Der Wiener Naschmarkt

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Textdaten
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Autor: Alfred Friedmann
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Titel: Der Wiener Naschmarkt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 344–346
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Wiener Naschmarkt.
Eine Plauderei aus der Kaiserstadt an der Donau.
Von Alfred Friedmann.

Von der Elisabeth-Brücke in Wien bietet sich dem Auge ein freundliches Städtebild. Sie überspringt die heute in viel zu weitem Bette schmal hineilende Wien, welche gestern noch mächtig gerauscht und getobt. Acht Statuen schauen von Piedestalen und Balustraden auf dich herab, während du selbst bald auf die gerade Linie, Kärnthnerstraße geheißen, welche von dem mosaikgezierten, in der Sonne glänzenden Dach des Stephans-Thurmes verstellt wird, bald auf die Kuppeln und Siegessäulen der Karls-Kirche blickst. Die goldenen Zierrathe der letzteren leuchten im Frühlingslicht; fernhin auf der Wiedener Hauptstraße stellt sich der rothe Ziegelbau der evangelischen Schule gebietend an die Ecke; die Polytechnik streckt sich lang nach der barocken Kirche hin; dieser gegenüber steigen stolz die gelbe Seitenfaçade der Handelsakademie, das Künstlerhaus im italienischen Renaissancestyl, das farben- und statuengeschmückte Gebäude der Gesellschaft der Musikfreunde herauf. Ein Stück Ring vor der Oper ist zu sehen, und dort tummeln sich Reiter, stieben die Vollblutpferde vor den aristokratischen Karossen dahin und promenirt eine lenzbedürftige, modesüchtige Menge: die elegante Wienerin mit ihrer feinen Taille, ihren kleinen Füßen, plaudernd, lachend, klatschend, der Fürst aus langer Ahnenreihe, der gefeierte Sänger, Maler, Dichter, der mit der deutschen Orthographie in ewigem Kampfe liegende Banquier-Millionär, der Sieger aus Oesterreichs Feld- und Seeschlachten, der erstaunte Bauer vom Lande, die aufgeputzte Familie aus der Leopoldstadt und unbemerkt, unangefochten auch meine Wenigkeit. Aber das kaleidoskopische Vorüberhuschen der Toiletten, Uniformen, Wagen, Reiter mit ihrem confusen Lärm ermüdet. Vor mir geht ein zerlumptes Kinderpaar, ein achtjähriges Mädchen, das ein jüngeres Brüderchen gar liebevoll führt und bewacht, fast so liebevoll, wie es selbst von einem gewitterdrohenden Sicherheitswachmann bewacht wird. Die Kinder schlängeln sich zwischen allerlei Gefahren über die Straße hinüber nach der Elisabeth-Brücke. Das Mädchen trägt einen leeren Korb, und manchmal flüstert es dem Bruder etwas Ermuthigendes zu. Er ist sehr müde, der Kleine. Und hungrig ist er auch. – Ich folge ihnen. Zur rechten Seite am Ende der Brücke umfaßt ein großes, niedriges, altmodisches Gebäude, das gräflich Starhemberg'sche Freihaus, wie ein ungeheuerer, gekrümmter Arm einen mit Buden Holzhäuschen und einer wirr durch einander hastenden Menge bedeckten Platz. Das ist der Wiener Naschmarkt.

Die culturhistorischen Quellen fließen nicht so ergiebig über ihn, wie die unversiechbaren der Näschereien, denen er seinen Namen verdankt. Die vierundzwanzigste Lieferung von „Alt und Neu Wien“ von Moritz Bermann kann uns nur erzählen, „daß dieser Obstmarkt vom Volkswitz mit der prägnanten Bezeichnung 'Naschmarkt' belegt wurde, weil hier nicht nur Obst und alle erdenklichen Lebensmittel, sondern auch Leckereien feilgeboten wurden und es sogar nicht an mobilen Garküchen fehlt.“ Dieser Platz ist von jeher bekannt als auserkorener Sammelplatz der urwüchsigen Wiener Hökerinnen, „Fratschlerinnen“ (so genannt von Ausfragen, Auskundschaften), einer Specialität und Curiosität der Residenzstadt, „welche selbst von hohen Persönlichkeiten aus der Fremde besucht wurde, um die sprüchwörtliche Mundfertigkeit der Obst- und Gemüseverkäuferinnen zu erproben“.

