Der Stechlin/Vierzehntes Kapitel
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„Lieber Freund. Lassen Sie mich Ihnen noch nachträglich mein Bedauern aussprechen, daß ich vorgestern nur gerade noch die letzte Scene des letzten Aktes (Geschichte vom Stechlin) mit erleben konnte. Mich verlangt es aber lebhaft, mehr davon zu wissen. In unsrer sogenannten großen Welt giebt es so wenig, was sich zu sehen und zu hören verlohnt; das meiste hat sich in die stillen Winkel der Erde zurückgezogen. Allen vorauf, wie mir scheint, in Ihre Stechliner Gegend. Ich wette, Sie haben uns noch über vieles zu berichten, und ich kann nur wiederholen, ich möchte davon hören. Unsre gute Baronin, der ich davon erzählt habe, denkt ebenso; sie hat den Zug aller naiven und liebenswürdigen Frauen, neugierig zu sein. Ich, ohne die genannten Vorbedingungen zu erfüllen, bin ihr trotzdem an Neugier gleich. Und so haben wir denn eine Nachmittagspartie verabredet, bei der Sie der große Erzähler sein sollen. In der Regel freilich verläuft es anders wie gedacht, und man hört nicht das, was man hören wollte. Das darf uns aber in unserm guten Vorhaben nicht hindern. Die Baronin hat mir etwas vorgeschwärmt von einer Gegend, die sie ,Oberspree‘ nannte (die vielleicht auch wirklich so heißt), [175] und wo’s so schön sein soll, daß sich die Havelherrlichkeiten daneben verstecken müssen. Ich will es ihr glauben, und jedenfalls werd’ ich es ihr nachträglich versichern, auch wenn ich es nicht gefunden haben sollte. Das Ziel unsrer Fahrt – ein Punkt, den übrigens die Berchtesgadens noch nicht kennen; sie waren bisher immer erheblich weiter flußaufwärts – das Ziel unsrer Reise hat einen ziemlich sonderbaren Namen und heißt das ‚Eierhäuschen‘. Ich werde seitdem die Vorstellung von etwas Ovalem nicht los und werde wohl erst geheilt sein, wenn sich mir die so sonderbar benamste Spreeschönheit persönlich vorgestellt haben wird. Also morgen, Donnerstag: Eierhäuschen. Ein ‚Nein‘ giebt es natürlich nicht. Abfahrt vier Uhr, Jannowitzbrücke. Papa begleitet uns; es geht ihm seit heut um vieles besser, so daß er sich’s zutraut. Vielleicht ist vier etwas spät; aber wir haben dabei, wie mir Lizzi sagt, den Vorteil, auf der Rückfahrt die Lichter im Wasser sich spiegeln zu sehen. Und vielleicht ist auch irgendwo Feuerwerk, und wir sehen dann die Raketen steigen. Armgard ist in Aufregung, fast auch ich. Au revoir. Eines Herrn Rittmeisters wohlaffektionierte Melusine.“
Nun war der andre Nachmittag da, und kurz vor vier Uhr fuhren erst die Berchtesgadens und gleich danach auch die Barbys bei der Jannowitzbrücke vor. Woldemar wartete schon. Alle waren in jener heitern Stimmung, in der man geneigt ist, alles schön und reizend zu finden. Und diese Snmmung kam denn auch gleich der Dampfschiffahrtsstation zu statten. Unter lachender Bewunderung der sich hier darbietenden Holzarchitektur stieg man ein Gewirr von Stiegen und Treppen hinab und schritt, unten angekommen, an den um diese Stunde noch leeren Tischen eines hier etablierten „Lokals“ vorüber, unmittelbar auf [176] das Schiff zu, dessen Glocke schon zum erstenmal geläutet hatte. Das Wetter war prachtvoll, flußaufwärts alles klar und sonnig, während über der Stadt ein dünner Nebel lag[WS 1]. Zu beiden Seiten des Hinterdecks nahm man auf Stühlen und Bänken Platz und sah von hier aus auf das verschleierte Stadtbild zurück. „Da heißt es nun immer,“ sagte Melusine, „Berlin sei so kirchenarm; aber wir werden bald Köln und Mainz aus dem Felde geschlagen haben. Ich sehe die Nikolaikirche, die Petrikirche, die Waisenkirche, die Schloßkuppel, und das Dach da, mit einer Art von chinesischer Deckelmütze, das ist, glaub’ ich, der Rathausturm. Aber freilich, ich weiß nicht, ob ich den mitrechnen darf.