Der Stechlin/Fünfzehntes Kapitel

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Fünfzehntes Kapitel.


     Unsere Landpartieler waren im Angesicht von Spindlersfelde nach dem Eierhäuschen zurückgekehrt und hatten sich hier an zwei dicht am Ufer zusammengerückten Tischen niedergelassen, eine Laube von Baumkronen über sich. Sperlinge hüpften umher und warteten auf ihre Zeit. Gleich danach erschien auch ein Kellner, um die Bestellungen entgegen zu nehmen. Es entstand dabei die herkömmliche Verlegenheitspause; niemand wußte was zu sagen, bis die Baronin auf den Stamm einer ihr gegenüberstehenden Ulme wies, drauf „Wiener Würstel“ und daneben in noch dickeren Buchstaben das gefällige Wort „Löwenbräu“ stand. In kürzester Frist erschien denn auch der Kellner wieder, und die Baronin hob ihr Seidel und ließ das Eierhäuschen und die Spree leben, zugleich versichernd, „daß man ein echtes Münchener überhaupt nur noch in Berlin tränke.“ Der alte Berchtesgaden wollte jedoch nichts davon wissen und drang in seine Frau, lieber mehr nach links zu rücken, um den Sonnenuntergang besser beobachten zu können; „der sei freilich in Berlin ebenso gut wie wo anders.“ Die Baronin hielt aber aus und rührte sich nicht. „Was Sonnenuntergang! den seh’ ich jeden Abend. Ich sitze hier sehr gut und freue mich schon auf die Lichter.“

     Und nicht lange mehr, so waren diese Lichter auch wirklich da. Nicht nur das ganze Lokal erhellte sich, [193] sondern auch auf dem drüben am andern Ufer sich hinziehenden Eisenbahndamme zeigten sich allmählich die verschiedenfarbigen Signale, während mitten auf der Spree, wo Schleppdampfer die Kähne zogen, ein verblaktes Rot aus den Kajütenfenstern hervorglühte. Dabei wurde es kühl, und die Damen wickelten sich in ihre Plaids und Mäntel.

     Auch die Herren fröstelten ein wenig, und so trat denn der ersichtlich etwas planende Woldemar nach kurzem Aufundabschreiten an das in der Nähe befindliche Büffett heran, um da zur Herstellung einer besseren Innentemperatur das Nötige zu veranlassen. Und siehe da, nicht lange mehr, so stand auch schon ein großes Tablett mit Gläsern und Flaschen vor ihnen und dazwischen ein Deckelkrug, aus dem, als man den Deckel aufklappte, der heiße Wrasen emporschlug. Die Baronin, in solchen Dingen die Scharfblickendste, war sofort orientiert und sagte: „Lieber Stechlin, ich beglückwünsche Sie. Das war eine große Idee.“

     „Ja, meine Damen, ich glaubte, daß etwas geschehen müsse, sonst haben wir morgen samt und sonders einen akuten Rheumatismus. Und zurück müssen wir doch auch. Auf dem Schiffe, wo solche Hilfsmittel, glaub’ ich, fehlen, sind wir allen Unbilden der Elemente preisgegeben.“

     „Und sie konnten wirklich nicht besser wählen,“ unterbrach Melusine. „Schwedischer Punsch, für den ich ein liking habe. Wie für Schweden überhaupt. Da Doktor Wrschowitz nicht da ist, können wir uns ungestraft einem gewissen Maß von Skandinavismus überlassen.“

     „Am liebsten ohne alles Maß,“ sagte Woldemar, „so skandinavisch bin ich. Ich ziehe die Skandinaven den sonst ‚Meistbegünstigten‘ unter den Nationen immer noch vor. Alle Länder erweitern übrigens ihre Spezialgebiete. Früher hatte Schweden nur zweierlei: Mut und Eisen, von denen man sagen muß, daß sie gut zusammen passen. [194] Dann kamen die ‚Säkerhets Tändstickors‘, und nun haben wir den schwedischen Punsch, den ich in diesem Augenblick unbedingt am höchsten stelle. Ihr Wohl, meine Damen.“

