Der Möwenberg bei Schleswig

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Autor: Ernst Willkomm
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Titel: Der Möwenberg bei Schleswig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45-46, S. 485-488, 497-500
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[485]

Der Möwenberg bei Schleswig.

Von Ernst Willkomm.


Gegenüber der Stadt Schleswig, mitten im breiten Schleistrome liegt eine kleine unfruchtbare Insel, in deren hohem Binsengrase zahllose Möwen nisten. Sie heißt „der Möwenberg“ und hat gegenwärtig gar keinen Werth für Schleswigs Bewohner. Wohl aber knüpfen sich an diesen von der salzigen Meerfluth umspülten wüsten Erdfleck bedeutsame historische Erinnerungen, die nicht verloren gehen werden noch vergessen werden dürfen, so lange der Name Schleswig fortlebt in der Geschichte. Oben im Norden, an den Küsten der Ost- und Nordsee, in der fruchtbaren Marsch wie auf der dürren Geest, wo der Wind mit mannshohem Haidekraut spielt, kennt diese Erinnerungen, die Verschmelzung von Sage und Geschichte darin ein Jeder, in Innerdeutschland aber, wo man sich bis zum Jahre 1848 um Schleswig gar wenig kümmerte, dürften auch nur Einzelne von den Sagen und Geschichten des Möwenberges etwas gehört haben. Für solche im Innern Deutschlands wohnende Leser will ich deshalb das Nachstehende erzählen. Man glaube nicht, daß ich eine Geschichte in romantischer Umhüllung den Lesern vorführe oder eine Novelle, auf historischem Grunde ruhend; ich gebe nur einfache Thatsachen in schmuckloser Darstellung, wie uns alte Chronikbücher dieselben überliefert haben oder wie die Tradition sie von Geschlecht zu Geschlecht weiter trägt. Es vollzieht sich aber in dieser Verschmelzung von Geschichte und Sage ein Gottesgericht, wie die kühnste Phantasie eines begabten Dichters es ergreifender nicht erfinden könnte. Und weil zugleich an dieser Sagengeschichte das Wohl und Wehe eines ganzen Landes und Volkes sich emporrankt, will ich vor den Augen deutscher Landsleute die wappen- und helmgeschmückten Deckel zweier Königssärge öffnen, deren längst vermoderte Bewohner bei ihrem Lebzeiten sich eine traurige Berühmtheit erwarben. –

Im dreizehnten Jahrhundert erhob sich auf dem Möwenberge in der Schlei eine stark befestigte Burg, deren Zinnen weit in’s Land hinein sichtbar waren. Ueberhaupt gab es damals in der Nähe der Stadt Schleswig eine Menge Burgen, von denen noch heute einige Spuren zu entdecken sind. Man zählte deren um die Zeit der größten Blüthe Schleswigs sieben. Die Herzöge von Schleswig oder Süderjütland, wie [486] damals alles Land von der Königsau bis zur Eider mit Ausschluß des von den Nordfriesen bewohnten westlichen Marschlandes und den jetzt sogenannten Inseln der Westsee[WS 1] hieß, waren Erbauer und Bewohner dieser Burgen. Am Wohlsten schienen sie sich jedoch auf der Jurisburg zu befinden, jenem festen Schlosse, welches den Möwenberg in der Schlei krönte.

Hier schlug auch Herzog Abel von Süderjütland sein Hoflager auf, nachdem er in einem langen Kriege mit seinem leiblichen Bruder Erich, rechtmäßigem Könige von Dänemark, sich diesem hatte unterwerfen müssen. Schon dieser blutige Krieg zwischen beiden Brüdern, der sich über die Frage erhob, ob das Herzogthum Schleswig ein Erblehn sei oder nicht, bewies zur Genüge die feindselige Gesinnung der Brüder gegen einander. Es schien ein Fluch auf dem Ehebündniß ihres verstorbenen Vaters, Waldemar’s II. mit der portugiesischen Prinzessin Berengaria zu ruhen, die ihnen das Leben gegeben hatte. Unsichern Ueberlieferungen zufolge ward diese Verbindung Waldemar’s II. ohne Neigung geschlossen, selbst das Volk mochte der Fremden abgeneigt sein. Wie dem aber auch sein mag, des Himmels Segen beschirmte den Ehebund nicht. Zwischen den Brüdern Erich und Abel war kein Friede, kein Einverständniß von Jugend auf, und als sie zu Männern herangereift, ließen sie die Unterthanen entgelten, was ihr bruderfeindlicher Streit verbrochen hatte. In diesem Kampfe blieb der ältere Erich Sieger. Abel behielt das vom Schwerte verwüstete Süderjütland und setzte sich grollend auf die Jurisburg, in seinem finstern Geiste auf Rache gegen den glücklicheren Bruder sinnend.

