Der Zeitsinn der Tiere

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Der Zeitsinn der Tiere
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1915, Erster Band, Seite 211–213
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Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[211] Der Zeitsinn der Tiere. – Daß das Zeitgefühl bei allen höherstehenden Tieren zum Teil außerordentlich gut entwickelt ist, ist eine von den Naturforschern längst als erwiesen angenommene Tatsache. Während der Mensch den Zeitsinn arg vernachlässigt hat, da er ja bei jeder Gelegenheit nur seine Taschenuhr zu Rate zu ziehen braucht, erhielt sich selbst das zum Haustier gewordene Tier im eigenen Interesse diesen Sinn, nach dem es seine ganze Lebensführung zu regeln pflegt. Rinder, die zerstreut weiden, schließen sich, wenn die gewohnte Stunde der Heimkehr in die Ställe kommt, wieder enger zusammen. Der Hahn kräht nicht etwa, wie immer wieder fälschlich behauptet wird, bei Sonnenaufgang, sondern fast regelmäßig zur selben Stunde, ob Winter oder Sommer.

Von dem Zeitsinn eines Papageis wird folgende Geschichte berichtet: „Der Theaterdirektor Pollini des Hamburger Stadttheaters hatte einen Hausinspektor, der einen Papagei besaß, den ihm sein Sohn aus Indien ganz jung mitbrachte. Das kluge Tierchen entwickelte sich nach und nach als ein ganz talentvoller Sprecher und schnappte alle im Hause täglich vorkommenden Bemerkungen auf und wiederholte sie. Der Herr Inspektor kam jeden Mittag um zweieinhalb Uhr zu Tisch und ging um fünfeinhalb Uhr wieder in das Theater. Eine große Wanduhr mit sonorem Glockenschlag zeigte die Voll- und Halbstunden an. Kam nun der Herr ausnahmsweise etwas später, so empfing ihn seine Frau gewöhnlich mit den Worten: ‚Du kommst ja so spät!‘ Der schlaue Papagei merkte sich sehr bald diese Anrede, und jedesmal – sobald die Uhr zweieinhalb geschlagen und der Herr erst nach dem Glockenschlag ins Eßzimmer trat – plapperte ihn der Papagei unaufgefordert an: ‚Kommst ja so spät!‘ Gegen drei Uhr legte sich der Inspektor zur Mittagsruhe nieder, um mit dem Glockenschlag fünf aufzustehen. Unterdessen saß der Vogel auf seiner Schulter und regte sich nicht. Damit nun der Herr die Zeit nicht verschlafe, [212] trat pünktlich seine Gattin ins Zimmer und weckte ihn mit den Worten: ‚Alter, es ist Zeit!‘ Eines Tages war die Dame zur Kaffeevisite geladen und mußte früher fort. Als sie ging, ermahnte sie ihren Mann, ja nicht die Zeit zu verschlafen. Die Uhr schlug drei – halb vier – vier – halb fünf – der Vogel blieb ruhig auf der Schulter seines Herrn sitzen. Als die Uhr aber fünf schlug und die Frau nicht ins Zimmer trat, um ihren Mann zu wecken, übernahm der Papagei den Weckruf und sagte: ‚Alter, es ist Zeit!‘ Der Herr Inspektor, innerlich darüber belustigt, stammelte, scheinbar schläfrig – wie er es auch seiner Frau gegenüber oft tat –: ‚Laß mich nur noch ein bißchen liegen!‘ Und wie sonst die Frau wartete unser Papagei zwei bis drei Minuten, dann aber, indem er den Herrn zart ans Ohrläppchen pickte, erneuerte er seinen Ruf: ‚Alter, es ist Zeit!‘ Es blieb dem Inspektor nichts weiter übrig, als aufzustehen. Von jetzt ab brauchte sich die Frau Inspektor nicht mehr um das Aufstehen ihres Gatten zu kümmern, das besorgte der Papagei.“

Am entwickeltsten ist das Zeitgefühl bei unserem treuesten Freunde, dem Hunde. Von den unzähligen Geschichten, die zum Beweise dieser Fähigkeit gelegentlich erzählt werden, sollen hier nur einige mitgeteilt werden. „Wir weilten einmal in einer kleinen Stadt bei Verwandten zu Besuch. Diese hatten ein damals siebenjähriges Töchterchen und hielten sich auch einen großen, schönen Bernhardinerhund namens Rolf, der unzertrennlich von der kleinen Else war. Klein-Elschen besuchte nun seit einigen Wochen die Schule, und da diese doch immerhin zehn Minuten vom Hause der Verwandten entfernt lag, mußte Minna, die Küchenfee, Klein-Elschen die ersten vierzehn Tage morgens um neun Uhr zur Schule bringen und sie Punkt zwölf Uhr mittags wieder abholen. Natürlich trug Minna auch die Schultasche der Kleinen, und Rolf begleitete die beiden selbstverständlich. Nach diesen ersten vierzehn Tagen erklärte der gestrenge Papa aber, nun müsse das kleine Menschenkind selbständig genug sein und allein zur Schule wandern. Am anderen Morgen solle Minna sie noch hinbringen, mittags aber müsse sie allein heimkommen. Wer beschreibt aber der Eltern und [213] unser aller Erstaunen, die wir schon gespannt auf Klein-Elschens Rückkehr warteten, als wir diese in Begleitung von Rolf, der auch ihre Schulmappe trug, gemächlich daherkommen sahen. Punkt zwölf Uhr hatte er am Eingang der Schule auf sie gewartet, dann so lange mit der Schnauze an ihre Schultasche gestoßen, bis Else aufmerksam wurde und ihm die Tasche hinreichte. Sofort nahm er sie und trottete nun ruhig und gesetzt, fast sich seiner Hüterrolle bewußt, neben unserem Schulkinde her. So machte es Rolf von nun an täglich; ging es gegen zwölf Uhr und er war zufällig im Zimmer eingesperrt, so rumorte er so lange an der Tür, bis ihm jemand öffnete und er eiligst fort zur Schule stürzen konnte.“

Der Direktor eines industriellen Werkes wieder erzählt folgendes: „Auf dem Hofe meiner Villa, unmittelbar neben der Fabrik, habe ich einen sehr wachsamen Hofhund. Die Art des Betriebes auf dem Werke erfordert sehr oft Nachtrevisionen von meiner Seite. Ich kann sie nun um zehn oder ein oder zwei Uhr, kurz zu jeder beliebigen Nachtstunde, vornehmen. Sowie ich mein Gehöft verlasse, ist der Hund an meiner Seite und läßt sich durch nichts von meiner Begleitung abhalten. Wenn ich jedoch morgens meine eigentliche Tätigkeit in der Fabrik antrete, bleibt der treue Wächter ruhig in seiner Hütte liegen und steckt nur den Kopf heraus, als wollte er Abschied von mir nehmen. Das Tier weiß eben, daß ich nach Antritt meines Dienstes vor Ablauf von drei bis vier Stunden nicht nach Hause zurückkehre, daß er auf so lange Zeit das Gehöft nicht verlassen darf und am Tage in der Fabrik nichts zu suchen hat.“
W. K.