Gesangsübung besitzen sollte, so wie man in Sanatorien und Kurorten abgelegene Musikzimmer herstellt, wohin sich diejenigen, die singen und spielen oder dem Spiel und Gesang zuhören wollen, zurückziehen mögen…

*     *     *

„Musik wird oft nicht schön gefunden,
Zumal sie mit Geräusch verbunden.“[WS 13]

Eine grauenhafte Unsitte grassiert in ganz Deutschland: das allgemeine Restaurant- und Kaffeehauskonzert. Wer auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen ist, musikalische Ohren besitzt und sich nicht „aus dem Erwerbsleben zurückziehen“ kann, der wird durch Musik, in der alle Welt ihre Nöte und Sorgen übertäubt, fast zu Tode gemetzgert. Jede Arbeit in Fabrikhöllen und Schwitzschachten wird von rhytmisiertem Lärme begleitet. Aber auch alle Erholungsstätten sind von schlechter Musik überfüllt. Der jeweilige Gassenhauer, heute das „Lied von der Holzauktion“, morgen die Matschiche, verfolgt uns bis in die Träume der Nacht. Die allgemeine Musikwut übt auf die Kultur des Ohres die selbe Wirkung, die das illustrierte Journal, das „Witzblatt“ und die kitschige Reproduktion auf die Kultur des Auges übt. Man lebt im Hören und Sehen gleich wüst und unkultiviert… Was aber nützt es dagegen streiten, bald in Mitleid, bald in Ekel? – Rücksicht heisst Schwäche. Güte heisst Ohnmacht. Der eine überschreit immer den andern.

Mit nichts pflegt der Normalmensch verschwenderischer umzugehen, als mit der Aufmerksamkeit und Zeit seiner Mitmenschen. Wenn man zu einem Besuche, einer Gesellschaft mich veranlasst, bei der man mir nichts vorzusetzen hat als Nervengifte, die meine Fähigkeiten lähmen, Speisen, die ich nicht vertrage, Gespräche und Unterhaltungen, die Zeit und Aufmerksamkeit rauben, ohne mich im mindesten zu erfreuen und zu fördern, begeht man da nicht an meinem Lebenswerk ein Verbrechen? Wie edel könnte doch Geselligkeit sein, wenn Menschen sich nur füreinander verantwortlich fühlten, wenn es sich um etwas Besseres handelte, als um die Übereinkunft, den grösseren Teil des Lebens müssig, bequem und ohne Anstrengung miteinander zu vertrödeln. Sobald man aber beisammen sitzt und der übliche Klatsch und Tratsch erschöpft ist, stürzt irgendjemand ans Klavier, ohne zu fragen, ob man Musik hören mag, ob man seine Musik hören mag. Man sollte jedem geselligen Zusammensein, sollte auch allem Musizieren einen positiven, methodischen Inhalt geben. – Hat uns aber einer durchaus und ganz und gar nichts mitzuteilen, was fördern und erfreuen kann, dann soll er wenigstens zuzuhören und zu lernen verstehn… Von Kant, Fechner, Lotze, Darwin wird uns ausdrücklich berichtet, dass sie tief schweigsame Naturen waren. Wer aber kann sich wundern, dass Lebewesen, die gar nichts in der Seele tragen als spezifische Futtertrog- und Familieninteressen wie die Mühlen klappern, dass sie im Lärme leben wie der Fisch im Wasser und selbst die hehre Musik zur „Unterhaltung” entweihten, sie, die keine Stubentür schweigend zu schliessen vermögen…

*     *     *

Alle der widerwärtige Musiklärm bewährt nun einen eigentümlichen Untergrund. Er verbirgt eine merkwürdige Beziehung zu des Menschen erotischen Erfahrungen. – Zunächst scheint mir, dass die Produktivität in der Musik ebenso in der aktiven Geschlechtlichkeit verwurzelt ist, wie das verfeinerte Verständnis für Musik einer Transformierung und instinktiven Gebundenheit erotischer Impulse zu entsprechen pflegt. Man darf getrost behaupten, dass hinter einem grossen Teile des Musiklärms, der täglich vollführt wird, ganz wie hinter dem Gesange der Vögel, erotische Verwebungen und Verwickelungen, das Einandersuchen und Fliehen der Geschlechter im Verborgenen lauert. Diesen Gesichtspunkt müssen wir zunächst für die Erklärung der ungleichen musikalischen Anlagen von Frau und Mann wohl im Auge behalten. Die oft betonte Unfähigkeit der Frauen zur Komposition, d. h. zur „Produktivität” in der Musik und ihre doch gleichzeitig wirksame, ganz ungewöhnliche musikalische Empfänglichkeit und Verständnisfähigkeit für interpretatorische, reproduktive Aufgaben, – sie erklären sich aus einer tiefen Gebundenheit des Trieblebens. Die Frau ist nicht aktiv, nicht spontan. Sie ist immer und überall „rationaler” als der Mann. In ihr dokumentiert sich jene überlegene Rationalisierung des Trieblebens, die der Mensch ausschliesslich der Schule der Not, nur langem, geschlechterlangem Leiden und Drucke verdanken kann… Das gleiche Verhältnis der musikalischen Anlage, das zwischen Frau und Mann besteht, findet sich wieder in den Begabungen „primitiver” und „später” Kulturen, d. h. im Verhältnis der noch ungebundenen, rohen und der schon rationell geschulten und durch Überlegung gehemmten Kulturvölker. – Je intellektuell vergeistigter und disziplinierter der Volksschlag wird, um so auffallender pflegt die musikalische Schöpferkraft hinter rezeptiven Musikanlagen zurückzutreten. Man denke an die musikalische Veranlagung der Engländer. Sie sind die intellektuellste und geistigste aller Nationen; aber sie sind musikalisch fast vollkommen unschöpferisch und doch zugleich von einer Zuneigung und Begeisterung für Musik, die oft lächerliche, exzentrische Formen annimmt… Betrachten wir nun aber die grossstädtische Musikwütigkeit unter dieser physiologischen Perspektive, dann könnte man bei dem Klavierspiel und Gesang seines Nachbarn und seiner Nachbarin oft auf allerlei besser zu verschweigende Gedanken kommen…

*     *     *

Eine einzige Bemerkung will ich mir zum Schluss nicht versagen: Man beachte, welch eigentümliches, noch unentdecktes gesetzliches Verhältnis obwaltet zwischen dem allgemeinen Klavierspiel und Gesangsbetriebe einerseits und dem Geschrei von Wickelkindern und Säuglingen andererseits. Wenn man dem einen Geräusche glücklich entronnen ist, dann gerät man mit Sicherheit in das andere hinein. Wo die eigentlichen „Proletarier” wohnen, in den Fabrikvierteln, im Osten und Norden der Städte, da ebbt in der Tat die Klavierpest und Gesangsseuche ganz beträchtlich ab. Dafür aber wird man dort von früh bis spät durch rasendes Kindergeschrei dafür abgestraft, dass man auch selber einige Monate seines Lebens so geschrieen hat. Wohnt man dagegen in den Westvierteln, unter den sogenannt „besser Bemittelten”, dann findet man, dass der Kinderlärm im ganzen dort freilich beträchtlich geringer ist, dafür aber übt der noch unbesteuerte Emotionskasten, das „Piano” oder „Leiserchen” eine kaum zu beschreibende Tyrannei aus. Richtige subumbilikale Anfälle, stundenweiser Musikraptus, Ovarialklänge links, Testalklänge rechts. Sämtliche müssiggehende und gelangweilte Damen der Umgegend, alle Hagestolze, die nichts zu tun und zu verantworten brauchen, haben sich verschworen, zu singen, zu spielen, zu flöten und zu girren, meist aus keinem anderen vertretbaren Grunde als dem, woraus auch der Auerhahn balzt, tanzt, kapriolt und musiziert, Stunden und Tage lang; alle psychophysischen Spannungszustände entäussernd und der Umwelt mitteilend, bis dann schliesslich das erwünschte Nest und Eier da sind und die jungen Kücken, worauf es mit dem Kunsttrieb und der Kunstbegeisterung plötzlich ein Ende hat. Gott beschütze meine Ohren und verhelfe euch baldigst zu einem – Umzug in das Nordviertel. Ich aber stehe auf Leichen- und Trümmerstätten grausam gemordeter Gedankenkinder und habe nichts als den Stossseufzer des Dichters:

Jetzt rede mir nur Einer noch
Vom Schaffen oder Denken,
Vom sauer-süssen Arbeitsjoch
Vom tiefen Sichversenken.
Kaum sitz ich auf dem Stuhle fest
Mit ernst gesenkten Wimpern,
Beginnt mein Nachbar, Höll und Pest,
Voll Wut Klavier zu klimpern.
Zu stampfen, zu hacken,
Zu hämmern, zu knacken,
Zu martern, zu klopfen
Watte her,
Werg her,
Wachs her,
Ich will mir die Ohren verstopfen!


Fünftes Kapitel.

Rechtsschutz wider den Lärm.


„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“
Schiller.

1.

