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Ein Thüringer Kantor und sein Werk

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Titel: Ein Thüringer Kantor und sein Werk
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 371
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Nachruf auf den Kantor Bernhard Müller
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[371] Ein Thüringer Kantor und sein Werk. Nicht blos der Männergesang mit seinen Tausenden von Liedertafeln und Singvereinen, auch der gemischte Chor hat in Deutschland gute Pflege gefunden und letzterer namentlich für das geistliche Concert, für den Kirchenchor. In dieser Kunst, wie in den bildenden Künsten, sind wir lange Zeit bei den Italienern in die Schule gegangen. Als aber der Glaubensernst, die Glaubensbegeisterung durch die Reformation den größten Theil des deutschen Volkes ergriff, überflügelte die deutsche Kirchenmusik bald die italienische. Während letztere mehr und mehr in Opernstil und Instrumentenprunk ausartete, erhoben die deutschen Componisten die Orgel zu ihrer Würde empor und bewahrten endlich dem Chor seine Freiheit von aller Instrumentenbegleitung, den Gesang „a capella“, den sie aus der italienischen Glanzperiode der Kunst hervorzogen. Auf diesem Wege sind die berühmten Kirchenchöre entstanden, die seit langer Zeit in Deutschland an der Spitze derselben stehen: der Berliner Domchor, der Dresdener Kreuzkirchen- und der Leipziger Thomanerchor. In Italien behauptete der Chor der Sixtinischen Capelle in Rom den ersten Rang.

Ein ganz besonderes Verdienst um die Pflege und Ausbildung dieses geistlichen Chorgesanges haben sich die deutschen Cantoren erworben, die, zumeist in bescheidener Stellung, stets am begeistertsten und mit hingebender Liebe der Kirchenmusik gedient und öfters die ihnen unterstehenden Chöre aus unscheinbaren Anfängen heraus zu einem künstlerisch hochbedeutenden Ensemble gestaltet haben. Thüringen war die Heimath ganzer Cantorengeschlechter, und es ist ja bekannt, daß kein Geringerer als Johann Sebastian Bach, der Vater der deutschen protestantischen Kirchenmusik und der Meister des Leipziger Thomanerchors, einer solchen Thüringer Cantorfamilie entsprossen ist.

Ein solcher Thüringer Cantor war auch der Mann, welchem es gelungen ist, in einer kleinen thüringischen Stadt eine Schöpfung zu vollenden, die mit den gleichartigen von Rom und Berlin, Dresden und Leipzig auf der nämlichen Höhe steht. Mit der Gründung und der Erhebung des „Salzunger Kirchenchors“ zu solcher Bedeutung hat der einfache Cantor eine That vollbracht, die eine deutsche Ehre ist und mit welcher er es sich verdient hat, daß sein Name von allen sangesfrohen Deutschen geachtet werde.

Dieser Mann war Bernhard Müller, welcher, am 25. Januar zu Sonneberg im Meininger Oberlande geboren und ein Schüler Bogenhardt’s, im Jahre 1844 als Cantor nach Salzungen berufen wurde. Die Begründung des Salzunger Kirchenchors fällt in das Jahr 1851. Der verständniß- und liebevollen Leitung Müller’s gelang es bald, seine Schöpfung zu künstlerischer Bedeutung zu bringen, sodaß man in weiteren Kreisen auf dieselbe aufmerksam wurde; der durch seinen Kunstsinn hochverdiente Herzog Georg von Meiningen wandte ihm eine besondere Fürsorge zu. Er setzte Müller in den Stand, nicht nur alle hervorragenden Kunstinstitute in Deutschland kennen zu lernen, sondern auch den Gesang der Sixtinischen Capelle an Ort und Stelle zu studiren, ernannte ihn 1867 zum Kirchenmusikdirector und übergab ihm die Oberleitung des Kirchen- und Schulgesangs im ganzen Herzogthum. Der Salzunger Kirchenchor besteht aus 40 Knaben- und 20 Männerstimmen, und in der musikalischen Welt weiß man ebenso sehr die große technische Schulung dieses Chors wie den warm empfundenen und stilgerechten Vortrag zu würdigen. Bernhard Müller hat das ermutigendste Beispiel gegeben, was mit den Gesangskräften auch einer kleinen Ortschaft zu erstreben ist, wenn eine tüchtige Leitung sich ihrer mit Liebe und Beharrlichkeit annimmt.

Leider ist der Meister durch einen plötzlichen Tod seinem ruhmvollen Wirkungskreise entrissen worden. Der Salzunger Kirchenchor gab am 15. December vorigen Jahres in Meiningen vor dem Herzoge ein Concert; der von Müller außerordentlich wirkungsvoll componirte 23. Psalm bildete den Schluß des Programms und der Dirigent hatte so auch als Componist hohe Anerkennung gefunden. Kaum vom Herzog mit freudigem Handdruck geschieden, wurde Müller unmittelbar nach dem Verlassen des Concertsaales auf der Treppe von einem Schlaganfalle getroffen, an welchem er noch im Schlosse starb.

Für einen Künstler gewiß ein schöner Tod, im Augenblicke eines Triumphes Abschied von der Welt zu nehmen! Aber für die Familie Müller’s war der plötzliche Verlust um so schmerzlicher und folgenschwerer, als sie durch ihn ihrer einzigen Stütze beraubt wurde. Und hieran, an die keineswegs sorgenfreie Lage der Hinterbliebenen Müller’s, möchten wir in dem Augenblicke erinnern, in welchem die treue Sängerschaar den Entschluß gefaßt hat, ihrem früheren Meister und Führer ein Denkmal zu setzen. Wer könnte, wenn er je den Melodien des berühmten Kirchenchores gelauscht, sich mit dem Gedanken versöhnen, daß die hinterbliebenen Lieben dieses Meisters mit Alltagssorgen zu kämpfen haben? Gewiß verdient Bernhard Müller vor vielen hervorragenden Männern seiner Zeit ein Denkmal, allein näher scheint uns die Aufgabe zu liegen und mehr im Geiste des Verstorbenen das Bestreben zu sein, den Dank für Müller’s große Verdienste in die Form einer Ehrengabe für seine Hinterbliebenen zu kleiden. Wir wollen nicht versuchen, Diejenigen, welche dem verstorbenen Künstler ein steinernes Denkmal zu setzen gedenken, von ihrem pietätvollen Vorhaben abzulenken; aber wir würden uns freuen, wenn damit zugleich eine Anregung dazu gegeben wäre, der Familie Bernhard Müller’s mit derselben opferfreudigen Hingabe zu gedenken, wie er sie dem großen Werke seines Lebens gewidmet hat.