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Der Struwwelpeter bei Kaiser Wilhelm I

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Textdaten
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Autor: Dr. H. Hoffmann-Donner
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Titel: Der Struwwelpeter bei Kaiser Wilhelm I.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 840–844
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Struwwelpeter bei Kaiser Wilhelm I.

Die Leser der „Gartenlaube“ müssen sich noch einmal vom Struwwelpeter erzählen lassen; ich kann aber tröstend versichern, daß dieses zweite Mal das letzte Mal sein wird. In der ersten Nummer der „Gartenlaube“ dieses Jahres habe ich von der Entstehung und den weiteren Lebensschicksalen meines unverbesserlichen Wildlings berichtet und dabei die Bemerkung eingeflochten, daß ich wohl gerne von einer Begegnung mit unserem Kaiser Wilhelm I. Mittheilung machen möchte, daß ich aber vorderhand der Meinung sei, daß damit noch etwas gewartet werden sollte. Diese Bedenken sind nunmehr beseitigt, und so will ich eine kleine Geschichte mittheilen, die nicht ohne Anmuth ist und die zugleich die wohlthuende Absicht erfüllen mag, dem Andenken eines großen und edelherzigen Monarchen, unseres verstorbenen Kaisers Wilhelm I., einige bescheidene Dankworte zu widmen und den Beweis zu liefern, daß dieser heldenhafte und rastlos thätige Fürst auch für die kleinen Bedürfnisse und Freuden des Lebens ein warmes Herz im Busen trug. Zugleich kann ich meinem verstorbenen Freunde, dem Präsidenten von Madai, ein Wort dankbaren Andenkens nachrufen.

In den ersten Wochen des Monats Oktober 1877 war die Einwohnerschaft meiner Vaterstadt Frankfurt a. M. in ungewöhnlicher Aufregung, man errichtete Reihen von Masten, schmückte sie mit Kränzen und grünen Gehängen, Fahnen flatterten, zur Illumination wurden Vorkehrungen getroffen; am Bahnhof und auch noch anderwärts wurden hohe Ehrenpforten eiligst aufgebaut; alle Arten von Ausschüssen waren zusammengetreten, hatten Geld zusammengebracht, und nun verhandelten sie über den Festverlauf. Der Empfang, der Fackelzug, die Kinderzüge, der Fahnenschmuck, „zoologisches“ Frühstück, Umfahrt, Kaiserdiner, Zapfenstreich und anderes mehr, das waren die Gegenstände der Gespräche und der Inhalt der Lokalnotizen der Tagesblätter.

Kaiser Wilhelm hatte der Stadt seinen Besuch auf den 18. und 19. Oktober angesagt, Ich selbst war persönlich nur wenig von der Erregung berührt, da ich eine halbe Stunde von der Stadt entfernt in unserem Krankenhause still meines Amtes waltete. Seit dem Jahre 1848 hatte ich mich der aktiven Theilnahme an unserer kleinen Lokalpolitik sorglich enthalten und hatte die Ansicht ausgesprochen, daß es auch verdienstlich sei, hier in Frankfurt, wo die Mehrheit mitregierte, die Minderheit, welche sich regieren ließ, zu vermehren. Ich und unsere Anstalt, wir befanden uns ganz wohl in solcher Lage.

Da erschien der Pförtner unseres Hauses und übergab mir einen Brief, dessen Empfang ich auf einer Liste von fünf bis sechs Namen bescheinigen mußte; ich that es und schrieb an einem Bericht für den Magistrat weiter; dann aber erbrach ich das Schreiben und las: „Seine Majestät der Kaiser und König laden Euer Hochwohlgeboren auf Freitag den 19. Oktober nachmittags 5 Uhr zum Diner im Kaiserlichen Oberpostamtsgebäude ein. Anzug: kleine Uniform; für die Herren, die keine Uniform tragen, schwarzer Frack und weiße Halsbinde. Auf Allerhöchsten Befehl: von Lucadou, Generalmajor und Kommandant in Frankfurt a. M.“

Das war eine Ueberraschung und eine Genugthuung zugleich. Für die vorgeschriebene Kleidung war bald gesorgt. Der alte Frack wurde aus dem Schranke geholt; zwar meinte meine sorgliche Frau, es sei ganz unthunlich, daß ich in dem alten Kleidungsstück dort erscheinen könne; ich aber entgegnete: „Warum denn nicht? Das ehrwürdige Gewand ist, seit ich es besitze, schon zweimal aus der Mode gekommen und dann doch wieder modern geworden; der alte treue Gesell soll mich bekleidend begleiten.“ Als ich dann später nach dem Festmahl heimkam, war ihre erste Frage: „Wie war es?“ – worauf ich scherzend erwiderte: „Sehr schön! Als ich eintrat, kam der Kaiser auf mich zu und sagte: ‚Hoffmann, was haben Sie für einen wunderschönen Frack an!‘ und ich werde im Leben keinen andern mehr tragen.“ Jetzt hängt der alte Gesell wieder im Schranke und wartet geduldig, ob er noch ein viertes Mal wieder zur Mode werde.