Die Störung durch Lärm und Geräusch gehört zu einer Gruppe von Delikten, der die Jurisdiktion schlechterdings nicht beikommen kann. Ich möchte sie „hygienische Delikte” nennen. Ich meine damit vielerlei Schädigungen des Mitmenschen, ja sogar viele Arten verfeinerten Mordes, die sich bisher weder in die Paragraphen des Strafrechtes noch des Zivilrechtes einfangen liessen, obwohl sie gerade den schlimmsten Eingriff in die persönliche Rechtssphäre darstellen. Die sogenannte Lex Heintze, die neuerdings Bestrafung dessen fordert, der eine gonorrhoische oder luetische Infektion wissentlich auf andere überträgt, ist nur eine von sehr vielen Forderungen, die auf ein noch fast unbebautes, braches Gebiet der Rechtspflege hinweisen. Wie können wir etwa den Phtisiker verantwortlich machen, der auf das Strassenpflaster speit? wie einen Friseur, der mit unreinen Händen die Bartflechte überträgt? einen Strassenhändler, der vor den Fenstern eines Krankenhauses Lärm vollführt? – Wenn in allen diesen Fällen eine Anklage und Bestrafung schwer ist, so ist sie noch weit schwieriger in den zahllosen Fällen, wo Vertrauen, Liebe, Schwäche oder Gläubigkeit zur Bereicherung (oder auch nur zu Machtgefühlen) ausgenutzt werden. Das tut der Arzt, der voll naiven Selbstvertrauens, in experimentierender Ahnungslosigkeit ein Menschenleben schädigt oder vernichtet; das tut jede Frau, die aus der Liebe oder Güte eines Mannes irgendwelchen Nutzen zieht, ohne Gegentreue zu geben; das tut ein Lehrer, der die Urteilslosigkeit eines vertrauenden Kindes missbraucht, um ihm feste Vorurteile und schädigende Fanatismen einzupflanzen. Alles dieses sind ethische, nicht aber juridische, sind moralische, nicht aber legalisierte Delikte. Wo sie auf Grund des Strafgesetzes und der „Staatraison” „gefasst” werden sollen, da steht nur ein einziger Paragraph zur Verfügung, unter den man alles bringt, was man sonst nicht definieren und bezeichnen kann, der Paragraph wider den „groben Unfug”. „Grober Unfug” kann schliesslich alles sein: Der Lärm eines Hundes so gut wie Unreinlichkeit; Ungebühr und Taktlosigkeit sowohl wie eine Theaterkritik; Strassenaufläufe, Exzesse ebensowohl wie publizistische Broschüren. Hier ist dem subjektiven Geschmack und Takt der Richter ein weiter Spielraum gegeben. Will man aber eine Klage gegen Lärm und störendes Geräusch nicht auf Grund dieses „groben Unfugparagraphen” erheben, so bleibt nur die Möglichkeit, auf Grund des bürgerlichen Gesetzbuches die Paragraphen zum Schutze des Eigentums oder auch die Paragraphen des Verwaltungsgesetzes, die einen Damm gegen „Immissionen” bilden, heranzuziehen. Dieses ist denn auch in der Tat der übliche Weg der Lärmklage. Sie wird nur in sehr seltenen Fällen auf Grund des Strafgesetzes angestrengt. Aber es hätte schliesslich ebensoviel Sinn bei Schädigung von Gesundheit und Arbeitskraft auf „grobe Körperverletzung” oder „Realinjurie” zu klagen, als Belästigungen durch Geräusch als „Immission des Eigentums” auszudeuten und ins Sachrecht hineinzuschieben. Ich meine, dass sich die Abwehrklage gegen den Lärm in die bestehenden Paragraphen nur gequält eingliedert, und dass sich künftig nicht vermeiden lässt, sie einem besonderen „hygienischen” Paragraphen einzuverleiben, als eine der Spezifikationen, die aus dem vergänglichen Unfugparagraphen hervorgehen werden…


2.

Ein gewisser Schutz gegen Lärm scheint zunächst in dem bekannten § 360 Z. 11 des Strafgesetzbuches für das deutsche Reich und in der gleichartigen Vorschrift des § 340 Z. 9 des preussischen Strafgesetzbuches gegeben zu sein. An diesen Stellen nämlich wird derjenige, welcher ruhestörenden Lärm oder groben Unfug verübt, mit einer Geldstrafe[WS 14] bis zu 150 Mark bedroht. Es erhellt aber ohne weiteres, dass dieses Strafmass, das auch dem schlimmsten, boshaftesten Unfug gegenüber die Höhe von 150 Mark Geldbusse nicht überschreiten kann, viel zu gering ist, um einen wirksamen Rechtsschutz zu schaffen. Das erweisen die vielen infamen witzlosen Streiche, die fortwährend von Leuten aus der sogenannten gebildeten Gesellschaft rein aus Zerstörerlaune und eitel Willkür verübt werden, wie etwa falsche Alarmierung der Feuerwehren und Unfallstationen, Durchschneiden von Läutewerken oder Telegraphendrähten, Abgeben falscher Notsignale in der Eisenbahn und dergleichen mehr. – Alles das in dem nie getäuschten Vertrauen, dass der „Scherz” nicht mehr als höchstens 150 Mark kosten wird. – Hierzu kommt, dass Lärmen und Randalieren nur dann straffällig ist, wenn es ein öffentliches, von mehreren Zeugen bestätigtes Ärgernis gegeben[WS 15] hat, während die Ruhe des Einzelnen, ja auch der Frieden eines ganzen Hauses überhaupt nicht strafrechtlich geschützt wird. Aber auch in zahllosen Fällen, wo der Lärm eine öffentliche Kalamität geworden ist, steht der Rechtsschutz des verworren unklaren § 360, 11, welcher „Lärm und Unfug” zusammenschweisst nur auf dem Papier… Wie grob, schwankend und willkürlich die Anwendung dieses jämmerlichen Übertretungsparagraphen ist, zeigen aufs deutlichste einige Erläuterungen des Olshausen’schen Kommentares[11]. – Die Möglichkeit der Klage ist nach diesen Erläuterungen an eine Unsumme einschränkender, dehnbarer Begriffsbestimmungen gebunden. Es muss erstens festgestellt werden, ob der Lärm „ruhestörend” ist, d. h. ob auch vorsätzliche Verletzung oder Gefährdung der „öffentlichen Ordnung” vorliegt und nicht etwa nur „Fahrlässigkeit” und „Polizeidelikt”. Der selbe Nachweis ist nach der Entscheidung des preussischen Obertribunals auch für das Geltendmachen von § 340, 9 des preussischen Strafgesetzbuches erforderlich. – Leider aber streiten sich nun die Strafrechtslehrer auch um die Frage, ob eine tatsächliche Störung des Publikums durch den Lärm erfolgt sein müsse, oder ob „eine gegen die öffentliche Ordnung gerichtete Handlung, die vermöge ihrer Natur geeignet ist, das Publikum zu belästigen oder zu stören” schon unter Strafantrag gestellt werden kann. Liegt aber kein tatsächlich allgemein anerkanntes, sondern nur „mögliches Ärgernis” vor, so hängt es nur von den Richtern ab, ob sie eben das selbe als „Belästigung” anerkennen, was für mich und andere belästigend zu sein scheint… Zweitens muss auch festgestellt werden, dass der Lärm „vorsätzlich” verübt wurde. Wo z. B. eine bloss „fahrlässige Unterlassung” vorliegt (etwa die, „dass jemand seinen Hahn nicht am Krähen hindert” oder „seinen Hund nicht vom Bellen abhält”), da ist keine Klage auf Grund des Strafgesetzes möglich. Sie wäre nur möglich, wenn mein Gegner seinen Hahn absichtlich krähen lässt oder seinen Hund „zum Bellen animiert.” Dies kann ich ihm aber natürlich niemals nachweisen… Drittens muss die Erregung des Lärms „Ungebührlichermassen” erfolgen. „Ungebührlichermassen” ist aber nicht gleichbedeutend mit „unbefugt“. Sondern es bezeichnet „die unnötig belästigende Überschreitung einer zustehenden Befugnis.” – Was nun aber „befugt” oder „unbefugt”; „gebührlich” oder „ungebührlich”; „nötig” oder „unnötig” ist, das soll hinwiederum von Fall zu Fall das Gericht entscheiden. So wurde in Berlin nach dem Pr.A.L.R. I, 8, § 27 ein Mann bestraft, der eine Maschine aufgestellt hatte, „mit der Absicht seine Nachbarn zu schikanieren”[12]. Ebenso konnte ein Gastwirt, der auf Grund der Gewerbe-Ordnung § 27 nächtliche Tanzmusik veranstaltete, gestraft werden, weil er diese Befugnis bewusst missbrauchte… Es muss nun aber viertens auch die ruhestörende Handlung als „vorsätzlich” nachgewiesen werden. Auch hierbei wird jedoch von den Strafrechtlern darüber gestritten, ob es genügt, zu zeigen, dass der Täter sich bewusst ist, durch seine Handlungen andere Leute zu stören, oder ob diese Störung gewollt und eben als Störung gewollt sein muss. Es besteht mit anderen Worten die Frage, ob der Lärm als culpa oder als dolus strafbar sei. – Einige Autoritäten halten für genügend, dass der Erfolg dem Täter „zur Fahrlässigkeit zugerechnet werden könne.” Andere dagegen halten dafür, dass neben dem Bewusstsein der vorliegenden Ungebühr auch ausdrücklich eine „Vorsätzlichkeit” nachgewiesen werden muss. Die Begriffswelt dieser ganzen juristischen Streitigkeiten ist vollkommen typisch für die kindische, dilettantische Psychologie und primitive Rechtsphilosophie, auf Grund derer heute eben noch Recht gesprochen wird. Endlich ist man auch darüber nicht einig, ob wiederholtes Lärmen als eine oder als eine Mehrheit von Handlungen abzuurteilen sei. Vor allem hängt ein wahrer Rattenschwanz von Streitigkeiten der „Autoritäten” an dem Begriffe „grober Unfug”. Wo beginnt und endet die „Grobheit”? was ist „Unfug”? was „polizeiliche Ungebühr”? Wenn ein Fabrikarbeiter nachts Laternen demoliert, dann ist es „öffentlicher Unfug”, wenn es ein Bonner Borusse tut, dann wird er „in Ungebühr genommen.” Eine Reihe juristischer Kapazitäten betonen, dass der Zweck von Ziff. 11 nicht darin gesucht werden dürfe, „dass sie überall Aushilfe gewährt, wo eine mit der öffentlichen Ordnung nicht verträgliche Erscheinung in irgend einen Kausalzusammenhang mit menschlicher Tätigkeit gebracht werden kann, ohne dass ein spezieller Tatbestand einer strafbaren Handlung sich konstruieren lässt.” Dies würde ja dem Grundsatz widersprechen: „wo kein Gesetz vorliegt, da gibt es kein Vergehen.” – Wir ersehen aus alle diesem, dass das Zusammenwerfen des Lärms mit dem „groben Unfug” in der selben Paragraphennummer (die ursprünglich nichts als die „öffentliche Ruhestörung” treffen sollte), zu dem widerwärtigsten Kuddelmuddel geführt hat! Alle Handbücher des Strafrechts sind angefüllt mit Erörterungen über „das Wesen des groben Unfugs.” – Einer besonderen Popularität erfreut sich dabei die Frage, ob es auch einen „Unfug durch die Presse” gäbe, (denn auch das „straffällige Pressedelikt” fällt – (sehr bezeichnend!) – unter die selbe Ziffer, die den Lärm mit 150 Mark Geldbusse bedroht). Ein Teil der Strafrechtslehrer verneint schlechtweg, dass es anderen „groben Unfug” gäbe als durch physisch lästig fallende Handlungen[13]. Gleichwohl ergehen notgedrungen tagtäglich Verurteilungen auf Grund des § 360, 11, z. B. gegen Verbreiter falscher Gerüchte, schwindelhafter Inserate, mystifizierender Alarme. (Und ich wüsste in der Tat nicht, wie man diese Leute fassen will.) – Liszt insbesondere hat den groben Unfugparagraphen so eng ausgelegt, dass nur Handlungen darunterfallen, die direkt und unmittelbar-physisch die Sinne (d. h. „Geruch, Gehör oder Gefühl“ [sic!]) verletzen. Damit bietet der Paragraph denn überhaupt keine Handhabe, etwa auch Pressschwindler, Pressverbrecher, Mystifikatoren belangen zu können. – Dass dies aber praktisch nötig ist, wird kein gerecht Denkender bezweifeln. Auch die ganz willkürliche Bestimmung, ob Unfug oder Lärm „fahrlässig” oder aber „vorsätzlich” sei, hat sich in der Praxis noch nie durchführen lassen. – Bei einer Verhandlung vor einem sächsischen Gericht wurde entschieden, dass ein Bursche, der auf der Strasse mit einem cri-cri Lärm vollführte, nicht strafbar sei. Es lasse sich kein „eventueller Dolus“ erweisen; man müsse vielmehr annehmen, dass der Bursche „an die Wirkung des Lärms nicht gedacht habe.” Dagegen entschied ein bayrischer Gerichtshof, auf Grund ganz der selben Ziffer, dass ein Mann bestraft wurde, der seinen Hund auf dem Spaziergang nicht an die Leine nahm, denn ein dolus eventualis liege vor, „weil der Mann ja wissen musste, dass der Hund den Verkehr stören werde.”