“ „Turm ist Turm,“ sagte die Baronin. „Das fehlte so gerade noch, daß man dem armen alten Berlin auch seinen Rathausturm als Turm abstritte. Man eifersüchtelt schon genug.“ Und nun schlug es vier. Von der Parochialkirche her klang das Glockenspiel, die Schiffsglocke läutete dazwischen, und als diese wieder schwieg, wurde das Brett aufgeklappt, und unter einem schrillen Pfiff setzte sich der Dampfer auf das mittlere Brückenjoch zu in Bewegung. Oben, in Nähe der Jannowitzbrücke, hielten immer noch die beiden herrschaftlichen Wagen, die’s für angemessen erachten mochten, ehe sie selber aufbrachen, zuvor den Aufbruch des Schiffes abzuwarten, und erst als dieses unter der Brücke verschwunden war, fuhr der gräflich Barbysche Kutscher neben den freiherrlich Berchtesgadenschen, um mit diesem einen Gruß auszutauschen. Beide kannten sich seit lange, schon von London her, wo sie bei denselben Herrschaften in Dienst gestanden hatten. In diesem Punkte waren sie sich gleich, sonst aber so verschieden [177] wie nur möglich, auch schon in ihrer äußeren Erscheinung. Imme, der Barbysche Kutscher, ein ebenso martialisch wie gutmütig dreinschauender Mecklenburger, hätte mit seinem angegrauten Sappeurbart ohne weiteres vor eine Gardetruppe treten und den Zug als Tambourmajor eröffnen können, während der Berchtesgadensche, der seine Jugend als Trainer und halber Sportsmann zugebracht hatte, nicht bloß einen englischen Namen führte, sondern auch ein typischer Engländer war, hager, sehnig, kurz geschoren und glatt rasiert. Seine Glotzaugen hatten etwas Stupides; er war aber trotzdem klug genug und wußte, wenn’s galt, seinem Vorteil nachzugehen. Das Deutsche machte ihm noch immer Schwierigkeiten, trotzdem er sich aufrichtige Mühe damit gab und sogar das bequeme Zuhilfenehmen englischer Wörter vermied, am meisten dann, wenn er sich die Berlinerinnen seiner Bekanntschaft abquälen sah, ihm mit „well, well, Mr. Robinson“ oder gar mit einem geheimnisvollen „indeed“ zu Hilfe zu kommen. Nur mit dem einen war er einverstanden, daß man ihn „Mr. Robinson“ nannte. Das ließ er sich gefallen. „Now, Mr. Robinson,“ sagte Imme, als sie Bock an Bock nebeneinander hielten, „how are you? I hope quite well.“ „Danke, Mr. Imme, danke! Was macht die Frau?“ „Ja, Robinson, da müssen Sie, denk’ ich, selber nachsehen, und zwar gleich heute, wo die Herrschaften fort sind und erst spät wiederkommen. Noch dazu mit der Stadtbahn. Wenigstens von hier aus, Jannowitzbrücke. Sagen wir also neun; eher sind sie nicht zurück. Und bis dahin haben wir einen guten Skat. Hartwig als dritter wird schon kommen; Portiers können immer. Die Frau zieht ebenso gut die Thür auf wie er, und weiter is es ja nichts. Also Klocker fünf: ein ‚Nein‘ gilt nicht; [178] where there is a will, there is a way. Ein bißchen is doch noch hängen geblieben von dear old England.“ „Danke, Mr. Imme,“ sagte Robinson, „danke! Ja, Skat ist das Beste von all Germany. Komme gern. Skat ist noch besser als Bayrisch.“ „Hören Sie, Robinson, ich weiß doch nicht, ob das stimmt. Ich denke mir, so beides zusammen, das ist das Wahre. That’s it.“ Robinson war einverstanden, und da beide weiter nichts auf dem Herzen hatten, so brach man hier ab und schickte sich an, die Rückfahrt in einem mäßig raschen Trab anzutreten, wobei der Berchtesgadensche Kutscher den Weg über Molkenmarkt und Schloßplatz, der Barbysche den auf die Neue Friedrichstraße nahm. Jenseits der Friedrichsbrücke hielt sich dieser dann dicht am Wasser hin und kam so am bequemsten bis an sein Kronprinzenufer. Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch passiert hatte, setzte sich in ein rascheres Tempo, dabei die linke Flußseite haltend, so daß immer nur eine geringe Entfernung zwischen dem Schiff und den sich dicht am Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen schuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das natürlich die Form einer Lunette hatte. Mauerwerk jeglicher Art, Schuppen, Zäune zogen in buntem Wechsel vorüber, aber in Front aller dieser der Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge zeigte sich immer wieder ein Stück Gartenland, darin ein paar verspätete Malven oder Sonnenblumen blühten. Erst als man die zweitfolgende Brücke passiert hatte, traten die Stadtbahnbögen so weit zurück, daß von einer Ufereinfassung nicht mehr die Rede sein konnte; statt ihrer aber wurden jetzt Wiesen und pappelbesetzte Wege sichtbar, und wo das Ufer quaiartig [179] abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen, aus deren Innerem eine baggerartige Vorrichtung die Kies- und Sandmassen in die dicht am Ufer hin etablierten Kalkgruben schüttete. Es waren dies die Berliner Mörtelwerke, die hier die Herrschaft behaupteten und das Uferbild bestimmten. Unsre Reisenden sprachen wenig, weil unter dem raschen Wechsel der Bilder eine Frage die andre zurückdrängte. Nur als der Dampfer an Treptow vorüber zwischen den kleinen Inseln hinfuhr, die hier mannigfach aus dem Fluß aufwachsen, wandte sich Melusine an Woldemar und sagte: „Lizzi hat mir erzählt, hier zwischen Treptow und Stralau sei auch die ‚Liebesinsel‘; da stürben immer die Liebespaare, meist mit einem Zettel in der Hand, drauf alles stünde. Trifft das zu?“ „Ja, Gräfin, soviel ich weiß, trifft es zu. Solche Liebesinseln giebt es übrigens vielfach in unsrer Gegend und kann als Beweis gelten, wie weitverbreitet der Zustand ist, dem abgeholfen werden soll, und wenn’s auch durch Sterben wäre.“ „Das nehm’ ich Ihnen übel, daß Sie darüber spotten. Und Armgard wird es noch mehr thun, weil sie gefühlvoller ist als ich. Zudem sollten Sie[WS 2] wissen, daß sich so was rächt.“ „Ich weiß es. Aber Sie lesen auch durchaus falsch in meiner Seele. Sicher haben Sie mal gehört, daß der, der Furcht hat, zu singen anfängt, und wer nicht singen kann, nun, der witzelt eben. Übrigens, so schön ‚Liebesinsel‘ klingt, der Zauber davon geht wieder verloren, wenn Sie sich den Namen des Ganzen vergegenwärtigen. Die sich so mächtig hier verbreiternde Spreefläche heißt nämlich der ‚Rummelsburger‘ See.“ „Freilich nicht hübsch; das kann ich zugeben. Aber die Stelle selbst ist schön, und Namen bedeuten nichts.“ [180] „Wer Melusine heißt, sollte wissen, was Namen bedeuten.“ „Ich weiß es leider. Denn es giebt Leute, die sich vor ‚Melusine‘ fürchten.“ „Was immer eine Dummheit, aber doch viel mehr noch eine Huldigung ist.“ Unter diesem Gespräche waren sie bis über die Breitung der Spree hinaus gekommen und fuhren wieder in das schmaler werdende Flußbett ein. An beiden Ufern hörten die Häuserreihen auf, sich in dünnen Zeilen hinzuziehen, Baumgruppen traten in nächster Nähe dafür ein, und weiter landeinwärts wurden aufgeschüttete Bahndämme sichtbar, über die hinweg die Telegraphenstangen ragten und ihre Drähte von Pfahl zu Pfahl spannten. Hie und da, bis ziemlich weit in den Fluß hinein, stand ein Schilfgürtel, aus dessen Dickicht vereinzelte Krickenten aufflogen. „Es ist doch weiter, als ich dachte,“ sagte Melusine. „Wir sind ja schon wie in halber Einsamkeit. Und dabei wird es frisch. Ein Glück, daß wir Decken mitgenommen. Denn wir bleiben doch wohl im Freien? Oder giebt es auch Zimmer da? Freilich kann ich mir kaum denken, daß wir zu sechs in einem Eierhäuschen Platz haben.