Der Montblanc und seine Besteigung

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Textdaten
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Autor: Dr. L–n
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Titel: Der Montblanc und seine Besteigung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 20-24
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Die ersten Besteigungen des höchsten Berges Europas
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Der Montblanc und seine Besteigung.

An der Grenze von Wallis im Herzogthum Savoyen erhebt der König der europäischen Berge sein riesiges Haupt. Aus einer Reihe von Schneegebirgen, die selbst wieder auf dem Rücken von schwarzen Fichtenbergen liegen, aus ungeheuren Gletschern, die gleich gefrornen Strömen weite Klüfte ausfüllen und sich in’s Thal hinüberstrecken, steigt die höchste Spitze der Alpen, der weiße Berg, Montblanc, bis 14,760 Fuß über die Oberfläche des Meeres. Im Westen der gewaltigen Massen dieses Gebirgsstockes von Nordost gegen Südwest zieht sich 5–6 Stunden lang das sehr hoch gelegene Thal Chamouny[WS 1] hin. Kaum über ein Jahrhundert, daß diese wegelosen Gegenden bekannter geworden; ihre Bewohner genossen eines mehr als zweideutigen Rufes und hatten dem ganzen Gebirge den bedenklichen Namen der Montagnes maudites[WS 2] (verwünschtes Gebirge) verschafft. Zwei Engländer erschlossen 1741 das Thal; ein paar Jahrzehnte später hatte des berühmten Genfer Naturforschers Saussure Name auch Chamouny berühmt gemacht und heute ist das enge Thal einige Monate des Jahres hindurch der Sammelpunkt unzähliger Reisenden. Es wird südwestlich von der Hauptkette des Montblanc mit seinen gewaltigen Eisfeldern, nordwestlich von den Aiguilles rouges („Aiguilles“ heißen die wie Nadeln aufsteigenden Gebirgsspitzen) und dem Breven, nordöstlich vom Col de Balme begränzt. Tritt der Reisende von Wallis über den letztgenannten Berg in das Thal, so wird er von einem Anblicke überrascht, der selbst in diesem Lande alpinischer Größe noch etwas ganz überraschend Großartiges hat.

Vor ihm liegt die gewaltige Pyramide des Montblanc vom [21] Gipfel bis zur Sohle frei und unverhüllt, umgeben von den verschieden benannten Zacken und Nadeln grauer Felsenspitzen, die wieder durch gewaltige Gletscher getrennt sind, die ihre erstarrten Wogen in das grüne Thal der Arve hinabsenken; – ein überwältigender Eindruck! Denn dieser höchste Gipfel Europa’s, obgleich 6–7000 Fuß niedriger als der Chimborasso, steigt aus der Thalfläche von Chamouny höher empor als der Fuß des amerikanischen Bergriesen über seine nächste Umgebung, das Thal von Quito. Fast 12,000 Fuß erhebt sich der Montblanc über das Thal; diese ganze imposante Höhe mißt der Blick auf einmal. Ungefähr 7000 Fuß unter dem Gipfel[WS 3] ist der Berg beständig von Eis und Schnee bedeckt. Während das Thal unten in üppiger Vegetation grünt, sind die Seiten und Abhänge des Gebirgsstockes eine beträchtliche Strecke aufwärts mit dichten und finstern Wäldern bekleidet und höher noch mit dem Schimmel von Jahrhunderten.

Der Montblanc vom Chamounythale aus.