Ceterum censeo: § 360, 11 ist willkürlich, unbestimmt, praktisch unbrauchbar. Mit den Begriffen „grober Unfug” und „dolus eventualis” verleitet er zu traurigstem Unrecht. Gegen Lärm aber bietet er überhaupt keine Handhabe, oder nur eine so schwache, dass ich jeden warne, auf Grund des Strafgesetzes zu klagen.


3.
Bürgerl. Gesetz § 906 und 907.

Eine allerliebste Erheiterung bietet eine psychologische Entdeckung des deutschen Reichsgerichts. Eine Entdeckung, dank deren der schwache Rechtsschutz, den § 906 und 907 des bürgerlichen Gesetzbuches in einzelnen Fällen geleistet haben, schliesslich völlig totgeschlagen werden kann. – Es ist die richterliche Erfindung des „normalen Durchschnittsmenschen.“ – Diese unbezahlbare Verlegenheitsinstanz muss vor dem deutschen Reichsgericht überall herhalten, wo man das Manko der Gesetzgebung und die traurige Unzulänglichkeit des juristischen Begriffs der „sachlichen Immission” gegenüber hygienischen und physiologischen Schädigungen, noch nicht einsehen und eingestehen will.

*     *     *

Dies erweist z. B. eine (Jurist. Wochenschrift 1904, S. 143 abgedruckte) Letztentscheidung des Reichsgerichts in einem vor dem Landgericht Colmar in zweiter Instanz geführten Prozesse. – Eine Hausbesitzerin führt Klage gegen einen benachbarten Bierbrauer, der auf seinem Grundstück eine Eismaschine aufstellt. Sie weist nach, dass sie durch den Lärm dieser Maschine nervenkrank geworden sei, schliesslich aber gezwungen wurde, ihr für sie entwertetes Haus zu verkaufen. Sie klagt auf Entfernung der Tag und Nacht arbeitenden Maschine oder aber auf Schadenersatz. Die Klage wird in der Berufungsinstanz abgelehnt, die Revision zurückgewiesen. In der Begründung berufen sich die Gerichte, einschliesslich Reichsgericht, auf den im Entwurf zu B.G.B. Bd. 3, S. 267 ausgesprochenen Grundsatz, dass „das Mass des Erlaubten nicht von wechselnden persönlichen Verhältnissen abhängig gemacht werden dürfe.” Eine „nervenkranke Dame” könne daher nicht für die Anwendung des § 906/907 kompetent werden. – Dieser „Grundsatz” ist nun aber nichts als eine dehnbare Phrase. Die Zurückweisung der „nervenkranken Dame” als Klägerin ist schliesslich geradezu eine rechtliche Verunrechtung. Denn wäre die Frau nicht nervenkrank geworden, so hätte sie ja den Schutz des Gesetzbuches gar nicht nötig. Man definiert hier eben einfach den Menschen als „normal”, der den gegebenen Lärm erträgt; weist aber den, der ihn nicht erträgt ab, mit der Motivation, dass er anormal sei oder annormal geworden sei… Ganz der nämliche Rechtskonflikt kam auch bei einem Rechtsfalle zum Austrag, der ebenfalls durch alle Instanzen bis zum Reichsgericht durchgefochten und zuletzt mit der Berufung auf den „normalen Durchschnittsmenschen” totgeschlagen wurde[14]. In diesem Fall wurde ebenfalls gegen das Geräusch einer Maschine geklagt. Ein alter Arzt, der als Sachverständiger zugezogen wurde, sagt aus, dass nach seiner ein Menschenalter umfassenden Erfahrung mindestens ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in der Stadt Dortmund als „nervös” und nicht „normal” zu bezeichnen sei, insofern sie bei dem in Rede stehenden Maschinengeräusch nicht würde schlafen können. Die Klage wird dennoch abgewiesen. Das Reichsgericht entscheidet, dass Bedürfnisse nervöser Personen nicht zu berücksichtigen seien. Da sich nun aber der Kläger dagegen sträubt als „nervöse Person” zu gelten, so beruft sich das Gericht schliesslich auf die Tatsache, dass er bei offenem Fenster zu schlafen gewohnt sei, was ebenfalls als etwas nicht Normales zu bezeichnen sei. – Eine herrliche Rechtsentscheidung! Einen Rechtsanspruch auf den § 906 haben somit also nur „normale Durchschnittsmenschen, die hinter geschlossenen Fenstern schlafen!” Das deutsche Reichsgericht hat bei dieser unsterblichen Entscheidung (vom 30. April 1904, 126/04 V) offenbar allzu ausschliesslich an den deutschen Juristen der Gegenwart gedacht. – „Normale Durchschnittsmenschen, die hinter geschlossenen Fenstern schlafen!“


4.
Die „Ortsüblichkeit” (§ 906).

Wenn der Begriff des „normalen Durchschnittsmenschen”, heller Unsinn ist, so ist der zweite Begriff, auf den sich die Anwendung des § 906 bezieht, der Begriff der „Ortsüblichkeit” noch alberner. – In diesem Begriffe laufen nämlich verschiedene Definitionen durcheinander. Man denkt bei dem Worte „Ortsüblichkeit” einmal an: „Zum Wesen der Sache gehörig.” – Man denkt ein anderes Mal an die „gewohnheitsmässige Gepflogenheit der betreffenden Örtlichkeit.” Dies zeigt z. B. eine urkomische Verhandlung vor Stuttgarter Gerichten, die vor dem Reichsgericht schliesslich zum Austrag kam[15]. Hier klagt jemand, weil sein Grundstück durch den nächtlichen Lärm einer Kegelbahn entwertet werde. In den Urteilsbegründungen kommt die volle Ratlosigkeit der Richter zum Ausdruck. Zunächst wird die Klage abgewiesen mit der Begründung, dass das betreffende Haus in einem Stadtteil liege, wo die Anlage von Kegelbahnen durchaus „ortsüblich” sei. Dies zeige sich daran, dass sich in dem Stadtteil noch drei andere Kegelbahnen befänden. Dagegen macht die Berufungsinstanz jedoch geltend, dass diese Auslegung des Begriffs der Ortsüblichkeit ganz verkehrt sei. Die „Ortsüblichkeit im allgemeinen” käme nur dann in Betracht, wenn gesagt werden könne, dass in der ganzen Stadt oder wenigstens in dem ganzen betreffenden Stadtteil die Benutzung der Grundstücke zur Anlage von Kegelbahnen „die gewöhnliche” sei. Dies aber sei ja doch in Stuttgart nicht der Fall. – Zuguterletzt aber entscheidet das Reichsgericht die Sache sozusagen in der Negative: „eine Ortsunzulässigkeit ist dann als gegeben zu erachten, wenn das betreffende Viertel, wo sich die Kegelbahn befindet, ein ‚herrschaftliches Villenviertel ist’”. (Also ein Viertel, wo reiche Leute wohnen, die ohnehin weniger hygienischen Rechtsschutz nötig haben). Dieses alles ist natürlich heiterster Juristenunsinn. Denn was kann aus diesem Entscheide folgen? Doch wohl nur, dass dort wo eine Kegelbahn lärmt, auch 27 Kegelbahnen lärmen dürfen, wo aber bisher noch kein Gastwirt Konzessionen erhielt, da soll auch künftig keiner Konzessionen erhalten.

