Der Lebensplan eines Pariser Ladenmädchens
Neulich wanderte ich nach der Rue St. Jacob, um mir in der deutschen Buchhandlung bei Haar und Steinert die Gartenlaube abzuholen. Sie ist für mich der Besuch lieber Freunde; zudem wußte ich, daß Abends ein Pariser Bekannter zu mir kommen und mich nach den Illustrationen dieser Zeitschrift fragen würde, welche er, der kein Wort Deutsch spricht, beharrlich „Jardinlob“ nennt.
Zuweilen fühle ich große Neigung, mich mitten aus dem Straßengewühl in eine stille Kirche zu flüchten. Dieser Neigung folgend, schlug ich den Weg nach Notre Dame ein, denn um diese Zeit ist es in dem alten Gotteshause gewöhnlich sehr still. Wer noch niemals in Paris war, stellt sich unter dieser Kirche gewöhnlich einen großen Dom vor, aber sie zeichnet sich nur durch ihr Alter und ihre schönen, im gothischen Stil gebauten Thürme aus. Das Innere der Kirche ist würdig, die bunten Glasfenster verbreiten eine angenehme Dämmerung. Ich setzte mich auf einen Stuhl und ließ im Geiste so manche der interessanten Personen an mir vorüberziehen, deren Andenken mit der Kirche verknüpft ist, von der schönen Anna von Bretagne und Carl dem Achten bis zu Napoleon dem Dritten und der schönen Spanierin, die jetzt Kaiserin der Franzosen ist.
Das Rauschen eines seidenen Gewandes rief mich aus meinen Träumereien in die Wirklichkeit zurück. Eine schlanke, graciöse Gestalt schwebte an mir vorüber und ließ sich auf die Kniee nieder. Unwillkürlich sah ich mich nach der Beterin um, deren kleines Hütchen mich nicht verhinderte, zu bemerken, daß sie sehr jung und außerordentlich liebreizend war. Das Mädchen, denn ein Mädchen war die Unbekannte offenbar, betete aus Herzensgrunde; endlich brach es in Thränen aus. Ich kann kein Weib weinen sehen, dazu regten sich außer den Empfindungen aufrichtigen Mitleids die Gedanken des Novellisten in mir: ich las in den Thränen des jungen Mädchens einen ganzen Roman. Als ich meinen Platz verließ, stand auch die junge Dame auf; an der Kirchenthür begegnete ich ihr. Sie warf einen halb scheuen, halb zutraulichen Blick auf mich. Schelte mich, wer da will, ich that, was ich nicht lassen konnte, und fragte: „Kann ich Ihnen auf irgend eine Weise dienen, Mademoiselle?“
Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort, endlich sagte sie: „Sie sind ein Ausländer, mein Herr?“
„Ein Deutscher, Mademoiselle.“
„Ach, ich kenne und liebe die Deutschen. Ich war zwei Jahr bei einer deutschen Dame und diese war sehr gütig gegen mich. Leider ist sie seit drei Monaten todt; wenn sie noch lebte, würde ich jetzt noch bei ihr sein. Ich habe Niemanden, den ich um Rath fragen kann.“
„Vielleicht kann ich Ihnen rathen; wollen Sie mir Ihr Zutrauen schenken, so werde ich es zu rechtfertigen wissen.“
Das holde Geschöpf trocknete schnell seine Thränen und sah mich lächelnd an.
„Wollen Sie? Ja, ich glaube Ihnen, denn ich habe eben zur allerseligsten Jungfrau gefleht, mir in meiner Noth beizustehen und mir durch einen Wink zu sagen, welchen Weg ich gehen soll.“
„Gern, Mademoiselle, will ich Ihnen dienen, aber,“ ein wenig Mißtrauen regte sich doch in mir, „haben Sie, so jung und anmuthig, nicht Eltern, Verwandte oder doch Freunde unter Ihren Landsleuten?“
„Nein, mein Herr, meine Eltern habe ich nicht gekannt; ich bin im Findelhause erzogen worden und Niemand hat jemals nach mir gefragt. Als ich erwachsen war, suchten die Vorsteher der Anstalt ein Unterkommen für mich und ich wurde bei der guten deutschen Dame als eine Art von Gesellschafterin untergebracht. Bei ihr habe ich viel Gutes gelernt, sogar stricken; ja, gewiß, mein Herr, ich kann Strümpfe stricken.“ Sie lachte voll Uebermuth, dann fuhr sie ernster fort: „Die gute Dame hat mir oft gesagt, daß in Deutschland gebildete und anständige Mädchen nimmermehr Loretten würden; ist dem so, mein Herr?“
Das Mädchen sah mich mit seinen großen, blauen Augen, welche von den schönsten schwarzen Wimpern beschattet wurden, mit einer Naivetät an, welche mich in Erstaunen setzte.