     „Und das Ihre,“ sagte Melusine, „denn Sie sind doch der Schöpfer dieses glücklichen Moments. Aber wissen Sie, lieber Stechlin, daß ich in Ihrer Aufzählung schwedischer Herrlichkeiten etwas vermißt habe. Die Schweden haben noch eins – oder hatten es wenigstens. Und das war die schwedische Nachtigall.“

     „Ja, die hab’ ich vergessen. Es fällt vor meine Zeit.“

     „Ich müßte,“ lachte die Gräfin, „vielleicht auch sagen: es fällt vor meine Zeit. Aber ich darf doch andrerseits nicht verschweigen, die Lind noch leibhaftig gekannt zu haben. Freilich nicht mehr so eigentlich als schwedische Nachtigall. Und überhaupt unter anderm Namen.“

     „Ja, ich erinnere mich,“ sagte Woldemar, „sie hatte sich verheiratet. Wie hieß sie doch?“

     „Goldschmidt, – ein Name, den man schon um ‚Goldschmidts Töchterlein‘ willen gelten lassen kann. Aber an Jenny Lind reicht er allerdings nicht heran.“

     „Gewiß nicht. Und sie sagten, Frau Gräfin, Sie hätten sie noch persönlich gekannt?“

     „Ja, gekannt und auch gehört. Sie sang damals, wenn auch nicht mehr öffentlich, so doch immer noch in ihrem häuslichen Salon. Diese Bekanntschaft zählt zu meinen liebsten und stolzesten Erinnerungen. Ich war noch ein halbes Kind, aber trotzdem doch mit eingeladen, was mir allein schon etwas bedeutete. Dazu die Fahrt von Hyde-Park bis in die Villa hinaus. Ich weiß noch deutlich, ich trug ein weißes Kleid und einen hellblauen Kaschmirumhang und das Haar ganz aufgelöst. Die Lind beobachtete mich, und ich sah, daß ich ihr gefiel. Wenn man Eindruck macht, das behält man. Und nun gar mit vierzehn!“

[195]      „Die Lind,“ warf die Baronin etwas prosaisch ein, „soll ihrerseits als Kind sehr häßlich gewesen sein.“

     „Ich hätte das Gegenteil vermutet,“ bemerkte Woldemar.

     „Und auf welche Veranlassung hin, lieber Stechlin?“

     „Weil ich ein Bild von ihr kenne. Wir haben es, wie bekannt, seit einiger Zeit von einem unsrer besten Maler auf unsrer Nationalgalerie. Aber lange bevor ich es da sah, kannt’ ich es schon en miniature, und zwar aus einer im Besitz meines Freundes Lorenzen befindlichen Aquarelle. Diese Kopie hängt über seinem Sofa, dicht unter einer Rubensschen Kreuzabnahme. Wenn man will, eine etwas sonderbare Zusammenstellung.“

     „Und das alles in Ihrer Stechliner Pfarre!“ sagte Melusine. „Wissen Sie, Rittmeister, daß ich die Thatsache, daß so was überhaupt in einem kleinen Dorfe vorkommen kann, Ihrem berühmten See beinah’ gleichstelle? Unsre schwedische Nachtigall in Ihrem ‚Ruppiner Winkel‘, wie Sie selbst beständig sich auszudrücken lieben. Die Lind! Und wie kam Ihr Pastor dazu?“