5.
Präjudize zu 903, 906, B.G.B.

Ein wahres Unikum ist ein Präjudiz des IV. Senats des sächsischen Oberlandesgerichts aus dem Jahre 1903[16]. Ein Grundstückbesitzer in Laubegast bei Dresden klagt auf Grund B.G.B. § 903, 906 gegen eine Kinderbewahranstalt, die neben seinem Hause einen Kinderspielplatz mit Sandhaufen anlegte. Die Mieter seines Hauses seien durch Lärm und Staub zum Auswandern gezwungen; die Wohnungen entwertet. Die Abweisung der Klage (auch im Instanzenwege) gründet sich auf die Erwägung, dass die Benutzung des Kinderspielplatzes „nach den örtlichen Verhältnissen bei Grundstücken dieser Lage nicht ungewöhnlich und der Lärm und Staub nicht schlimmer sei, als gewöhnlich auf Kinderspielplätzen der Fall zu sein pflege.” – Es werden eine Reihe Zeugen vernommen, die darüber aussagen müssen, ob der Lärm „erträglich” gewesen sei. Einer sagt aus, er sei „unerträglich” gewesen. Drei andere aber bezeugen, „dass er nicht schlimmer war, als die Lage des Grundstücks mit sich brachte.” Die Privata, Auguste, verwitwete G. aber bekundet sogar, dass sie sich über den Lärm gefreut habe, „weil er nicht so klang, wie ungezogene, trotzige oder schmerzempfindende, sondern wie vergnügte und fröhliche Kinder zu lärmen pflegen.“ Was die Klage über den Staub betrifft, so wird sie abgewiesen, „weil die Mieter weniger wegen des Staubes als wegen des Lärms gekündigt haben, die Klage gegen den Lärm aber ja bereits abgewiesen sei.” – Mit diesen Deduktionen werden Berge überflüssigen Papiers verschrieben…

*     *     *

Eine Unsumme nicht minder uferloser Debatten bietet eine Verhandlung, die vor Landgericht München I, vor dem Münchener Oberlandesgericht und schliesslich vor dem Zivilsenat des Reichsgerichts geführt worden ist. Die vage Unmöglichkeit des Begriffs der „Ortsüblichkeit” im § 906 B.G.B. und § 26 der Gewerbeordnung könnte nicht besser als durch die Entscheidung der obersten Instanz illustriert werden, die alle früher in der Angelegenheit ergangenen Urteile wieder aufhebt[17]. – Zu München, in der Nymphenburgerstrasse befindet sich ein Trambahndepot. Die Anwohner werden von morgens 4 Uhr bis nachts 1  Uhr durch Lärm chikaniert. Und zwar (im lieblichen Juristendeutsch gesprochen) 1. durch Manipulationen, wie a) Rangieren auf der Schiebebühne, b) Wegwerfen eiserner Hebel, c) Reinigen der Wägen, d) Umwerfen von Rücklehnen, e) Entfernen von Holztrittbrettern; 2. durch rasches Aus- und Einfahren der Wägen resp. schnelles Passieren der Wechsel; 3. durch häufige Glockensignale. – Bei der Klage der Anwohner dieses angenehmen Depots wird nun von verschiedenen Gerichtshöfen vor allem darüber Erhebung gepflogen, ob der Lärm „ortsüblich” sei, oder nicht. Dabei aber laufen den Richtern zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte wirr durcheinander. Sie denken bei dem Begriffe „Ortsüblichkeit” zunächst an so etwas wie „Wesenszugehörigkeit”, d. h. sie verhandeln darüber, ob all dieser Lärm zum „Wesen” eines Trambahndepots gehöre oder ob er auch eventuell „vermeidbar” sei. Denn ein unvermeidbares, allgemeines Übel ist nach altem Rechtsgrundsatz nicht klagbar. – Zweitens aber dachte man bei dem Begriffe „Ortsüblichkeit” daran, ob man an der betreffenden Lokalität, also in der betreffenden Gegend Münchens, solchen Lärm „gewohnt” sei und „erwarten” dürfe. Man forschte insbesondere danach, ob eine sog. „Prävention des Lärmes” bestanden habe, d. h. ob etwa seit alters an der betreffenden Stelle immer gelärmt worden ist, so dass die sich dort ansiedelnden Leute den Lärm „eben mit in den Kauf nehmen müssen.” Beide Gesichtspunkte laufen den Richtern des bayerischen Landgerichts wie des Oberlandesgerichts durcheinander… Eine Unmöglichkeit, gegen Lärm zu klagen, liegt nach Entscheidung des Reichsgerichts vor, wenn das Stadtviertel, in dem der Lärm stattfindet, „schon seit längerer Zeit als Fabrikviertel bekannt ist.” Die Klage gegen das Strassenbahndepot wird demgemäss auch hier abgewiesen mit der Begründung, dass an der selben Stelle sich schon lange Zeit ein Depot befunden habe. Dies bestätigt das Reichsgericht. – Alle diese Präventionsbestimmungen sind natürlich unwägbar und unsäglich unbestimmt. – Gesetzt etwa, ein altes Pferdebahndepot befindet sich viele Jahre an der selben Stelle. Plötzlich wird der alte Betrieb eingestellt und dafür der elektrische Betrieb eingeführt. Der Grundsatz der Prävention ist somit gewahrt. Aber für die neu in das Viertel Einziehenden ist gleichwohl eine andere Konstellation als die früher bestehende gegeben. Der Lärm ist verzehnfacht. Die Wohnungen verlieren an Wert. Ihre Besitzer aber konnten diese Umwandlungen nicht voraussehen. Will man sich nun gleich dem Münchener Oberlandesgericht auf „Ortsüblichkeit” berufen? Will man ihre Klage für unberechtigt erklären? Dann kann natürlich etwas Ähnliches bei jeder „Ortsüblichkeit” zu erwarten stehn. Jeder Fabrikant, der für eine genehmigungspflichtige Anlage Niederlassungsrechte erworben hat, kann täglich zu neueren Verfahren und anderen Maschinen übergehen. Damit aber kann er den ganzen Charakter seiner Anlage ändern. – Diese Erwägung zeigt also, dass bei Kollisionen der Rechte benachbarter Eigentümer der Grundsatz der Prävention nicht herangezogen werden darf. Wenn ich z. B. ein Grundstück kaufen will, ein anderer aber, der das weiss, kommt mir mit der Erwerbung eines Nachbargrundstücks zuvor, auf dem er, noch ehe mein Kauf perfekt ist, einen „lärmzuführenden Betrieb” anlegt, soll ich da etwa des Schutzes von § 903 verlustig gehen, wonach ich jeden andern unbeschränkt von der Einwirkung auf meine Sache ausschliessen darf? Muss ich die Immission dulden, wenn man mir nachweisen kann, dass, bevor eben ich an dieser Stelle mich niederliess, die mich schädigende Einwirkung schon früher bestanden hat, ohne dass andere Leute sich geschädigt fühlten? Dann gäbe es eben überhaupt keinen Schutz gegen Immissionen. Dann könnte jeder auf seinem „Eigentum” so viel lärmen, skandalieren und Gestank vollführen, wie er will. Er könnte sich darauf berufen, dass das schon immer so gewesen sei und dass mein Vorgänger, der mit ihm befreundete Schlächtermeister X. sich nie darüber beklagt habe. Eben um dieser „faulen Ausrede” willen verfügte das Gesetz, dass der gegenwärtig gegebene Zustand, nicht aber was früher beliebt und historisch gepflogen ist, entscheiden solle. Gegen diese Rechtsverfügung verstösst das deutsche Reichsgericht. Es verstösst dagegen, wenn es Klagen auf Immissionen mit der Begründung ablehnt, dass die den Kläger beeinträchtigenden Anlagen, z. B. die Anlage einer Fabrik, eines Trambahndepots, einer Eisenbahn sich „naturgemäss entwickelt” haben. Damit wird das Klagerecht gar nicht geprüft, sondern abgeschnitten, denn wo immer Störungen auftreten, da haben sie sich selbstverständlich auch „naturgemäss entwickelt“[18].


6.
Gewerbeordnung § 26.

Wir wollen nunmehr sehen, welche Handhaben neben Strafrecht und Zivilrecht schliesslich das Verwaltungsrecht im Kampfe wider den Lärm zu bieten hat. Ich kann auf Grund des § 26 eine doppelte Klage gegen die Lärmstörung einleiten. – Einmal die Herstellungsklage, sodann die Entschädigungsklage. Das heisst einmal die im Eigentumsrecht wurzelnde „dingliche Störungsklage”, die sog. Actio negatoria; sodann die ungleich erfolgreichere „deliktische Schadenersatzklage”. Für die erste kommen folgende §§ des B.G.B, in Betracht: 1004. 1011, 1017, 1027, 1065, 1134, 862; für die zweite der § 823. – Gesetzt nun, ich erhebe den „negatorischen Einspruch” nach § 1004, so heisst das, dass ich die Herstellung von Einrichtungen fordere, die mich gegen Benachteiligung durch Lärm und Geräusch beschützen. Werde ich mit dieser Forderung abgewiesen, dann kann ich immer noch die in der Regel günstigere Klage auf Schadloshaltung für die von mir nachgewiesene Benachteiligung zu führen versuchen… Hierbei kommt jedoch eine wahrhaft teuflische Ironie des bürgerlichen Rechtes zutage. Die Gesetze beschützen und sichern das „Eigentum”. Sie bestrafen in allen Ländern den Diebstahl weit strenger als die Körperverletzung, das Eigentumsdelikt grausamer als die Ehrenkränkung. Sie beschützen die Habenden, die Possessores, aber sie kennen keine Schädigung, die sich nicht auf Schädigung an Geld und Gut zurückführen lässt. Eine Klage wider Lärm und Geräusch kann somit nur dann geführt werden, wenn ich eine bezifferbare Vermögensbeschädigung geltend machen kann; eine Klage wider Immissionen, die meinen „Erwerb” nicht schädigen, würde als „unwesentlich” im Sinne des § 906 zurückgewiesen werden.

Hierzu kommt folgendes unsägliche psychologische Moment: eine Klage nach § 1004 kann nur dann geführt werden, wenn „eine Beeinträchtigung unmittelbar durch die Sinne, nicht aber, wenn sie nur vermittelst des Denkvermögens empfunden wird.” Daher kann ich gegen nicht substantielle Immissionen (z. B. gegen einen benachbarten Bordellbetrieb) auf Grund der Negatoria keine Klage führen… Gesetzt nun, ich reiche gegen sinnfälligen Lärm eine Immissionsklage ein, was wird dann geschehen? Es wird zunächst (bei Klage nach § 26 der Gewerbeordnung) eine Kommission an Ort und Stelle erscheinen. Ein Verwaltungsbeamter prüft nach, ob der Lärm, der meinem Gehirn angeblich die Arbeit erschwert, auch seinem Gehirn das Denken unmöglich machen würde (was aber in der Regel nicht der Fall sein wird). Eventuell kann auch ein medizinischer „Sachverständiger” vom Gericht beauftragt werden, nachzuprüfen, ob das, was mir in die Nase duftet, auch in dem zufälligen Zeitpunkt seines Erscheinens ihm in die Nase duftet, oder ob die grelle Lichtwahrnehmung, die mein Auge schädigt, auch ihm schädlich erscheine. Konstatiert der medizinische „Sachverständige”, dass die „Einwirkungen auf die Sinne” sich wohl „aushalten lassen”, dann ist eine Immissionsklage im Zivilrechtswege überhaupt nicht mehr möglich, denn die Verwaltungsbehörde hat die Macht, nach 19 Abs. 2 und 17, bereits die Klagemöglichkeit niederzuschlagen… Zudem aber liefert die Gewerbeordnung dem vexatorischen Nachbar eine ganze Reihe anderer Handhaben; sie bietet ihm einen Schutz gegen die Klage auf Lärm, nicht aber mir Schutz gegen seinen Lärm. – Der Immittent ist z. B. nicht verpflichtet, mir oder meinen Vertretern Zugang oder Einblick in seinen meine Nervenruhe störenden Gewerbebetrieb zu gestatten. Er kann ferner selbst dann, wenn ein Zivilgericht auf Abstellung einer das Nachbargrundstück schädigenden Anlage erkennen sollte, nochmals den indirekten Einspruch der Verwaltungsbehörde anrufen, die jeder Veränderung im Betriebe seiner Anlage ihre Genehmigung verweigern kann. Da er nicht auf Herstellung konkret bezeichneter Schutzmassregeln verurteilt werden kann[19], sondern nur dazu, „exzessive Immissionen im Sinne von § 906 künftig zu unterlassen”, so kann der Exequend insbesondere die Ausrede gebrauchen, dass sich sein ganzer Betrieb inzwischen vergrössert oder verändert habe, so dass es sich nun nicht mehr um „exzessive”, sondern um „erlaubte” Immissionen handle, worauf die ganze Klage und Untersuchung wieder von neuem losgehen müsste. – In der Regel gelangen daher diese Immissionsklagen nie zu einem Abschluss. Mir ist sogar ein epineuser Streitfall bekannt geworden, in dem ein auf dem Lande lebender Privatmann die dingliche Störungsklage gegen eine benachbarte chemische Fabrik führte, deren Einrede nach 906 abgewiesen und für die eine Betriebsabänderung verfügt wurde, worauf dann die dem Kläger übelgesinnte Verwaltungsbehörde dem Fabrikanten zu ungunsten des Klägers eine Konzession zu dem von der Zivilbehörde verfügten „abgeänderten Verfahren” versagte, wonach – alles beim Alten blieb[20].