“ „Ach, Frau Gräfin, ich sehe, Sie rechnen auf etwas extrem Idyllisches und erwarten, wenn wir angelangt sein werden, einen Mischling von Kiosk und Hütte. Da harrt Ihrer aber eine grausame Enttäuschung. Das Eierhäuschen ist ein sogenanntes ‚Lokal‘, und wenn uns die Lust anwandelt, so können wir da tanzen oder eine Volksversammlung abhalten. Raum genug ist da. Sehen Sie, das Schiff wendet sich schon, und der rote Bau da, der zwischen den Pappelweiden mit Turm und Erker sichtbar wird, das ist das Eierhäuschen.“ „O weh! Ein Palazzo,“ sagte die Baronin und war [181] auf dem Punkt, ihrer Mißstimmung einen Ausdruck zu geben. Aber ehe sie dazu kam, schob sich das Schiff schon an den vorgebauten Anlegesteg, über den hinweg man, einen Uferweg einschlagend, auf das Eierhäuschen zuschritt. Dieser Uferweg setzte sich, als man das Gartenlokal endlich erreicht hatte, jenseits desselben noch eine gute Strecke fort, und weil die wundervolle Frische dazu einlud, beschloß man, ehe man sich im „Eierhäuschen“ selber niederließ, zuvor noch einen gemeinschaftlichen Spaziergang am Ufer hin zu machen. Immer weiter flußaufwärts. Der Enge des Weges halber ging man zu zweien, vorauf Woldemar mit Melusine, dann die Baronin mit Armgard. Erheblich zurück erst folgten die beiden älteren Herren, die schon auf dem Dampfschiff ein politisches Gespräch angeschnitten hatten. Beide waren liberal, aber der Umstand, daß der Baron ein Bayer und unter katholischen Anschauungen aufgewachsen war, ließ doch beständig Unterschiede hervortreten. „Ich kann Ihnen nicht zustimmen, lieber Graf. Alle Trümpfe heut, und zwar mehr denn je, sind in des Papstes Hand. Rom ist ewig und Italien nicht so fest aufgebaut, als es die Welt glauben machen möchte. Der Quirinal zieht wieder aus, und der Vatikan zieht wieder ein. Und was dann?“ „Nichts, lieber Baron. Auch dann nicht, wenn es wirklich dazu kommen sollte, was, glaub’ ich, ausgeschlossen ist.“ „Sie sagen das so ruhig, und ruhig ist man nur, wenn man sicher ist. Sind Sie’s? Und wenn Sie’s sind, dürfen Sie’s sein? Ich wiederhole, die letzten Entscheidungen liegen immer bei dieser Papst- und Rom-Frage.“ „Lagen einmal. Aber damit ist es gründlich vorbei, auch in Italien selbst. Die letzten Entscheidungen, von denen Sie sprechen, liegen heutzutage ganz wo anders, [182] und es sind bloß ein paar Ihrer Zeitungen, die nicht müde werden, der Welt das Gegenteil zu versichern. Alles bloße Nachklänge. Das moderne Leben räumt erbarmungslos mit all dem Überkommenen auf. Ob es glückt, ein Nilreich aufzurichten, ob Japan ein England im Stillen Ozean wird, ob China mit seinen vierhundert Millionen aus dem Schlaf aufwacht und, seine Hand erhebend, uns und der Welt zuruft: ‚Hier bin ich‘, allem vorauf aber, ob sich der vierte Stand etabliert und stabiliert (denn darauf läuft doch in ihrem vernünftigen Kern die ganze Sache hinaus) – das alles fällt ganz anders ins Gewicht als die Frage ‚Quirinal oder Vatikan‘. Es hat sich überlebt. Und anstaunenswert ist nur das eine, daß es überhaupt noch so weiter geht. Das ist der Wunder größtes.“ „Und das sagen Sie, der Sie zeitweilig den Dingen so nahe gestanden?“ „Weil ich ihnen so nahe gestanden.“ Auch die beiden voranschreitenden Paare waren in lebhaftem Gespräch. An dem schon in Dämmerung liegenden östlichen Horizont stiegen die Fabrikschornsteine von Spindlersfelde vor ihnen auf, und die Rauchfahnen zogen in langsamem Zuge durch die Luft. „Was ist das?“ fragte die Baronin, sich an Woldemar wendend. „Das ist Spindlersfelde.“ „Kenn ich nicht.