Der Sibyllen- oder Hochstein

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Autor: Friedrich Bernhard Störzner
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Titel: Der Sibyllen- oder Hochstein
Untertitel:
aus: Was die Heimat erzählt. Sagen, geschichtliche Bilder und denkwürdige Begebenheiten aus Sachsen, S. 238–244
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1904
Verlag: Arwed Strauch
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Erscheinungsort: Leipzig
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110. Der Sibyllen- oder Hochstein.

Die höchste Erhebung des Höhenzuges, der sich zwischen Bischofswerda und Kamenz ausbreitet, nennt man den Sibyllen- oder Hochstein. Derselbe hat eine Höhe von 449 Meter und gewährt eine gar weitumfassende Aussicht. Das Auge überblickt von ihm aus die Gegend vom Erzgebirge bis zur Landeskrone bei Görlitz und bis zum Iser- und Riesengebirge, von Böhmen bis zum Spreewald. Die Zahl der Berge und Ortschaften beträgt Hunderte, welche das Auge vom Sibyllensteine aus erreicht. Es ist ein entzückendes Landschaftsbild.

Der Sibyllenstein ist ringsum bewaldet. Seine steilen Abhänge sind vom herrlichsten Nadelwalde bedeckt und mit Tausenden von größeren und kleineren Granitblöcken besäet. Auch seinen Rücken überzieht der Wald. Ihn umgibt tiefste Waldeinsamkeit. Zu ihm hinauf dringt auch nicht das geringste Geräusch aus den Dörfern da drunten.

An dem westlichen Fuße des Sibyllensteines liegt das idyllische Forsthaus „Luchsenburg“. Von hier aus ist der Kamm des Berges in 20 Minuten zu erreichen. Am südlichen Fuße entspringen die große Röder und die Schwarze Elster. An den östlichen Fluß schmiegt sich das Dörfchen Kindisch. Nach Norden hin reiht sich Berg an Berg. Der nächste Nachbar ist der Ohorner Steinberg.

Die Höhe des Sibyllensteines krönt ein haushoher Felsenaltar, der zugänglich ist und eine entzückende Fernsicht bietet. Das wundersame Felsgebilde erscheint wie die Ruine einer Burg der Riesen. Der Gipfel des Hochsteines bildet eine 14 Meter hohe und 50 Meter lange Schicht großer Granitblöcke. Deutlicher heben sich unter diesen wieder zwei Hauptkuppen hervor, eine südliche und eine nördliche. Die höchste von diesen ist die südliche Kuppe, die auf der obersten Steinplatte mehrere kesselartige Vertiefungen zeigt. Die nördliche Felskuppe nennt man den Tanzplatz. Diese enthält auf der Oberfläche eine flache kesselartige Vertiefung von fast 2 Meter Durchmesser. Einen unterhalb der nördlichen Kuppe liegenden Felsblock bezeichnet der Volksmund als das Reitpferd.

Zwischen den erwähnten Kuppen befindet sich eine höhlenartige Kluft. Dieselbe wird die Sibyllenhöhle genannt. –

Archäologen bezeichnen diese Felsenhöhe des Sibyllensteines als einen altheidnischen Opferplatz aus der germanischen Urzeit. Die an den Felsen wahrzunehmenden Vertiefungen gelten als die Opfer- und Blutschüsseln, die schmalen, fingerbreiten Rinnen am Rande derselben als die [239] Blutrinnen. Die Vertiefungen dienten zur Aufnahme des Blutes der Opfertiere, zur besseren Erhaltung des Opferfeuers, zum Hineinstellen von Gefäßen, auch zur Aufstellung von Standbildern oder Götzenbildern. Andere Vertiefungen sind als die Sitzplätze der altheidnischen Priester zu betrachten. In den drei größten jener kesselartigen Vertiefungen sieht die Volkssage „Viertel, Metze und Mäßchen“, in welchen der Teufel denen nachmißt, welche falsches Maß führen. Ueber die Entstehung dieser Vertiefungen sagt Preusker: „Wohl ist es möglich, daß die flacheren Vertiefungen vom Einflusse der Witterung herrühren, allein wenigstens bei jenen dreien kann, bei ihrer Größe, regelmäßigen Eingrabung und Lage, nur auf Menschenhand von frühester Zeit geschlossen werden.“[WS 1]