„Gewiß, Mademoiselle, so ist es. Nicht alle Frauen bei uns sind tugendhaft, aber die, welche es nicht sind, schämen sich doch, dies einzugestehen.“
„Nach dem Tode der deutschen Dame,“ fuhr das Mädchen fort, „kam ich zu einer Blumenhändlerin als Ladenmädchen. Ich mußte den ganzen Tag im Laden stehen und verkaufen, der Duft der Blüthen machte mir oft peinliches Kopfweh. Vor einigen Tagen redete mich ein Herr an, welcher oft Bouquets kauft; er ist schon ältlich, ein politischer Flüchtling, ein Pole.“ Sie schlug die Augen nieder und stockte in ihrer Rede.
„Bitte, Mademoiselle, sprechen Sie weiter.“
Das schöne Mädchen seufzte: „Der Herr sagte: ‚Was für einen Lebensplan haben Sie gemacht? Wollen Sie Jahr aus Jahr ein Blumenverkäuferin bleiben, mit einem Gehalt, der eben nur hinreicht für die allernothwendigsten Bedürfnisse?‘ Ich erwiderte: ‚Freilich bekomme ich wenig, allein, mein Herr, was soll ich thun? Ich bin ohne Vermögen, ohne Empfehlungen.‘
‚Als ob Schönheit nicht der beste Empfehlungsbrief wäre!‘ lachte der Herr. ‚Beantworten Sie mir doch einige Fragen, mein Kind.‘
‚Warum nicht, mein Herr?‘ fragte ich.
‚Lieben Sie schöne Kleider?‘
‚Natürlich.‘
‚Gute Speisen, Mademoiselle?‘
‚Das eben nicht, nur schönes Obst.‘
‚Aha, Champagner, Gefrornes; weiter!‘
‚Ich liebe, in Büchern zu lesen.‘
‚Gut, Theater, Concerte, wir verstehen uns, Mademoiselle, Alles das kann ich Ihnen bieten.‘
‚Sie mein Herr?‘ sagte ich.
‚Ach nein,‘ antwortete er, ‚nur mein Mund hat dies für Sie und mein Verstand, nicht meine Börse, aber ich kenne einen Herrn, einen reichen Grafen; er will Ihnen Alles geben, sobald Sie sich entschließen, seine Gesellschafterin zu werden.‘“
Kein junges deutsches Mädchen, welches so viel Bildung besitzt, wie sie die Französin offenbar hatte, würde einem Fremden mit solcher Unbefangenheit dies entehrende Anerbieten erzählt haben.
„Nun, Mademoiselle, was gaben Sie zur Antwort?“ fragte ich sie.