Am nächsten Tage, am 18. Oktober, wehten von unserem Gebäude und von meinem Balkon die deutschen Fahnen, das Wetter war klar und etwas kühl, der Barometer stand hoch und die nächste Zukunft war gesichert. Den Tag über war ich in der Anstalt beschäftigt und konnte erst gegen Abend um halb sechs Uhr nach der Stadt gehen, Alle Straßen und Plätze, durch die der Einzug seinen Weg nehmen mußte, waren aufs reichste geschmückt, vom Bahnhof bis zum Postgebäude auf der Zeil überall Fahnen, Masten mit grünen Gewinden, und ebenso die

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Das Weihnachtslied.
Nach einer Originalzeichnung von O. Gräf.

[842] Häuser verziert, allerorts arbeitete man noch eifrig an der Gasbeleuchtung. Wir gelangten durch das mehr und mehr anwachsende Gedränge glücklich zu dem befreundeten Hause auf der Zeil, wo wir den Einzug bequem überblicken konnten. Die Straßen, die Plätze waren dichtgedrängt voll Menschen, es war wohl ganz Frankfurt auf den Beinen, und aus der Nachbarschaft mochten mehr als 100000 Schaulustige hereingeströmt sein. Alles war in Erwartung, da – kurz nach acht Uhr, als sich schon volle Dunkelheit vom Himmel heruntergesenkt hatte, erklangen alle Glocken der Stadt mit weithintönendem Schall. Es war ein feierlicher Willkommgruß von mächtigem gewaltigen Eindruck. Jubelrufe kamen aus der Ferne, sie wuchsen an, sie kamen näher, sie brausten rings um uns empor, und nun fuhren etwa zehn Wagen an uns vorbei die große breite Straße hinauf. Meist schrien die Leute dem ersten Wagen zu, aber der Kaiser saß im zweiten mit einem Herrn in Civilanzug; in den andern befanden sich meist Herren in glänzenden Uniformen. Endloses Hochrufen begleitete die Wagen bis zu ihrem Ziele, das Volk schrie aus voller Brust und aus vollem Herzen; der Kaiser war eingekehrt.

Am 19. Oktober, einem Dienstag, fuhr ich dann gegen fünf Uhr abends in der vorgeschriebenen Kleidung zum Kaiseressen nach der Post. Die Straße war wieder voll Menschen, so daß die Schutzleute nur mit Mühe den Raum in der Mitte für die Wagen frei halten konnten. Schon an der Liebfrauenstraße stockte die lange Reihe, und nur langsam ging es vorwärts zur Anfahrt. Dort aber war alles gleichfalls mit Blumen geschmückt und Treppen und Vorraum mit Teppichen belegt; man hatte das alte Gebäude so jung zu machen versucht, als es eben möglich war. Kaiserliche Lakaien nahmen uns die Ueberröcke ab, und ich kam mir mit einem Male sehr vornehm vor. Im ersten Zimmer war ein Hofbeamter in Uniform und an Orden reich, bei dem ich mich namentlich anmeldete. „Wollen Sie hier in diesem Zimmer bleiben! Sie werden hier speisen, man bringt die Tafeln herein.“

„Gut! Besten Dank!“

Ich traf viele Bekannte aus der Stadt, Juristen, Aerzte, Kaufleute und mancherlei Rentiers; es mögen etwa 30 bis 40 Personen gewesen sein, und dann die Spitzen der Verwaltungsbeamten, der Gerichte und des Militärs.