Einen Weg auf die Spitze dieses in unvergänglicher Majestät weit hinaus glänzenden Berges zu finden, war lange ein Gegenstand des Ehrgeizes, sowohl der Anwohner wie für die Männer der Wissenschaft. Noch der junge Geschichtsschreiber der Schweiz, Johannes von Müller, konnte sagen: „Man weiß keinen Menschen, welcher den weißen Berg oder den Schreckhorn erstiegen hätte.“ Ein erster Versuch fand auf Veranlassung Saussure’s 1762 statt; er war wie mehrere folgende ohne Erfolg. Endlich fand 1785 Peter Balmat den einzigen Pfad, auf dem man zum Gipfel gelangen kann. Diese Entdeckung kam im nächsten Jahre Dr. Paccard aus Chamouny zu statten, der unter Leitung jenes Führers und Angesichts vieler Einwohner von Chamouny und der dortigen Fremden am 8. August wirklich den Gipfel erreichte. Ein Jahr darauf erstieg Saussure selbst den Berg und theilte der Welt eine genaue Erzählung aller Erscheinungen mit, welche er im Laufe des Unternehmens beobachtete. Bis zum Jahre 1812, wo ein Herr Rodez aus Hamburg den Gipfel erreichte, zählt man drei gelungene Versuche, bis 1827 sieben weitere, neben einem, welcher durch den Fall einer Lawine und den Verlust dreier Führer unterbrochen wurde, was um so mehr zu bedauern ist, da diese Reise von dem russischen Arzte Hamel unter Vorbereitungen zu mannigfachen wissenschaftlichen Versuchen begonnen worden war. Dr. Barry bestieg am 17. Sept. 1834, eine Woche später im Jahre, als irgend eine der vorhergehenden Besteigungen stattgefunden, den Berg, und noch einige Wochen später machte ein Franzose den Versuch. Graf Tilly, der im Mai desselben Jahres den Aetna bestiegen, hatte gehört, daß noch keiner seiner Landsleute die Besteigung unternommen, während bereits elf Engländern und mehreren Andern dies gelungen. Dies bestimmte ihn sofort, diesen scheinbaren Vorwurf auf dem hellen Ruhme seines Landes zu verwischen, und das Resultat war – Erfolg, auf Kosten seiner Füße, die er erfroren hatte. Im Jahre 1837 bestieg ein Engländer Atkins den Montblanc, wohl der jüngste der bisherigen Besteiger des höchsten europäischen Felsenhauptes, noch nicht 19 Jahre alt, mit einem Landsmann Pidwell und dem Schweden Hudzengen; bei dieser Gelegenheit kam auch der kleine Hund eines Führers auf den Gipfel, jedenfalls das erste Thier dieser Art, das den Montblanc bestieg. Aber auch weibliche Namen zeigt die Liste der Helden dieses kühnen Unternehmens. Ein Mädchen aus Chamouny hatte ihren Bräutigam und andere Chamounyarden begleitet und war bald gehend, bald getragen auf die Höhe des Berges gelangt, aber Marie du Montblanc, wie sie von da an hieß, sollte lange ohne Nachfolgerin bleiben. Da unternahm Mademoiselle d’Angeville aus dem Departement de l’Air am 3. Sept. 1838 das schwierige Wagstück, zu dem sich die 42 Jahre alte, feingebaute, indeß an starke Fußreisen in den Bergen ihrer Heimath gewöhnte Dame die Mittel erspart hatte. Unter großen Anstrengungen und Beschwerden erreichte sie glücklich die Höhe, wo die Freude des Sieges sie dem artigen Hauptführer einen Kuß bewilligen ließ, ihr aber noch die besondere Auszeichnung zu Theil wurde, noch höher als der Montblanc sich zu befinden, indem die Führer sie auf ihren Armen emporhoben. Die Heldin trank ein Glas Champagner auf die Gesundheit des Grafen von Paris.

Die Reise auf den Montblanc ist heut zu Tage weniger schwierig als vormals, wegen größerer Bekanntschaft mit dem Berge (obgleich Gletscher u. A. sich öfters ändern) und vielfacherer Erfahrungen, aber verhältnißmäßig kostspieliger geworden. Jeder Theilnehmer bedarf mindestens vier Führer, von denen der Hauptführer [22] einige hundert, jeder andere nicht unter 100 Franken erhält, so daß, einige Nebenkosten für Lebensmittel, Wein u. A. hinzugerechnet, die Kosten einer Montblancbesteigung für die Person 400 bis 500 Fr. kommen. Die Führer von Chamouny sind eine merkwürdig intelligente, scharfsinnige und unternehmende Menschenklasse. Einer, Namens Coutet, auch der Begleiter des Fräulein d’Angeville, wird von verschiedenen Reisenden als eine sehr geistvolle und in jeder Hinsicht achtungswerthe Persönlichkeit erwähnt. Die meisten der Chamounyführer sind stolz auf die Auszeichnung, den Montblanc erstiegen zu haben; aber bei der noch immer großen Gefahr des Unternehmens wenden ihre weiblichen Angehörigen allen ihren Einfluß an, um sie von der Uebernahme dieses Geschäftes abzuhalten. Die Rückkehr von dem Berge ist daher ein wahres Fest, mit Böllerschüssen und Gesang gefeiert, dem gewöhnlich andern Tages ein Mahl folgt, das den Führern gegeben wird. Bei demjenigen, das Fräulein von Angeville gab, nahm Marie du Montblanc die obere Stelle am Tische ein.

