Der Thüringerwald (Die Gartenlaube 1860)
[496] Der Thüringerwald. Fast gibt es für mich keinen schönern und erfreulichern Beweis des geistigen Fortschritts (und der materielle ist ja da mit auf das Engste verbunden), als der alljährlich sich vermehrende Besuch der schönen deutschen Gebirge, und besonders des so ungemein reizenden und lieblichen Thüringerwaldes, des grünen Herzblattes Deutschlands. Welch eine gewaltige Umwandlung in der Zeit des letztvergangenen Halbjahrhunderts, die ich mit dem leiblichen Auge gesehen habe! In meiner Kindheit besuchten nur die nächsten Gebirgsbewohner, und zwar in spärlicher Anzahl, und einige muthige Gothaer an schönen Sommersonntagen den Inselsberg, dessen dürftige Gastwirthschaft freilich nicht lockend war. Meine Mutter galt für kühn, daß sie, meinem Drängen nachgebend, mit mir den Berg bestieg. In den Wochentagen fand sich selten einmal ein einsamer Wanderer dort ein, und andere Berge des Gebirgs zum Vergnügen zu begehen, wäre etwas Unerhörtes gewesen. Die köstlichsten Thäler, die imposantesten Wald- und Felsenpartien standen einsam und öde, allein dem für ihre Reize gleichgültigen Fuße des Jägers, Holzhauers und Köhlers zugänglich. Heut zu Tage kann man in den Thälern und auf den Bergen des nordwestlichen Thüringerwaldes in einer Stunde Hunderten von städtisch gekleideten Wanderern beiderlei Geschlechts begegnen, meist Deutschen aus allen Gegenden des Gesammtvaterlandes, und vorzüglich Berlinern. Die Poesie der Gebirgsnatur ist durch die heitere Erscheinung dieser Besucher ungemein erhöht und wirkt hinwiederum erhebend, belebend, vergeistigend auf diese zurück. Ein neuer Geist ist in diesem Geschlechte erwacht, der physische und moralische Drang nach den freien Höhen, nach der „Freiheit des Bergs“, „wo der Odem Gottes haucht“, nach Bewegung und Streben nach oben, nach Licht, Luft, Fernsicht und Schönheit des Gebirgs. Wie die Mauern und Thore der Städte gefallen sind, so hat sich die Scheu unserer Eltern vor den Gebirgen in uns in Lust und Liebe zu ihnen verwandelt, und die Worte des Dichters finden auf die jetzt lebende deutsche Welt die schönste Anwendung:
„Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle an’s Licht gebracht!“
In meiner Jugend gab es denn auch nur ein eben erschienenes Buch über den Thüringerwald, das starke wissenschaftliche Werk von v. Hoff und Jacobs; heute gibt’s eine ganze Literatur des Gebirges. Einheimische und Fremde haben sich beeifert, den Thüringerwald zu beschreiben, und fast jedes Jahr bringt ein neues schönes Buch, das uns die Reize des Gebirgs verführt. Nur allein zwei Berliner Schriftsteller haben in den letztvergangenen Jahren Beschreibungen des Thüringerwaldes drucken lassen. Und in der That verschönert sich die Physiognomie des Gebirgs so außerordentlich schnell, daß die neuen jährlichen Beschreibungen keineswegs als überflüssig erscheinen. Mein vor zwanzig Jahren erschienenes „Wanderbuch durch den Thüringerwald“ ist heute größtentheils veraltet.
Ein neues in diese specielle Gebirgsliteratur einschlagendes, mit einer Menge Holzschnitten illustrirtes und schön ausgestattetes Werk ist: „Heinrich Schwerdt’s Album des Thüringerwaldes. Leipzig, Georg Wigand.“ Der Verfasser, geborner Thüringer und Pfarrer in seinem Geburtsorte Neukirchen bei Eisenach, ist mit warmer Liebe und großem Eifer all sein Werk gegangen, und man sieht und fühlt es der Schöpfung auf jeder Seite an, daß ihr Schöpfer etwas Gutes und Tüchtiges hat liefern wollen. Er bespricht die Schönheiten des heimischen Gebirgs mit entsprechendem Pathos, der auf den Leser daheim oder auf der Gebirgswanderung den gewünschten Eindruck nicht verfehlen kann. Das Buch besteht, wie Herzogs „Thüringerwald“, aus alphabetisch geordneten Artikeln, doch ist man einigermaßen verwundert, darin Halle, Merseburg, Naumburg, Corbetha und andere Ortschaften zu finden, welche doch vom Gebirge weit entfernt liegen. Der Verfasser gibt in der Einleitung eine etwas gezwungene Erklärung dieser Anomalie. So viel Mühe sich der Verfasser auch gegeben haben mag, seine statistischen Angaben richtig zu machen, so hat er doch gerade nicht selten in Partien gefehlt, die ihm nahe liegen. Uebrigens wird das Buch den Besuchern des Gebirgs bald genug ein lieber Begleiter werden, und die intelligenten derselben werden gewiß den humanen Verfasser und die Verlagsbuchhandlung zu Dank verpflichten, wenn sie die kleinen Irrthümer selbst verbessern und diese Verbesserungen dem Einen oder dem Andern zuschicken, sodaß eine hoffentlich bald zu veranstaltende zweite Auslage dem Ideale näher gerückt wird, welches dem Verfasser vorschwebte. Kenner der Holzschneidekunst wollen die Illustrationen gerade nicht rühmen.