„Ich sprach gar nichts, der Herr lachte und rief: ‚Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag, es wird Ihnen nicht sobald ein ebenso guter gemacht; morgen komme ich wieder.‘“
„Und der Herr ist wieder bei Ihnen gewesen?“
[394] „Natürlich, er hat mir den Anzug, den ich trage, geschickt, dann hat er mich abgeholt und in eine reizende Wohnung geführt, gestern war es; auch der Graf erschien auf kurze Zeit mit dem alten Herrn. Er, nämlich der Graf, versicherte mir, daß er mich liebe und mich mit Glanz umgeben wolle, doch solle ich drei Tage Bedenkzeit haben, denn sobald ich eingewilligt habe, verlange er Treue.“
„Lieben Sie den Grafen?“
„Nein, er gefällt mir wenig, aber ich wagte nicht, es ihm zu sagen.“
„Was aber, Mademoiselle, macht Sie so traurig, und warum erzählen Sie mir das Alles?“
„O mein Herr, weil Sie mich fragten und weil ich Sie in der Kirche fand – – ich möchte doch lieber nicht Lorette werden, denn noch bin ich es nicht.“
„Das ist ganz richtig gedacht, nur möchte ich wissen, warum Sie es nicht werden wollen; wenn ich dies weiß, dann erst kann ich vielleicht etwas thun, was Ihnen eine sichere, ehrenvolle Zukunft gründet“
„Ja, mein Herr, mit dem besten Willen kann ich Ihnen nicht so genau erklären, warum ich es nicht will; vielleicht ist es einfältig von mir, wie der Herr Pole spricht, vielleicht stoße ich mein Glück von mir. Eine meiner Bekannten, sie heißt Louison Lesueur, wurde mit mir im Waisenhaus erzogen; sie ist drei Jahre älter als ich, hat jetzt Equipage, einen prachtvollen Schmuck; o, ich sprach sie vor einiger Zeit, ihr Wagen hielt vor der Thür des Ladens, wo ich Blumen verkaufte, auf der Place Vendôme; sie ließ sich ein Rosenbouquet für fünf Franken geben und sagte, sie lebe wie im Himmel, aber doch –“
„Ihr Ehrgefühl sträubt sich gegen den Gedanken, Lorette zu sein; ist es nicht so?“
„Das nicht, denn die gebildetsten Mädchen sind es und die vornehmsten Herren fahren mit ihnen herum; sie haben prachtvolle Toiletten, Dienerschaft, es ist ja keine Schande, aber – der Graf gefällt mir gar nicht, und zuweilen kam ein junger Mann in den Blumenladen, er kaufte immer nur für einen halben Franken; wenn er Student wäre, ja dann wollt’ ich schon seine kleine Frau sein.“
„Spricht der junge Mann mit Ihnen?“
„Selten; er ist ein Deutscher, ein Maler, er weiß, daß ich ein wenig Deutsch verstehe.“
„Und haben Sie schon bedacht, daß, selbst wenn der deutsche Maler Sie als seine kleine Frau zu sich nähme, er Sie in einiger Zeit wieder verlassen würde?“
„Nein, wer denkt an die Zukunft? Weiß ich denn, ob ich morgen noch lebe?“
„Wenn aber der junge Mann Sie liebte, wenn er Sie erst zum Altar und dann in eine bescheidene Häuslichkeit führen wollte, würden Sie ihm lieber folgen als dem reichen Grafen, selbst wenn Sie nicht nur dessen Geliebte, sondern seine Gemahlin sein sollten?“
„Sicher, o ganz gewiß!“
„Und wie nennt sich mein Landsmann?“
„Es war einmal ein Freund mit ihm im Blumenladen der nannte ihn Max.“
„Aha, Max, jetzt glaube ich ihn zu kennen. Ein junger, schlanker Mann, gelocktes braunes Haar, große blaue Augen, Schnurrbart; ist diese Beschreibung richtig, Mademoiselle?“
„Sie trifft genau, mein Herr.“
„Und die Liebe, wahrscheinlich, wie Ihre Jugend schließen läßt, Ihre erste Neigung, hat Sie belehrt, wie viel, wie unschätzbar viel Sie verschenken wenn Sie Ihre Person ohne Ihr Herz an einen Mann für schöne Kleider und Luxus verkaufen. Armes Kind, das böse Beispiel, welches Sie vor sich sahen, und der Mangel an richtiger Erziehung hatte Sie beinahe dahin gebracht, den Weg der Schmach zu wandeln! Danken Sie Gott für Ihre Liebe zu meinem Landsmanne, welche Sie auf dem Pfade der Tugend erhalten wird.“
„Werden Sie Herrn Max sprechen, mein Herr?“ fragte sie lieblich.
„Heute noch; ich werde ihm sagen, daß ich Sie kenne, daß Sie ein sittsames Mädchen sind, vorausgesetzt, daß Sie das Haus, in dem Sie jetzt wohnen, sofort verlassen und in den Blumenladen zurückkehren, bis sich ein besserer Platz für Sie gefunden hat, was sicher nicht schwer sein wird.“
„Wollen Sie mir dazu behülflich sein, mein Herr?“
„Natürlich, geben Sie mir Ihre Adresse, Mademoiselle.“
Ich wechselte noch einige Worte mit ihr; sie sagte mir, daß sie jetzt nach ihrer Wohnung zurücklehren, ihre prachtvollen Gewänder ablegen und sich dann wieder zu der Blumenhändlerin bei der Place Vendôme begeben würde.
