Der lange Holländer
Der lange Holländer.
In seinen guten Tagen habe ich Georg Büchner nicht gekannt; die lagen in den Jahren 1856 bis 1860. Damals war er, wie ich später erfahren habe, ein sehr beliebter Mann in Shanghai, wo er unter dem Namen „Der lange Holländer“ ging. Aber er war kein richtiger Holländer. Er war ein Deutscher – aus Bremen, wenn ich nicht irre. – Das thut übrigens nichts zur Sache. – Ich machte seine Bekanntschaft im Jahre 1862 in Japan. Ich führte damals als Kapitän die „Aurora Belisle“ und hatte Aussicht, längere Zeit auf der Linie Yokohama-Shanghai-Hongkong zu bleiben. Am Tage vor meiner Abreise von Yokohama, als ich beim Frühstück saß, wurde mir vom Steuermann gemeldet, es sei ein Mann an Bord gekommen, der mich zu sprechen wünsche.
„Was für ein Mann?“
„Sieht aus wie ein Zwischendeckpassagier.“
„Da wird er wenig Platz finden. – Nun, lassen Sie ihn nur herunterkommen.“ Bald darauf hörte ich einen schweren, bedächtigen Tritt, und dann kam ein Mann herein, der sich tief bücken mußte, um durch die Kajütenthür treten zu können. An der Schwelle blieb er stehen und sagte höflich. „Guten Morgen, Kapitän.“
„Guten Morgen, mein Herr,“ antwortete ich. „Was steht zu Ihren Diensten?“
Es war nämlich etwas in seiner Gesichtsbildung, Stimme und Haltung, was mich nöthigte, ihn wie einen Gentleman zu behandeln. Sein Alter war schwer zu bestimmen, konnte aber nicht mehr als etwa fünfunddreißig Jahre betragen. Er war auffallend groß und schwer, trug kurzgeschnittenes, blondes Haar und einen ebenfalls kurzgeschnittenen, hellen Vollbart. Seine Gesichtsfarbe war gebräunt. Dazu hatte er eine ganz weiße Stirn. Daß der Mann trank, glaubte ich beim ersten Blick zu erkennen an dem finstern Aussehen und an dem schweren Zug um den Mund, der Gewohnheitstrinkern eigen ist. Seine Kleider saßen gut, waren aber etwas abgetragen und zu warm für die heiße Jahreszeit: die Kleider eines heruntergekommenen Mannes. Ueberhaupt war sein ganzes Wesen das eines Menschen, der bessere Tage gesehen hat; und seine Augen, die wie die eines [438] eingeschüchterten Hundes bittend und traurig an mir vorbei in die Welt hinaussahen, hatten einen Ausdruck, der mich mitleidig stimmte. – „Nehmen Sie Platz,“ sagte ich.
Er setzte sich ganz langsam, wobei er sich mit der Hand auf den Sitz stützte und die Lippen eigenthümlich zusammenkniff. „Was steht zu Befehl?“ wiederholte ich.
„Können Sie mich mit nach Shanghai nehmen?“ fragte er.
„Man könnte schon Unterkommen für Sie finden, aber eine Kajüte habe ich nicht für Sie. – Wir sind nicht auf Passagiere eingerichtet.“
„Ich mache keine Ansprüche. Geben Sie mir irgend einen Platz, wo ich unterkriechen kann. Mehr brauche ich nicht.“
„Sehr wohl,“ sagte ich, „dann können Sie heute Abend oder morgen früh an Bord kommen. Wir segeln mit der Ebbe, um 11 Uhr. – Ich berechne für die Ueberfahrt vierzig Dollars, die Sie gefälligst bei meinen Agenten, Millner & Co., einzahlen wollen.“
„Das ist nicht theuer,“ meinte er, „aber …“ und er stockte.
Ich sah alsbald, was kommen würde. – „Wie ist Ihr werther Name?“ fragte ich. „Ich werde mit Herrn Millner sprechen. Wenn der nichts dagegen einwendet, so können Sie meinetwegen freie Passage haben.“
Er wurde dunkelroth, blickte zur Erde und antwortete verlegen: „Ach nein, Kapitän, Sie irren sich. Ich möchte Sie nur bitten, mir bis Shanghai Kredit zu geben. Ich hatte meine Ausgaben falsch berechnet und besitze hier nicht genug baares Geld, um die Ueberfahrt zu bezahlen. Gleich nach meiner Ankunft in Shanghai werde ich Alles berichtigen.“ Und dabei schlug er die Augen in die Höhe und sah mich zum ersten Male gerade an: jammervoll und elend, aber mit einem Blicke, der mir volles Vertrauen zu dem Manne einflößte. – Ich war in China und Japan niemals mit einem anständigen Menschen zusammengetroffen, der sich wegen vierzig Dollars in Verlegenheit befunden hätte; aber weßhalb sollte das in Yokohama nicht gerade so gut vorkommen, wie in London und Liverpool? – Und dann: es gefiel mir, dem Mann einen kleinen Dienst zu erweisen; sein Blick hatte es mir angethan, ein Blick so traurig und nachdenklich, wie ich ihn nie gesehen hatte.