“ „Doch vielleicht, gnädigste Frau, wenn Sie hören, daß in eben diesem Spindlersfelde der für die weibliche Welt so wichtige Spindler seine geheimnisvollen Künste treibt. Besser noch seine verschwiegenen. Denn unsre Damen bekennen sich nicht gern dazu.“ [183] „So, der! Ja, dieser unser Wohlthäter, den wir – Sie haben ganz recht – in unserm Undank so gern unterschlagen. Aber dies Unterschlagen hat doch auch wieder sein Verzeihliches. Wir thun jetzt (leider) so vieles, was wir, nach einer alten Anschauung, eigentlich nicht thun sollten. Es ist, mein’ ich, nicht passend, auf einem Pferdebahnperron zu stehen, zwischen einem Schaffner und einer Kiepenfrau, und es ist noch weniger passend, in einem Fünfzigpfennigbazar allerhand Einkäufe zu machen und an der sich dabei aufdrängenden Frage: ‚Wodurch ermöglichen sich diese Preise?‘ still vorbeizugehen. Unser Freund in Spindlersfelde da drüben degradiert uns vielleicht auch durch das, was er so hilfreich für uns thut. Armgard, wie denken Sie darüber?“ „Ganz wie Sie, Baronin.“ „Und Melusine?“ Diese gab kopfschüttelnd die Frage weiter und drang darauf, daß die beiden älteren Herren, die mittlerweile herangekommen waren, den Ausschlag geben sollten. Aber der alte Graf wollte davon nichts wissen. „Das sind Doktorfragen. Auf derlei Dinge lass’ ich mich nicht ein. Ich schlage vor, wir machen lieber Kehrt und suchen uns im ‚Eierhäuschen‘ einen hübschen Platz, von dem aus wir das Leben auf dem Fluß beobachten und hoffentlich auch den Sonnenuntergang gut sehen können.“ Ziemlich um dieselbe Stunde, wo die Barbyschen und Berchtesgadenschen Herrschaften ihren Spaziergang auf Spindlersfelde zu machten, erschien unser Freund Mr. Robinson, von seinem Stallgebäude her, in Front der Lennéstraße, sah erst gewohnheitsmäßig nach dem Wetter und ging dann quer durch den Tiergarten auf das Kronprinzenufer zu, wo die Immes ihn bereits erwarteten. [184] Frau Imme, die, wie die meisten kinderlosen Frauen (und Frauen mit Sappeurbartmännern sind fast immer kinderlos), einen großen Wirtschafts- und Sauberkeitssinn hatte, hatte zu Mr. Robinsons Empfang alles in die schönste Ordnung gebracht, um so mehr, als sie wußte, daß ihr Gast, als ein verwöhnter Engländer, immer der Neigung nachgab, alles Deutsche, wenn auch nur andeutungsweise, zu bemängeln. Es lag ihr daran, ihn fühlen zu lassen, daß man’s hier auch verstehe. So war denn von ihr nicht bloß eine wundervolle Kaffeeserviette, sondern auch eine silberne Zuckerdose mit Streußelkuchentellern links und rechts aufgestellt worden. Frau Imme konnte das alles und noch mehr infolge der bevorzugten Stellung, die sie von langer Zeit her bei den Barbys einnahm, zu denen sie schon als fünfzehnjähriges junges Ding gekommen und in deren Dienst sie bis zu ihrer Verheiratung geblieben war. Auch jetzt noch hingen beide Damen an ihr, und mit Hilfe Lizzis, die, so diskret sie war, doch gerne plauderte, war Frau Imme jederzeit über alles unterrichtet, was im Vorderhause vorging. Daß der Rittmeister sich für die Damen interessierte, wußte sie natürlich wie jeder andre, nur nicht – auch darin wie jeder andre –, für welche. Ja, für welche? Das war die große Frage, selbst für Mr. Robinson, der regelmäßig, wenn er die Immes sah, sich danach erkundigte. Dazu kam es denn auch heute wieder und zwar sehr bald nach seinem Eintreffen. Eine große Familientasse mit einem in Front eines Tempels den Bogen spannenden Amor war vor ihn hingestellt worden, und als er dem Streußelkuchen (für den er eine so große Vorliebe hatte, daß er regelmäßig erklärte, sowas gäb’ es in den vereinigten drei Königreichen nicht) – als er dem Streußel