Der Lebensbaum

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Titel: Der Lebensbaum
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 576
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[576] Der Lebensbaum. Wenn man in der gesegneten Kolonie Victoria auf Neuholland weiter nach dem Innern vordringt, stößt man oft mitten im üppigsten Walde auf große, anscheinend ganz unversehrte und kräftige Bäume, die trauernd ihre abgestorbenen Zweige gen Himmel strecken. Untersucht man sie genauer, so entdeckt man auch die Ursache: sie sind durch das Abschälen der Rinde am Fuße absichtlich getödtet worden. Diese Erscheinung hat ihren Grund in einer sehr poetischen Sitte der Eingeborenen jener Gegend.

Wie bei allen Völkern, wo eine überhitzte, materialistische Civilisation und die nie ruhende Sorge um den Erwerb noch nicht alle Aeußerungen des Gemüthslebens erstickt hat, erfolgt auch bei jenen Wilden die Mündigkeitserklärung der jungen Leute und ihre Aufnahme in den Kreis der Männer, – dieser ernste Wendepunkt des Lebens, – unter gewissen bedeutungsvollen Feierlichkeiten. Ist der Tag erschienen, mit dem ein junger Mensch das Knabenalter beschließt und zur Genossenschaft der Männer und Krieger reif ist, so führen ihn die Häuptlinge seines Stammes nach einem entlegenen Theil des Waldes und entfernen sich wieder. Hier verweilt er zwei Tage und eine Nacht in einsamen Betrachtungen und bricht sich mittelst eines Holzes, das er mitbrachte, die zwei oberen Vorderzähne aus. Nach sechsunddreißig Stunden kehrt er in’s Lager zurück, legt die ausgebrochenen Zähne feierlich in die Hände seiner Mutter, ißt und trinkt und begibt sich hierauf wieder in den Wald, um weitere zwei Nächte und einen Tag fastend in Einsamkeit zu verbringen. Während dieser Abwesenheit hat seine Mutter einen jungen Gummibaum von ungefähr dem Alter ihren Sohnes ausgesucht, den sie gleichsam mit ihm vermählt, indem sie die Zähne desselben sorgfältig in die oberste Gabel der Zweige einschlägt. Diesen Baum kennen nur wenige besonders geachtete Leute des Stammes, dem jungen Mann selbst, der nach seiner zweiten Rückkehr unter Schmaus und Tanz und Waffenspiel zum Mann und Krieger erklärt wird, bleibt sein Lebensbaum streng verborgen. Nach seinem Tode aber wird durch die Eingeweihten auch der ihm verbundene Baum getödtet und bildet mit seinen trauernden, abgestorbenen Zweigen ein ebenso einfaches als beredtes Denkmal des Dahingeschiedenen.

Für die Hetzjagd unseres geschäftlichen Treibens, wo über die Sorge um die Mittel der Existenz der Zweck derselben ganz aus den Augen verloren wird, kein Mensch mehr zu sich kommt und Jeder sich selbst das allerfremdeste Wesen ist, für diesen gänzliche Hingegeben sein an das Aeußerliche liegt eine gar beherzigenswerthe Mahnung, in der so weit verbreiteten uralten Sitte, sich durch einsame Betrachtung und Sammlung auf alle wichtigeren Lebensmomente vorzubereiten und namentlich den Eintritt in das Alter der Selbstständigkeit auf solche Weise ernst und würdig zu begehen. Bei den alten Deutschen hielten die Jünglinge bekanntlich zu gleichem Zwecke die nächtliche Waffenwacht, und einige Negerstämme im Westen von Afrika dehnen sehr vernunftgemäß diese weise Einrichtung auch auf die Mädchen aus, die sich beim Eintritt in das Jungfrauenalter unter dem Schutze einiger Matronen in den Wald zurückziehen, wo sie bei Verlust des Lebens von keinem Manne in ihrer mehrwöchentlichen Einsamkeit gestört werden dürfen.