     „Die Lind war, glaub’ ich, seine erste Liebe. Sehr wahrscheinlich auch seine letzte. Lorenzen saß damals noch auf der Schulbank und schlug sich mit Stundengeben durch. Aber er hörte die Diva trotzdem jeden Abend und wußte sich auch, trotz bescheidenster Mittel, das Bildchen zu verschaffen. Fast grenzt es ans Wunderbare. Freilich verlaufen die Dinge meist so. Wär’ er reich gewesen, so hätt’ er sein Geld anderweitig verthan und die Lind vielleicht nie gehört und gesehen. Nur die Armen bringen die Mittel auf für das, was jenseits des Gewöhnlichen liegt; aus Begeisterung und Liebe fließt alles. Und es ist etwas sehr Schönes, daß es so ist in unserm Leben. Vielleicht das Schönste.“

     „Das will ich meinen,“ sagte die Gräfin. „Und ich dank’ es Ihnen, lieber Stechlin, daß Sie das gesagt haben. [196] Das war ein gutes Wort, das ich Ihnen nicht vergessen will. Und dieser Lorenzen war Ihr Lehrer und Erzieher?“

     „Ja, mein Lehrer und Erzieher. Zugleich mein Freund und Berater. Der, den ich über alles liebe.“

     „Gehen Sie darin nicht zu weit?“ lachte Melusine.

     „Vielleicht, Gräfin, oder sag’ ich lieber: gewiß. Und ich hätte dessen eingedenk sein sollen, gerade heut und gerade hier. Aber so viel bleibt: ich liebe ihn sehr, weil ich ihm alles verdanke, was ich bin, und weil er reinen Herzens ist.“

     „Reinen Herzens,“ sagte Melusine. „Das ist viel. Und Sie sind dessen sicher?“

     „Ganz sicher.“

     „Und von diesem Unikum erzählen Sie uns erst heute. Da waren Sie neulich mit dem guten Wrschowitz bei uns und haben uns allerhand Schreckliches von Ihrem misogynen Prinzen wissen lassen. Und während Sie den in den Vordergrund stellen, halten Sie diesen Pastor Lorenzen ganz gemütlich in Reserve. Wie kann man so grausam sein und mit seinen Berichten und Redekünsten so launenhaft operieren! Aber holen Sie wenigstens nach, was Sie versäumt haben. Die Fragen drängen sich ordentlich. Wie kam Ihr Vater auf den Einfall, Ihnen einen solchen Erzieher zu geben? Und wie kam ein Mann wie dieser Lorenzen in diese Gegenden? Und wie kam er überhaupt in diese Welt? Es ist so selten, so selten.“

     Armgard und die Baronin nickten.

     „Ich bekenne, mich quält die Neugier, mehr von ihm zu hören,“ fuhr Melusine fort. „Und er ist unverheiratet? Schon das allein ist immer ein gutes Zeichen. Durchschnittsmenschen glauben sich so schnell wie möglich verewigen zu müssen, damit die Herrlichkeit nicht ausstirbt. Ihr Lorenzen ist eben in allem, wie mir scheint, ein Ausnahmemensch. Also beginnen.“

     „Ich bin dazu besten Willens, Frau Gräfin. Aber [197] es ist zu spät dazu, denn das helle Licht, das Sie da sehen, das ist bereits unser Dampfer. Wir haben keine Wahl mehr, wir müssen abbrechen, wenn wir nicht im Eierhäuschen ein Nachtquartier nehmen wollen. Unterwegs ist übrigens Lorenzen ein wundervolles Thema, vorausgesetzt, daß uns der Anblick der Liebesinsel nicht wieder auf andre Dinge bringt. Aber hören Sie… der Dampfer läutet schon… wir müssen eilen. Bis an die Anlegestelle sind noch mindestens drei Minuten!“