War Herzog Abel ein versteckter, rachgieriger und hinterlistiger Charakter, Eigenschaften, die als Erbtheil seiner portugiesischen Abstammung ihm nicht blos anklebten, sondern ihn gänzlich beherrschten, so ließ sich zum Lobe seines Bruders, des Königs Erich gerade auch nicht viel Preiswürdiges sagen. Sinn für Recht und Gerechtigkeit im edlern Sinne des Wortes ging ihm ebenfalls ab. Das Volk war ihm blos ein Schwamm, den er so lange drückte oder durch seine Helfershelfer drücken ließ, als er noch etwas von sich gab. Weigerten sich Bürger und Bauern, ihre Truhen zu öffnen, damit Erich das Nöthige daraus entnehmen könne, so erbrach man sie und bemächtigte sich alles darin Vorgefundenen. An einen vernünftigen Staatshaushalt war nicht zu denken. Die Schätze des Reiches wurden vergeudet, das blühende Land durch unablässige Kriegszüge verödet. Niedergebrannte Städte, rauchende Dörfer und Weiler bezeichneten den Weg der Kriegshaufen, welche[WS 2] der König jetzt gegen seinen aufrührerischen Bruder, dann wieder gegen die halsstarrigen Geest- und Marschfriesen Süderjütlands in’s Feld führte.

Als die Schatzkammer erschöpft und nirgend mehr Geld aufzutreiben war, besteuerte Erich selbst den Pflug des Landmannes, weshalb ihn das Volk den Ekelnamen „Pflugpfennig“ gab.[WS 3] Diese Steuer, welche den Landmann eben so sehr drückte als empörte, wurde mit unglaublicher Härte eingetrieben. Allein das Volk der Friesen und Dithmarsen, eingedenk ihrer altgermanischen Freiheit und nicht gewillt, dieselbe einem fremden Könige zum Opfer zu bringen, lehnten sich gegen die erbarmungslosen Dränger auf, griffen zu den Waffen und waren entschlossen, das Aeußerste zu wagen.

Dieser bewaffnete und energische Widerstand der Nordfriesen und Dithmarsen, denen sich als Bundesgenossen auch die Holsteiner anschlossen, ist der Beginn jener Jahrhunderte lang fortgesetzten Kämpfe der deutschen Bevölkerung in Schleswig und Holstein gegen die dänischen Unterjochungsgelüste. Seit jenem ersten blutigen Kampfe dieser Volksstämme war bis auf unsere Tage immer nur Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit zwischen denselben und den Dänen, und haben sich inzwischen auch die politischen Verhältnisse mannigfach geändert, die Grundursache zum Kampfe, zu erneuter Gegenwehr blieb von jenem ersten Aufstande im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts bis auf unsere Tage ziemlich dieselbe.

Erich hatte wenig Glück. Die Nordfriesen nöthigten ihn, südwärts zu ziehen, ohne die begehrte Pflugsteuer zu bezahlen. Auch war seine Gegenwart im Süden gar nöthig. Denn an der Eider lagerten nebst Bremer und Paderborner Hülfsvölkern die mannhaften Holsteiner und bedrohten die hier errichtete Veste mit Sturm zu nehmen. Das heutige Rendsburg, in jenen Tagen der Vorzeit Reinoldsburg genannt, war von dänischen Mannen besetzt, die jedoch zu schwach waren, um noch lange gegen die vereinten Heerhaufen der Belagerer sich halten zu können. Diesen zu Hülfe zu eilen, war Zweck und Plan Erich Pflugpfennig’s. Allein er sollte nicht soweit kommen. Mehr leichtsinnig und unbeständig als bösartig, machte er am steilen, öden Erdwalle des Danevirke,[WS 4] das hinter dem Selcker Noor über das Blachfeld emporragt und als eine ungeheure Riesenschanze tief in’s Land hineinläuft, Halt, um das Land rund um zu betrachten.

Es ist ein schönes, ein bezauberndes Landschaftsbild, das von dieser sagenreichen Erdhöhe herab den Blicken sich eröffnet. Im Süden liegt die Geest, öde, traurig-wüst, fahl-grau und gelblich-weiß, wie ein Stück der lybischen Wüste, von Geisterhänden in diesen germanischen Norden versetzt. Der Sand rollt sich auf zu Hügeln vor dem scharf wehenden Westwinde und verwandelt das feste Land in ein bewegtes erdiges Meer. In der Ferne schimmern die Zinnen von Rendsburg, während gen Osten aus dem bebauten Flachlande schön bewaldete Höhen auftauchen, bekannt unter dem Namen der „Hüttener Berge.“

Gefesselt von diesem Anblick blieb der König lange Zeit in Betrachtungen versunken am Danevirke stehen. Auf den stolzen Zinnen der Jurisburg lag goldener Sonnenschein. Die Schlei flimmerte wie ein See geschmolzenen Silbers. Vom Dom herüber und aus dem Thale unter seinen Füßen, wo etwas versteckt die Haddebyer Kapelle lag, scholl Glockengeläute. Da überschlich den König ein Gefühl der Wehmuth. Er schlug ein Kreuz, lüftete seinen Hut und sprach ein Gebet, denn er gedachte der Vergangenheit und mußte sich sagen, daß er nicht immer so gehandelt habe, um sich des Himmels Beifall dadurch zu erwerben. Diese [487] weichmüthige Stimmung ließ ihn auch seines Bruders, gedenken, dessen Schloß so freundlich zu ihm heraufblickte. Noch hatte er sich nicht mit ihm ausgesöhnt und doch lächelte die Sonne so gnadenreich auf dessen Wohnsitz herab, als wolle der Himmel dadurch zu erkennen geben, daß er dem Besiegten vor Andern hold sei.