„Nun gut,“ sagte ich, „wir werden uns schon verständigen, Herr … wie nannten Sie sich?“
„Büchner, Georg Büchner ist mein Name,“ antwortete er so leise, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Darauf wartete er eine kleine Weile, und dann setzte er augenscheinlich erleichtert hinzu: „Gestatten Sie, daß ich heute Abend an Bord komme?“
„Nach Ihrem Belieben, Herr Büchner,“ erwiederte ich und reichte ihm die Hand, die er aber kaum berührte.
„Vielen Dank, Kapitän“ sagte er und entfernte sich langsam und schwerfällig, wie er gekommen war.
„Ein kurioser Passagier!“ sagte ich mir, und da ich während des Gesprächs das Frühstück beendet hatte, ließ ich mein Boot fertig machen und fuhr ans Land, um mit Millner & Co. eine letzte Rücksprache zu nehmen. Nachdem das Geschäftliche in Ordnung gebracht war, fragte ich James Millner, ob er einen Georg Büchner kenne.
„Den langen Holländer?“
„Lang genug ist er, um den Namen zu verdienen.“
„Ja, den kenne ich … was ist mit ihm los?“
„Das möchte ich eben wissen.“
„Das ist eine endlose Geschichte. Mich wundert nur, daß Sie dieselbe nicht kennen. Es ist doch genug davon gesprochen worden.“
„Wann war das?“
„Vor zwei Jahren.“
„Das erklärt, weßhalb ich nichts davon gehört habe. – Vor zwei Jahren war ich in London.“
Richtig! – Nun, Büchner hat vor Gericht gestanden – des Diebstahls angeklagt, aber man konnte ihm nichts beweisen.“
„Halloh!“ sagte ich, „das müssen Sie mir erzählen.“ – Denn der Gedanke, mit Jemand zu fahren, der nur aus Mangel an Beweisen eines von ihm begangenen Diebstahls nicht hatte überführt werden können, war mir doch etwas unbehaglich.
James Millner hatte gerade viel zu thun. Er vertröstete mich auf den Abend, ich speiste bei ihm, und als wir nach dem Essen auf der Veranda saßen und die jungen Leute sich entfernt hatten, kam ich wieder auf die Geschichte zurück. Millner erzählte sie mir mit vielen Einzelheiten, die mir im Gedächtniß geblieben sind, weil ich von dem Tage an den „langen Holländer“ nie mehr ganz aus den Augen verloren habe. Mit der Zeit habe ich denn auch alle Lücken in Millner’s Erzählung ausfüllen können, theils aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, theils aus den Mittheilungen Anderer über Büchner’s Schicksale. Das Alles hat sich nach und nach in meinem Geiste zu einer einzigen, vollständigen Geschichte verschmolzen, und die will ich Ihnen nun erzählen.
Büchner nahm seit einer Reihe von Jahren die Stellung des Kassirers bei Rawlston & Co. in Shanghai ein. Er stand daselbst in hohem Ansehen, und man sprach davon, er werde Edith Rawlston, die Schwester seines Principals, heirathen und sodann Mitglied des alten und vornehmen Hauses werden, dem er vorläufig noch als erster Angestellter diente.
Edith war ein bildhübsches Mädchen und eine reguläre Flirt (Kokette), die sich damals die Aufgabe gestellt zu haben schien, den jungen Männern von Shanghai im Allgemeinen, ganz besonders aber dem langen Holländer und Herrn Francis Morrisson das Leben möglichst schwer zu machen. Francis Morrisson galt für die beste Partie in Shanghai. Er war ein liebenswürdiger, heiterer junger Mann von gutem Aussehen und vortrefflichen Manieren, dazu war er sehr reich und infolge aller dieser Eigenschaften von Müttern und heirathsfähigen Töchtern stark verwöhnt. Daß er in Edith verliebt war, konnte Jedermann sehen, der mit den Beiden zusammentraf, und wenn er trotzdem noch nicht um die Hand des jungen Mädchens angehalten hatte, so war dies nur dadurch zu erklären, daß Edith ihm bisher wenig oder gar keine Ermuthigung gegeben hatte. – Dagegen beschäftigte sie sich viel mit dem langen Holländer.