Besteigung des Montblanc.

Um den Lesern eine möglichst anschauliche Schilderung von den Mühsalen und Gefahren einer Besteigung des höchsten europäischen Berges zu geben, folgen wir Mister John Auldjo vom Trinity-College in Cambridge, welcher die Reise im August 1827 unternahm und sie mit Karten und Zeichnungen publicirte. Sie giebt das klarste Bild, das wir kennen.

Als Mister Auldjo seine Wanderung begann, brachte er den ganzen Morgen mit dem Marsche durch den untern bewachsenen Theil des Berges hin. Bei der Annäherung an den Gletscher beim Beginne der obern und Schneeregion hielt er es für unmöglich, ihn zu betreten oder auf alle Fälle eine große Strecke längs ihm vorzugehen, wegen der auf einander gethürmten Massen von Eis und der tiefen und weiten Risse, die jeden Augenblick den eingeschlagenen Weg unterbrechen. „Hier,“ bemerkt der Reisende, „zeigt sich die Gewandtheit und Erfahrenheit des Führers; die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der er eine gangbare Stelle entdeckt, ist außerordentlich; er schlägt den Weg über Stellen ein, wo man es für unmöglich halten sollte, daß ein menschlicher Fuß sie betrete. Wir gingen längs der Trümmer unzähliger, seit langem aufgehäufter Lawinen, die einen meist unebenen und ermüdenden Fußpfad bildeten. Ein weites Schneefeld, hie und da mit Massen gebrochenen Eises bedeckt, trat uns entgegen; bald erhob ein schöner Thurm von dieser Masse seine bläuliche Form und schien der stolzen Felsenspitzen über ihm zu spotten; bald zeigte sich ein ungeheurer Block mit Zinnen, die nun eine Masse Schnees trugen, jetzt lange und klare Eiszacken, gleich einem Schlosse, auf dessen zerbrochenen Wällen der Epheu überhängend in seiner büschlichen Schönheit oder liegend in reicher und dunkler Fülle, von dem Stabe einer Fee in die prächtigschimmernde Materie verwandelt worden war, die ihn jetzt zusammensetzte.“

An diesen niedrigeren Theilen des Berges kommt die Hauptgefahr von der Lawine, die jedoch meist Nachmittags zu fallen pflegen, wenn die Sonne die ungeheuern Massen darüberliegenden Eises abgelöst hat. Eine gleiche Gefahr drohen die zahlreichen Risse und Spalten in dem weiten Eismantel des Montblanc. Gegen das Hinabstürzen in diese abschüssigen Oeffnungen sucht man sich dadurch zu schützen, daß je drei sich mittels eines Seiles verbinden. „Wir waren,“ erzählt Auldjo, „von zu Bergen aufgepfeilertem Eise, bei jedem Schritte von Spalten, und zur Hälfte in irgend einen tiefen Abgrund versunkenen Massen umringt; der Ueberrest, über uns sich erhebend, schien unserm Vorschreiten unübersteigliche Barrieren entgegenzuwerfen; doch fand sich eine Stelle, wo Stufen mit dem Beile eingehauen werden konnten; und wir gingen über diese Brücken, oft das Eis mit einer Hand ergreifend, während die andere mit dem Alpenstocke den Leib balancirte, der über einem Abgrunde hing, in den das Auge drang, ohne sein Ende zu finden. Manchmal mußten wir von einer Eisklippe zur andern klettern, ein andermal längs eines Felsengrates auf Händen und Knien rutschen, oft in einen tiefen Spalt auf der einen Seite hinabsteigen, um den schlüpfrigen Abhang auf der andern hinaufzuklettern. Man konnte nicht aufgeräumter als meine [23] Führer sein, die lachten, sangen und scherzten; aber wenn wir an solche Stellen kamen, war der strenge, ernste Blick, der die Stelle des Lächelns einnahm, ein sicheres Zeichen großer Gefahr; augenblicklich, sobald wir an ihr unversehrt vorbei waren, kehrte das Lächeln zurück… Eine breite Eismasse setzte sich jetzt unserm Vorschreiten entgegen: wir erklommen ihre Seiten und passirten sie. Sie bildete eine Brücke über einen Spalt von großer Weite, der außerdem unserer Expedition ein Ende gemacht haben würde. Nachdem wir uns eine Zeit lang zwischen Klüften und ungeheuren Felsspitzen gewunden hatten, kamen wir an den Rand eines andern Spaltes, über den wir nur Eine Brücke sehen konnten, die nicht von Eis, sondern nur von Schnee und so dünn war, daß es unmöglich schien, sich ihr anzuvertrauen. Ein Plan ward entworfen, der den Uebergang ermöglichte. Man legte die Stöcke darauf; die Mitte gab nach und fiel in den Abgrund, an jeder Seite blieb aber noch genug, um Anhaltpunkte für die Stöcke zu geben, von denen dann 9 eine schmale, freilich mit größter Vorsicht zu passirende Brücke bildeten.“ Ueber andere zu weiche oder zu breite Schneebrücken half man sich durch das Hinüberziehen der Einzelnen, nachdem es vorher einem starken Führer gelungen war, hinüberzukriechen.