Rasch in seinen Beschlüssen, wandte Erich sein Roß und trabte heitern Sinnes, von nur wenigen Mannen seines Gefolges begleitet, hinab in’s Schleithal, um nach längerer Zeit den finstern Bruder wieder einmal zu sehen. Er glaubte, dieser Besuch werde ihm Glück bringen und seine Unternehmung gegen die Holsten an der Eider fördern helfen.

Herzog Abel hatte sich eines so unerwarteten Gastes nicht versehen; er war aber sehr erfreut, den ihm verhaßten Bruder zu so glücklicher Stunde bei sich sehen zu sollen. Als ihm der königliche Herr angemeldet ward, ging Abel seinem Bruder mit der freundlichsten Miene, die er erheucheln konnte, entgegen, begrüßte ihn an der Pforte der festen Burg, half ihm liebreich aus dem Nachen, der ihn vom Festland herüber an die Insel getragen hatte, und geleitete ihn unter den Versicherungen brüderlicher Liebe in das Innere der Jurisburg.

Beide Brüder verkehrten recht einträchtig zusammen, so daß es schien, als hätten sie sich wirklich von Herzen versöhnt. Abel besonders war die Freundlichkeit selbst. Als man sich an Speise und Trank gelabt, nahm man seine Zuflucht zum Brettspiel, das in jenen Tagen in eben so hohem Ansehen stand als heutzutage das Kartenspiel, wohlzumerken mit französischen Karten! Erich hatte Glück, Abel verlor. Des Letzteren Tochter brachte den spielenden Brüdern ein paar Humpen Wein. Da sprach Herzog Abel, das Trinkhorn ergreifend und es zum Gruße gegen König Erich aufhebend:

„Erinnerst Du Dich noch der vergangenen Tage, wo Du mir gegenüber ebenso im Glücke warest, wie jetzt? Es war nicht weit von hier. Damals verfolgtest Du Deinen Vortheil mit solchem Eifer, daß ich mit den Meinigen kaum Deinem Zorne enteilen konnte. Besonders übel erging es meiner Tochter. Sie mußte baarfuß fliehen und in rauchigen Hütten bei niedrigen, gemeinen Leuten bettelnd ein dürftiges Unterkommen suchen. Das war nicht fein von Dir, mein Bruder!“

„Laß die Vergangenheit ruhen,“ erwiederte Erich, dem Bruder Bescheid gebend. „Geschehenes muß zwischen uns vergessen werden. Uebrigens,“ setzte er heiter lachend hinzu, „besitze ich trotz der halsstarrigen Friesen, Sachsen und Holsten, die sich meinen Befehlen widersetzen, doch noch so viel, daß ich Deiner Tochter ein paar Schuhe kaufen kann.“

„Meinst Du?“ versetzte Abel höhnisch, mit seiner Hand das Brettspiel zerstörend. „Ich bedarf Deiner Almosen nicht. Aber weißt Du, daß Du jetzt in meiner Macht bist und daß ich mit Dir thun kann, was mir beliebt?“

Erich sah ihn stolz an. „Ich bin Dein Gast,“ sagte er, „und kann nicht glauben, daß Du die Gastfreundschaft verletzen wirst.“

Abel lachte. „Es ist nur meiner Tochter wegen,“ versetzte er. „Wer giebt mir Gewähr dafür, daß Du nicht eines Tages wieder über mich herfällst und mein Kind abermals gezwungen wird, in der Flucht ihr Heil zu suchen? Damit dies nicht geschehen könne, will ich Dich unschädlich machen. Du bist allein, ich bin Dein Gebieter. Was Du an mir verbrochen, sollst Du jetzt büßen!“

So sprechend stampfte Abel mit dem Fuße, daß die Trinkhalle erdröhnte, die Thür ward geöffnet und herein traten die Schergen des Herzogs, ergriffen auf den Wink ihres Gebieters den König und schlugen ihn in Ketten.

Erich mußte das Unabwendbare über sich ergehen lassen. Er ward von herzlosen Knechten die Wendelstiege hinabgestoßen und nach einer Pforte geführt, die auf die Schlei mündete. Hier lagen einige offene Böte. In eines derselben warf man den heimtückisch Ueberfallenen. Die Bootsleute ergriffen die Ruder und trieben den Nachen mit ihrem Gefangenen durch die aufrauschenden Wogen des Meerstromes. Erich wandte seine Blicke rückwärts der Jurisburg zu, deren gothische Zinnen im weichen Dämmer der hellen Augustnacht deutlich zu erkennen waren. Dann und wann glitzerte um die dunkeln schlanken Thürmchen etwas Weißes und lang austönende Klagerufe, die fast einer wimmernden Menschenstimme glichen, ließen sich hören. Das waren Möwen, von denen einzelne zuweilen von der Ostsee herauf bis nach Schleswig sich verirrten. Auch über dem breiten Wasserspiegel der Schlei schwebten die graziösen Vögel.

