Der Rabe (Lithauisches Märchen)

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Autor: Fr. Richter
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Titel: Der Rabe
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aus: Lithauische Märchen III, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, S. 235–239
Herausgeber: Edmund Veckenstedt
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Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Alfred Dörffel
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Erscheinungsort: Leipzig
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2. Der Rabe.

Vor langen, langen Jahren lebte einmal eine arme Witwe, welche zwei Kinder hatte, einen Knaben und ein Mädchen. Die Kinder waren im übrigen gut geraten, hatten einander und die Mutter sehr lieb, nur besass der Knabe den Fehler, dass er gern die Sahne von der Milch naschte. Die Frau hatte nur eine Kuh; wenn dieselbe gemolken und sie die Milch aufgestellt hatte, ging ihr Sohn stets darüber her, so oft die Mutter es auch verboten hatte, und ass die Sahne ab. Dadurch wurde es der Witwe unmöglich, Butter zu gewinnen. Endlich geriet die Witwe in einen solchen Zorn, dass sie ihren Sohn in einen Raben verwünschte. Zu der Zeit hatten nämlich die Eltern noch die Macht, ihre Kinder in jedes beliebige Tier verwünschen zu können.

Jeden Tag kam nun der Rabe in den Hof seiner Mutter, um dort einen oder den andern Bissen zu erhaschen. Die Tochter der Witwe war sehr betrübt, dass sie ihren Bruder nicht mehr hatte, und als der Rabe einst wieder in den Hof gekommen war, befragte sie denselben, ob sie ihn erlösen könne. Der Rabe sagte, das könne sie wohl thun, aber sie müsse dann sieben Jahr hindurch mit den Tieren des Waldes leben und dürfe in diesen sieben Jahren kein Wort sprechen, es geschehe, was da wolle.

[236] Die Tochter der Witwe entschloss sich, das Erlösungswerk zu vollbringen. Sie ging in den Wald und lebte dort wie die Tiere des Waldes, von Früchten und Wurzeln. Des Nachts kletterte sie auf einen Baum und schlief in seinen Zweigen. Ihre Kleidung zerfiel, so dass das lange Haar ihres Hauptes bald ihre einzige Bedeckung war, aber sie war zufrieden und glücklich in dem Gedanken, ihren Bruder erlösen zu können.

So waren bereits drei Jahre verflossen. Da geschah es eines Tages, dass der junge König des Landes mit Gefolge in den Wald auf die Jagd ging. Zufällig traf es sich, dass der junge König sich von seinem Gefolge etwas entfernt hatte. Plötzlich erblickte er ein seltsames Wesen, welches nicht Tier und nicht Mensch zu sein schien. Dasselbe lief beim Anblick des Königs eilig davon und kletterte behend auf einen Baum. Der junge König trat näher hinzu. Er redete das Wesen in verschiedenen Sprachen an, erhielt aber keine Antwort. Schon legte er einen Pfeil auf die Bogensehne, um zu schiessen, da fiel ihm der Gedanke ein, das seltsame Wesen sei vielleicht ein Mensch, der stumm sei. Er forderte es also auf, wenn es nicht ein Tier, sondern ein Mensch wäre, so solle es vom Baume herabkommen, sonst werde er schiessen. Sogleich kam dasselbe vom Baume herab. Nun sah der junge König, dass es ein Mädchen war, und da inzwischen der Abend hereingebrochen war, nahm er es mit sich auf sein Schloss, ohne dass jemand es gewahr wurde. Hier wies er ihm ein Zimmer an und liess dem Mädchen aus dem Walde Kleidung reichen. Als das Mädchen dieselbe angelegt hatte, erwies es sich, dass sie die schönste Jungfrau in allen Landen war.

Fortan besuchte sie der junge König täglich. Er gewann sie lieb und immer lieber und brachte ihr selbst, damit niemand von seinem Geheimnis etwas erfahre, Essen von seiner Tafel.

Endlich fiel der verwitweten Mutter des jungen Königs das Verhalten ihres Sohnes auf. Sie fragte nach der Ursache und ihr Sohn erzählte alles, ja er sagte sogar, er sei fest entschlossen, die schöne Jungfrau zu heiraten.

Zuerst wollte die alte Königin von diesem Gedanken nichts wissen, als sie aber die Schönheit des Mädchens und ihr liebenswürdiges Benehmen sah, willigte sie ein, trotzdem die zukünftige Gemahlin ihres Sohnes stumm zu sein schien. Die Hochzeit ward mit grosser Pracht gefeiert und der junge König fühlte sich glücklich an der Seite seiner Gemahlin, trotzdem dieselbe nie ein Wort sprach und zuweilen traurig war. Das war aber dann der Fall, wenn sie an ihren Bruder dachte. Kurze Zeit nach der Hochzeit starb die alte Königin. Nun stand die junge Königin allein am Hofe; ausser ihrem Gemahl hatte niemand sie lieb, ja die Damen und Herren am Hofe sannen darauf, sie zu verderben. Sie konnten es nämlich derselben nicht verzeihen, dass sie die Liebe des Königs erworben hatte und nicht eine von den Hofdamen an ihrer Stelle auf dem Throne sass.