* * *

     Und nun war man glücklich auf dem Schiff, auf dem Woldemar und die Damen ihre schon auf der Hinfahrt innegehabten Plätze sofort wieder einnahmen. Nur die beiden in ihre Plaids gewickelten alten Herren schritten auf Deck auf und ab und sahen, wenn sie vorn am Bugspriet eine kurze Rast machten, auf die vielen hundert Lichter, die sich von beiden Ufern her im Fluß spiegelten. Unten im Maschinenraum hörte man das Klappern und Stampfen, während die Schiffsschraube das Wasser nach hinten schleuderte, daß es in einem weißen Schaumstreifen dem Schiffe folgte. Sonst war alles still, so still, daß die Damen ihr Gespräch unterbrachen. „Armgard, du bist so schweigsam,“ sagte Melusine, „finden Sie nicht auch, lieber Stechlin? Meine Schwester hat noch keine zehn Worte gesprochen.“

     „Ich glaube, Gräfin, wir lassen die Comtesse. Manchem kleidet es zu sprechen, und manchem kleidet es zu schweigen. Jedes Beisammensein braucht einen Schweiger.“

     „Ich werde Nutzen aus dieser Lehre ziehen.“

     „Ich glaub’ es nicht, Gräfin, und vor allem wünsch’ ich es nicht. Wer könnt’ es wünschen?“

     Sie drohte ihm mit dem Finger. Dann schwieg man wieder und sah auf die Landschaft, die da, wo der am [198] Ufer hinlaufende Straßenzug breite Lücken aufwies, in tiefem Dunkel lag. Urplötzlich aber stieg gerad aus dem Dunkel heraus ein Lichtstreifen hoch in den Himmel und zerstob da, wobei rote und blaue Leuchtkugeln langsam zur Erde niederfielen.

     „Wie schön,“ sagte Melusine. „Das ist mehr, als wir erwarten durften; Ende gut, alles gut, – nun haben wir auch noch ein Feuerwerk. Wo mag es sein? Welche Dörfer liegen da hinüber? Sie sind ja so gut wie ein Generalstäbler, lieber Stechlin, Sie müssen es wissen. Ich vermute Friedrichsfelde. Reizendes Dorf und reizendes Schloß. Ich war einmal da; die Dame des Hauses ist eine Schwester der Frau von Hülsen. Ist es Friedrichsfelde?“

     „Vielleicht, gnädigste Gräfin. Aber doch nicht wahrscheinlich. Friedrichsfelde gehört nicht in die Reihe der Vororte, wo Feuerwerke sozusagen auf dem Programm stehen. Ich denke, wir lassen es im Ungewissen und freuen uns der Sache selbst. Sehen Sie, jetzt beginnt es erst recht eigentlich. Die Rakete, die wir da vorhin gesehen haben, das war nur Vorspiel. Jetzt haben wir erst das Stück. Es ist zu weit ab, sonst würden wir das Knattern hören und die Kanonenschläge. Wahrscheinlich ist es Sedan oder Düppel oder der Übergang nach Alsen. Übrigens ist die Pyrotechnik eine profunde Wissenschaft geworden.“

     „Und es soll auch Personen geben, die ganz dafür leben und ihr Vermögen hinopfern wie früher die Holländer für die Tulpen. Tulpen wäre nun freilich nicht mein Geschmack. Aber Feuerwerk!“

     „Ja, unbedingt. Und nur schade, daß alle die, die damit zu thun haben, über kurz oder lang in die Luft fliegen.“

     „Das ist fatal. Aber es steigert andrerseits doch auch wieder den Reiz. Sonderbar, gefahrlose Berufe, solche, [199] die sozusagen eine Zipfelmütze tragen, sind mir von jeher ein Greuel gewesen. Interesse hat doch immer nur das va banque: Torpedoboote, Tunnel unter dem Meere, Luftballons. Ich denke mir, das Nächste was wir erleben, sind Luftschifferschlachten. Wenn dann so eine Gondel die andre entert. Ich kann mich in solche Vorstellungen geradezu verlieben.“

     „Ja, liebe Melusine, das seh’ ich,“ unterbrach hier die Baronin. „Sie verlieben sich in solche Vorstellungen und vergessen darüber die Wirklichkeiten und sogar unser Programm. Ich muß angesichts dieser doch erst kommenden Luftschifferschlachten ganz ergebenst daran erinnern, daß für heute noch wer anders in der Luft schwebt und zwar Pastor Lorenzen. Von dem sollte die Rede sein. Freilich, der ist kein Pyrotechniker.“