Dem rasch stromabwärts schwimmenden Boote, welches den gefesselten König trug, folgten bald mehrere andere. Hinter diesen zogen die Möwen, immer lauter klagend, fort, daß Erich selbst auf das Geschrei derselben aufmerksam ward. Er fragte seine Wächter wer die Männer in den ihnen folgenden Böten wären und als man ihm bedeutete, daß ihr Anführer wahrscheinlich Abel’s Vertrauter, Lauge Gudmansoe, der geschworene Feind Erich’s sei, entsetzte sich der König, das Schlimmste ahnend.

Zwei Stunden meerwärts von Schleswig verengert sich die Schlei zu einem schmalen Strome. Hier auf dem hohen Ufer stand damals eine Kapelle. Als Erich dieser Kapelle ansichtig ward, bat er seine Wächter, sie möchten den daneben wohnenden Priester rufen, damit er beichten und sich auf sein, wie er vermuthen müsse, nahes Ende vorbereiten könne.

Man gewährte dem Gefangenen diese Bitte. Der Priester erschien. Inzwischen hatten die nachrauschenden Böte den König eingeholt und umringten den Nachen des Gefangenen. Erich aber kniete nieder und beichtete. Um ihn versammelten sich die Möwen, umflatterten sein Haupt, während die Hand des Priesters ihn segnete, und ihr Geschrei in der stillen Nacht klang, als ob sie laut klagend den Namen „Erich!“ riefen.

Lauge Gudmansoe befahl seinen Leuten, die lästigen Schreier zu vertreiben, allein wie diese auch nach den Vögeln schlugen, sie zu tödten oder zu verscheuchen wollte ihnen doch nicht gelingen. Die Möwen schwangen [488] sich höher in die Luft und schwebten gleich einem Kranze beweglicher Silberfittige über dem Haupte des betenden Königs.

Da wandte sich der böse Gudmansoe zu dem Gefesselten und sagte mit grimmiger Stimme: „König Erich, Du mußt sterben!“ Darauf trat Einer von Gudmansoe’s Leuten in den Nachen des Königs, schwang eine Axt und zerschmetterte damit Erich’s Kopf. Als dies geschehen war, ließ Gudmansoe Steine um den Leichnam des Königs befestigen und ihn so beschwert in die Tiefe des Schleistromes versenken. Niemand, als die Schergen und Bootsleute hatten die scheußliche That gesehen, weshalb Herzog Abel sie geheim halten und durch ein verbreitetes Mährchen vertuschen zu können glaubte. Es hieß, König Erich sei auf der Schlei ertrunken!

Allein was Menschen nicht ausplaudern sollten, das ließ die rächende Hand Gottes durch die Möwen, die Zeugen der Blutthat, allem Volk verkündigen. Denn kaum hatten die gurgelnden Wellen der Schlei den Leichnam verschlungen, da legten sich auch die Möwen über das Wasser, als wollten sie das Grab des rechtlos Erschlagenen bewachen. Sie schwebten auf und nieder über dem Strome, rastlos die weißen Fittige bewegend, und Tag und Nacht den Namen „Erich!“ rufend, daß es den Anwohnern der Schlei grauste und Jedermann der Ueberzeugung lebte, Herzog Abel habe seinen königlichen Bruder ermorden lassen. Dabei mehrte sich die Zahl der Möwen mit jedem Tage. In ganzen Schwärmen zogen sie vom Meer her und legten sich in solchen Massen auf die Schlei, daß der ganze Strom von ihnen gleichsam bedeckt ward. Deshalb nannte man die Stelle fortan „Mösund,“ d. h. Möwensund, woraus späterhin „Missunde“ entstanden ist.

[497] So vergingen einige Wochen. Erich blieb verschwunden und Abel, dem schon längst nach der königlichen Würde gelüstet hatte, traf Anstalten, den erledigten Thron von Dänemark in Besitz zu nehmen. Er war der nächste Thronerbe, da Erich ohne Hinterlassung männlicher Nachkommen aus der Welt gegangen war. Indeß vermochte der Herzog sein Ziel doch nicht so schnell zu erreichen, als er es wünschte. Die Rächer Erich’s, die Möwen, hinderten ihn daran. Es schien, als hätte ihr unaufhörliches Klagen es vermocht, die Fesseln des Erschlagenen und in der Schlei Versenkten zu lösen; denn zwei Monate nach der Blutthat zeigten sich auf der Oberfläche des Wassers bei Mösund blaue Flämmchen des Nachts und empor aus der Tiefe stieg der Leichnam des Königs, die rechte Hand zum Himmel ausstreckend und langsam den Strom hinabtreibend. Schreiend folgte ihm die dichte Wolke der Möwen. Fischer erkannten den Todten, huben ihn aus der Fluth und brachten ihn nach Schleswig.

Es war unmöglich, dem Volke noch länger zu verheimlichen, daß König Erich eines gewaltsamen Todes gestorben sei. Herzog Abel läugnete freilich die That und ließ den wiedergefundenen Todten unter großem Gepränge feierlich im Dome zu Schleswig beisetzen. Dort ruht er noch jetzt. Ein geschmackvolles Denkmal vor dem Altare deckt seine Gruft.