*     *     *

Gegenüber diesen Erschwerungen der Klage nach § 26 G.O. verschlägt es nur wenig, dass die Gewerbeordnung im Gegensatz zur Zivilklage nach dem bürgerl. Gesetzbuch nicht nach dem „Verschuldungsprinzip”, sondern nach dem „Veranlassungsprinzipe” verfährt. Das heisst: bei einer Lärmklage auf Grund der Gewerbeordnung wird nicht nachgeprüft, ob der schädigende Eingriff in mein Rechtsbereich irgend ein positives „Verschulden” des Lärmmachers in sich schliesse, sondern nur, ob eine Schädigung und damit eine Verpflichtung zum Schadenersatz de facto vorliegt… Es liegt hier in der Tat ein sehr gewichtiger ethischer Unterschied zwischen Gewerbegesetz und Zivilgesetzgebung vor. Nur ganz ausnahmsweise knüpft das weit modernere bürgerliche Gesetz an „unverschuldete” Schadenszufügung eine Ersatzpflicht. Eben darum aber ist die Lärmklage nach § 906, 907 so vollkommen aussichtslos und unnütz. – Eine Einsicht in die Schädigung, geschweige denn ein Wille zur Schädigung wird ja in all dem ganz natürlichen Gelärme rücksichtsloser, grober, unerzogener Menschen wohl fast niemals nachzuweisen sein. Sie lärmen und leben eben naiv

Selbst dann nun aber, wenn ich meinem Schädiger eine gewisse „Bewusstheit der Schadenszufügung” nachweisen könnte, so böte ihm, in der Vorinstanz wie in der Vollstreckungsinstanz, das bürgerliche Gesetzbuch genug Handhaben, um der Verurteilung nach § 906 zu entgehen. Er kann sich auf Selbsthilfe, gesetzliche Befugnis, gewerbliche Konzessionen berufen. Viele Paragraphen lassen sich zu seinen Gunsten wenden, zumal 906, dann 907-923; ferner 229-231, auch 227, 228 usw. Zur Not wird er den Einwand des eigenen Verschuldens nach § 254 vorbringen können. Er wird sagen, dass ich bei der von der Verwaltungsbehörde nach § 17 G.O. in dem der Konzessionserteilung vorangehenden Administrationsverfahren, zur öffentlichen Kenntnis gebrachten Genehmigung der „lärmzuführenden Anlage“ auf einen mir drohenden Schaden ja „rechtzeitig aufmerksam gemacht worden sei”; damals aber sei kein Einspruch von mir oder sonst wem erhoben worden. Schliesslich vermag er auch die nach § 906 versuchte Klage auf § 826, „illoyale Schadenszufügung” überzuwälzen, wonach er, da ihm keine, Schikane” nachweisbar ist, kaum verurteilt werden kann. Kurz die dingliche Störungsklage wider den Lärm ist so gut wie vollkommen aussichtslos…


7.

Wie aber steht es mit einer „deliktischen Schadenersatzklage”? Auch hierbei wird in der Regel gar nichts herauskommen! Man braucht nur die in der juristischen Literatur vorliegenden Erläuterungen zu § 26 G.O. durchzusehen, um sicher zu wissen, daß man mit einem so subtilen, ungewohnten Klagegegenstand, wie es die Schädigung durch Lärm ist, nichts als ein mitleidiges Achselzucken oder ein Lächeln der Schadenfreude von Seiten der Richter einernten wird. Da heißt es z. B.: „der Beschuldigte ist ausschliesslich verpflichtet, solche Handlungen vorzunehmen, die von jedem vernünftigen und redlichen Menschen zum Schutze des eigenen oder fremden Lebens, Gesundheit oder unter Umständen auch wertvoller Güter in der gegebenen Lage nach den gewöhnlichen und gesunden Verkehrsanschauungen erwartet werden”[21]. So viele Worte, so viele Phrase!! Man sage nur klipp und klar, ob die normale Arbeitskraft meines Gehirns für Deutschland ein minder wertvolles Gut ist, als die Saugpumpe im Hofe eines Schnapsbrenners. Man sage mir, wie denn „gewöhnliche und gesunde Verkehrsanschauungen“ eigentlich aussehen, wie der „vernünftige und redliche Mensch” eigentlich beschaffen ist. Auch sollte man doch bedenken, dass das, womit der Mensch „fremdes” Leben vernichtet, nahezu immer zur Hebung seines eigenen Lebens unternommen wird…

Bei jeder Klage nach § 26, die voraussetzt, dass dem Immittenten die gewerbepolizeiliche Konzession zur Seite steht, ist von besonderer Wichtigkeit dieses, dass ich nur auf zweierlei einklagen kann: 1. auf Herstellung von Einrichtungen, die den Lärm mildern, 2. auf Schadloshaltung für den durch Lärm erlittenen Schaden. Dahingegen kann ich nicht auf „Einstellung des lärmenden Betriebes” klagen. Eben dieser Umstand, dass die „Klage auf Unterlassung” im modernen Rechte beseitigt ist und durch die Klage auf „Herstellung praktikabler Einrichtungen” ersetzt wurde, stellt einen tiefen Eingriff in das Eigentumsrecht dar. Der lärmende Immittent wird auch im Falle der Verurteilung lediglich verpflichtet, „tunliche Schutzvorrichtungen” durchzuführen. Mir, dem Kläger aber wird anheimgegeben solche Vorrichtungen ausfindig zu machen, die mich vor dem Lärm schützen, ohne doch meinem Gegner irgendwie wehe zu tun. Jeder meiner Vorschläge kann aber durch einen von meinem Gegner hinzugezogenen „Fachmann” abgelehnt werden. So wird denn selbst mit der Verurteilung zu praktikabeln Einrichtungen nach § 26 G.O. praktisch gar nichts erreicht sein…

*     *     *

Wofern nun die „praktikablen Einrichtungen” sämtlich „untunlich” befunden werden, so kann ich freilich zu der zweiten Forderung auf „Entschädigung” übergehen, ohne dass dem Gegner der Einspruch der Klagänderung zusteht.[22][WS 16] Nunmehr aber kann der Gegner zunächst mit Erfolg nur für die „pro futuro zu erwartenden” Schädigungen mir einen Ersatz einräumen; in diesem Fall ist er nicht verpflichtet, für den vor Erhebung der Lärmklage erlittenen Schaden irgendwie aufzukommen[23]. Da nun gerade bei Lärm die „Nachweisbarkeit künftiger Vermögensbeschädigung“ nicht möglich ist, andererseits die Klage auf „praktikable Einrichtungen”, wie wir gesehen haben, faktisch ohne Erfolg bleibt, so bietet die Gewerbeordnung überhaupt keinen Rechtsschutz wider den Lärm. Was auf dem Papier der Gesetzbücher steht, ist dem gegenüber ganz belanglos. Das ist nur die Rechtskulisse. Die nackte Wahrheit ist unsere absolute Ohnmacht und Schutzlosigkeit gegen den Lärm. Es ist somit schliesslich unter allen Umständen nur unweise, gegen ihn Klage zu erheben. Denn: ubi nihil vales, ibi nihil velis[WS 17]