     „Nein,“ lachte Woldemar, „das ist er nicht. Aber als einen Aëronauten kann ich ihn Ihnen beinahe vorstellen. Er ist so recht ein Excelsior-, ein Aufsteigemensch, einer aus der wirklichen Obersphäre, genau von daher, wo alles Hohe zu Haus ist, die Hoffnung und sogar die Liebe.“

     „Ja,“ lachte die Baronin, „die Hoffnung und sogar die Liebe! Wo bleibt aber das Dritte? Da müssen’s zu uns kommen. Wir haben noch das Dritte; das heißt also wir wissen auch, was wir glauben sollen.“

     „Ja, sollen.“

     „Sollen, gewiß. Sollen, das ist die Hauptsache. Wenn man weiß, was man soll, so find’t sich’s schon. Aber wo das Sollen fehlt, da fehlt auch das Wollen. Es ist halt a Glück, daß wir Rom haben und den heiligen Vater.“

     „Ach,“ sagte Melusine, „wer’s Ihnen glaubt, Baronin! Aber lassen wir so heikle Fragen und hören wir lieber von dem, den ich – ich bin beschämt darüber – in so wenig verbindlicher Weise vergessen konnte, von unserm Wundermann mit der Studentenliebe, von dem Säulenheiligen, der reinen Herzens ist, und vor allem von dem [200] Schöpfer und geistigen Nährvater unsers Freundes Stechlin. Eh bien, was ist es mit ihm? ‚An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,‘ – das könnt’ uns beinahe genügen. Aber ich bin doch für ein Weiteres. Und so denn attention au jeu. Unser Freund Stechlin hat das Wort.“

     „Ja, unser Freund Stechlin hat das Wort,“ wiederholte Woldemar, „so sagen Sie gütigst, Frau Gräfin. Aber dem nachkommen ist nicht so leicht. Vorhin, da war ich im Zuge. Jetzt wieder damit anfangen, das hat seine Schwierigkeiten. Und dann erwarten die Damen immer eine Liebesgeschichte, selbst wenn es sich um einen Mann handelt, den ich, was diese Dinge betrifft, so wenig versprechend eingeführt habe. Sie gehen also, wie heute schon mehrfach (ich erinnere nur an das Eierhäuschen), einer grausamen Enttäuschung entgegen.“

     „Keine Ausflüchte!“

     „Nun, so sei’s denn. Ich muß es aber auf einem Umwege versuchen und Ihnen bei der Gelegenheit als Nächstes schildern, wie meine letzte Begegnung mit Lorenzen verlief. Er war, als ich bei ihm eintrat, in ersichtlich großer Erregung und zwar über ein Büchelchen, das er in Händen hielt.“

     „Und ich will raten, was es war,“ unterbrach Melusine.

     „Nun?“

     „Ein Buch von Tolstoj. Etwas mit viel Opfer und Entsagung. Anpreisung von Ascese.“

     „Sie sind auf dem richtigen Wege, Gräfin, nur nicht geographisch. Es handelt sich nämlich nicht östlich um einen Russen, sondern westlich um einen Portugiesen.“

     „Um einen Portugiesen,“ lachte die Baronin. „O, ich kenne welche. Sie sind alle so klein und gelblich. Und einer fand einen Seeweg. Freilich schon lange her. Ist es nicht so?“

     „Gewiß, Frau Baronin, es ist so. Nur der, um den [201] es sich hier handelt, das ist keiner mit einem Seeweg, sondern bloß ein Dichter.“

     „Ach, dessen erinnere ich mich auch, ja ich habe sogar seinen Namen auf der Zunge. Mit einem großen C fängt er an. Aber Calderon ist es nicht.“