Wie sehr aber auch Herzog Abel sich vermaß, keine Schuld zu haben an dem Tode seines Bruders, es half ihm doch nichts. Denn hatten bis zum Aufsteigen des Leichnams aus dem Wasser die Möwen den Ort bewacht, der ihn barg, so begleiteten sie jetzt die Leiche bis zum Dome, und erst als der Erschlagene in geweihte Erde gebettet worden war, verließen sie ihn, nicht aber, um für immer zu verschwinden, sondern um ihr Rächeramt fortzusetzen und den Urheber des Mordes rastlos zu verfolgen und zu peinigen.

Herzog Abel sollte darthun, daß er nicht der Mörder Erich’s sei. Wenn er dies vermöge, wollte ihn Dänemark als König anerkennen.

[498] Nun saß der Mörder seines Bruders auf der einsamen Insel im Schleistrome und sann nach, wie er es anzufangen habe, dem Verlangen der Dänen zu entsprechen. Sein Geist war nicht arm an Hülfsmitteln, auch gab es der Gefälligen genug, die um Sündenlohn sich erkaufen ließen zu falschem Zeugniß und Schwur. Aber die Mahner, die Gott dem Mörder gesendet, verließen den Herzog nicht. Seit der Beisetzung Erich’s im Dome waren die Möwen hinübergezogen nach der Schleiinsel und bedeckten, wie früher bei Mösund die Wasserfläche, so jetzt die Giebel und Zinnen der Jurisburg. Am Tage umkreisten sie das Schloß, in dessen Gemächern Herzog Abel ruhelos umherirrte, in wildem Fluge. Neigte sich die Sonne zum Untergange, so stiegen sie empor in die Luft und schwebten gleich einer leuchtenden Wolke über der Burg, so laut und vernehmlich klagend, daß die Bürger in Schleswig und der fernwohnende Bauer am Danevirke ihr Geschrei vernahmen und sich bekreuzten, denn ihr Rufen klang immer wie „Erich! Erich!“

Breitete nun die Nacht ihre dunkeln Schleier über Land und Meer, dann ließ sich der Möwenschwarm nieder und besetzte alle Fenster der Jurisburg. Da breiteten sie ihre Fittige aus, schlugen damit gegen die Scheiben, pochten mit den Schnäbeln daran und riefen dem entsetzten Mörder ohn’ Unterlaß den Namen seines Bruders zu. Gleich beschwingten Geistern saßen die furchtbaren Vögel allüberall und beobachteten mit ihren klugen Augen jeden Schritt des Herzogs. Wollte Abel die Barg verlassen, so hüpften die geisterartigen Vögel vor ihm her oder schlugen ihn mit ihren Flügeln in die Augen, daß er nicht aufzusehen vermochte und er noch lieber ihr Geschrei im Innern der Burg hören als von ihnen umschwärmt sein wollte. Die Möwen wurden Abel's Erynnien.[WS 5]

Entsetzen ergriff den Brudermörder. Er verließ die Jurisburg, um fortan fern von dem Schauplatze zu bleiben, der ihn in den Besitz der Macht gebracht hatte. Anfangs fürchtete Abel, es könne das Schicksal des Bischofs Hanno von Mainz ihm bevorstehen, weshalb er angstvoll auf das Geschrei jedes vorüberschwebenden Vogels achtete. Aber die Möwen begleiteten ihn nicht auf seinem Zuge nach Norden. Sie blieben an dem Gemäuer sitzen, in dessen Innerm der Entschluß zur Blutthat gereift war. Dies beruhigte den Herzog. Er glaubte sich sicher für immer, sein Muth wuchs und ohne weiteres Bedenken genügte er dem Verlangen des Volkes, indem er sich durch einen feierlichen Meineid von der entsetzlichen Mordthat reinigte. Mit diesem neuen Verbrechen schwang sich Abel auf den Thron von Dänemark und nahm am ersten November 1250 auf dem Reichstage zu Roeskilde die Huldigung seines Volkes an.

Jetzt glaubte sich der neue König sicher und zu jeder That berechtigt. Schon Erich hatte fortwährende Kämpfe wegen seines Pfluggeldes zu bestehen. Um sich das Volk zu gewinnen, hätte Abel darauf denken sollen, die vielen Lasten, die es drückten, zu erleichtern. Allein das fiel ihm nicht ein. Seine erste wirkliche Regierungshandlung gab sich in der Ausschreibung einer allgemeinen Landsteuer kund, welche nicht nur von dem eigentlichen Dänemark, sondern auch von Süderjütland, dem heutigen Herzogthum Schleswig erhoben werden sollte. Die Dänen fügten sich, nicht so die Nordfriesen. Diese weigerten sich, die neue Steuer zu bezahlen, indem sie nachwiesen, daß der König kein Recht habe, ihnen außer der gewöhnlichen Steuer noch eine andere Schatzung aufzulegen.

Abel beschloß, die widerspenstigen Nordfriesen, die an der Westküste des Landes zwischen Hewer und Eider wohnten, zu züchtigen. Er sammelte zu diesem Behufe[WS 6] ein Heer und fiel im Herbst 1254 in Nordfriesland ein. Die Friesen aber hatten sich ebenfalls gerüstet und jeden streitbaren Mann aufgeboten, um dem Heere des Königs die Spitze bieten zu können. In der Landschaft Eiderstedt kam es zwischen beiden Heeren zur Schlacht, die mit der gänzlichen Niederlage der königlichen Truppen endigte. Abel mußte fliehen, nur um sein Leben zu retten. Diese schimpfliche Niederlage, die ihm ein von ihm verachtetes Volk von Bauern und Schiffern beigebracht hatte, ergrimmte den König dermaßen, daß er Tag und Nacht auf Mittel sann, sich zu rächen.