Als ich Mittags in den Speisesaal des Hotels trat, wo ich gewöhnlich mehrere Landsleute treffe, ward ich von meinem liebsten Freunde mit Gelächter begrüßt.
„Hoho, Du Eremit, Bücherwurm, blind für Frauenschöne, taub für Sirenengesang, was hast Du heut in Notre Dame gethan? Bist Du dort getraut worden, oder hältst Du Deine Stelldicheins an heiliger Stätte? Wer ist das reizende Wesen im schweren Gewand von violetter Seide, an dessen Seite Du wandeltest?“
„Himmel!“ rief ich erstaunt aus, „kann man in dieser Riesenstadt rein wie Schnee sein und dennoch der Verleumdung nicht entgehen?“
„Bester Freund,“ lachte mein Freund Georg, “der Zufall führte mich in die Gegend von Notre Dame, und ich sah Dich, das ist Alles.“
Nach dem Diner, als die andern Tischgenossen sich entfernt hatten, blieben Georg und ich noch bei Kaffee und Cigarren zusammen. Ich theilte ihm mein Abenteuer mit und schloß mit der Frage: „Könntest Du nichts für das arme Mädchen thun? Du bist viel länger hier als ich, hast in sehr angesehenen Familien Zutritt, vielleicht machtest Du eine passende Stelle für meinen Schützling ausfindig.“
„Deutscher Schwärmer!“ lachte Georg herzlich, „Du bist nicht wie ich zehn Jahre in Paris; ich kenne keine Familie hier, welcher ich ein so schönes Mädchen empfehlen möchte; übrigens, bester Georg, scheint mir Deine Unschuld aus dem Blumenladen sehr verdächtig. Sie hatte ihr bescheidenes Auskommen, trug eine reine Neigung zu unserm schönen Landsmann Max im Herzen, ließ sich aber nichtsdestoweniger bereden, eine elegante Wohnung, reiche Toilette etc. anzunehmen, und ist – wenn es sich bewahrheitet – nur deshalb noch nicht ganz gesunken, weil ihr Beschützer ihr persönlich mißfällt. Lehre mich solche Pariser Mädchen kennen!“
„Aber ich versichere Dir, sieh das Mädchen, sprich es –“
„Gut, ich will am Sonnabend mit Dir nach dem Blumenladen gehen, da wollen wir sehen, was für sie zu thun ist, um sie auf dem Pfade der Tugend zu erhalten; früher habe ich keine Zeit.“
Wir trennten uns, Georg lachend, ich in sehr verdrießlicher Stimmung über sein Mißtrauen. Den nächsten Morgen ging ich nach dem Louvre, um meinen Freund Max aufzusuchen; ich wußte, daß ich ihn dort finden würde, weil er mit der Copie eines berühmten Gemäldes von Rubens beschäftigt war.
„Da malst Du ein sehr hübsches Gesicht,“ sagte ich, „aber das Antlitz der Blumenverkäuferin unter den Arcaden bei der Place Vendôme ziehe ich vor.“
„Ah, die schöne Manon, blaue Augen, schwarzes, atlasartiges Haar –“
„Ja, sie ist Deiner werth, und Du machst ihr den Hof?“
„Werth? Hm, sie ist schön, deshalb kaufe ich alle Blumen, die ich für mein Junggesellenstübchen und zum Verschenken brauche, bei ihr.“
„Sie scheint Dich mehr als gern zu sehen.“
„Sehr schmeichelhaft, doch sieht wohl Manon auch andere junge Männer gern.“
„Hast Du keine ernstere Neigung zu ihr, Max?“
„Durchaus nicht; wenn ich überhaupt schon an Heirathen dächte und wenn das holde Blumenmädchen eine Deutsche, nur an Stand und Bildung gleich wäre, dann könnte ich vielleicht einen kleinen Roman spielen, welcher mit einer Heirath endete, aber wie ihre und meine Verhältnisse sind, wäre eine Liebesgeschichte ihrerseits Unsinn, meinerseits Unrecht.“
„Max sagte das so ernst, daß ich kein Wort mehr über die arme Waise sprach, aber eine Stelle wollte ich für sie finden. Am fünften Mai, an dem Tage wo das Denkmal Napoleon’s des Ersten mit unzähligen Immortellenkränzen geschmückt ist, traf ich der Verabredung gemäß Georg auf der Place Vendôme; er hing sich an meinen Arm und sagte: „Nun komm’, ich will mir die gerühmte Schönheit besehen.“
Im Blumenladen, dessen Duft mich fast betäubte, erblickte ich nur eine ältliche Frau und einen Mann, der ihr Gatte zu sein schien.