8.
Negatoria und Inhibierungsklage.

Eine wesentliche Abänderung erfährt die Lärmklage, wenn es sich nicht um einen der durch die Gewerbeordnung konzessionierten lärmenden Betriebe handelt. In diesem Falle kann ich mich nicht auf § 26 G.O. beziehen; aber ich kann die bereits erwähnten Klagen nach § 906 oder nach § 823 zu führen versuchen; zugleich aber habe ich in diesem Falle auch die Möglichkeit nach § 907 auf Inhibierung zu klagen… Mit anderen Worten: ich kann wofern ich nicht auf die Gewerbeordnung mich zu beziehen brauche, gegen den Lärm im Zivilprozess vorgehen: 1. durch Herstellungsklage, 2. durch Leistungsklage, 3. durch Inhibierungsklage. – Ich fordere dann also, dass entweder Schutzvorrichtungen wider den Lärm getroffen werden (§ 906), oder dass man mich für erlittenen Schaden schadlos hält (§ 823), oder dass der lärmende Betrieb vollständig inhibiert werde (§ 907). Diese letztere Forderung ist, wie wir sahen, bei einem gewerbepolizeilich konzessionierten Betriebe nicht möglich, wenigstens dann nicht, wenn die von den Verwaltungsbehörden vorgesehene Präklusivfrist (G.O. § 17) ohne Klagestellung einmal verstrichen ist. Endlich aber steht mir auch bei einer Lärmklage auf Grund des Sachenrechtes die berühmte actio negatoria, der § 1004 B.G.B, hilfreich zur Seite… Indessen dieses alles sind Truggebilde, sind ganz leere Hoffnungen. Auch alle diese Paragraphen werden mich in der Regel vollständig schutzlos lassen. – Man sollte freilich annehmen, dass wenigstens die Klage auf Grund des blossen Einspruchparagraphen (907) irgendwelchen Erfolg hätte, da mit ihr keinerlei Absicht auf Schadenersatz oder Bestrafung verbunden ist, sondern lediglich die Abstellung einer mein „Eigentum” schädigenden Einrichtung ambiert wird. Aber hier hängt eben alles an der beschränkten Fassung des juristischen Begriffes vom „Eigentum”. Man wird mich nur dann zur Klage zulassen, wenn ich ein im Grundbuch eingetragener Hausbesitzer bin, „dem aus der Zuführung von Geräuschen eine dauernde Schädigung erwächst“. Damit ist die Klasse von Menschen, deren Gesundheit gegen Lärm geschützt wird, von vornherein eng umgrenzt, es sind nur die „Eigentümer”. Der Begriff „Eigentum” aber, der im Lauf der Generationen eine merkwürdige psychologische Umwandlung erfährt, wird in der Rechtsprechung heute noch so plump gefasst, dass alles vom „Eigentum” ausgeschlossen bleibt, was ein Land- oder Amtsrichter nicht tasten, sehen, riechen und schmecken kann. Meine Geisteskraft, meine Gesundheit, der Schlaf meiner Nächte ist ja auch „Eigentum”, aber dies alles wird nicht als Eigentum geschätzt und anerkannt. Eine reale Sachbeschädigung dagegen, eine Entwertung des Besitzes durch benachbarte Dunggruben, Aborte, Häute- oder Knochenlager, Schweineställe, Schlächtereien, Färbereien, Ziegelöfen usw. ist in zahlreichen Fällen nach 1004 und 907 klagbar, einfach darum, weil ich den zugefügten Schaden in Geld oder Geldeswert dem Gerichte ad occulos demonstrieren kann. Bei dem aber, was ich „hygienische Delikte” nannte, ist das ja nicht möglich. Ich kann mich nicht vor Gericht darauf berufen, dass mein Gehirn herabgedrückt werde, dass meine Nervenzellen überlastet sind, dass sich meine geistige Arbeit verschlechtere, ja dass meine ganze individuelle „Eigentümlichkeit” vernichtet werde. Und doch liegt hier eine „Eigentumssphäre”, die unvergleichlich wichtiger und des rechtlichen Schutzes bedürftiger ist, als irgend ein Geldschrank und irgend eine Aktionärskasse. Hier offenbart sich noch die ganze Plumpheit des gegenwärtigen juristischen Eigentums- oder Sachbegriffes. Das geltende Recht wird zum Beschützer des gröbsten Besitzes. – Wenn es etwa einem Milliardär einfiele, sämtliche Bilder Zurbarans aus ihren verborgenen Bergklöstern aufzukaufen oder die gesamte geistige Hinterlassenschaft Moreaus an sich zu bringen, um diese unschätzbaren Kulturwerte dem Menschengeschlecht vorzuenthalten oder gar um sie zu verbrennen, so würde das „Recht” vollkommen auf seiner Seite stehen. Das aber sähe man nicht, dass durch diesen Schutz des „Eigentums” eine weit tiefere und wichtigere Art von „Eigentum” vergewaltigt wird: Das Eigentum aller derer, die sich diese Kunstwerke zu „eigen” machen, die sie in viel höherem Masse „besitzen” und zu „eigen haben” als der Mensch, der mit ihrer stofflichen Existenz dank seiner Kapitalmacht anfangen kann, „was ihm beliebt”. Wenn der Sozialist oder Kommunist das blinde Verfügungsrecht über Sachen bestreitet, so gilt er als „Vernichter des Eigentums”, ohne dass man bemerkt, dass er nur den verfeinerten Eigentumsbegriff gegen den gröberen ausspielt… Bei der Negatorienklage wider Lärm kann sich der Immittent sogleich auf § 906 zurückziehen, wonach die Immissionsklage unzulässig ist, wenn ich keine Schädigung meines Eigentums erweisen kann. Glückt es ihm aber mit der Berufung darauf, dass keine „Schädigung des Eigentums” vorliege, nicht, so steckt sich der Beklagte hinter § 17 ff. der Gewerbeordnung oder er weist nach, dass die Immission von Lärm „nicht wesentlich” sei (§ 906) oder endlich, dass sie den „ortsüblichen Gepflogenheiten” entspräche. Damit ist der Fall eben erledigt. Gegen psychologisch ungeklärte, vage Begriffe wie „Ortsüblichkeit”, „Eigentum”, „Wesentlichkeit” und „Unwesentlichkeit” kann keine Logik der Erfahrungen und Tatsachen aufkommen! Man kann jede Belästigung durch Lärm und Geräusch eben damit rechtfertigen, dass sie der „Ortsüblichkeit” und den „Gepflogenheiten menschlichen Verkehrs” entspräche und dass kein „wesentlicher Eingriff in fremdes Eigentum” darin gefunden werden kann…

Ein konkretes Beispiel für die Aussichtslosigkeit der Negatorienklage gegen Lärm bietet folgende interessante Entscheidung des Reichsgerichts (Seuff. A., Bd. 45, Nr. 240). Die jüdische Gemeinde in Halle a. S. hatte seit 50 Jahren ihren Tempel auf einem Grundstück stehen, dessen Besitzer neuerdings eine Böttcherei anlegte. Dadurch wird die Benutzung des Tempels unmöglich, der Gottesdienst wesentlich gestört. Die Gemeinde klagt auf Untersagung des Lärmens. Der Kläger erwidert, dass die Gemeinde beim Bau der Synagoge dafür habe Sorge tragen müssen, dass der Gottesdienst nicht durch Lärm gestört werden könne. Daher sei sie selber an der Störung schuld. Die erste Instanz verurteilt den Besitzer der Böttcherei. Die Berufungsinstanz spricht ihn frei. Das Reichsgericht entscheidet im Sinne der Berufungsinstanz. In der Begründung heisst es zunächst, dass in der Tat „nicht bloss die Immission körperlicher Stoffe, sondern auch die Erregung von Lärm, wenn das Mass des Erträglichen und Gemeinüblichen überschritten wird, zur Anstellung der Negatorienklage berechtigen kann.” Wo aber „das Mass des Erträglichen und Gemeinüblichen” eigentlich liege, sagt das Reichsgericht nicht[24]. Dann aber heisst es weiterhin: „Wer grösserer Ruhe bedarf als gewöhnlich ist und als ihm durch die aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen fliessenden gemeinüblichen Störungen gewährt wird, hat selber für die Befriedigung dieses aussergewöhnlichen Bedürfnisses zu sorgen und kann nicht verlangen, dass seine Nachbarn sich in dem Recht auf die gemeinübliche Nutzung ihres Eigentums Schranken auferlegen.” – Ein schlimmeres Armutszeugnis als die Berufung auf „Gewöhnlichkeit” und „Gemeinüblichkeit“ darstellt, kann sich die oberste Rechtsinstanz nicht ausstellen. Sie soll ja ihrerseits erst normieren, was „gemeinüblich“ werden soll. Sie kann also nicht, während sie ethische Normen durchzusetzen hat, diese Normen wiederum auf die gegebene Tatsache gründen! Das wäre eben ein verschleierter Rechtsbankrott. – Und was ist denn schliesslich „gewöhnlich” und „gemeinüblich”? Der Lärm, der etwa in Berlin auf der Friedrichstrasse als „gemeinübliche Störung” zu legitimieren wäre, kann doch nicht bei Abhaltung eines Gottesdienstes als „gemeinüblich“ hinzunehmen sein…

*     *     *

Dass nun in der Tat das ganze Gerede von „gemeinüblich”, „normal”, „wesenszugehörig” und „gewöhnlich” von Fall zu Fall eine immer wieder wechselnde Ausdeutung zulässt, zeigen alle Negatorienklagen wider Lärm, so viele das Reichsgericht bisher zu entscheiden hatte. Einmal wurde vom Reichsgericht sogar zugegeben, „dass auch das Bedürfnis nervöser Personen zu berücksichtigen sei” (Seu. 52, 146). Ein anderes Mal wurde der Eisenbahnfiskus auf Schadenersatz verurteilt, weil ein Grundstück durch den Lärm entwertet wurde, den die Züge beim Fahren über einen Wellblechviadukt vollführten (49, 236). Dann aber wird freilich hinwiederum in viel ablehnenderem Sinne dahin entschieden, dass Dampfdreschereien auf dem Lande geduldet werden müssen und ihr Lärm nicht klagbar sei (48, 247 und 42, 100). – Vor dem Oberlandesgericht Braunschweig wurde 1888 der Besitzer des Sommertheaters verurteilt, dass er bei Vermeidung von 300 Mk. Geldstrafe das Eindringen unnötigen nächtlichen Lärmes in die Nachbarhäuser verhindern müsse (44, 6). Im ganzen zeigte die moderne Rechtspflege jedenfalls einen anwachsenden Fortschritt in der Behandlung der Negatorienklage gegen Lärm. Das wachsende Bedürfnis nach Ruhe und die steigende Unrast und Unruhe des modernen Lebens führte ganz von selbst dazu, dass der Lärm in die Reihe der klagbaren Delikte aufgenommen wurde. Das wird besonders einleuchtend, wenn man die erwähnten neuesten Entscheidungen des Reichsgerichts z. B. mit einem Verdikte des obersten Gerichtshofes aus dem Jahre 1857 vergleicht (Seuffert 12, 123). Hier wird eine Lärmklage gegen eine Eisenbahngesellschaft noch kurz und bündig mit folgenden lapidaren Worten abgewiesen: „Der Lärm und das Getöse, das jemand auf seinem eigenen Grundstücke verursacht, wäre es auch noch so gross, gewährt dem Eigentümer des benachbarten Grundstücks nicht einen zivilrechtlichen Anspruch.” – Es ist wichtig, auf diese Veränderungen in der Justiz hinzuweisen, weil daraus hervorgeht, dass auch weitere Veränderungen der Rechtspflege möglich und wahrscheinlich sind. Ausdrücklich hat neuerdings das Reichsgericht anerkannt, dass die Abwehrklage gegen den Lärm eine moderne Notwendigkeit geworden ist (Seu. 38, 7 und 9). In einem Frankfurter Klagefall wird vom Reichsgericht konstatiert, dass „ursprünglich”, mit der Negatoria oder Confessoria im römischen Prozess der Lärmschaden nicht hätte belangt werden können, dagegen habe „ein moderneres Rechtsbewusstsein zweifellos einen Schadenersatz für den durch Lärm und Geräusche erlittenen Schaden zu garantieren [25]. – –