liebevoll und doch auch wieder maßvoll zugesprochen hatte, betrachtete er das [185] Bild auf der großen Tasse, zeigte, was bei seiner Augenbeschaffenheit etwas Komisches hatte, schelmisch lächelnd auf den bogenspannenden Amor und sagte: „Hier hinten ein Tempel und hier vorn ein Lorbeerbusch. Und hier this little fellow with his arrow. Ich möchte mir die Frage gestatten – Sie sind eine so kluge Frau, Frau Imme –: wird er den Pfeil fliegen lassen oder nicht, und wenn er den Pfeil fliegen läßt, ist es die Priesterin, die hier neben dem Lorbeer steht, oder ist es eine andre?“ „Ja, Mr. Robinson,“ sagte Frau Imme, „darauf ist schwer zu antworten. Denn erstens wissen wir nicht, was er überhaupt vorhat, und dann wissen wir auch nicht: wer ist die Priesterin? Ist die Comtesse die Priesterin, oder ist die Gräfin die Priesterin? Ich glaube, wer schon verheiratet war, kann wohl eigentlich nicht Priesterin sein.“ „Ach,“ sagte Imme, in dem sich der naturwüchsige Mecklenburger regte, „sein kann alles. Über so was wächst Gras. Ich glaube, es is die Gräfin.“ Robinson nickte. „Glaub’ ich auch. And what’s the reason, dear Mrs. Imme? Weil Witib vor Jungfrau geht. Ich weiß wohl, es ist immer viel die Rede von virginity, aber widow ist mehr als virgin.“ Frau Imme, die nur halb verstanden hatte, verstand doch genug, um zu kichern, was sie übrigens sittsam mit der Bemerkung begleitete, sie habe so was von Mr. Robinson nicht geglaubt. Robinson nahm es als Huldigung und trat, nachdem er sich mit Erlaubnis der „Lady“ ein kurzes Pfeifchen mit türkischem Tabak angesteckt hatte, an ein Fensterchen, in dessen mit einer kleinen Laubsäge gemachten Blumenkasten rote Verbenen blühten, und sagte, während er auf den Hof mit seinen drei Akazienbäumen herunterblickte: [186] „Wer ist denn der hübsche Junge da, der da mit seinem hoop spielt? Hier sagen sie Reifen.“ „Das is ja Hartwigs Rudolf,“ sagte Frau Imme. „Ja, der Junge hat viel Chic. Und wie er da mit dem Reifen spielt und die Hedwig immer hinter ihm her, wiewohl sie doch beinahe seine Mutter sein könnte. Na, ich freue mich immer, wenn ich ausgelassene Menschen sehe, und wenn Hartwig kommt – ich wundere mich bloß, daß er noch nicht da ist –, da können Sie ihm ja sagen, wie hübsch Sie die verwöhnte kleine Range finden. Das wird ihn freuen; er ist furchtbar eitel. Alle Portiersleute sind eitel. Aber das muß wahr sein, es ist ein reizender Junge.“ Während sie noch so sprachen, erschien Hartwig, auf den Imme, skatdurstig, schon seit einer Viertelstunde gewartet hatte, und keine drei Minuten mehr, so war auch Hedwig da, die sich bis kurz vorher mit ihrem kleinen Cousin Rudolf in dem Hof unten abgeäschert hatte. Beide wurden mit gleicher Herzlichkeit empfangen, Hartwig, weil nach seinem Erscheinen die Skatpartie beginnen konnte, Hedwig, weil Frau Imme nun gute Gesellschaft hatte. Denn Hedwig konnte wundervoll erzählen und brachte jedesmal Neuigkeiten mit. Sie mochte vierundzwanzig sein, war immer sehr sauber gekleidet und von heiter-übermütigem Gesichtsausdruck. Dazu krauses, kastanienbraunes Haar. Es traf sich, daß sie mal wieder außer Dienst war. „Nun, das ist recht, Hedwig, daß du kommst,“ sagte Frau Imme. „Rudolfen hab’ ich eben erst gefragt, wo du geblieben wärst, denn ich habe dich ja mit ihm spielen sehen; aber solch Junge weiß nie was; der denkt bloß immer an sich, und ob er sein Stück Kuchen kriegt. Na, wenn er kommt, er soll’s haben; Robinson ißt immer so wenig, wiewohl er den Streußel ungeheuer gern mag. Aber so sind die Engländer, sie sind nicht so zugreifsch, [187] und dann geniert sich mein Imme auch, und die Hälfte bleibt übrig. Na, jedenfalls is es nett, daß du wieder da bist. Ich habe dich ja seit deinem letzten Dienst noch gar nicht ordentlich gesehen. Es war ja wohl ’ne Hofrätin? Na, Hofrätinnen, die kenn’ ich. Aber es giebt auch gute. Wie war er denn?