Zuerst begrüßte mich mein alter treuer Freund, der Polizeipräsident von Madai, der früher in gleicher Stellung sich hier in Frankfurt in den ersten schwierigen Zeiten der verlorenen Selbständigkeit die allgemeinste Anerkennung zu gewinnen verstanden hatte und der mir in jahrelangem amtlichen Verkehr eine nie gestörte Zuneigung bewiesen hatte. Er empfing mich hocherfreut und herzlich. Ferner begegnete ich dem Leibarzte des Kaisers, dem Dr. von Lauer, den ich vor einigen Jahren in Ems kennengelernt hatte. Es war dies ein reichbegabter und vielseitig gebildeter Mann; ich bin nie einem zweiten begegnet, der eine solche Masse von Anekdoten und Citaten aus allen Sprachen, Büchern, Völkern und Ländern in seinem Kopfe vorräthig hatte; man hörte von ihm Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, alte und neue Litteratur, und dies alles dicht beieinander und durcheinander. Hier hatte ich nun gleich Gelegenheit, durch eine Schwäche meiner Hirnfunktion in eine unangenehme Verlegenheit zu gerathen und zugleich zu erproben, daß man durch Unverfrorenheit auch da sich heraushelfen kann. Ich litt von je an einem etwas unzuverlässigen Gedächtniß, namentlich war ich jetzt in Bezug auf die Namen meiner Bekannten oft ganz rathlos. Als ich nun mit dem kaiserlichen Leibarzte sprach, brachte dieser plötzlich ein Citat aus Pindar an. Neben uns stand aber in demselben Augenblick der verdienstvolle Direktor unseres Gymnasiums, Professor Tycho Mommsen, Herausgeber und Uebersetzer des Pindar. Als dieser nun seinen griechischen Pflegling von dem Herrn in glänzender, mit reichstem Ordenschmucke überdeckter Uniform angeführt hörte, trat er gleich zu mir und bat mich, ihn vorzustellen. Ich that es bereitwillig also: „Excellenz der Herr Generalstabsarzt und Leibarzt Sr. Majestät, Dr. von Lauer! Und unser verdienstvoller Direktor des Gymnasiums, Herr Professor Dr. – –“ Ja! Wie heißt er? Totale Lücke! – Ich fasse mich kurz und sage schließlich murmelnd: „Herr Professor Dr. Br–br–br–“ und entferne mich so schnell als möglich. Mommsen und Lauer waren gleich tief in Pindarsche Siegeshymnen versunken; ich aber eilte zu einem nahestehenden Bekannten und ließ mir den Namen des Direktors ins Gedächtniß zurückrufen. Dann kehrte ich rasch zu den beiden „Griechen“ zurück und frug Lauer: „Ich habe Ihnen wohl den Namen des Herrn Direktors nicht deutlich genug ausgesprochen?“ Lauer erwiderte: „Ja, ich habe ihn gar nicht verstanden,“ worauf ich das Fehlende mit den Worten ergänzte. „Es ist der berühmte Bruder des berühmteren Bruders, der Gymnasialdirektor Mommsen.“ So war der Fehler leidlich verbessert, und ich überließ die beiden der Antike. Später, als wir bei Tisch zusammensaßen, gab ich ein reuevolles Bekenntniß meiner Schwäche und erhielt bereitwillig Absolution; es wurden ähnliche Verstöße von einer und der anderen Seite vorgebracht. Das alles gehört nun eigentlich nicht zu meiner Geschichte, aber wenn man in der Vergangenheit spazieren geht, so liebt man auch mitunter kleine Nebenwege, auf den Hauptweg kommen wir doch wieder.

In dem zweiten Saale waren die höheren Staats- und Stadtbeamten und die Frankfurter Finanzgrößen versammelt. Nachdem unsere lebhafte, doch gemäßigt laute Unterhaltung einige Zeit gedauert hatte, erschien der königliche Hofmarschall in unserem Raum, stieß dreimal seinen mit silbernem Knopfe verzierten Stab auf den Boden und verkündigte: „Seine Majestät will die anwesenden Gäste begrüßen.“ Kaiser Wilhelm trat ein und machte in Begleitung unseres Oberbürgermeisters Dr. von Mumm bei den im Kreise stehenden Herren die Runde. Er richtete an die meisten ein paar freundliche Worte; so sagte er zu mit: „Es ist freilich besser, wenn die Aerzte im allgemeinen nicht allzu viel zu thun haben.“ Ich erwiderte, daß die mir anvertrauten Kranken von keinen epidemischen Einflüssen abhingen und die Zahl derselben an der Anstalt meist ungefähr die gleiche bliebe. Damit war die Ceremonie abgethan. Soviel war mir klar, daß es doch eine schwere Aufgabe sein müsse, so alle paar Tage einer Anzahl von Leuten irgend etwas sagen zu müssen, zu denen man eigentlich wenig oder gar keine direkte Beziehung hat. Ich dachte an den reichen Mann, der wohl gern Almosen giebt, dem aber zuletzt doch das Kleingeld ausgegangen ist und der deshalb leicht in Verlegenheit kommt.