Bei aufmerksamer Betrachtung der näheren Umgebung dieses turmartigen Felsenaltares bemerkt man, daß eine Aufschichtung von größeren und kleineren Granitblöcken diesen mauerartig in Kreisform wie ein Wall umgibt. Dieser deutlich wahrnehmbare Steinwall ist jedenfalls kein Werk der Natur, sondern der früheren Menschen, welchen einst diese Höhe als Kultusstätte diente. Preusker sagt hierzu: „Jene rätselhafte wallartige Steinschichtung, von dem Hochsteine[1] einige Ellen entfernt, beginnt nordwestlich mit einer scheinbar polygonartigen Steinaufhäufung, etwa 14 Ellen lang und auf 5 Ellen hoch und breit, die deshalb vielleicht von Menschenhänden bewirkt ist, weil hier weniger eine solche Schichtung der Platten, wie anderwärts von Natur erfolgte, vielmehr nur ein bloßes Aufeinanderwerfen loser Felsblöcke sich ergibt; mehrere dabei befindliche (oft fälschlich für Basalt gehaltene) einzelne Bruchstücke von dichtem, schwarzem Grünstein, der oft 1–2 Fuß breit gangweise den Granit durchsetzt, jedoch gerade nicht in den Schichten des nahen Felsens bemerkt wird, zeigen, daß nicht eine ursprüngliche Lage der Steine dort anzunehmen ist. Dann zieht sich diese Steinaufhäufung mit Unterbrechungen und zuweilen mehr natürlich geschichtet nordwestlich in gerader Richtung auf 80 Schritte hin, worauf sie in südwestlicher Krümmung in einen sich später verflachenden, möglicherweise auch der Natur zuzuschreibenden Erdwall überzugehen scheint. Man will aber auch auf der anderen Seite des Felsens ebenfalls ähnliche Steinaufschichtungen bemerkt haben, und daher der Vermutung Raum geben, daß solche vielleicht einen heiligen Platz um den Felsen umschlossen, ebenso wie Menschenhände selbst die oberen Steinplatten des letzteren zu heiligen Zwecken und die unteren zum Heraufsteigen besser geschichtet haben könnten, indem sich anderwärts nicht minder kaum glaubliche Leistungen von ähnlicher Steinbewegung ergeben und zwar oft als riesenhafte Steinkreise um Opferaltäre in germanischen Gegenden.“[2]

Der Sibyllenstein ist eine Heimstätte der Frau Saga.

Böhnisch erzählt in seiner Chronik von Kamenz über den Hoch- oder Sibyllenstein folgendes:

„Am Fuße des Hochsteins entsprang gegen Sonnenaufgang ein Kristallquell und rieselte in goldenen Flüßchen über glänzend flimmernden Boden durch den heiligen Hain und bespülte plätschernd die Wurzeln der schlanken Tannen, deren hohe Gipfel bei Annäherung der Göttin melodisch rauschten. Segen strömte auf dem geweihten Wasser dieses Quells [240] in die Täler hinab, und die Bewohner umher schöpften besonders am Morgen des Costra- oder Ostertages, am Hochfeste der Gefeierten, vor Sonnenaufgang das flüssige Kristall, wuschen sich mit diesem Costrawasser, tauchten sich selbst und ihre Hände in das tags vorher sorgfältig angedämmte und aufgeschützte Ostrabad, damit neue Kraft ströme in die ermatteten und kranken Glieder. Oft umschauerte tiefes Schweigen bei nächtlicher Stille den heiligen Ort, und dann umschwärmten gespenstische Wesen die Gegend. Dunkle Schwarzelfen schweiften scheu umher oder übten sich im nahen Erlicht mit gaukelnden Irrwischflammen in seltsamen Tänzen, während Erlkönig sein rabenschwarzes Haar über dunkeln Moor hinter alternden Baumstöcken hervorstreckte. Zwerghafte Kobolde äfften die goldgierigen Späher, zeigten ihnen ihre Schätze und ließen solche, im Begriffe des Erraffens, mit schalkhaftem Gelächter wieder tief in die Bergspalte hinabrollen, um sie auf’s Neue mit huschenden Flammen aufbrennen zu lassen. Doch auch gutmütigere Bergmännchen streuten nicht selten echte Goldkörner umher oder ließen solche auf dem glänzenden Sande dieses Goldflüßchens und mit den ersten Wellen des Alczstraflusses (Elsterflusses) in’s Tal rollen, um solche den Bewohnern der Gegend zuzuführen, wenn sie nicht vorher schon wieder durch verschmitzte Nixen, welche die benachbarten kleinen Seen bewohnten, aufgefischt wurden, um solche als Lockspeise für Leichtgläubige und Kinder zu benutzen, welche sich zu tief hinab beugend, in ihre Netze gerieten. Oft durchzog auch bei Sturm und Graus, unter tobendem Lärm und Rüdengebell, das ganze Heer der wilden Jagd um Mitternacht den Forst; brausende Stürme stürzten ihm nach und wühlten in den Wipfeln der hohen Fichten. In die fernsten Gaue drang die Kunde dieses wundersamen Hains, in welchem geweihte Priesterinnen, Alrunen, der Menschen Schicksale voraussagten, Glück und Unglück prophezeiten, in den weit in die Gebirge eindringenden Felshöhlen wohnten und den Göttern dienten.“ –