Wer je in früher Morgenstunde durch den riesigen Frucht-, Obst- und Blumengarten von „Coventgarden“ in London gewandelt ist und vor all den überseeischen Erzeugnissen und Naturherrlichkeiten gestaunt, die Körbe voll Bananen, die goldenen Ananashäupter, die Riesenerdbeeren, die Seefrüchte, todte und lebende, bewundert hat, wer eine ähnliche Wanderung durch die Pariser „Centralhallen“ am Ende der „Rue Montmartre“ vorgenommen, ja, wer auch nur die prächtigen neuen, eisernen Wiener Markthallen am Stubenthor besichtigt, dem kann der Naschmackt als Mittelpunkt eines Weltverkehrs freilich nicht mehr imponiren. Der Zug in's Große, der durch unsere Zeit geht, droht nach und nach das Individuelle, Originelle, Volksthümliche ganz auszulöschen; wie die Nationalitäten zur Nation, die vielen kleinen Reiche ein Reich, so werden die kleinen zerstreuten Stadtmärkte ein Markt.

Centralisation ist das Schlagwort des Tages, und wie die Maschine die tödtlichste Concurrenz des Handwerkers, so ist auch die Association, der Verkehr in der Hand einer Actiengesellschaft, der Untergang jener zunftmäßigen, gildenhaften, alterthümlichen und altmodischen „Fratschlerei“.

Der Naschmarkt ist ein solches Ueberbleibsel aus einer Zeit, die nun fernabdonnernd die Thore hinter sich zuwirft. Das neue Wien verschlingt das alte, wie Chronos, die Zeit, ihre Kinder.

Von dem ersten Bäuerlein, das seiner Scholle, seines Gartens Frucht zum kleinen nachbarlichen Marktflecken gebracht, bis zum Coventgarden-Market, bis zur Wiener Markthalle – welch ein riesiger Abstand! Weil wir es aber heute so „herrlich weit gebracht“ haben, sehen wir uns darum nicht doch gern einmal wieder ein Stück aus der guten alten Zeit an? Und das ist der Wiener Naschmarkt. Man muß ihn „halt“ ein wenig mit Kinderaugen betrachten.

Da sind, aufgethürmt wie Billardkugeln in ihrem Dreieck, goldrothe Orangen, und um sie her weht ein Duft wie von den Gärten ihrer Heimath, dem meerumspülten Capri, dem hochgestadigen Sorrent, den Palmenhainen der Riviera und der heißen Sandküste Algiers. Wie Perlen an einem Halsband hängen lange Kränze zuckerstaubiger Feigen von den Querstangen der Buden herab: Früchte aus Smyrna, denen kleine goldige Körner im weichen Inneren glühen. Hier diese Citronen kommen aus Rom. Zwischen dunkelgrünen Zweigen haben sie gehangen; eine dunkeläugige Trasteverinerin lehnte vielleicht mit dem Rücken an dem Stamm, die Arme verschränkt und halb ungläubig lächelnd, halb selig vertrauend zu dem kecken Beppo aufblickend, der weiter nichts zu sagen wußte, als immer und immer: „Ti voglio ben, Ti voglio ben.“

Der Cocosnuß halb offene Schalen zeigen dir ihr blendend weißes Herz. Süße „Krachmandeln“ in ihren rauhen lederartig bezogenen und runenbezeichneten Schalen lagern in geflochtenen Bastkörben. Und jene dunkeln Schoten dort – wer kennt sie nicht aus der schönen Zeit der Jugend her? In Südspanien, Südportugal, am Mittelmeere wächst ein Baum, unserm Apfelbaum nicht unähnlich; in Sicilien bildet er ganze Wälder; seine Frucht hat nach der Sage einst Johannes dem Täufer in der Wüste Nahrung geboten: jetzt stehen die Schulknaben begehrlich vor den braunen, trockenen, süßen Hülsen, die er hergesendet hat, und kaufen sich für ihre paar Naschkreuzer – das Johannisbrod. Was neben ihm goldbraun glänzt, das sind Früchte aus der großen Oase der Mozab, wo die Dattelstämme ragen, von denen der mozabitische Bauer sagt: „das Haupt im Feuer, den Fuß im Wasser – so will's die Nährpalme,“ wie C. von Vincenti so schön in seinen farbengluthigen „Wundergeschichten der Liebe“ zu erzählen weiß. Oder kommen sie aus Valencia, der spanischen Provinz, mit ihren Oasen von 80,000 Dattelstämmen?