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Eine eigenartige Tragik des Lebens liegt darin, dass nicht nur Freundschaften, sondern auch Gegnerschaften zu einem Stück unseres Lebens werden, dass man sich alledem anpassen und angleichen muss, was man verachtet und überwinden will; dass auch unsre Feinde untrennbar in unser Leben eingehn dürfen, und jegliche Macht nur besiegt und widerlegt werden kann, indem sie mit ihren eigenen Waffen bekämpft wird. Wie man nach altem Volkswort einem Schuften anderthalbe entgegensetzen muss, so kann man niemandem und nichts mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten, wenn man nicht sein Lebensniveau begreifen und mitmachen und die verachteten oder unrechtmässigen Kampfmittel selber verwenden will. Man kann nicht Verlogene mit Wahrheit, nicht Unmündige mit Lebenserfahrung, nicht Verliebte mit Erkenntnistheorie „widerlegen”. Wer also gegen den Lärm kämpft, der muss Lärm schlagen. Wer in dem allgemeinen Geschreie und Getöse gehört will werden, der muss es noch zu überschreien und zu überlärmen suchen, auch dann, wenn er nichts anderes zu lehren hat, als dass Lärmen und Schreien gemein und unsittlich sei. Dies mag mich zu entschuldigen versuchen gegenüber denjenigen, welche zweifellos finden werden, dass dies Buch zu laut und tumultuös gehalten ist. Ich habe es unter Hemmungen geschrieben. Ich schliesse es ohne Hoffnung, dass es viel nützen wird. Denn ich bin gewiss, dass der Lärmteufel, der mein Leben so oft zur Tortur gemacht hat, mir bis zum Tode treu bleiben wird, treuer sicherlich und zuverlässiger als die sogenannten „Nächsten” gewesen sind. Wenn der Kampf zu Ende gehn und ich im Fieberschweiss liegen werde, wo vielleicht noch einmal fester Schlaf frische Kraft zuführen und mich herausreissen könnte, dann wird zweifellos der Hund des Nachbarn die Nacht durchheulen, dann werden, ich weiss es gewiss, Meyers gerade das unaufschiebbare Reinemachen haben und bei Kanzleirats die elektrischen Läutewerke repariert werden müssen. Oder, es wird Festtag sein, wo „die eisernen Hunde der Luft” ihre mächtigen Zungen rühren. Meine Nachbarin wird Sonaten üben. Und der Bäckerjunge und die Gemüsefrau werden just vor meiner Kammertüre sich begegnen und einen notwendigen Austausch ihrer Seelen beginnen.

Kurz, ich weiss nicht, was sein wird, noch wie es sein wird. Aber Lärm wird sicher dabei sein. Ich werde mich nicht mehr wehren, sondern nach der Wand kehren, und auch testamentarisch keine andere Bitte mehr hinterlassen als die, dass an meinem Grabe nicht etwa noch ein Böller abgeschossen wird.

Zusätze.

1. Lärm und Webersches Gesetz.

Die Tatsache unserer Anpassung oder Gewöhnung an Schallreize der Umgebung verbirgt eine ganz eigentümliche Beziehung zum Weberschen Gesetz. Der Inhalt dieses Gesetzes ist der folgende: Wir sind nie für die absolute Grösse von Reizen empfänglich, vielmehr nur für den Unterschied eines uns gegenwärtigen Reizes gegen einen früheren. Damit daher Schallempfindungen zu doppelter Stärke anwachsen, müssen ihre äusseren Veranlassungen in weit rascherer Proportion, als der der einfachen Verdoppelung zunehmen! – – Das Wahrnehmen der Reize – (das ist nur eine andere Wendung des Weberschen Gesetzes) – entzieht somit dem objektiven Reize Wirkungsfähigkeit oder „Energie“. Im selben Masse als der Schallreiz bewusst gemacht und apperzipiert wird, stumpfen wir uns gegen die schädigende Wirkung seiner äusseren, objektiven Veranlassung ab. – Der eigentliche Kern dieses Gesetzes ist das, was ich „Gesetz der Entwirkung“ benenne. („Schopenhauer, Wagner, Nietzsche” S. 107-115. „Bühnenästhetik“ S. 57-60. „Der Bruch Kants“ § 22.) Für den Lärm aber wird nun die dauernde Abstumpfung des Menschen vermöge quantitativer Häufung von Geräuschwahrnehmungen dadurch bestätigt, dass wir bei Nacht unzählige Töne, Klänge und Klanggeräusche wahrnehmen, die während des Tages in dem beständigen dumpfen Lärme untergehen. Es handelt sich hier um eine normale Erschöpfung der Unterschiedswahrnehmung infolge der gehäuften Fülle unserer Wahrnehmungsobjekte. Man kann das als die normale „Abstumpfung aus Überreizung” bezeichnen.


2. Primäre und Verschmelzungsgeräusche.

Die Psychologie macht einen theoretischen Unterschied zwischen primären und Verschmelzungsgeräuschen, der für unsere Untersuchungen über den Lärm von grosser Wichtigkeit ist. Unter „primären Geräuschen” versteht man komplexe Geräuschempfindungen, die nicht in differente, einfache und regelmässige Schwingungsfolgen im Ohre zerlegt werden. Man nimmt an, dass bei Individuen, denen keine komplizierte Schneckenmembran gegeben ist, „solche Geräuschempfindungen vorkommen, aber man bezweifelt, ob der Mensch solche unzerlegte komplexe Geräuschempfindungen haben kann. Als „Verschmelzungsgeräusche” dagegen bezeichnet man akustische Gesamtvorgänge, die nicht in sich differenziert sind, sondern durch das Zusammentreffen, Sichdurchkreuzen und Sichstören differenter Tonempfindungsvorgänge entstehen. Die Verschmelzungsgeräusche sind also ungeordnete Erregungszustände des Gehörs. Dass nun aber überhaupt eine Verschmelzung aller auf uns einbindenden Töne im Bewusstsein stattfinden muss, erklärt man aus der „Enge des Bewusstseins”, d. h. aus der Unfähigkeit des Bewusstseins, vielerlei Inhalte gesondert nebeneinander zu gleicher Zeit bestehen zu lassen. Geschieht nun die Verschmelzung akustischer Elementarempfindungen mühelos, so entsteht der „Klang”. Ragt unter den Tönen einer an Stärke besonders heraus oder sind einzelne dabei, die zu einfachem Klang verschmelzen können, so entsteht das „Klanggeräusch”, ist dagegen die Verschmelzung eine blosse „Zusammenschüttung”, dann sprechen wir schlechthin von „Geräusch”, und eine Gleichzeitigkeit vieler Geräusche nennen wir „Lärm”. – Obwohl somit psychologisch die Lärmempfindung ein letztes Ergebnis vieler Wahrnehmungsvorgänge ist, nimmt man an, dass sie entwickelungsgeschichtlich das Erste sei und viel früher da war als die Empfindung von Klang und Einzelton. – Alle diese Tatsachen der Tonpsychologie sind freilich mit äusserstem Misstrauen aufzunehmen. Denn neben der Tendenz zur Verschmelzung gleichzeitiger Tonempfindungsinhalte steht (wenigstens unserer Selbstbeobachtung nach) die ganz spontane Tendenz, jedes komplexe akustische Gebilde zu zerlegen. Es ist eine sehr merkwürdige Selbsterfahrung, dass Geräusch und Lärm am quälendsten sind, wenn man keine Möglichkeit besitzt, ihre Komponenten zu unterscheiden und isoliert zu objektivieren. Indem ich Lärm höre, ertappe ich mich auf unbewussten „beruhigenden Orientierungen”. Zwangsweise automatisch wird jeder Lärm, wenn er überhaupt wahrgenommen wird, auch schon analysiert. „Das ist die Säge.” „Das da der Hund.” „Das ist die elektrische Bahn.” „Das sind Vorübergehende.” „Das ist Maschinengeräusch”. Sobald nun aber in den mich umbrandenden Tagesgeräuschen etwas Fremdartiges noch so leise auftritt, etwas, dessen Herkunft und Natur ich nicht begreife, so erleide ich eine sehr qualvolle Unterbrechung in meiner normalen Anpassung an den Umgebungslärm. – Die Geräusche in einer ungewohnten Umgebung sind nur darum quälend, weil man sie noch nicht analysiert hat.


3. Lärm und motorische Vorstellung.

Der Tatbestand, dass man die vorwiegende Empfänglichkeit für akustische Wahrnehmungen mit der Empfänglichkeit für motorische Wahrnehmungen stets vereint gefunden hat, besitzt tiefe Bedeutung. Hinter allem Lärm nämlich stehen direkte oder indirekte „Ausdrucksbewegungen”. Überall dort also, wo Verständigung und Einfühlung der Menschen vorwiegend durch körperliche Akte, Gesten und Symbole vermittelt wird, muss auch der Lärm besonders gross sein. Diese motorische Seite des Lebens aber ist vor allem bei Kindern und Naturvölkern noch vorwiegend. Damit hängt zusammen, dass auf primitiven Lebensstufen jede motorische Vorstellung in motorische Akte übergeht, jedes Vorstellen von Bewegung alsbald den Impuls zu Bewegungen nach sich zieht. Es fehlen hier noch die motorischen „Hemmungen”. Man lebt im Zustande allgemeiner, gegenseitiger, motorischer Mitahmung. Jeder will auf den anderen „Eindruck” machen; jeder für den anderen Autorität und „Vorlage” sein. – Es ist nur eine andere Umschreibung der selben Tatsache, wenn man sagt, dass der primitive Mensch ein „Spieler”, der kultivierte aber ein „Arbeiter” sei. Alles Lernen und Arbeiten auf primitiver Stufe ist spielende Mitahmung. Aber eben dieses allgemeine spielende Vergeuden des Lebens ist ungleich lauter und lärmender als jede ökonomisierte Arbeitskultur. Das Getöse unserer Werkzeuge, Apparate und Maschinen darf uns somit nicht darüber täuschen, dass der Lärm kein Signum von Arbeit ist, keine „notwendige Begleiterscheinung” unserer gebundenen, mechanisierten Lebenshaltung, sondern der primitive Ausdruck ernstlosen, willkürlichen und zufälligen Spiels.