Als etwa ein Jahr verflossen war, nahte die Zeit heran, in welcher die Königin ihren Gemahl mit einem Kinde beschenken sollte. Jetzt schien es ihren Feinden gelegene Zeit, sie zu verderben. Zu dem Zwecke wussten sie an der fernsten Grenze des Landes einen Krieg anzuzetteln. [237] Dem jungen König blieb nichts übrig, da die Feinde sehr mächtig waren, als gegen dieselben mit seinen Kriegern auszuziehen. Wenige Tage darauf, nachdem der König gegen den Feind gezogen war, erblickte ein junger Prinz das Licht der Welt.

Die Hofdamen liessen das Kind umbringen, legten es in einen Sarg und vergruben die kleine Leiche an einem versteckten Ort im Garten. Die Königin stand weinend am Fenster und sah, wo der Sarg beigesetzt wurde. Darauf liessen die Hofdamen von einem Waldwärter einen jungen Fuchs herbeischaffen und legten diesen der Königin an die Brust. Sie verbreiteten das Gerücht, die Königin habe einem jungen Fuchs das Leben gegeben.

Sobald der König aus dem Kriege heimgekehrt war, wurde ihm erzählt, seine Gemahlin habe einen kleinen Fuchs geboren; er solle sie nur wieder dorthin bringen, woher er sie geholt habe, denn es sei nicht passend, dass ein Tier des Waldes auf dem Throne sitze, wenn es auch die Gestalt eines Menschen habe. Der König war zwar sehr traurig, allein er liebte seine Gemahlin zu sehr und verstiess sie nicht.

Die junge Königin weinte wohl bitterlich über alle Vorkommnisse, aber auch jetzt sprach sie kein Wort, denn sie gedachte der Erlösung ihres Bruders.

Nachdem ein Jahr verflossen war, nahte wieder die Zeit, in welcher die Königin ihren Gemahl mit einem Kinde beschenken sollte. Wieder wussten es die Feinde der Königin so einzurichten, dass ihr Gemahl in den Krieg ziehen musste. Als die Königin einem zweiten Sohne das Leben gegeben hatte, töteten die Hofdamen denselben und liessen die kleine Leiche neben der seines Bruders beisetzen. Die Königin stand wieder am Fenster und sah unter Thränen, wie die Leiche ihres Sohnes bestattet wurde. Darauf musste der Waldwärter einen jungen Wolf herbeiholen und man legte diesen der Königin an die Brust. Als ihr Gemahl zurückgekehrt war, wurde ihm der junge Wolf gezeigt und gesagt, dies sei sein zweiter Sohn. Jetzt verlangten alle Hofleute stürmisch, der König solle seinem Lande eine Königin geben, welche Menschen und nicht wilden Tieren das Leben gebe. Die junge Königin hörte dies alles mit an, ihre Thränen flossen reichlicher als je, aber auch jetzt noch sprach sie kein Wort. Der König sagte, er werde noch ein Jahr mit seiner Gemahlin leben; würde dann wieder ein Tier geboren, so werde er sich des Landes wegen von ihr trennen.

Das Jahr war noch nicht verflossen, so war von den Feinden der jungen Königin wiederum ein Krieg angestiftet worden und wieder musste der König mit seinen Kriegern in das Feld ziehen.

Als die Königin einem dritten Sohne das Leben geschenkt hatte, geschah mit diesem dasselbe, was man seinen beiden Brüdern angethan hatte. Auch diesmal sah die Königin vom Fenster aus, wo die kleine Leiche beigesetzt ward. Jetzt liessen die Hofdamen einen jungen Bären bringen und legten diesen der weinenden Königin an die Brust.

Kaum war der König zurückgekehrt, so entstand ein solcher Aufruhr am Hofe und im Volke, dass der König sich entschliessen musste, wenn er nicht Thron und Leben auf das Spiel setzen wollte, seine geliebte [238] Gemahlin zu verstossen. Er liess sie in den Wald zurückgeleiten. Obgleich die junge Königin, welche ihren Gemahl mehr als das Leben liebte, in Thränen fast zerfloss, so sprach sie doch kein Wort, sondern gedachte der Erlösung ihres Bruders.

Im Walde lebte die arme Verstossene wieder ein Jahr in der alten Weise. Die Früchte und Wurzeln des Waldes waren ihre Nahrung, der Quell löschte ihren Durst, auf den Bäumen schlief sie des Nachts. Endlich aber war die Zeit erfüllt, dass ihr Bruder erlöst war.