Mit allen diesen Mühseligkeiten war indeß doch erst die Hälfte, wenn auch die etwas größere, des Weges auf den Berg zurückgelegt, und zwar bis zu zwei spitzen Felsengipfeln, die man die Grands und Petits Mulets nennt. Die ersteren bieten gewöhnlich den Reisenden während der ersten Nacht der Tour Obdach, manchmal auch während der zweiten, denn Auf- und Herabsteigen erfordert häufiger drei als zwei Tage. Auldjo und seine Begleiter fanden die Grands Mulets durch eine fürchterliche Spalte unmittelbar an ihnen fast unzugänglich. Auch ein ungemein hoher Eiswall mußte mittels in das Eis gehauener Stufen erstiegen und dann eine Zeit lang auf seiner engen Höhe, die allenthalben in unergründliche Abgründe abfiel, hingegangen werden. Hier gleitete Auldjo aus und rutschte hinab, so weit das Seil reichte, mit dem er an die Führer befestigt war. Erst dann zogen diese, selbst feststehend, den Reisenden, der nun selbst mithelfen konnte, wieder zu sich und in Sicherheit. Dies Verfahren ist einleuchtend. Hätten sie während seines Hinabgleitens versucht, ihn aufzuhalten, hätten Alle das Gleichgewicht verlieren und hinabstürzen können. So galt es vor Allem, daß die Führer selbst festen Fuß faßten, um dann den Hinabgeglittenen sicher emporziehen zu können. Der Platz für die nächtliche Ruhe der Reisenden ist ein Felsenriff in der Nähe des Gipfels der Grands Mulets. Gegen den Felsen gelehnte Stöcke bilden eine Art Zelt. Dr. Barry (der 1834 den Berg bestieg) fand die Luft hier 40° Fahrenheit warm, litt also nicht vor Kälte. Ueber die beispiellos großartige und eindrucksvolle Scenerie, welche Barry, als er um Mitternacht aus seinem Zelte trat, erblickte, äußert er sich in folgenden Worten: „Es war eine herrliche Nacht. Der Vollmond war über den Gipfel des Berges aufgestiegen und schien glänzend auf die glatte Oberfläche seiner schneeigen Decke. Die Führer schliefen. So, in mitternächtiger Stunde, auf einer Erhöhung von 10,000 Fuß, stand ich – allein: mein Ruheplatz eine Felsenspitze, die sich dunkel über die erstarrte Wüste aufthürmte, aus der sie isolirt sich erhob. Unter mir lagen in wildester Unordnung aufgepfeilert die colossalen Eismassen, die wir erklommen hatten und deren Gefahren wir kaum entgangen waren; ringsum und oberhalb war ein See schönen aber verrätherischen Schnees, dessen versteckte Gefahren wir noch zu überstehen hatten. Das Juragebirg und mancher unbekannte Gipfel des Schweizerlandes, in der Entfernung dunkel erscheinend, gaben mir einen Vorgeschmack der Aussicht von noch erhabeneren Regionen. Das Thal von Chamouny ruhte schlafend am Fuße des Berges; und nur gelegentlich von dem donnernden Falle einer Lawine unterbrochen, herrschte das tiefste Schweigen. Es schien das unermeßlichste, ernsteste, erhabenste Bild einer ruhenden Natur – jetzt auffahrend wie in einem Fiebertraum – dann wieder in die tiefste Ruhe versinkend.“