“ „Na, mit ihm ging es.“ „Deine krausen Haare werden wohl wieder schuld sein. Die können manche nicht vertragen. Und wenn dann die Frau was merkt, dann is es vorbei.“ „Nein, so war es nicht. Er war ein sehr anständiger Mann. Beinahe zu sehr.“ „Aber, Kind, wie kannst du nur so was sagen? Wie kann einer zu anständig sein?“ „Ja, Frau Imme. Wenn einen einer gar nicht ansieht, das is einem auch nicht recht.“ „Ach, Hedwig, was du da bloß so red’st! Und wenn ich nich wüßte, daß du gar nich so bist… Aber was war es denn?“ „Ja, Frau Imme, was soll ich sagen, was es war; es is ja immer wieder dasselbe. Die Herrschaften können einen nich richtig unterbringen. Oder wollen auch nich. Immer wieder die Schlafstelle oder, wie manche hier sagen, die Schlafgelegenheit.“ „Aber, Kind, wie denn? Du mußt doch ’ne Gelegenheit zum Schlafen haben.“ „Gewiß, Frau Imme. Und ’ne Gelegenheit, so denkt mancher, is ’ne Gelegenheit. Aber gerade die, die hat man nich. Man ist müde zum Umfallen und kann doch nicht schlafen.“ „Versteh’ ich nich.“ „Ja, Frau Imme, das macht, weil Sie von Kindesbeinen an immer bei so gute Herrschaften waren, und mit Lizzi is es jetzt wieder ebenso. Die hat es auch gut un is, wie wenn sie mit dazu gehörte. Meine [188] Tante Hartwig erzählt mir immer davon. Und einmal hab’ ich es auch so gut getroffen. Aber bloß das eine Mal. Sonst fehlt eben immer die Schlafgelegenheit.“ Frau Imme lachte. „Sie lachen darüber, Frau Imme. Das is aber nich recht, daß Sie lachen. Glauben Sie mir, es is eigentlich zum Weinen. Und mitunter hab’ ich auch schon geweint. Als ich nach Berlin kam, da gab es ja noch die Hängeböden.“ „Kenn’ ich, kenn’ ich; das heißt, ich habe davon gehört.“ „Ja, wenn man davon gehört hat, das is nich viel. Man muß sie richtig kennen lernen. Immer sind sie in der Küche, mitunter dicht am Herd oder auch gerade gegenüber. Und nun steigt man auf eine Leiter, und wenn man müde is, kann man auch ’runter fallen. Aber meistens geht es. Und nun macht man die Thür auf und schiebt sich in das Loch hinein, ganz so wie in einen Backofen. Das is, was sie ’ne Schlafgelegenheit nennen. Und ich kann Ihnen bloß sagen: auf einem Heuboden is es besser, auch wenn Mäuse da sind. Und am schlimmsten is es im Sommer. Draußen sind dreißig Grad, und auf dem Herd war den ganzen Tag Feuer; da is es denn, als ob man auf den Rost gelegt würde. So war es, als ich nach Berlin kam. Aber ich glaube, sie dürfen jetzt so was nich mehr bauen. Polizeiverbot. Ach, Frau Imme, die Polizei is doch ein rechter Segen. Wenn wir die Polizei nich hätten (und sie sind auch immer so artig gegen einen), so hätten wir gar nichts. Mein Onkel Hartwig, wenn ich ihm so erzähle, daß man nicht schlafen kann, der sagt auch immer: ‚Kenn’ ich, kenn’ ich; der Bourgeois thut nichts für die Menschheit. Und wer nichts für die Menschheit thut, der muß abgeschafft werden.‘“ [189] „Ja, dein Onkel spricht so. Und war es denn bei deinem Hofrat, wo du nu zuletzt warst, auch so?“ „Nein, bei Hofrats war es nicht so. Die wohnten ja auch in einem ganz neuen Hause. Hofrats waren Trockenwohner. Und in dem, was jetzt die neuen Häuser sind, da kommen, glaub’ ich, die Hängeböden gar nicht mehr vor; da haben sie bloß noch die Badestuben.“ „Nu, das is aber doch ein Fortschritt.“ „Ja, das kann man sagen; Badestube als Badestube ist ein Fortschritt oder, wie Onkel Hartwig immer sagt, ein Kulturfortschritt. Er hat meistens solche Wörter. Aber Badestube als Schlafgelegenheit is kein Fortschritt.