     „Nein, Calderon ist es nicht; es deckt sich da manches, auch schon rein landkartlich, nicht mit dem, um den sich’s hier handelt. Und ist überhaupt kein alter Dichter, sondern ein neuer. Und heißt Joao de Deus.“

     „Joao de Deus,“ wiederholte die Gräfin. „Schon der Name. Sonderbar. Und was war es mit dem?“

     „Ja, was war es mit dem? Dieselbe Frage that ich auch, und ich habe nicht vergessen, was Lorenzen mir antwortete: ‚Dieser Joao de Deus,‘ so etwa waren seine Worte, ‚war genau das, was ich wohl sein möchte, wonach ich suche, seit ich zu leben, wirklich zu leben angefangen, und wovon es beständig draußen in der Welt heißt, es gäbe dergleichen nicht mehr. Aber es giebt dergleichen noch, es muß dergleichen geben oder doch wieder geben. Unsre ganze Gesellschaft (und nun gar erst das, was sich im besonderen so nennt) ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muß sie zu Grunde gehen. Die zehn Gebote, das war der Alte Bund; der neue Bund aber hat ein andres, ein einziges Gebot, und das klingt aus in: „Und du hättest der Liebe nicht…“.

     „Ja, so sprach Lorenzen“, fuhr Woldemar nach einer Pause fort „und sprach auch noch andres, bis ich ihn unterbrach und ihm zurief: ‚Aber, Lorenzen, das sind ja bloß Allgemeinheiten. Sie wollten mir Persönliches von Joao de Deus erzählen. Was ist es mit dem? Wer war er? Lebt er? Oder ist er tot?‘

     „‚Er ist tot, aber seit kurzem erst, und von seinem Tode spricht das kleine Heft hier. Höre.“ Und nun begann er zu lesen. Das aber was er las, das lautete etwa so: „…Und als er nun tot war, der Joao [202] de Deus, da gab es eine Landestrauer, und alle Schulen in der Hauptstadt waren geschlossen, und die Minister und die Leute vom Hof und die Gelehrten und die Handwerker, alles folgte dem Sarge dicht gedrängt, und die Fabrikarbeiterinnen hoben schluchzend ihre Kinder in die Höh’ und zeigten auf den Toten und sagten: Un Santo, un Santo. Und sie thaten so und sagten so, weil er für die Armen gelebt hatte und nicht für sich.‘““

     „Das ist schön,“ sagte Melusine.

     „Ja, das ist schön,“ wiederholte Woldemar, „und ich darf hinzusetzen, in dieser Geschichte haben Sie nicht bloß den Joao de Deus, sondern auch meinen Freund Lorenzen. Er ist vielleicht nicht ganz wie sein Ideal. Aber Liebe giebt Ebenbürtigkeit.“

     „Und so schlag’ ich denn vor,“ sagte die Baronin, „daß wir den mit dem C, dessen Name mir übrigens noch einfallen wird, vorläufig absetzen und statt seiner den neuen mit dem D leben lassen. Und natürlich unsern Lorenzen dazu.“

     „Ja, leben lassen,“ lachte Woldemar. „Aber womit? worin? Les jours de fête…“ und er wies auf das Eierhäuschen zurück.

     „In dieser Notlage wollen wir uns helfen, so gut es geht, und uns statt andrer Beschwörung einfach die Hände reichen, selbstverständlich über Kreuz; hier: erst Stechlin und Armgard und dann Melusine und ich.“

     Und wirklich, sie reichten sich in heiterer Feierlichkeit die Hände.

     Gleich danach aber traten die beiden alten Herren an die Gruppe heran, und der Baron sagte: „Das ist ja wie Rütli.“

     „Mehr, mehr. Bah, Freiheit! Was ist Freiheit gegen Liebe!“

     „So, hat’s denn eine Verlobung gegeben?“

     „Nein… noch nicht,“ lachte Melusine.


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