[395] Auf meine Frage nach Mademoiselle Manon entgegnete die Frau: „Welche Manon? Alle meine Verkäuferinnen werden von mir Manon genannt; etwa Manon Lepitre?“
„Das junge Mädchen, welches kürzlich noch bei Ihnen war, das mit den blauen Augen –“
„Ah, Manon Lepitre, sie hatte mich am 30. April verlassen, kam dann wieder und bat um Aufnahme. Ich hatte bereits ein anderes Mädchen engagirt, aber eine Schönheit wie Manon Lepitre ist ein Vortheil für jeden Laden; wir nahmen sie abermals auf, allein gestern hat sie uns Adieu für immer gesagt, ohne ihre Adresse zurückzulassen.“
Wir dankten für die Auskunft und gingen; Georg lachte. Einige Abende später besuchte ich die Opéra Lyrique, um Don Juan auch in diesem Theater gehört zu haben. Meine Augen wanderten im Saal umher und blieben dann auf einer Loge haften, in welche eben die schöne Manon in der geschmackvollsten Toilette trat, begleitet von einem jungen, elegant aussehenden Manne. Mein Nachbar, ein Pariser, der so viel Bekanntschaften besaß, daß wir, meine Freunde und ich, ihn im Verdacht hatten, er gehöre zur geheimen Polizei, sagte, als er mein Staunen bemerkte: „Sie starren diese schöne Lorette an? Haben Sie dieselbe früher gekannt? Es ist Manon Lepitre, und ihr Begleiter der einzige Sohn des Bankiers D., eines enorm reichen Mannes.“
Beim Herausgehen sah ich Manon Lepitre an des jungen Mannes Arme, sie stieg mit ihm in den Wagen und fuhr davon. Einige Tage später erhielt ich ein zierliches Briefchen; der Inhalt desselben lautete:
„Mein Herr! Ich habe Sie in der Oper gesehen und Ihr Staunen wohl bemerkt. Lassen Sie uns Freunde bleiben und werden Sie nicht irre an mir; ich bin ein armes Mädchen, Herr Max hat sich nicht sehen lassen, einen guten Platz fand ich nicht, was konnt’ ich thun? Aber der Mann, dessen Freundin ich bin, ist ein anderer, als jener alte, häßliche, von dem ich Ihnen sagte; also werden Sie mich begreifen. Viele Stunden des Tages bin ich allein; an eine Verheirathung mit Herrn Max denk’ ich nicht mehr, aber gern würde ich ihn sehen, sprechen. Jeden Tag bin ich zwischen zehn und elf Uhr in Notre Dame, sagen Sie das Ihrem Freunde. Nicht wahr, Sie thun es?Empört über diese naiv-sittenlose Sprache, warf ich das Blättchen in den Kamin und sah zu, wie es verbrannte. Meinem Freunde Georg sagte ich nichts, und als ich gestern im Bois de Boulogne der schönen Lorette begegnete, welche mit ihrem Freunde in der elegantesten Equipage dahin rollte, erwiderte ich ihren Gruß nicht. Ich will nicht sagen, daß anderswo nur tugendhafte Frauen leben, aber diese Naivetät der Verdorbenheit wie hier sieht man vielleicht nur in Paris. Sie ist das naturgemäße Ergebniß einer Erziehung und Lebensanschauung, wie sie, Gott sei Dank! bei uns in Deutschland doch noch nicht haben heimisch werden können.