Mit dieser Sage hängt wohl auch der Name dieses Berges zusammen. Der Sibyllenstein soll seinen Namen den Sibyllen, altheidnischen Priesterinnen und weissagenden Frauen, verdanken. Unter Sibyllen verstand man im Altertume von einer Gottheit begeisterte und weissagende Frauen. Sie werden stets als Jungfrauen geschildert, die in einsamen Grotten und Höhlen oder an „begeisternden Quellen“ wahrsagten und beim Volke im höchsten Ansehen standen. Man nannte sie auch Alrunen. In den Höhlen des Sibyllensteines hielten diese Frauen sich auf. Droben auf dem hohen Felsenaltar brachten sie der Göttin Costra oder Ostera die Opfergaben des Volkes dar. An diese Göttin, welche auf dem Sibyllensteine von den Umwohnern verehret wurde, erinnert jedenfalls das eine Stunde östlich vom Berge entferntliegende Dorf Ostro, ganz wahrscheinlich auch der Name des Flusses Elster und der Stadt Elstra. – Preusker schreibt über den Namen dieses Berges folgendes: „Ob der Sibyllen Name aus früheren Zeiten stammt, ist ungewiß, wenigstens kommt er schon im vorigen Jahrhunderte in Büchern und Karten vor. Er braucht aber nicht vom Lateinischen hergeleitet zu werden, da nach Grimm auch in nordischen Sagen eine weise Frau Sibil und eine heilige Kuh in Schweden Sybilja hieß.“ –

Der alte Gebrauch, das Schöpfen des Osterwassers, hat sich bis in unsere Tage herauf erhalten. – An dem östlichen Fuße des Sibyllensteines liegen die beiden Dörfchen Kindisch und Rauschwitz. Die Bewohner dieser Orte begaben sich noch vor wenigen Jahrzehnten alljährlich am [241] Ostermorgen vor Sonnenaufgang hinauf nach dem Sibyllensteine an die Quelle der Elster und wuschen sich in diesem Wasser. Man dämmte wohl auch das herabfließende Wasser ein und badete in demselben. Auch schöpfte man es und besprengte mit diesem dann daheim Menschen und Vieh. Schon Tage vor dem Ostermorgen wurde das Wasser der Elster in der Nähe der Quelle eingedämmt, so daß dann der Fahrweg, welcher hinab nach Kindisch führt, nicht passiert werden konnte. Es galt das Wasser der Elster, ebenso auch das der nahen Röder, den Umwohnern einst für heilig und von den Göttern geweiht. Ihm schrieb man eine ganz besondere Heilkraft und Wirkung zu. Wer am Ostermorgen mit diesem vor Sonnenaufgang geschöpften Wasser sich wusch, blieb das ganze Jahr hindurch vor Krankheit bewahrt. Gleichzeitig verhalf dieses Wasser auch zur Schönheit. Wenn dieses abgedämmte Wasser seine wunderbare Heilkraft ausüben sollte, dann durfte dasselbe freilich vor Sonnenuntergang nicht wieder freigelassen werden. Noch heute kommt es vor, daß einzelne Bewohner der Umgegend am Ostermorgen vor Sonnenaufgang nach dem Hochsteine gehen und aus der Quelle der Elster oder Röder heiliges Wasser schöpfen und trinken. –

Seit den frühesten Zeiten gilt der Flußsand der Schwarzen Elster und der Röder aber auch für goldhaltig. Und in Wirklichkeit enthält derselbe goldschimmernde Plättchen vom Glimmer des aufgelösten Granits, welche von den früheren Leuten freilich für echte Goldkörner gehalten wurden. –

Ganz besonders weilt die Sage aber an jenem Felsenaltar auf der Höhe des Sibyllensteines. Sie erzählt, daß der burgartige Felsen einst viel höher gewesen sei. Da aber die Sündhaftigkeit der Menschen immer mehr zunahm, so wäre eines Tages der Fels ein großes Stück in den Berg gesunken.