Als diese Begrüßung zu Ende war, öffnete sich eine Seitenthür und Lakaien trugen die kleinen gedeckten Tische herein, an denen je etwa zehn Personen Platz fanden. Das Essen war gut, ich habe nie ein so weiches Filet gegessen, was den zahnarmen Doktor und andere wohl auch nur erfreuen konnte. Auch die Weine waren vorzüglich, Madeira, feiner Bordeaux, Rauenthaler und Schaumwein. Es wurde rasch aufgetragen und die ganze Prozedur war in dreiviertel Stunden zu Ende. Die Unterhaltung war recht belebt und unbehindert. Mit uns am Tische waren unter anderen Dr. von Lauer, Mommsen und Herr von Wilmowsky, der dem Kaiser nahestehende Chef des Civilkabinetts, der in liebenswürdigster Weise gewissermaßen die Honneurs des kleinen Kreises machte und mit dem sich ein leicht fließendes Gespräch unterhalten ließ ... der Kaffee wurde gebracht, die zersplitterte Unterhaltung ging weiter und die Tische verschwanden ebenso lautlos, wie sie gekommen waren. Geraucht wurde nicht; ich hätte gern eine Imperialis versucht, wenn es deren gegeben hätte; doch war es recht gut, denn sonst hätte sich in den engen, ziemllch niedrigen Räumen des alten Baues wohl ein gar zu mörderischer Qualm entwickelt.

Mitten in die sich wieder bildenden Gruppen kam nun plötzlich Madai zu mir und theilte mir mit, er habe Seiner Majestät soeben gesagt, daß sich der Verfasser des „Struwwelpeter“ hier befinde; der Kaiser wolle mich noch einmal sprechen. Im höchsten Grade überrascht folgte ich ihm sogleich. An der Thür des zweiten Saales kam der Kaiser mir freundlich entgegen, reichte mir die Hand und sprach zu mir, er habe meine Bücher gelesen und sich recht sehr darüber gefreut. Ich verbeugte mich geziemend und erwiderte: „Majestät, ich hatte mich mit den kleinen Schriften eigentlich nur an die Herzen der Kleinen gewendet; ich erfahre nun, daß ich damit auch die Herzen der Großen gewonnen habe. Kann ich einen schöneren Erfolg wünschen?“ Er frug darauf: „Ruht denn jetzt Ihre Feder?“ Darauf entgegnete ich: „Ich bin Direktor der Irrenanstalt; mein Beruf ist ein so ernster, daß die Augenblicke freier Stimmung zu selten sind, um solche Nebendinge zu betreiben; auch bin ich zu alt. Uebrigens haben wir die hundertste Auflage herausgegeben, und mehr kann ich doch nicht [843] verlangen!“ Der Kaiser drückte darüber seine anerkennende Freude aus und wandte sich darauf an Herrn von Madai mit den Worten: „Ich danke Ihnen!“ Ich verbeugte mich, und die Audienz war zu Ende.

Es mag mich wohl mancher in der Gesellschaft beneidet haben, und ich glaube einige erstaunte Augen bemerkt zu haben von Leuten, die sich wunderten, daß ein stiller alter Doktor solche Auszeichnung erfahren konnte; ja, eine der Finanzgrößen unserer Stadt, die mich sonst nicht einmal grüßte, trat auf mich zu und reichte mir auch huldvollst die Hand! Das Fest war zu Ende, ich ging nach meinem Wagen und fuhr, nunmehr behaglich meine Cigarre rauchend, heim nach meiner entfernten Wohnung. So eilig hatte ich meinen Rückzug angetreten, daß ich nicht einmal Gelegenheit fand, dem Freunde Madai zu danken. Das wollte ich dann am nächsten Morgen brieflich nachholen. Ich meinte nun noch weiter, daß ich mich über den Verlauf der Festtage in unserer Stadt aussprechen und dabei namentlich hervorheben sollte, daß all der Jubel aus warmfühlenden einigen Herzen entsprungen sei, und daß dieser Tag ein Tag der Versöhnung mit der neuen Reichsverfassung gewesen sei. Da ich aber wußte, daß Madai wöchentlich zweimal bei dem Kaiser erschien, um ihm über die Angelegenheiten seiner Residenzstadt zu berichten, so glaubte ich, daß möglicherweise mein Bericht im Munde des Polizeipräsidenten von Berlin für unsere Stadt von Nutzen sein und auf die Stimmung des Kaisers über Frankfurt doch einigen Einfluß gewinnen könnte. Ich fügte schließlich bei, auf der Treppe beim Weggehen sei mir der Gedanke gekommen, ich hätte dem Kaiser die Frage stellen sollen, ob ich ihm die kleinen Hefte nicht zusenden dürfe, natürlich nicht für ihn selbst, sondern für seine Enkel; doch sei es auch so gut, da ich ja nicht wüßte, ob der Kronprinz noch so kleine Kinder habe, um solche Dinge zu verwenden. Es sei also doch besser so.