Zwischen den Grands Mulets und dem Fuße des ausdrücklich Montblanc genannten Gipfels geht der Weg im Zickzack längs einer weiten aufsteigenden Rinne, die durch drei Eisfelder unterbrochen ist, deren letztes und breitestes das Grand Plateau genannt wird. Dieser Theil des Wegs ist vielfach durch Spalten und die Trümmer von Lawinen unterbrochen, ungeheure Massen, die jedoch wie vorher, manchmal als Brücken über die Klüfte dienen. Mit dem Beile eingehauene Stufen, um Platz für Füße und Hände zu bekommen, müssen auch hier helfen. Auldjo und seine Gefährten nahmen ihr Frühstück an einer hohlen oder hängende Brücke von Schnee, die ihnen Schutz vor dem scharfen Wind gewährte, der über das Eis blies, deren Fall sie aber auch unrettbar in den nahen Abgrund gestürzt haben würde.

Etwas über dem großen Schneerücken des Grand Plateau beginnt der Reisende gewöhnlich großen Durst und große Trockenheit der Haut zu empfinden, während der Reflex der Sonnenstrahlen von dem glitzernden Schnee nur durch den Gebrauch grüner Brillen oder eines grünen Schleiers ertragen werden kann. Das Aufsteigen längs der obern Firsten bis zur Spitze ist äußerst schwierig, theils wegen der größern Steile, theils wegen natürlicher Erscheinungen. Die in dieser Höhe sehr dünne Atmosphäre erzeugt bei der geringsten Anstrengung Entkräftung und Athemlosigkeit. Man kann nur wenige Schritte auf einmal thun und diese werden immer weniger und langsamer. „Zwei oder drei tiefe Einathmungen,“ sagt Dr. Barry, „scheinen nach jedem Stillstande hinreichend, um mir das Weitergehen zu ermöglichen; aber bei dem Versuche fand ich, daß die Athemlosigkeit wie vorher zurückkehrte. Eine kleine Ohnmacht wandelte mich an, so daß ich mich für einige Minuten setzen mußte; als nach einem kleinen Schlucke Weines eine größere Anstrengung gemacht wurde, und wir endlich auf dem höchsten Gipfel standen.“ Mister Auldjo scheint in einem noch elenderen Zustande gewesen zu sein: er war erschöpft, äußerst ermüdet, dem Ersticken nahe von der Trockenheit seines Gaumens und der Athemschwierigkeit; sein Kopf brannte schmerzhaft; seine Augen schmerzten entzündlich; der Reflex des Schnee machte ihn fast blind und brannte und zog zugleich sein Gesicht in Blasen auf. Er wollte nicht weiter; aber seine Führer entschlossen sich, ihn hinaufzutragen, ehe sie ihn der Enttäuschung, vor dem Ziele zurückgewichen zu sein, aussetzen wollten.