Die Sage berichtet noch folgendes:

Unter dem Felsenaltare auf dem Gipfel des Sibyllensteines liegen große Schätze vergraben. Zu ihnen führt in der Nähe der Sibyllenhöhle eine geheimnisvolle Türe, die zu manchen Zeiten sogar geöffnet ist. Wer in jener Stunde auf dem Berge weilt, kann diese Türe sehen und in das Innere der Felsenhöhle eintreten. Dieses Glück hatte einst ein Mann. Er erblickte deutlich eine Tür, die zu einer Höhle führte. Der Mann trat durch diese offene Tür in die Höhle ein. Da sah er in dem hellerleuchteten Gewölbe eine alte Frau, welche sich die Haare kämmte. Darüber erschrak der Mann gar sehr und eilte wieder hinaus. Gleich darauf schlug die Türe krachend zu und war nicht mehr zu sehen. „Es ist das eine Sage, die sich von mehreren Bergen findet und vielleicht auf das feenhafte Wesen, die alte Frau Holle oder Hulda (die Perchta anderer Gegenden), Bezug hat und zugleich auf jenen Sibyllen-Namen, wie denn auch das Haarkämmen bei den alten Halbgöttern und Geistern nicht selten vorkommt.“[3]

Vor wenigen Jahren widerfuhr droben am Sibyllensteine einem Waldarbeiter etwas Seltsames. Derselbe war damit beschäftigt, einen Baumstumpf auszuroden. Auf einmal tat es dicht neben ihm einen donnerähnlichen Knall, so daß die Erde förmlich bebte. Erschrocken blickte der Mann um sich, entdeckte aber nichts, wovon der gewaltige Krach herrühren konnte. Deshalb setzte nach einigem Kopfschütteln der Mann seine [242] gewohnte Arbeit fort. Nach wenigen Minuten krachte es donnerartig hart neben ihm zum zweiten Male und gleich darauf zum dritten Male. Es war, als wolle die Erde sich spalten. Nun litt es den Mann nicht länger an Ort und Stelle, er eilte den Berg hinunter, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Es fing an dunkel zu werden, als er leichenblaß daheim ankam. Er erzählte den Leuten im Dorfe, was ihm begegnet war. Die Leute meinten, er sei jedenfalls dem Kriegsschatze nahe gewesen, der droben am Sibyllensteine vergraben liege. Durch seine Furchtsamkeit habe er aber das ihm winkende Glück sich verscherzt. Unter jenem Baumstumpfe sei ganz wahrscheinlich jener Kriegsschatz vergraben gewesen. Hätte er ruhig fortgearbeitet, dann würde er ein reicher Mann geworden sein. Am andern Tage begab sich jener Waldarbeiter mit noch einigen Männern in aller Früh auf den Sibyllenstein. Es wurde jener Baumstumpf mit aller Sorgfalt ausgegraben, im weiten Umkreise durchwühlte man die Erde, aber von einem Schatze wurde auch nicht die Spur entdeckt. – Im Jahre 1886 wurde am westlichen Abhange, 150 Meter vom Felsenaltare entfernt, eine bronzene Streitaxt gefunden, die dem Kammerherrn von Bünau auf Bischheim, dem ehemaligen Besitzer des Luchsenburger Reviers, abgeliefert wurde. –

Der Sibyllenstein.

Als vor Jahren auf dem Sibyllensteine Wald geschlagen wurde, fanden Waldarbeiter beim Stöckeroden einige verrostete Spieße aus Eisen oder Bronze. Dieselben lagen unter großen Steinen, die mit Moos und allerhand Gestrüpp überwachsen waren. Leider wurden diese Fundgegenstände von jenen Waldarbeitern nicht weiter beachtet. Sie warfen, wie mir der betreffende Waldarbeiter selbst erzählte, „die alten Dinger“ beiseite. Sie wurden wieder verscharrt. Zu meinem größten Bedauern wußte der Mann jene Stelle nicht mehr genau zu bezeichnen. – Es ist nicht leicht, die nähere Umgebung des Felsenaltares nach Altertümern zu untersuchen. So mancher Felsblock müßte beiseite gerollt, manches Gestrüpp [243] entfernt werden. Aber sicherlich würde die Untersuchung nicht ergebnislos sein. Etwaige Funde könnten uns willkommenen Aufschluß geben und mancherlei Kunde bringen aus der Vorzeit des Hochsteins.