Damit glaubte ich nun, daß die Sache zu Ende, zu einem für mich ehrenvollen und erfreulichen Ende gelangt sei. Dem war aber nicht so, und es entwickelte sich daraus weiter ein ganz eigenthümlicher mittelbarer Briefwechsel.

Ich erhielt nämlich am 24. Oktober eine Antwort von Madai, die mich in das höchste Erstaunen versetzte; er schrieb mir:

 „Hochgeehrter Freund!
Selbst auf die Gefahr hin, von Ihnen einer – wenigstens nicht übel gemeinten – Indiskretion geziehen zu werden, habe ich es mir nicht versagen können, Sr. Majestät unserem, wie Sie mit Recht sagen, herrlichen Kaiser und Herrn bei dem heutigen Vortrage Ihren so patriotischen Brief vom 20., soweit derselbe Se. Majestät und die Gewinnung der Frankfurter Herzen durch ihn betrifft, vorzulesen, und der Kaiser hat mich beauftragt, Ihnen zu wiederholen, daß es ihm wahrhaft erfreulich gewesen wäre, den Verfasser des Struwwelpeter kennengelernt zu haben, und Ihnen zu sagen, daß er Ihre fünf Bilderbücher – jedoch nicht für seine Enkel, sondern für sich persönlich – dankbar annehmen würde. Ich stelle mich Ihnen mit großer Freude als Ueberbringer der zusammengebundenen fünf Bilderbücher nebst deren Widmung zur Verfügung. Der Kaiser ist über den ihm in Frankfurt bereiteten herrlichen Empfang in hohem Grade erfreut und giebt seiner Befriedigung bei jeder Gelegenheit den freudigsten Ausdruck. Gott erhalte uns den gnädigsten Herrn noch recht lange Jahre! – – – Schönstens grüßend bin ich Ihr treu ergebener v. M.“ 

Da war es nun geschehen und mehr erreicht, als ich je gewollt! Nun hieß es, rasch ans Werk! Schnell schreibe ich dem Freunde ein paar Dankesworte, eile dann zu dem Verleger, suche möglichst gute Exemplare aus und lege als sechstes Heft auch noch die Melodien bei, die der Musikdirektor Haßla in Würzburg zu den Versen zusammengestellt hatte, und bringe das alles dem Buchbinder, daß er es anständig elegant mit Goldschnitt einbinde. Dann besuchte ich noch den Polizeipräsidenten von Hergenhahn, um mich, der ich in solchen Dingen unerfahren war, über Widmungsformel und Titulatur belehren zu lassen. Als ich dann nach ein paar Tagen das kleine Quartbändchen in präsentablem Gewande erhalten hatte, machte ich alles ordnungsgemäß zurecht; auf der Decke stand „Der Struwwelpeter und seine vier Geschwister“. Auf das zweite Vorblatt aber schrieb ich folgende Strophen:


  Die Nachzügler vom 18. Oktober 1877.

Frohe Knnde ward vernommen,
Fackeln glühten, Lieder schallten;
Unser Kaiser war gekommen,
Einkehr in die Stadt zu halten;
Und das Liebste, was wir haben,
Unsre Kinder, unsre Knaben
Schritten vorn im langen Zuge.

Doch nicht alle; – einige blieben
Scheu zu Hause still verborgen.
Nun hat uns ein Freund geschrieben:
„Kommt nur ohne Angst und Sorgen!“
Und da sind sie! Zögernd schreiten
Durch des Schlosses Herrlichkeiten
Sie in alten Werktagskleidern.

Ach, sie werden dort, so denk’ ich,
Nicht zum besten sich betragen,
Weil sie täppisch ungelenkig
Waren schon in früh’sten Tagen,
Möge freundlich man vergeben!
Wie sie sind, so sind sie eben,
Doch im ganzen gute Jungen.

 Frankfurt a. M. Im Oktober 1877.