Hier bietet ein altes Großmütterchen, den Strickstrumpf, wie fast alle Damen dieser Hallen, in den runzligen Händen,

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Slavische und magyarische Typen auf dem Wiener Naschmarkt.
Originalzeichnung von Albert Richter in Dresden.

[346] ebenso runzlige Lederäpfel, gold-rothe Reinetten und frische Maschansker (Borsdorfer), „drei um zwei Kreuzer,“ aus. Ihr Enkelchen zerschneidet mit dem unteren Ende eines Löffels einen Apfel; es sitzt mitten auf dem Verkaufstische, und ein älterer Knabe schaut seelenvergnügt zu ihm empor und verklagt ihn schelmisch bei der Großmutter: „Mutta, der Peperl ißt wieda alle Aepfel.“ Und es liegen deren Hunderte vor, neben, hinter ihm. – Kolossale weißleinene Regenschirme werden jetzt über die sonnengebräunten Gesichter aufgespannt; denn die Sonne brennt schon gar zu heiß. Die Oelfarbe der weißen Laden mit grünen Streifen beginnt zu schwitzen.

„Warum sind denn die Citronen in Seidenpapier eingewickelt?“ fragt ein naseweiser Kleiner eine Hökerin. „Damit sie sich nicht verkühlen,“ brummt diese ärgerlich. Es sind freilich mehr Megären als Aphroditen, diese Fratschlerinnen. Weiter!

Da giebt's Finken-, Lerchen-, Stieglitzfutter; Canarienvögel, und wieder leere Vogelbauer im Stile der phantastischsten Früh- und Spätrenaissance; todte und „gepflückte“, lebendige gackernde und pickende Hühner, Honig in Waben und in Glastöpfchen, triefende Speckseiten und schneeweiße Sahne, blasse oder auch goldgelbe Butter; Blumenkohl, Rothkraut und Kohlhäupter zu ansehnlichen Pyramiden aufgethürmt; dann Parmesan, Nudeln, Maccaroni, Tausende von Semmeln, Kipfeln, die sich mit dem Pariser „pain riche“ an Wohlgeschmack messen können, rundes, außen honiggelbes Schwarzbrod aus Kornneuburg, kleines Brennholz, Kartoffeln; dazwischen Nürnberger Spielzeug, die Augenweide der Kleinen, welche mit der Hausfrau einkaufen gehen dürfen, Korbwaaren, Besen und Flechtwerk, Pantoffeln aus Zeug und Stroh. Und hier hat auch die Flora ihren Stand erbaut. Hyacinthen, Levkoyen, Azaleen; allerhand Frühlingskinder mit Wurzeln und Erde zum Wiedereinsetzen, Veilchen, Primeln, Knollengewächse, ja sogar schon Rosen bietet die Lenzgöttin. Es folgen Hagebutten in Körben, dann ein Mann, der Glasscherben mit Kitt zusammenheftet und, um die Haltbarkeit seiner Arbeit darzuthun, eiserne Gewichte daran aufhängt. Weiter hinten in der Reihe das schuppige Volk der Flußbewohner, Hechte, Schaiden, Schill; die See ist durch Hummern, Turbot, kleine Garneelen mit langen Fühlhörnern und anderes vertreten. Noch weiter zurück arbeiten die Fleischhauer, zukünftige Rostbraten, „Wiener Schnitzel“ und „Lämmernes“ verkaufend; arme kleine Lämmlein weiß wie Schnee hängen in vollem Ornat, noch mit ihrem Vließe angethan, an grausamen eisernen Haken. Noch tiefer zurück geht der Fruchtvertrieb en gros vor sich. Zahllose Aepfelfässer, mit Bast und Stroh bekleidet, lehnen gegen die Bänke, auf deren Kante dralle Dirnen, unwirsche Mütter und hexenhafte Ahnen sitzen. Aus einer Bude am Freihaus tritt eine reizende Mehlverkäuferin, die Hände in weißen Handschuhen, auf den ursprünglich kohlschwarzen, nun aber à la Pompadour gepuderten Haaren ein Kopftuch wie eine spanische Mantilla, ganz mit Mehl bestäubt, auf die Schwelle; sie sieht ironisch lächelnd in mein Notizbuch und fragt mich:

„Kaufen Sie Mehl?“

Ich wage eine verschämte Antwort. Sie aber erwidert mit schelmischem Lächeln etwas, was ihre Goethe'sche Schwester poetisch so ausdrückt:

„Mit nichten!
Denn wer die schöne Müllerin küßt,
Auf der Stelle verraten ist.
Euer schönes dunkles Kleid
     Thät' mir leid
     So weiß zu färben.“

Ich schlendre weiter und summe mir belustigt eines vor:

„Wenn man sie einmal nur gesehn,
Ach! immer muß man nach ihr gehn.“

Aber da im hintersten Winkel geht's laut her. Eine junge Böhmin hat zwei Landsleute wiedergefunden und erkannt; sie hat Kohl feil, und die Dorfgespielen schleppen Glaswaaren, zerbrechlich wie Glück. Marianka hört mit sichtlichem Gleichmuthe die etwas verlegenen Erkundigungen des in der „Vorsicht“ gründlich geschulten Janko an. Vielleicht, daß die Beiden dereinst ein würdiges Paar abgeben, wenn sie mit „Geld großmächtigem“, das sie beiderseitig verdient, in das Dorf heimkehren. Eine Schaar Gänse und ein paar stolze „Pockerln“ (Truthühner) bilden die in ihrer Kritik sehr laute Zuschauerschaft bei der Scene. Seitwärts bindet schmunzelnd ein Ungar, der, bequem über die Pferde gelagert, selbstbewußt seine Pfeife schmaucht, mit einem Rastelbinder aus der Gegend von Trentschin an. Ein Fremder steht abseits und zeichnet die Gruppe. Es ist ein bekannter Maler, der die Scene verewigt. Wir begrüßen uns.

„Für die 'Gartenlaube'!“ sagt er und zeigt mir seine wohlgelungene Skizze.

„So werde ich versuchen, ihr den Text zu schreiben,“ rufe ich, schon im Fortgehen.

Da schlendern ja auch noch meine beiden armen Kinder, das achtjährige Mädchen mit dem Korbe und das müde Brüderchen, umher!

„Noch nicht müde, Ihr Kinderchen?“ frage ich.

„Ach ja!“ – und das Mädchen erzählt mir auf weitere Fragen die ewig alte traurige Geschichte. Die Eltern heiratheten arm, auf ihren täglichen Verdienst angewiesen. Der Vater wird krank; die Mutter pflegt ihn; er stirbt; sie liegt im Spital mit zwei armen Würmchen. Sie schlagen sich nothdürftig durch, aber die Mutter bleibt siech und schwach. Was wird der morgige Tag, die Zukunft bringen?

„So kommt mit, Ihr Kleinen!“

Ich führe sie nochmals an allen Buden vorbei; Orangen, Fleisch, Butter, Brod und ein paar Guldenzettel wandern in den Korb.

„Nun macht, daß Ihr schleunigst nach Hause kommt! Die Mutter wartet. Da nehmt noch die Eier dazu! Nun aber flugs!“

Das Mädchen will mir die Hand küssen. Ich treibe die Kleinen bis zur Tramway, hebe sie in den Wagen, drücke dem Conducteur das Geld in die Hand und hui – fort sind sie.

Die Verkäuferinnen haben ihre Buden geräumt und geschlossen. Der „Wiener Naschmarkt“ ist leer und ausgestorben. Ueber dem stillen Orte gehen auch goldene Sterne auf und leuchten über eines Zufriedenen Heimweg.