Abel ging jetzt mit nichts Geringerem um, als mit dem Gedanken, den ganzen nordfriesischen Stamm, dessen Unabhängigkeitssinn ihm unerträglich war, auszurotten und wo möglich von der Erde zu vertilgen. Er warb deshalb ganz in der Stille während des Winters ein Heer und überfiel mit diesem im nächsten Jahre Nordfriesland aufs Neue. Diesmal aber begnügte sich König Abel nicht, das reiche Land von einer Seite anzugreifen, er gedachte es zugleich von Ost und West zu beunruhigen, auf solche Weise die Bauern zu verwirren, ihre Streitkräfte zu zersplittern und dadurch sie leichter erdrücken zu können. Während ein Landheer über die Geest nach dem Eiderstedtischen zog, liefen Abel’s stark bemannte Kriegsschiffe von der Nordsee in die Mündung der Eider ein und nahmen auch von dieser Seite eine feste Stellung am Lande. In der Gegend von Oldesworth landete die Macht des Königs und verschanzte sich sogleich, während Abel selbst mit seinem Landheere sich an der Mildeburg aufstellte.

Die Friesen, welche einsahen, daß nur festes Zusammenhalten und einmüthiges Handeln sie retten könne, beschlossen, sich bis auf’s Aeußerste zu vertheidigen. Das Land der Westküste war damals noch nicht von den Fluthen der Nordsee in so viele Inseln zerrissen, wie heutigen Tages, und stark bevölkert. Es zerfiel in sieben einzelne Horden, die, weil sie aus Marschland und Inseln bestanden, sich die sieben Schiffshorden nannten. Diese vereinigten sich mit ihren sieben Bannern – denn jede Horde für sich führte ein eigenes Banner – auf der gemeinsamen Dingstelle,[WS 7] welche Burmanswai (Bauermannsweg) genannt wurde. Hier entwarfen die Friesen ihren Schlachtplan, der in einem nächtlichen Ueberfalle auf das Lager des Königs bestand.

Inzwischen hatten Abel’s Mannen, die bereits sechs Tage lang müßig lagen, das Land umher geplündert und eine Menge Gold und Silber zusammengeschleppt, das in ihren Zelten aufgehäuft lag. Als nun das Heer der vereinigten Friesen im Dunkel der Nacht sie [499] angriff – es war der 3. Juli 1252 – da entsetzte sich der König. Es war unmöglich, dem furchtbaren Andrange der wilden, erbitterten Friesen Stand zu halten. Abel und sein ganzes Heer dachten nur, wie sie sich retten möchten und zogen sich mehr fliehend als kämpfend nach der Eider, um hier ihre Schiffe zu besteigen und auf diesen das rettende Meer zu gewinnen. Allein während der Nacht war Ebbe eingetreten, die Schiffe lagen fest im zähen Schlick und konnten um keinen Preis flott gemacht werden. Gedrängt von den Friesen, die bereits mehrere Hunderte der seinigen erschlagen hatten, mußte er sich einen Weg mitten durch das feindiche Land zu bahnen suchen. Er wandte sich nordwärts, und als er eine Stelle erreicht hatte, wo ihm auf der einen Seite das Meer gegen eine Umgehung schützte, beschloß er, es noch einmal mit den wüthenden Friesen aufzunehmen. Es entspann sich ein grauenhaft blutiger Kampf, worin auf beiden Seiten sehr Viele erschlagen wurden. Endlich aber siegte die Tapferkeit und das innige Zusammenhalten der Friesen. Die Dänen mußten weichen und abermals fliehen. Zum Angedenken an dies Gemetzel nannte man den Ort Königskamp und noch heut weiß jeder Nordfriese den Platz jener denkwürdigen Schlacht zu finden. Aber die Leiden dieses Tages solltest mit diesem ersten Zusammentreffen noch nicht zu Ende sein. Bei Koldenbüttel kam es abermals zum Gefecht. König Abel verlor wiederum Viele der Seinigen und mußte endlich nördlich gegen die Geest flüchten. Allein auch dies rettete weder ihn noch sein Heer. Am sogenannten Milderdamme, der einzige Weg, der ihm offen stand, erreichten ihn die nachsetzenden Friesen zum dritten Male und drangen mit solcher Wuth auf ihn ein, daß nach den Berichten der Chronisten auch nicht Einer der Feinde entkam.

Bei den blutigen Kämpfen dieses Tages zeichneten sich vor Allen die Friesen der Nordwestküste aus, die man wahrscheinlich ihres seegewohnten Lebens wegen Seehunde nannte (im Friesischen Sellager). Von ihnen blieben Viele im Kampfe, weil sie mit unbändiger Wildheit sich in die dichtesten Heerhaufen der Feinde wagten.

