Der Maigraf
Die altheimischen Feste unseres Volkes, deren Ursprung in die fernste heidnische Vorzeit zurückreichte, standen wie der ganze Heidenglaube im innigsten Gemüthsverhältniß zur Natur. Aufzüge, Mummenschanz und mimische Spiele – die frühesten Regungen dramatischer Kunst – brachten die Naturvorgänge des Jahrs in sinnvolle Beziehung zur Menschenwelt. So kam im Leben des Volkes von Geschlecht auf Geschlecht ein Vätererbe echter Poesie, das, soviel davon verloren und verschleudert wurde, selbst in unseren Tagen noch lange nicht erschöpft ist und noch da und dort wie Fundgold aufleuchtet.
Anziehend vor Allem waren die Bräuche der Frühlingsfeier. Da wurde die Feindschaft zwischen Sommer und Winter im fröhlichen Kampfspiel vorgestellt. Bald stritten die beiden im Einzelkampf: bald tummelten sich ihre Schaaren in kriegerischem Aufputz, bis nach hartnäckigem Widerstand das Heer des grämlichen eisgrauen Winters besiegt und verdrängt wurde. Noch schöner als dieses kriegerische Treiben war aber der friedlich heitere Einzug des holden Sommers, dem alle Herzen freudig und hoffnungsreich entgegenschlugen. Dieser Brauch, der sich an vielen Orten bis heute erhalten hat, ist bei allen germanischen Völkern heimisch und außerdem noch in Frankreich, in Litthauen und in den slavischen Ländern verbreitet. Er besteht im Wesentlichen darin, daß ein junger Mensch – Knabe, Jüngling oder Mädchen – ganz in frischgrünes Laub und Blumen eingehüllt, von den Landleuten im Walde feierlich eingeholt und mit festlichem Geleite in’s Dorf geführt wird. Nach dem naiven Glauben des Volkes war dies ursprünglich kein bloßes Schauspiel; der grüne Laubmann war kein einfacher Figurant: es war der Genius des Frühlingswaldes selbst, den man so als Gast zur Wohnstätte der Menschen führte, und sein Erscheinen brachte den Feldfrüchten und Hausthieren Wachsthum und sprossende Fülle wie die Gegenwart eines göttlichen Wesens.
In Oberdeutschland pflegt dieser Aufzug zur Pfingstenzeit stattzufinden; daher heißt der Stellvertreter des Waldgeistes im Elsaß Pfingstklötzel oder Pfingstquark, in Schwaben Pfingstbutz, Pfingsthagen oder Pfingstlümmel, in Baiern Pfingstl. Im bairischen Franken trägt der Vegetationsgeist ein Kleid und eine Krone von Aehren und heißt der Walber nach dem Walburgistag, dem 1. Mai. In der Ruhla geleiten ihn die Kinder und nennen ihn Laubmännchen, im Nassauischen Laubpuppe. Als Herrscher im grünen Reich heißt er in Niederdeutschland Maikönig, Pfingstkönig im Harz und in Oesterreich, Graskönig in der Gegend von Langensalza, Lattichkönig in Thüringen. In England heißt er „Hans im Grün“ (Jack in the green), in Nordfrankreich „der Vater Mai“ (le père May), bei den Slovenen in Kärnthen und Krain „der grüne Georg“ nach dem Georgitag, der den Ostslaven den Frühlingsanfang bezeichnet. Bei den Litthauern wird das schönste Mädchen als „Maja“ mit einem Kranz geschmückt und mit Birkenzweigen umwunden. Die Namen wechseln; die Sache bleibt dieselbe.
Grußartiger entfaltete sich der Festbrauch, wenn der Fruhlingsgenius zu Roß mit stattlichem Reitergefolge daherzog. So erscheint der thüringische Lattichkönig, der Graskönig und zuweilen der schwäbische Pfingstbutz. Musik zieht voran; der grüne Mann reitet zwischen zwei Geleitern; seine Dienstmannen folgen in bestimmter Maskerade: der „Maienführer“ mit einem kleinen bändergeschmückten Maibaum, ferner Oberst, Fähnrich, Koch und Kellermeister und andere zum Theil sehr possenhafte Gestalten.