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Anmerkungen

  1. Hierüber s. mein Buch: Hypnose und Suggestion S. 35.
  2. Als ich in die Wasserstadt Venedig kam, glaubte ich in ein Reich der Totenstille zu kommen, dachte, ein „buontempone” zu werden und endlich einmal entrückt zu sein alle dem Lärm und Geruch unseres Strassenverkehrs. Aber nirgendwo habe ich solche Schreihälse, solche Schmutzfinken wiedergesehen.
  3. Ich verdanke die angeführten Briefstellen der Güte Robert Vischers in Göttingen.
  4. Erst in jüngster Zeit ist uns gelungen, die Arbeit zu messen, die ein perzipierter Ton auf das Trommelfell ausübt. Es wurde gefunden, dass bei einem sehr lauten Ton diese Arbeit etwa ein tausendstel Erg beträgt, dass man aber auch bei einem milliontel Erg noch deutliche Tonempfindungen hat.
  5. Die Apperzeption der Einzeltöne, die uns die „Klanganalyse” vermittelt, kann sogar zur apperzeptiven Manie werden. Wenn ich mich lange geübt habe, Geräusche in Einzeltöne zu zerlegen, so stellt sich die „Disposition” ein, jedes in der Umgebung auftauchende Geräusch mir bewusst zu machen.
  6. Die Bezeichnungen Ton, Klang und Geräusch habe ich in dieser Arbeit nicht streng gegen einander abgegrenzt, – denn es war für ihren Zweck durchaus unnötig. – Im übrigen bezeichnet man als „Ton“ nur die akustische Elementarempfindung. [38] Als „Klang” ein aus „Teiltönen” zusammengesetztes akustisches Gebilde, dessen „Farbe” von der Intensität der es zusammensetzenden Teiltöne abhängig ist. Als „Geräusch” eine Folge von Tönen, die entweder hinsichtlich der Schwingungszahl differieren, oder einen sehr schnellen, unregelmässigen Wechsel der Tonhöhe aufweisen (wie z. B. das Heulen des Windes, das Plätschern des Wassers), oder von denen jeder einzelne Ton nur ganz kurz andauert.
  7. Hierzu: Hypnose und Suggestion S. 19-30.
  8. Eine besondere Sorte des Reiselärms möchte ich wenigstens in Form einer Anmerkung gerügt haben, ich meine die grauenhafte Unruhe in den Korridoren der Gasthäuser und Hotels, die das Reisen zur Tortur macht. Und doch wäre ein grosser Teil dieser Hotelgeräusche bei gegenseitiger Rücksichtnahme wohl vermeidbar! So fand ich z. B. in einer Stadt mittlerer Grösse einen Gasthof, in dem keinerlei lautes Läutewerk in Gebrauch war, sondern von jedem Zimmer aus ging ein Haustelephon zur Portierloge. Der Portier nahm alle Wünsche der Gäste in Empfang und vermittelte sie durch stummes Signalwerk weiter an Stubenmädchen, Hausburschen oder Kellner. – Ich will an dieser Stelle auch eine Unsitte erwähnen, die einer ganz anderen Sphäre von Lärmstörungen zugehört: das „Beifalltrampeln” mit den Füssen, wie es noch überall auf Universitäten üblich ist. Durch dies Scharren und Trampeln wird unnütz Staub und Schmutz aufgewirbelt, so dass die Unart nicht nur das Ohr schikaniert, sondern schlechtweg hygienisch gefährlich wird.
  9. Es möge zu Ehren der guten Stadt Liegnitz vermerkt sein, dass inzwischen ihr furchtbares Glockenspiel in den Nachtstunden zwischen 10 bis 6 Uhr abgestellt wurde.
  10. Auf den böhmischen Bahnen fand ich in den Kupees folgende Verfügung in deutscher und böhmischer Sprache aushängen: „Das freie Ausspucken ist strengstens verboten. Zuwiderhandelnde werden nach der Ministerialverordnung vom 30. September 1857 R.-G.-Bl. 198 mit Geldstrafen von 2 bis 200 Kronen oder mit Arrest von 6 Stunden bis 14 Tagen bestraft.” – Diese Strafe ist viel zu niedrig. Ähnliche Verordnungen aber sollten im Hinblick auf die Tuberkulosegefahr für alle Bahnen gelten, nicht bloss in Böhmen. – In bezug auf die Gefahren durch Polstermöbel möchte ich noch folgendes bemerken: Es gibt kein anderes Land, in dem eine edle Tradition so sehr der Hygiene im Wege steht, wie in Deutschland. Gerade in der besten Kulturgesellschaft, insbesondere auf den Schlössern des Adels ist der Hausrat mehr oder minder „historisch”. Man erschrickt, wenn man die Stillosigkeit berühmter Paläste betrachtet. Zwischen Ahnenbildern in vergoldeten Rokkokorahmen hängt das Telephon; hohe Säle voll unpraktischer Meubels; Säle, in denen alte Vitrinen und ungeheuere Kachelöfen stehn, durch Dampfheizung erwärmt, die heimlich hinter den alten Gobelins und Draperien der Wände verborgen liegt. Ein Parvenü in Nordamerika ist komfortabler, stilvoller und vor allem hygienischer eingerichtet als unsere vornehmsten Adelsgeschlechter in Ostpreussen, Brandenburg, Böhmen oder Ungarn. Sie leben mehr in einem Museum als in Arbeits- und Wohnräumen, als Diener ihrer Geschichte, als Diener der Ehrfurcht gegen tote Jahrhunderte.
  11. Vergl. Bd. ;II, S. 1398 ff., T. II, Absch. 29 zu § 360 Nr. 11. Ich konnte leider nur nach der 3., statt der sehr erweiterten 7. Auflage zitieren
  12. Heute würde vermutlich, da § 27 L. R. seit 1900 nicht mehr gilt, der berühmte Schikaneparagraph (226 B. G.) herangezogen werden. Dazu Schadenersatz nach 823, 826.
  13. z. B. Bar, Frank, Liszt. H. Meyer.
  14. Juristische Wochenschrift XXXIII, S. 384. Ziff. 6.
  15. Juristische Wochenschrift XXXIII, S. 175.
  16. Abgedruckt in den Annalen des kgl. sächs. Oberlandesgerichts Bd. 25. S. 515-518
  17. Abgedruckt in den Entscheidungen des Reichsgerichtes in Zivilsachen Bd. 57. S. 224-231.
  18. Hierzu Turnau und Förster, Liegenschaftsrecht Bd. 1, S. 285, Bem. 3, Abs. 2. Gruchot, Beiträge Bd. 25, S. 960, Bd. 2, S. 905. Seuffert, Archiv Bd. 46, S. 390. Brassert, Z. Bergr. 42, 332.
  19. R. G. 36, Nr. 42.
  20. Hierzu Gallenkamp, „Der privatrechtliche Inhalt der §§ 17, 19 und 26 der Gew.O.”, Sächs. Archiv f. bürgerl. Recht Bd. 1, 1891, S. 705–731. – Gallenkamp führte aus, dass die Verfügung einer Instanz, entweder der Verwaltungsbehörde oder des Gerichts genüge, um das Bestehen genehmigungspflichtiger Anlagen zu hindern. Wir sehen in der Praxis, dass die Verwaltungsbehörde genug Wege besitzt, um sich über privatrechtliche Verfügungen hinwegzusetzen.
  21. Hierzu 823 B.G.B.; § 303 ff., St.G.B; auch 826 B.G.B
  22. Hörle, Verwaltungsarchiv 1902, S. 386.
  23. Rocholl, Rechtsfälle aus der Praxis des Reichsgerichts 2, 379 ff. Dazu: Seuff. A. 60, Nr. 218.
  24. Gruchot, Bd. 27, K. 905. Seuffert, Bd. 38, Fall Nr. 7.
  25. Ich bezweifle freilich, dass diese Meinung des Reichsgerichts über die Rechtsentwicklung historisch haltbar ist. Die Pandekten[WS 18] kannten in der Tat schon einen ausdrücklichen Schutz gegen Lärm. Das bestätigt Dernburg, Pand. § 199; Ihering, S. 111 ff.; Windscheid, Bd. 1, § 169. Spangenberg erhebt dagegen Widerspruch… Ich finde in einem Buche, „Gesundheit und Erziehung” von G. Stricker die Angabe, dass im alten Rom kein Kupferschmied in eine Strasse ziehen durfte, wo ein „Professor” wohnte; dies sei auch in den Pandekten verfügt. Vermutlich handelt es sich um irgend eine der zahllosen lokalen Bauordnungen und lokalen Gebäudeservituten der Römer (Dernburg I, 587). Bei den mir zugänglichen Pandektisten fand ich wenigstens, trotz fleissigen Durchforschens der Berliner Universitätsbibliothek, nirgend eine Verfügung dieser Art vorgetragen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der weitere Inhalt von Band 9 ist nicht transkribiert. Die typographische Vielfalt dieser einen Seite ist nicht in allen Details wiedergegeben.
  2. Vorlage: im
  3. Vorlage: Hellig-
  4. Vorlage: in mit
  5. Vorlage: psychischem
  6. ein mit ”1.” bezeichneter Abschnitt ist nicht vorhanden.
  7. ein mit ”1.” bezeichneter Abschnitt ist nicht vorhanden.
  8. Vorlage: did
  9. siehe Ueber Lerm und Geräusch
  10. ein mit ”3.” bezeichneter Abschnitt ist nicht vorhanden.
  11. ein an Lungentuberkulose Erkrankter
  12. Syssitien sind gemeinschaftliche tägliche Männermahle in den altdorischen Staaten Griechenlands
  13. Zwei Verse von Wilhelm Busch
  14. Vorlage: Ge strafe
  15. Vorlage: „ge“, dann fehlen Buchstaben bis Zeilenende
  16. Die Referenz für Fußnote 1 fehlt im Text, die Anbindung an diese Stelle wird nur vermutet
  17. Wo du nichts wert bist, sollst du nichts wollen. Arnold Geulincx, Ethica (1696) Traktat I, S. 164.
  18. auch: Digesten, sind eine Zusammenstellung aus den Werken römischer Rechtsgelehrter.
  19. Seite 94 enthält ein Schriftenverzeichnis Lessings, wird aber hier nicht wiedergegeben.