Glücklicher als seine Begleiter war König Abel. Es gelang ihm auf seinem schnellfüßigen Streitrosse die Schaaren der in immer dichteren Haufen anstürmenden Friesen zu durchbrechen und nordwärts zu entkommen. Schon hatte er seinen Verfolgern einen bedeutenden Vorsprung abgewonnen, schon sah er über den Saatfeldern den Silberspiegel des Meeres aufblitzen und hörte dumpf rauschend die ferne Brandung; da ereilte ihn unvermuthet das Geschick. Wie sein Bruder Erich in jenen Augenblicken, wo Gudmansoe seinen Leuten befahl, den Gefesselten auf der Schlei zu tödten, vorausgesagt hatte, so endigte der Brudermörder Abel. Als nämlich der eiligst Fliehende über den Milderdamm der Küste zusprengte, hob sich aus einem Gebüsch am Wege die riesige Gestalt eines Friesen von Pelworm. Die Chronisten bezeichnen den Mann als Rademacher.[WS 8] Mit hochgeschwungener Axt fiel er den fliehenden König an, schlug ihm das Schwert aus der Hand und zerschmetterte ihm mit gewaltigem Schlage den Schädel. Dies geschah unfern der Stelle, wo sich heute die alterthümliche Stadt Husum am Ausflusse der Hewer[WS 9] in die Nordsee erhebt. Abel stürzte in den Schlamm und blieb längere Zeit unbeachtet und unbeerdigt unter freiem Himmel liegen; denn die Friesen, welche ihn und sein Heer erschlagen hatten, betrachteten ihn als einen von Gott gezeichneten Missethäter.

Erst nach einiger Zeit erbarmten sich die Schleswiger des Erschlagenen. Sie hoben den im Schlick bereits halb versunkenen Leichnam Abel’s auf, schafften ihn nach der Schleistadt und begruben ihn im St. Petersdome neben seinem Bruder Erich. Allein der Unselige hatte keine Ruhe in seiner Gruft. Nahe dem Orte, wo er den Beschluß gefaßt hatte, sich des verhaßten Bruders durch Meuchelmord zu entledigen, wo er durch einen feierlichen Meineid von der Blutschuld zu reinigen sich erfrechte, fanden sich die Zeugen des an König Erich verübten Frevels wieder ein. Zahllose Möwen zogen von den öden Hallen der Jurisburg herüber zum Dome und umflatterten ihn unter nie endendem Klaggeschrei. Diese schrillenden Rufe der Möwen schienen selbst die Wände der Gruft zu sprengen, denn die Domherren vernahmen, wie das Grab Abel’s sich öffnete und sein Geist, von dem Jammerruf der Seevögel gepeinigt ruhelos in den Gewölben des Domes umherirrte. Gebete und Seelenmessen, wodurch man den Spuk zu[WS 10] bannen hoffte, blieben erfolglos. Der Lärm ward in[WS 11] jeder Nacht ärger, so daß den Domherren ein Grausen ankam und die Ueberzeugung sich in ihnen festsetzte, der Unselige werde niemals Ruhe finden können in geweihter Erde. So beschloß man denn, Abel's Leichnam wieder aus seinem Grabe hervorzuholen. Ganz in der Stille, ohne alles Gepränge schaffte man den Sarg aus der Kirche fort, trug ihn westlich von der Stadt in das hinter dem Schlosse Gottorp sich fortziehende Gehölz, den Pölerwald, und versenkte ihn hier in einen Sumpf. Mitten durch den Sarg, also auch durch den Leichnam Abel’s, trieb man einen spitzen, langen Pfahl, um die Leiche an die Erde zu binden und, so glaubte man, den Todten dadurch an gespenstischem Umgehen zu hindern.

Seitdem ward die Ruhe des Domes nicht mehr gestört, den gehofften Frieden des Grabes jedoch sollte Abel auch im Pölerholze nicht finden. An gewissen Tagen oder Nächten im Jahre verließ der Unselige sein einsames, von allen Menschen gemiedenes Grab, schwang sich, in schwarze Stahlrüstung gehüllt, auf sein gespenstisches Roß und besuchte, durch die Luft in wildestem Galopp fortsausend, gefolgt und umgeben von feuerschnaufenden Hunden, seinen ehemaligen Sitz auf der Schleiinsel. Dreimal umkreiste er die Zinnen der verfallenden Jurisburg, auf deren geschnörkelten Thurmspitzen, Gesimsen und Vorsprüngen zahllose Möwen saßen und den nächtlichen Besuch mit Geschrei und Flügelschlag begrüßten. Kehrte Abel wieder zurück in sein Grab, dann verfolgte die düstere Gestalt eine Anzahl Möwen, während die zurückbleibenden das alte Gemäuer und die Insel mit ihren Fittigen gleichsam bedeckten.

Jahrhunderte sind seitdem vergangen, die Jurisburg [500] ist bis auf ein paar unscheinbare Mauerreste, die man nur mühsam entdecken kann, zerfallen, aber die rächenden Möwen hat bis auf den heutigen Tag von der unfruchtbaren kleinen Insel im Schleistrome noch keine menschliche Macht zu verscheuchen vermocht. Zu Tausenden nisten die graziösen Seevögel auf dem stillen Eilande, in dessen hohem Binsengestrüpp der Wind pfeift. Bei hellem Sonnenlicht glänzt ihr Gefieder wie polirtes Silber und einer merkwürdig leuchtenden Wolke gleich kreisen sie über dem fahlgrünen Erdflecke. Des Nachts flattern sie unruhig umher, schaukeln sich auf den Wogen der Schlei oder verbergen sich im schirmenden Binsengras.