So waren die Mairitte der deutschen Dorfgemeinden von Alters her. In die Städte mag der Brauch frühe, vielleicht schon durch die bei der Gründung einwandernden Landbewohner verpflanzt worden sein. Als aber die Blüthezeit der Städte begann und die stolze Lebenslust der Bürger in reichen farbenbunten Festen zum Ausdrucke kam, da wurde auch das Maienreiten nach dem feineren Geschmacke der städtischen Aristokratie umgestaltet. Der unförmliche Aufputz der ganz in ihrer Laubhülle verschwindenden Pfingstpuppe wurde abgethan; ein grüner Kranz genügte, um dem Herrn des Festes zum Abzeichen seiner Würde zu dienen. Dieser Umschwung vollzog sich in den niederdeutschen Städten. So ritten die Bürger von Köln am Donnerstag nach Pfingsten auf die „Holzfahrt“, an ihrer Spitze ein erwählter Anführer, der Rittmeister genannt, dem im Ostendorfer Busch ein Kranz aufgesetzt wurde; dann kehrte der Zug in festlichem Gepränge nach der Stadt zurück. Dieser Anführer, der hier Rittmeister heißt, erhielt in den Hansestädten den Titel „Maigraf“, nach anderen bei den Niederdeutschen üblichen Amtstiteln wie Holzgraf, Deichgraf: „Graf“ in seiner echten alten Bedeutung von „Befehlshaber“. Name und Fest verbreitete sich mit den hanseatischen Kaufleuten über die deutschen Colonien an der Ostsee, wie Danzig, Riga und Reval, und nordwärts nach Skandinavien. Im deutschen Süden blieb beides unbekannt.
Ursprünglich wurde der Maigrafenritt als das ausschließliche Vorrecht der vornehmen Altbürger angesehen. In Greifswald war immer der jüngste Rathsherr der berufene Maigraf. Anderwärts konnte später jeder Bürger oder Geselle diese Würde erlangen. Doch kam es zuweilen zu Spaltungen zwischen den Patriciern und den Bürgern wie zu Danzig im Jahre 1486, wo die Junker ihren Mairitt für sich abhielten. Die jungen Bürgersöhne und die fremden Gesellen thaten sich zusammen, um sie durch ein prächtigeres Maigrafenfest za überbieten; aber der Rath untersagte es ihnen, um fernerem größerem Hader vorzubeugen.
Die Wahl des Maigrafen geschah meist am 1. Mai, dem „Maientag“ schlechthin, in Danzig am Pfingstmontag oder Pfingstdienstag, in Hildesheim am Samstag vor Pfingsten. Seine Würde dauerte ein Jahr. Die Wahl fand in der Regel auf freiem Felde statt. Zu den Wählern gehörten Bürgermeister und Rathsverwandte und der Maigruf des abgelaufenen Jahres. Der neugewählte empfing den Kranz, der gewöhnlich schräg über die Brust getragen wurde. Sofort erlas er sich aus der Schaar der jungen Gesellen seine Amtleute, die beiden Beireiter und den Marschall, und dann ging es in festlichem Zuge nach der Stadt zurück. Wie der bäuerliche Laubmann ritt er zwischen zwei Geleitern; wie den Pfingstbutzen und Pfingstkönigen wurde ihm zuweilen ein Maibaum vorangetragen. In Greifswald ritt ein vornehmer Knabe als Schildjunge vor ihm her, der ihm seinen Kranz wie eine Krone vorantrug. In der Stadt empfing man ihn mit den Ehren eines einziehenden Kaisers oder Königs. Dem Einzuge folgte ein Gastgelage, „der Hof“ genannt, wofür in der Regel der an diesem Tage abtretende Maigraf „das Abenteuer zu stehen“, das heißt, die Zeche zu zahlen hatte. Das Gelage fand entweder in seinem Hause oder auf der Gildestube statt, in Danzig und Riga in dem sogenannten Artushof. Daran schloß sich ein Abendtanz.
In Hildesheim wurde das Fest noch im vorigen Jahrhundert mit großer Feierlichkeit begangen. Nach altem Recht bezog die Stadt die Maien, die Birkenreiser, welche die Herren und Rathsverwandten, die Kirchen und Klöster. zum Pfingstschmuck bedurften, aus einer sieben benachbarten Dörfern gehörigen Waldung. Diese Maien wurden von den Holzerben, den Waldeigenthümern, gehauen und ein vierspänniger Wagen damit beladen. Wo der aus dem Walde herauskam, umringte ihn die Festgenossenschaft. Der neugewählte Maigraf erhielt seinen Kranz und ritt, während sich der Maienwagen nach der Stadt in Bewegung setzte, mit den Anwesenden nach einem Festplatz im Freien, wo eine Menge Zelte aufgeschlagen waren. Dort wurde unter den Salven der Stadtsoldaten eine vorgeschriebene Reihe von Trinksprüchen ausgebracht. Bei der Bewirthung, welche der Maigraf gab, durften Krebse für die Holzerben nicht fehlen. Um halb vier Uhr Nachmittags bliesen die Trompeter zum Aufbruch, und der Maigraf hielt seinen Einzug in die Stadt. Zu seinen Seiten ritten die beiden Ridemeister, die Bürgermeister von Hildesheim; alle Wachen salutirten; die Kanonen wurden gelöst. So ging es durch alle Gassen und Märkte der Stadt, um bestimmte Brunnen herum vor die Thür des regierenden Bürgermeisters und zuletzt zur Wohnung des Maigrafen. Diesen führte einige Tage später, am Pfingstdienstag, der Magistrat unter Pauken- und Trompetenschall nach dem Rathskeller und bewirthete ihn da im Namen der Stadt.