Das Buch wurde sorglich verpackt und am 5. November an Madai abgesendet; ich legte einen Brief an denselben bei, der also lautete:

 „Hochgeehrter Freund und wohlwollender Protektor!
Ich übersende Ihnen hiermit das Buch. Sie haben mir gütigst zugesagt, ein freundlicher Führer für meine kleine bunte Gesellschaft sein zu wollen, wenn dieselbe das kühne Wagniß bestehen will, vor der Kaiserlichen Majestät zu erscheinen. Ich gebe den Kindlein meinen väterlichen Segen mit; Sie aber werden ihnen kein Stiefvater sein. – Die Unbedeutendheit des Gegenstandes verlangt ein einfaches Kleid, und übermäßige Goldverzierung hätte dem Buche schlecht gestanden. Ich habe den fünf Heften noch ein sechstes beibinden lassen, nämlich den musikalischen Struwwelpeter; ein Musikdirektor a. D., Herr Haßla in Würzburg, hat die mich verblüffende Idee gefaßt, bekannte Opern- und Liedermelodien dem gar nicht dafür berechneten Texte unterzulegen. Und siehe! es ging, und manches ist recht komisch und gut gelungen, viele Kinder singen die Lieder. Ich dachte der Kuriosität wegen das Heft beilegen zu dürfen. So kann es geschehen, daß musikalische Hofdamen noch einmal den Struwwelpeter in einem Hofkonzert vortragen. Wie hätte der ungeleckte Bär bei seinem Entstehen an eine solche Möglichkeit denken können! Die Einführungsverse auf Blatt 2 werden wohl in ihrer Bescheidenheit die Sonderbarkeit der Gabe entschuldigen und von Seiner Majestät nicht ungnädig aufgenommen werden. Für Ihre große Güte und Liebenswürdigkeit aber sage ich Ihnen zum voraus den herzlichsten und wärmsten Dank. Ihr dankbarer treuer Freund Dr. H.“ 

Am 13. November wurde das Buch dem Kaiser überreicht. Madai las selbstverständlich wie früher wieder den vorstehenden Brief vor und berichtete nun über den Hergang in nachstehenden Zeilen:

Berlin, den 14. Nov. 1877.     
 „Hochgeehrter theurer Freund!
Wegen der Abwesenheit des Kaisers bin ich erst gestern imstande gewesen, Sr. Majestät Ihre bunte kleine Gesellschaft in ihrem schönen Festgewande zu überreichen, und bin von ihm beauftragt, Ihnen seinen besonderen Dank für die Erheiterung auszusprechen, die ich ihm bereiten durfte. Auch Ihre Dedikation, die ich ihm vorlesen durfte, sowie Ihr so humoristischer Brief an mich, den ich mir nicht versagen konnte, von Anfang bis zu Ende vorzutragen, hat den herrlichen hohen Herrn sichtlich ergötzt, und beim Weggehen rief Majestät mir noch nach: ‚Aber danken Sie Herrn Dr. Hoffmann ja recht sehr!‘ Ich stehe Ihnen nicht dafür, daß der Kaiser sich den musikalischen Struwwelpeter, den er sich ganz genau ansah, nicht nächstens vortragen läßt. Die bunte kleine Gesellschaft ruht vorläufig auf dem Schreibtisch Sr. Majestät. Es ist mir eine wahre Freude gewesen, dieselbe an allerhöchster Stelle einführen zu dürfen . . .
Ihr treuer Freund v. M.“     

Daß ich dem liebenswürdigen Vermittler in Berlin entsprechend erwiderte, ist selbstverständlich, und ich meinte, daß nun der letzte Akt dieses heiteren Spieles zu Ende wäre, allein wieder täuschte ich mich: der letzte sollte erst ein paar Wochen später folgen. –

Das Christfest wurde in der Anstalt, in der wir wohnten, und bei uns im Familienkreise gefeiert; alle die Meinigen waren bei uns versammelt, und alle waren glücklich und zufrieden, so die Geber wie die Empfänger. Die Kerzen am hohen Tannenbaum waren fast herabgebrannt. Da brachte bei heftigem Schnee- und Regenfall ein besonderer Postbote zwischen sieben und acht Uhr abends eine flache Kiste – Absender: von Madai; vom Regen war sie tüchtig naß geworden. Ich meinte wohl, es könne das Porträt Madais sein, welches ich vor ein paar Tagen in den Schaufenstern gesehen hatte. Vorsichtig mit Hammer, Meißel und Schraubenzieher wurde die Sendung eröffnet – und wir erblickten das Bild unseres Kaisers in geschnitztem Holzrahmen, trefflich gelungen, mild und freundlich mit seiner eigenhändigen Unterschrift: „Wilhelm, Imper. Rex. 1877.“ Es lag ein Blatt von der Hand Madais bei mit folgendem Wortlaut:

Berlin, den 22. Dezember 1877.     