Die gegenwärtige Generation weiß wenig mehr von den Geschicken, die sich an den unscheinbaren Inselbrocken in der Schlei heften; sie hat großentheils den Namen der Burg vergessen, die sich dereinst mit ihren stolzen Thürmen und Hallen auf derselben erhob; aber von dem Grabe König Abel’s im Pölerholze, von der Ermordung Erich’s auf der Schlei bei Missunde und von den nächtlichen Wanderungen des Brudermörders nach der Insel und hinab bis an den Ort, wo er den Bruder tödten ließ, spricht noch jetzt alle Welt im Lande Schleswig. Das Volk glaubt an Abel’s nächtliche Umgänge. Viele wollen die schwarze Gestalt des unseligen Königs in der Nacht vom neunten zum zehnten August[WS 12] um die Insel haben schweifen und dann wieder zurückkehren gesehen haben nach der verrufenen Waldung. Bisweilen steigt auch nach dem Volksglauben, gleich einer wunderbar glänzenden Fata Morgana in tiefer Nacht die Jurisburg selbst über die Insel empor, von zahllosen Lichtern erhellt. Dann glätten sich die Wasser der Schlei und wer dieses nächtlichen Wundergebildes ansichtig wird und gerade auf dasselbe zuschreitet, den tragen die Wogen des Meerstromes ungefährdet hinüber auf die Insel; er kann die ehemalige Burg Abel’s betreten und sich einen Theil der daselbst angehäuften Schätze zueignen.

Gegenwärtig ist der Ort, wo sich die glänzende Residenz Herzog Abel’s erhob, ein wüster Erdfleck, der nur einmal im Jahre von Menschen betreten wird. Beherrscher dieses unfruchtbaren Eilandes sind die Möwen, weshalb dasselbe schon seit unvordenklicher Zeit den Namen „Möwenberg“ führt. Im Monat Juli, wenn die junge Brut flügge zu werden beginnt, wird an einem dazu bestimmten Tage Jagd auf die harmlosen Vögel gemacht, und dieser Tag ist für alle Bewohner Schleswigs ein Festtag. Die Insel in der Schlei wird auf ein gegebenes Zeichen, das aus drei Schüssen besteht, förmlich erstürmt, worauf die Möwenjagd, „das Möwenschießen oder der Möwenpreis“ genannt, beginnt. Diese Schlacht endigt mit Vernichtnug der jungen Brut die älteren Möwen, sofern sie den Geschossen ihrer erbarmungslosen Verfolger entgehen, verlassen auf kurze Zeit die Schleiinsel fliehen klagend meerwärts, gehen aber nur selten weiter östlich, als bis Missunde. Hier streichen sie fort und fort über dem Wasserspiegel auf und ab, als müßten sie noch immer den Leichnam des rechtlos Erschlagenen auf dem Grunde der Fluth bewachen. Erst nach Wochen steigt der Möwenschwarm wieder aufwärts, es zeigen sich einzelne über der Stadt Schleswig, andere flatternauf- und niedersteigend um den zertretenen Grabhügel ihrer Kinder, und noch ehe der Herbst eintritt, ist der Möwenberg, dieser Ort, wo sonst die Jurisburg thronte, von den weherufenden Vögeln, welche die Ermordung Erich’s mit ansahen, wieder bevölkert.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Westsee: ehemals gebräuchlicher Name der Nordsee, vgl. den zugehörigen Eintrag in der Wikipedia
  2. Vorlage: weiche
  3. Das Pfluggeld war eine Abgabe auf dem Land, die der Landmann auf die zur Bearbeitung seines Ackers nötigen Pflüge zu zahlen hatte. vgl. Pflugschatz, in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 749. zeno.org
  4. Danevirke: eine früh- bis hochmittelalterliche Befestigungsanlage der Dänen gegen die Sachsen und slawische Stämme
  5. Erinyen: drei Rachegöttinnen der griechischen Mythologie (die personifizierten Gewissensbisse)
  6. Behuf: Zweck
  7. Dingstelle: Ort germanischer Volks- und Gerichtsversammlungen, vgl. den Artikel Thing in der Wikipedia
  8. Rademacher bezeichnet einen Handwerker, der Räder aus Holz herstellt (vgl. Stellmacher)
  9. Hewer oder Hever war früher ein Nebenfluss der Eider. Heute ist der Heverstrom ein Gezeitenstrom, der nördlich von Eiderstedt durch das nordfriesische Wattenmeer verläuft und den Husumer Hafen durch das Wattenmeer mit der offenen Nordsee verbindet. vgl. Hever, in: Hans Jürgen Borchard: Pellworm - Pilworm - Peelwerrem: Eine Spurensuche in der Literatur über Ortsnamen auf Pellworm und um Pellworm herum. Pellworm Verlag. ISBN 3-936017-02-6
  10. zu in der Vorlage nicht lesbar
  11. in in der Vorlage nicht lesbar
  12. Der 10. August ist der Gedenktag Erichs. Abel ließ ihn am 10. August 1250 ermorden.