In Reval nahm der Maigraf auch an der großen Frohnleichnamsprocession theil, wobei ihm riesige Wachskerzen vorangetragen wurden, deren Anfertigung ihm die vornehmen Frauen der Stadt besorgten. Dafür hatte er sie und die Kerzenträger in seinem Hause mit Bier und Nüssen zu bewirthen. Mägde trugen die Einladungen umher. Pfeifer und Fiedler spielten auf.
Bei so einfacher Gasterei blieb es aber nicht, wie uns magistratische Verordnungen aus verschiedenen Städten bezeugen, welche dem bei den Maigrafentrünken in Schwang gekommenen Luxus zu steuern suchten. Durch die Ueppigkeit der Bankette war die Maigrafenwürde mit solchen Kosten verknüpft, daß diese Auszeichnung nicht Jedermann erwünscht war, daher einmal ein Stralsunder Junker, der im Jahre 1474 in den Mai reiten sollte, vor dieser Ehre nach Rostock entfloh und vom Rathe bei Strafe gemahnt werden mußte, sich einzustellen.
In den Ostseestädten, z. B. in Danzig und Reval, schloß sich an das Maigrafenfest ein Vogelschießen, wo die Figur eines Papageis mit Armbrust und Eisenbolzen von der Stange geschossen wurde und wo man beim Schützentrunk wacker poculirte. Von Niederdeutschland aus verbreitete sich das Maigrafenfest, wie bemerkt, nach den skandinavischen Ländern.
Urkundliche Nachrichten über Maigrafenfeste haben wir aus den nordischen Städten Ripen, Aalborg, Malmö und Lund. In der jütischen Stadt Ripen erkoren sich die vornehmen Jünglinge am 1. Mai ihren Maigrafen und zogen mit ihm durch die Nordpforte in die Stadt ein. Das hieß man „den Sommer in die Stadt einführen“. Sein Gefolge, nur aus Jüngllngen bestehend, trug grüne Maienbüsche auf den Hüten und sang beim Einzug ein altes Sommerlied. Wie in den Ostseestädten verband die Gilde der dänischen und deutschen Kaufleute in Aalborg das Maifest mit dem Schützenfest. Am Walburgistag versammelte man sich vor dem Walde, wo der Maigraf gewählt wurde; dann zog man zu der Vogelstange und schoß nach dem Papagei. Schließlich hielten der Maigraf und der Schützenkönig, welcher auch der Papageienkönig genannt wurde, verbrüdert ihren Einzug in die Stadt.
Doch nicht blos die nordischen Städte, auch die Dörfer kannten den Brauch des Sommereinreitens. Am Walburgistag hielten die Bursche und die Mädchen gesonderte Umzüge.
An einzelnen Orten bestand der schöne Brauch, daß die Mädchen in ihrem Sonntagsputz den Maigrafen umringten und er sich eine zur „Maiin“ oder Maigräfin erwählte, indem er einen Kranz auf sie warf. Die Mädchen sangen dabei ein altes, nur noch halb verstandenes Lied mit dem Kehrreim: Mai, Ihr seid willkommen! –
So war also das deutsche Städterfest bei den Dänen wieder zum ländlichen Volksfest geworden. Der mit seiner Maiin daherziehende Maigraf gemahnt an jene fernen Frühlingstage, da noch der milde Sommergott Freyr mit seiner schönen Gemahlin in Gestalt seines Tempelbildes und seiner Priesterin auf einem verhüllten Wagen durch das schwedische Land fuhr, allenthalben mit Festjubel und Opferschmäusen bewillkommt. Der Umzug des Götterpaares brachte sonnige Lüfte und ein gesegnetes Jahr.
Wie der altgermanische Gott ist nun auch der mittelalterliche Maigraf längst aus unserer ernüchterten Welt verschwunden. Da und dort, wie in Pasewalk und Malmö, lebte sein Andenken noch längere Zeit in einem Frühlingsfeste der Schuljugend fort. An anderen Orten, wie Greifswald, blieb schließlich von dem ganzen Fest nur noch das Bankett übrig. An den meisten Orten kam der Maigrafenritt im Laufe des 17. Jahrhunderts in Abgang; am längsten erhielt er sich in Hildesheim, wo er erst im Jahre 1782 abgeschafft wurde.