In früheren Jahrhunderten nannte man jenen Felsenaltar droben auf dem Hoch- oder Sibyllensteine den weißen Stein, und das nicht mit Unrecht; denn weithin ist der turmhohe Felsen wegen des hellfarbigen Granits sichtbar. Er erscheint in der Ferne in einem hellen, weißen Gewande. In einer Grenzurkunde vom Jahre 1213 ist der Hochstein als der weiße Stein bezeichnet. – Als Opferherd hat sich der Felsenaltar auf dem Sibyllensteine wie kaum eine andere Höhe geeignet; denn das Opferfeuer auf dem Gipfel des Felsens konnte aus meilenweiter Entfernung gesehen und beobachtet werden. Die Umwohner, welche nicht mit hinauf nach dem weißen Steine wallfahrten konnten, erkannten doch an dem zum Himmel auflodernden Opferfeuer, wann die Stunde der Opferung begann. – Nach der Sage haben sich die altheidnischen Gottheiten, welche vormals auf der Felsenhöhe des Sibyllensteines verehret wurden, in das Innere des Berges zurückgezogen. Sie zürnen den Umwohnern darüber, daß dieselben unter das Kreuz sich beugten und Christen geworden sind.

Ihr Grollen hierüber kann man zu Zeiten auch heute noch vernehmen. An manchen Tagen hört derjenige, der oben auf dem Sibyllensteine weilt, ein heftiges Donnern, das tief aus dem Innern des Felsenaltares dringt. Mancher, der dieses Donnern im Berge vernommen hat, ist heftig darüber erschrocken und davongeeilt. Andere wieder glaubten, ein Gewitter sei im Anzuge, obwohl nirgends ein Wölkchen am Himmel zu entdecken war und die Sonne freundlich niederschien. Ueber das Gehörte verwundert, verließen auch sie den Berg. Besonders unheimlich klingt das Donnern in jenem Felsenlabyrinthe des Sibyllensteines zur Nachtzeit. Freilich nicht jeder geht zu später Stunde gern hinauf auf diesen Berg. –

Das Donnern im Innern des Sibyllensteines findet aber eine ganz natürliche Erklärung. Man vernimmt jenes vielen rätselhafte Rollen nur an solchen Tagen, an welchen der Sturm von W. oder O. her über die Höhe braust und an den turmhoch aufgebauten Felsenmassen sich bricht und durch die einzelnen höhlenartigen Spalten und Nischen fährt. Wenige Sekunden nach jeder Sturmeswelle ist der Donner zu vernehmen, dessen Stärke von der Beschaffenheit der betreffenden Sturmeswelle abhängig ist. Die Sage beweist uns, daß schon in den frühesten Zeiten die Umwohner das Donnern im Innern des Sibyllensteines vernommen haben und sich selbst eine Erklärung machten. – Die einst hier oben weilenden Priesterinnen deuteten das Donnern als die Sprache der Götter, denen das Volk Opfer brachte.

Was der Czernebog und der Bielebog für die östliche Lausitz sind, das ist der Sibyllenstein mit seinem Nachbar, dem Keulenberge bei Oberlichtenau, für die westliche Lausitz. Er ist ein Zeuge aus jenen Tagen, da noch die heidnischen Opferfeuer gen Himmel aufloderten, da unsere heidnischen Vorfahren ihr Leid und Weh den Göttern klagten und ihren religiösen Gefühlen Ausdruck gaben durch Wallfahrten nach dieser geweihten und heiligen Anhöhe. Der Sibyllenstein war die heiligste Kultusstätte der frühesten Bewohner der westlichen Lausitz. –

Wie vor Jahrtausenden, so wird noch heute der Hoch- oder Sibyllenstein von den Umwohnern zu Zeiten mit Vorliebe besucht. Das ist der Fall zur Osterzeit, ganz besonders aber zu Pfingsten. Da kommen aus den umliegenden Dörfern viele Leute schon vor Sonnenaufgang nach [244] dieser sagenumsponnenen Höhe, um von hier oben aus den Aufgang der Sonne zu beobachten. Stundenlang herrscht dann auf dem Sibyllensteine reges Leben und Treiben, und die tiefste Waldeseinsamkeit unterbricht der Jubel der fröhlichen Wallfahrer.


  1. Hochstein nennt man vielfach auch nur den turmhohen Felsenaltar auf dem Rücken des Berges.
  2. Vgl. Preusker: „Blicke in die vaterl. Vorzeit. 1841, Bd. II, Seite 221 u. 222.“
  3. Preusker: „Blicke in die vaterl. Vorzeit“, 1841, II. Band, Seite 217.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Karl Benjamin Preusker, Blicke in die vaterländische Vorzeit, Band 2, S. 216 ff. Google