Eines Tages kam ein Rabe in den Wald geflogen und trat als blühender Jüngling vor seine Schwester, welche ihn erlöst hatte. Das Glück derselben war gross, aber schmerzlich gedachte sie ihres Gatten und ihrer Kinder, sagte aber ihrem Bruder von dem Vorgefallenen nichts. Die beiden Geschwister lebten fortan im Walde. Sie errichteten sich eine kleine Hütte aus Baumzweigen, der Bruder ging bei Tage auf Arbeit aus, des Abends aber kehrte er zu seiner Schwester zurück und brachte dieser alles, was er verdient hatte.

Eines Tages geschah es, dass die Schwester einen weiten Weg gemacht hatte und sich ermüdet im Walde niederliess, um auszuruhen. Zufällig hatte sie sich neben einen Ameisenhaufen gesetzt und dabei einige der Ameisen erdrückt. Voll Bedauern sah sie das Unheil, welches sie angerichtet hatte. Aber indem kamen Ameisen herbei, welche ein eigentümliches Gras trugen. Sie legten dasselbe auf die Toten; kaum hatte das Gras dieselben berührt, so wurden sie wieder lebendig. Da gedachte die junge Mutter ihrer toten Kinder, sammelte von dem Grase, soviel sie finden konnte, und ging damit in der nächsten Nacht in den Garten des Königs, ihres früheren Gemahls. Schnell grub sie einen der kleinen Särge auf und hielt der kleinen Leiche das Gras unter die Nase. Alsobald bekam der Knabe Leben. Darauf rief sie auch ihren zweiten und dritten Sohn in das Leben zurück und ging freudigen Herzens mit ihren Kindern zur Hütte im Walde. Hier erzählte sie ihrem erstaunten Bruder alles Vorgefallene; der aber hatte seine Schwester nur um so lieber und war glücklich, fortan für alle sorgen zu können.

Als die Hofdamen das Verderben der jungen Königin beschlossen hatten, war dies besonders in der Hoffnung geschehen, es werde, im Fall ihr Plan gelinge, bald eine von ihnen zur Königin erhoben werden. Aber der junge König gedachte trauernd seiner verstossenen Gemahlin und beschloss, nicht wieder zu heiraten.

Eines Tages befand er sich mit grossem Gefolge im Walde auf der Jagd. Er hatte sich von seinem Gefolge entfernt, nur sein treuester Diener war bei ihm. Plötzlich sah der König eine Hütte von Baumzweigen. Er betrat dieselbe und fand darin eine schöne junge Frau mit drei Söhnen. Die Frau hatte für ihn etwas sehr Bekanntes, allein er wusste nicht, wohin er sie bringen sollte. Der König bat um etwas Essen, und als ihm das gereicht war, legte er sich nach der Mahlzeit auf ein Mooslager, um auszuruhen, seinem Diener aber befahl er, draussen vor der Hütte zu wachen, damit ihm nichts geschehe. Bald war der König in Schlaf gesunken. Der Diener stellte sich so auf, dass er durch eine Öffnung in das Innere der Hütte blicken konnte, selbst aber nicht gesehen wurde. Da [239] geschah es, dass dem König, welcher die Arme über die Brust gekreuzt hatte, ein Arm von Brust und Lager niedersank. Als die Frau das sah, sagte sie zu ihrem ältesten Sohne: „Gehe hin und lege den Arm wieder zurecht, denn es ist dein Vater, dem du diesen Dienst erweisest.“ Der Knabe that, wie ihm geheissen war. Der Arm sank bald darauf zum zweitenmal nieder. Da sagte die Frau zu ihrem zweiten Sohne dieselben Worte, und auch dieser that, wie ihm geheissen war. Als der Arm zum drittenmal niedergesunken war, trat die Frau, ihren jüngsten Sohn auf dem Arme, auf den Schlafenden zu, und sprach zu dem Kleinen dieselben Worte. Mit ihrer Hilfe brachte der Knabe den Arm in seine rechte Lage.

Bald darauf erwachte der König und liess sich und seinen Diener noch einmal zu essen geben. Darauf machte er sich mit ihm auf den Weg. Unterwegs erzählte dieser dem Könige, was sich während seines Schlafes zugetragen habe. Da fiel es dem Könige wie Schuppen von den Augen; jetzt wusste er, dass niemand anders als seine Gemahlin mit ihren Kindern in der Waldhütte wohne. Eilig kehrte er zurück. Kaum hatte er seine frühere Gemahlin erblickt, so eilte er auf sie zu, gab ihr die süssesten Namen und herzte und küsste sie. Sein Glück wurde nur erhöht, als er von seiner wiedergefundenen Gemahlin alles, was sie erduldet hatte, erfuhr.

Indem kehrte auch der Bruder zurück. Nachdem der König auch diesen herzlich begrüsst hatte, machten sich alle auf den Weg zur Stadt nach dem Schlosse. Hier wurde strenges Gericht über die Schuldigen gehalten, das Volk aber freute sich über das Glück seines Königs und über die Schönheit und Güte seiner Gemahlin. Die drei Königskinder wuchsen zu kräftigen Jünglingen und tüchtigen Männern heran und übernahmen nach dem Tode ihrer Eltern die Herrschaft über das Reich.