Oben änderte sich dies. „Nach wenigen Minuten Ruhe auf dem Gipfel (der ein von Morgen gegen Abend sich erstreckender Grat ist, an der höchsten Stelle beinahe horizontal und so schmal, daß zwei Personen kaun nebeneinander gehen können) war alle Erschöpfung, Schwäche und Gleichgültigkeit gewichen; die Bergspitze war gewonnen – die Gefahren des Hinabsteigens wurden für einen Augenblick vergessen – und es geschah mit einem nie vorher gefühlten Freudenschauer, daß ich mich an die Betrachtung des Anblickes umher und unter mir machte. Der Gesichtskreis, obgleich durch Bergketten in verschiedenen Richtungen begränzt, umfaßt beinahe ganz Sardinien (Savoyen und Piemont), die westliche Hälfte der Schweiz, ein Drittel der Lombardei und ein Achtel von Frankreich – ja bis zu den Bergen Toskana’s reicht der Blick – Alles dies unter einem Himmel buchstäblich ohne eine Wolke.“ Saussure und Dr. Barry zündeten Feuer auf dem Gipfel des Montblanc an, da aber bei der äußersten Dünne der Luft, welcher der Sauerstoff fehlt, nur durch unablässigen Gebrauch von Blasbälgen unterhalten werden konnte. Der Siedpunkt des Wassers ward von Saussure auf dieser Höhe bei 187° Fahrenheit gefunden (45 Grad unter dem Punkt, auf dem es in der Ebene siedet). Die Dünne der Luft vermindert auch die Wirkungen des Schalles. Eine abgefeuerte Pistole knallt schwach, etwa wie eine Rakete, was theilweise auch von dem Mangel jeglichen Echo’s und des Abprallens von festen Gegenständen auf diesem so hohen Gipfel herrührt. Die feierliche Stille, welche herrscht, wird kaum durch die Stimme der mit einander Sprechenden unterbrochen, da ihr schwacher Ton mit Mühe gehört wird. Der Körper fühlt sich merklich leichter; Capitän Sherwill schildert dieses Gefühl in den Worten: „Es schien, als könnte ich die Klinge eines Messers unter die Sohle meiner Schuhe bringen oder zwischen sie und das Eis, auf dem ich stand.“ Sonne und Himmel bieten einen eigenthümlichen und herrlichen Anblick; die Farbe des einen ist das dunkelste, tiefste Blau, während die Sonnenscheibe äußerst schmal und von einer vollkommenen und glänzenden Weiße wurde. Dr. Barry erklärt diese Tiefbläue des Himmels aus der gleichzeitigen Aufnahme der Strahlen vom Schnee durch das Auge; nachdem er sich auf seinen Rücken gelegt und so jeden Einfluß des Schnees ausgeschlossen hatte, war die natürliche Farbe großentheils wieder hergestellt. Als Saussure den Berg bestieg, entdeckte man nahe am Gipfel zwei Schmetterlinge, eine kleine graue Phaläne und einen Myrtil, an den obersten Felsen kleine knotige Flechten; so [24] daß selbst auf diesen eisigen Höhen nicht alles Leben der treibenden Natur erstorben ist.

Der Rückweg vom Gipfel ist oft nicht weniger beschwerlich und erfordert wegen der Steilheit und des Zurückprallens der Sonnenstrahlen, welche die nahen Abgründe beleuchten, wegen großer Hitze, weicheren Schnees, in den man einsinkt, gleiche Vorsicht. Oft ist man genöthigt, scharf sein Ziel im Auge, Abhänge hinabzugleiten; ein Ueberschießen des Zieles kann Verderben bringen. Gewitterstürme und dichter Schneefall überraschen nicht selten die Heimkehrenden und machen die Lage noch bedenklicher, wenn die Spur des Heraufwegs dadurch verloren gehen sollte. Dann quälen Hagelschauer und Kälte, wie vorher Hitze. Genug, um auch die Unerschrockendsten beben zu machen. Mit Auldjo, dessen lebendige Beschreibung wir theilweise benutzt haben, wiederholte sich eine Scene, wie sie wohl aus der Schreckenszeit des französischen Rückzugs aus Rußland erzählt werden. Er war in einem solchen Hagel- und Schneesturme so erstarrt, daß ihn die Führer im Kreise umschlossen, mit ihren Körpern wärmten, ihre Jacken auf ihn deckten, seine Hände in ihren Busen wärmten, während Andere auf seinen Füßen lagen, und ihn so wieder in einen Zustand brachten, daß er weiter gehen konnte. Am Abend erreichte er Chamouny, von dem er nur 37 Stunden abwesend gewesen. Dieses „nur“ werden die Leser nun zu würdigen wissen, wenn sie nochmals die Mühen und Gefahren dieser Zeit an ihrem Geiste vorübergehen lassen. Und doch versichern Alle, welche diese Reise zurückgelegt, daß die Erhabenheit und Herrlichkeit Dessen, was sie gesehen, alle jene Mühseligkeiten überreichlich aufwiege!
Dr. L–n. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Chamonny
  2. Vorlage: mandites
  3. Vorlage: Gifel