 „Mein hochverehrter Freund!
Se. Majestät der Kaiser hahen die Gnade gehabt, für Sie sein mit seiner eigenhändigen Unterschrift versehenes Bild zu bestimmen, und ich bin so glücklich, Ihnen dasselbe im Auftrag Sr. Majestät überreichen zu dürfen, eine Weihnachtsgabe, um welche Sie Millionen beneiden werden. Indem ich Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin ein recht frohes Fest wünsche, bin ich in aufrichtiger Hochachtung Ihr treu ergebener
v. M.“     

[844] Man kann sich unsere freudige Ueberraschung denken; Rührung ergriff mich über diesen Beweis eines königlichen Wohlwollens und solcher feinfühlenden Güte. Am nächsten Tage sendete ich ein vorläufiges Danktelegramm und ließ diesem am 27. den nachstehenden Brief folgen:

 „Hochgeehrter Herr Präsident, theurer und treuer Freund!
Ein eiliges Dankeswort wird Ihnen der elektrische Draht überbracht haben; mein Herz drängt mich aber, wenn auch nur in Kürze, etwas ausführlicher mich auszusprechen. Vor allen Festtagen des Jahres halte ich das Christfest hoch; es liegt ein unaussprechlicher Segen in dieser Zeit auf der christlichen Welt; es sind Tage, wo jeder dem andern, dem Nächsten und dem Entfernteren, Gutes und Erfreuendes thun will, ein anderer Gedanke hat für diese Tage in den Herzen von Hunderttausenden gar keinen Raum, und ich habe immer gemeint, daß Geben seliger sei als Nehmen – nun, diese Weihnacht hat mir einmal das Gegentheil bewiesen.

Wir alle, unsere Kinder, die Enkel und einige Freunde waren am Heiligen Abend bei uns vereinigt; der Kinderjubel war etwas beruhigt, die Kerzen des Baumes brannten noch fast verglimmend und nur das Gefühl ruhiger Freude und stiller Liebe herrschte noch in dem kleinen Kreise; da brachte ein besonderer Abendpostbote die Sendung des lieben treuen Freundes aus Berlin. Alles umstand mit ungeduldiger Freude die mit Sorgfalt zu eröffnende Kiste. Aber welche Ueberraschung, welch ein freudiger Dank wurde laut, als das freundliche, so sehr getroffene liebe Bild unseres Kaisers uns an diesem schönen Abend begrüßte! Wir alle erkannten in dieser sinnigen Gabe die ganze Herzensgüte des hohen Herrn, die ja überall einen erobernden Zauber ausübt, weil er in höchster irdischer Stellung menschlich warm fühlt und ja immer das Rechte und Beste zu sagen und zu thun weiß.

Freilich gab es gleich Streit in dem sonst so friedfertigen Hause; meine Frau wollte das Bild in dem Wohnzimmer, ich in meinem Arbeitszimmer aufhängen, endlich vereinigten sich alle für das Eßzimmer; da werde der Kaiser mit uns frühstücken, zu Mittag essen und abends mit uns Thee trinken, und so geschah es und so bleibt es. Nun aber ist auch der Gedanke gekommen, daß Nehmen auch selig ist! Ich werde auf der Rückseite des Bildes die Veranlassung der Gabe und die Jahreszahl notieren, damit es von meinem Geschlechte so lange demselben eine Zukunft beschieden sein mag, in seiner ganzen Bedeutung erkannt werde und bleibe, und damit alle künftigen Besitzer es sehen und in gleicher Treue und Anhänglichkeit dem Kaiserlichen Hause gesinnt bleiben wie wir, die jetzt Lebenden.

So bereitete denn des Kaisers Güte uns ein unvergeßliches Weihnachtsfest, wofür ich Sr. Majestät nicht genug danken kann. – Und wie soll dies geschehen? Soll ich an ihn einen Dankbrief schreiben? Der würde jedenfalls etwas steif ausfallen; oder werden Sie, hochgeehrter Helfer in der Noth, wieder der liebenswürdige Bote und Vermittler meiner Gesinnung sein? Haben Sie die Güte, darüber einen Entscheid zu geben, und genehmigen Sie die Versicherung meiner treuen freundschaftlichen Ergebenheit Ihr H.–D.“ 

Christmette.
Nach einer Originalzeichnung von A. Heide.