“ „Gott, Kind, sie werden dich aber doch nich in eine Badewanne gepackt haben?“ „I bewahre. Das thun sie schon der Badewanne wegen nich. Da werden sie sich hüten. Aber… Ach, Frau Imme, ich kann nur immer wieder sagen, Sie wissen nich Bescheid; Sie hatten es gut, wie Sie noch unverheiratet waren, und nu haben Sie’s erst recht gut. Sie wohnen hier wie in einer kleinen Sommerwohnung, un daß es ein bißchen nach Pferde riecht, das schadet nich; das Pferd is ein feines und reinliches Tier, und all seine Verrichtungen sind so edel. Man sagt ja auch: das edle Pferd. Und außerdem soll es so gesund sein, fast so gut wie Kuhstall, womit sie ja die Schwindsucht kurieren. Und dazu haben Sie hier den Blick auf die Kugelakazien und drüben auf das Marinepanorama, wo man sehen kann, wie alles is, und dahinter haben Sie den Blick auf die Kunstausstellung, wo es so furchtbar zieht, bloß damit man immer frische Luft hat. Aber bei Hofrats… Nein, diese Badestube!“ „Gott, Hedwig,“ sagte Frau Imme, „du thust ja, wie wenn es eine Mördergrube oder ein Verbrecherkeller gewesen wäre.“ [190] „Verbrecherkeller? Ach, Frau Imme, das is ja garnichts. Ich habe Verbrecherkeller gesehen, natürlich bloß zufällig. Da trinken sie Weißbier und spielen Sechsundsechzig. Und in einer Ecke wird was ausbaldowert, aber davon merkt man nichts.“ „Und die Badestube… warum is sie dir denn so furchtbar, daß du dich ordentlich schudderst? Der Mensch muß doch am Ende baden können.“ „Ach was, baden! natürlich. Aber ’ne Badestube is nie ’ne Badestube. Wenigstens hier nicht. Eine Badestube is ’ne Rumpelkammer, wo man alles unterbringt, alles, wofür man sonst keinen Platz hat. Und dazu gehört auch ein Dienstmädchen. Meine eiserne Bettstelle, die abends aufgeklappt wurde, stand immer neben der Badewanne, drin alle alten Bier- und Weinflaschen lagen. Und nun drippten die Neigen aus. Und in der Ecke stand ein Bettsack, drin die Fräuleins ihre Wäsche hinein stopften, und in der andern Ecke war eine kleine Thür. Aber davon will ich zu Ihnen nicht sprechen, weil ich einen Widerwillen gegen Unanständigkeiten habe, weshalb schon meine Mutter immer sagte: ‚Hedwig, du wirst noch Jesum Christum erkennen lernen.‘ Und ich muß sagen, das hat sich bei Hofrats denn auch erfüllt. Aber fromm waren sie weiter nich.“ Während Hedwig noch so weiter klagte, hörte man, daß draußen die Klingel ging, und als Frau Imme öffnete, stand Rudolf auf dem kleinen Flur und sagte, daß er Vatern holen solle und Hedwigen auch; Mutter müsse weg. „Na,“ sagte Frau Imme, „dann komm nur, Rudolf, un iß erst ein Stück Streußel und bestell es nachher bei deinem Vater.“ Bald danach nahm sie denn auch den Jungen bei der Hand und führte ihn in das Nebenzimmer, wo die drei Männer vergnügt an ihrem Skattisch saßen. Ein [191] großes Spiel war eben gemacht; alles noch in Aufregung. Robinson, als er Rudolfen sah, nickte ihm zu und sagte zu Imme: „Das is ja der hübsche Junge, den ich vorhin auf dem Hof gesehen habe mit seinem hoop; – nice boy.“ „Ja,“ sagte Imme, „das is unsrem Freund Hartwig seiner.“ Hartwig selber aber rief seinen Jungen heran und sagte: „Na, Rudolf, was giebt’s? Du willst mich holen. Du sollst aber auch noch ’ne Freude haben. Kuck dir mal den Herrn da an, der dich so freundlich ansieht. Das is Robinson.“ „Haha.“ „Ja, Junge, warum lachst du? Glaubst du’s nich, wenn ich dir sage, das is Robinson?“ „I bewahre, Vater. Robinson, den kenn’ ich. Robinson hat ’nen Sonnenschirm und ein Lama. Un der is auch schon lange dod.“
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