Schon an einem der nächsten Tage erhielt ich folgende Antwort:

 „Mein hochgeehrter Freund!
Eben habe ich Sr. Majestät nicht nur Ihr Telegramm vom 24., sondern auch Ihren Brief nebst den beiden Nachschriften, letztere selbstredend mit Ausschluß der für mich bestimmten Stellen, vorgelesen, und der Kaiser war über die Schilderung Ihrer Freude über die Ihnen, wie er sich ausdrückte, ‚übersendete große Kleinigkeit‘ sichtlich erfreut. Se. Majestät meinte, herzlicher und sinniger hätten Sie sich gegen ihn direkt nicht ausdrücken können und es bedürfe eines Schreibens Ihrerseits an ihn nicht mehr, wenn ich ihm den an mich gerichteten Brief überlassen wollte, was ich natürlich sofort that, wobei er mir noch sagte, er wolle mir gern eine Abschrift des Briefes zustellen lassen, worauf ich jedoch, da ich den Inhalt genau kannte, verzichten konnte. Namentlich berührte den Kaiser Ihre Placierung in Ihrem Speisezimmer, wo er täglich mit frühstücken, zu Mittag essen und abends Thee trinken werde, sehr angenehm, und Se. Majestät versicherten mich wiederholt, Ihnen seine Freude über Ihre Herzensergießungen auszusprechen, die ihm wahrhaft wohlgethan hätten.

Mich hat die rührende Herzensgüte, mit der der Kaiser Ihren Dank aufnahm, so ergriffen, daß ich ihm nur mit tiefbewegter Stimme Ihre Briefe vorlesen konnte. Ein reineres, edleres und tieffühlenderes Herz, als unser Kaiser und Herr besitzt, hat die Welt nicht weiter aufzuweisen. Gott erhalte ihn uns noch recht lange! – – –

Ihnen drückt in treuer Freundschaft die Hand Ihr v. M.“ 

Und nun ist auch der dritte Akt und diese Geschichte mit ihrem eigenthümlichen Briefwechsel zu Ende; der Kaiser hat das kleine Buch und wir haben sein Bild. Als ich die Bilderbücher entwarf, hatte ich freilich nicht daran gedacht, daß ihnen solche Anerkennung zu theil werden könnte; jetzt liegen sie wohl noch auf einem Tische, und der Struwwelpeter hat vielleicht noch gar Aussicht, in das Hohenzollernmuseum zu kommen. Der Bursche muß sich in acht nehmen, nicht zu eitel zu werden; er hat aber wirklich Karriere gemacht! –

Mit den welterschütternden und umgestaltenden Thaten des großen Helden hat meine einfache Geschichte freilich nichts zu thun; sie zeigt aber, daß dem Manne, dessen Hand in kräftiger Sicherheit das goldene Scepter hielt, in der Brust ein warmfühlendes Menschenherz schlug, und wenn wir dies darin schlagen fühlen, so mag dies eine nicht zu verachtende Erkenntniß sein. Nur in solchen Erlebnissen lernt man die eigentliche Menschennatur kennen, nur hier entdeckt man den eigentlichen ethischen Kern. Wenn das Erzählte hierzu beitragen konnte, so ist damit auch die ausführliche Darstellung entschuldigt und gerechtfertigt.

Ich hätte wohl die eingeleiteten Beziehungen weiter ausnützen und gewiß nicht vergebens in Homburg oder Ems, wo ich den Kaiser schon in früheren Jahren gesehen hatte, eine Audienz erhalten können, um ihm noch einmal persönlich zu danken. Ich habe es unterlassen in dem Bedenken, daß der vielbeschäftigte Fürst doch mehr zu thun hatte, als mit einem alten Doktor und Kinderliederdichter die Zeit zu verplaudern, und ich glaube damit recht gethan zu haben.

Auch in meiner Stadtwohnung, die ich bezogen habe, seit ich meine ärztliche Thätigkeit meines Alters wegen beschlossen habe, hängt das Bild an alter Stelle. Ich war aber bedacht, dem Kaiser einen möglichst passenden Hofstaat zu geben, und so befindet sich über dem Kaiser ein anderer Herrscher, auch ein König in einer idealen Welt, im Reich der Töne, das Bild Beethovens, und unter ihm ein Autograph Uhlands, der Entwurf des köstlichen Gedichtes „Münstersage“. Mehr konnte ich nicht thun.

Der Kaiser aber blickt in freundlicher Milde auf unseren kleinen Kreis, wir verzehren in behaglichem Frieden unsere bescheidenen Mahlzeiten und gedenken täglich dankbar des menschenfreundlichen großen Helden. Wenn noch ein Jahrhundert dahin gegangen sein wird, dann wird er in unseren Dramen, Erzählungen Epen und Sagen wieder auferstehen und als ein hohes Ideal königlich menschlicher Anschauung bestehen bleiben. Die Kinder unserer Urenkel werden es erleben.

Frankfurt a. M. Dr. H. Hoffmann-Donner.