Hübschen Mädchen wird es leicht gemacht, witzig und geistreich zu sein. Wenn eine Häßliche sich so benommen hätte, wie Edith es häufig that, so würde man ihr den Rücken gekehrt haben; aber Fräulein Rawlston war Aller Liebling und galt für witzig und klug. Der schwerfällige Büchner hatte oftmals von ihren Launen und Unarten zu leiden; er ertrug jedoch Alles, was von ihr kam, mit unendlicher Langmuth, so daß sie schließlich die Geduld verlor und ihn eines Abends gewissermaßen nöthigte, ihr endlich in Worten die Liebeserklärung zu machen, die sie seit Monaten in seinen Augen gelesen hatte. Nachdem er gesprochen, wie sie es erwartet, hatte sie ihm herzhaft die Hand gedrückt und gesagt: „Das wäre nun in Ordnung, Georg, von heute ab sollen Sie nur noch Freude an mir haben!“
Dies hatte sich eines Abends zu später Stunde, sagen wir an einem Dienstage, ereignet. Als der lange Holländer sich am nächsten Morgen bei James Rawlston anmelden ließ, erwartete dieser, Büchner werde um die Hand seiner Schwester bei ihm anhalten, denn Edith, die von ihrem Bruder verzogen wurde und in ihm einen treuen Verbündeten erblickte, war bereits zu früher Stunde in seinem Zimmer gewesen, um ihm zu sagen, sie habe sich mit Georg Büchner verlobt. Rawlston ging dem Eintretenden mit freundlichem Gesichte und ausgestreckten Händen entgegen, denn er wollte dem schüchternen Menschen eine förmliche Erklärung erleichkern, aber zwei Schritt vor ihm blieb er stehen. „Was ist Ihnen zugestoßen, Mann? – Wie sehen Sie aus? – Was giebt’s?“
„Ein Unglück, Herr Rawlston.“
„Nun, was? Schnell!“
„Wir sind heute Nacht bestohlen worden.“
„Was ist gestohlen worden?“
„Die zehntausend Dollars, die gestern Abend von Ki-tschong eingezahlt worden sind.“
Niemand verliert gern zehntausend Dollars, auch wenn er das Zehnfache entbehren könnte, und der Amerikaner machte bei der Mittheilung des Verlustes nicht gerade ein vergnügtes Gesicht. Er stülpte sich aber, ohne ein Wort zu sagen, den Hut auf den Kopf und folgte Büchner zur Kasse, um den Schaden bei Lichte zu besehen.
Das feine Schloß des eisernen Schrankes, in dem das Geld aufbewahrt gewesen war, zeigte keine Spur von gewaltsamer Oeffnung. Die Thüren und Fenster waren unversehrt. Der herbeigerufene Hausdiener, dessen Pflicht es war, sie am Morgen zu öffnen und am Abend zu schließen, hatte nichts Außergewöhnliches bemerkt. James Rawlston drehte nachdenklich die Spitzen seines langen Schnurrbartes und ließ sich von Büchner noch einmal zusammenhängend erzählen, was mit dem verschwundenen Gelde in Verbindung stand.
[439] Am Dienstag Nachmittag um fünf Uhr, als Büchner gerade zum Essen gehen wollte und seine sämmtlichen Genossen das Komptoir bereits verlassen hatten, war ein chinesischer Kaufmann, der mit dem Hause Rawlston & Co. in regem Geschäftsverkehr stand, in das Kassenzimmer getreten, um noch eine Einzahlung von zehntausend Dollars in Barren zu machen. Der Comprador (chinesischer Kassirer) war gerufen worden, hatte das Gold geprüft und gewogen und es, nachdem er es richtig befunden, in den eisernen Schrank gelegt, wo es bis zum nächsten Morgen aufbewahrt bleiben sollte, um sodann in üblicher Weise zur Bank geschafft zu werden. – Büchner hatte darauf einen Empfangschein ausgestellt, den Schrank geschlossen und sich schleunigst entfernt, um nicht zu spät zum Essen zu kommen.
„Hm!“ sagte Rawlston, „sind Sie sicher, den Schrank zugeworfen und abgeschlossen zu haben?“
„Ganz sicher!“
„Und sind Sie sicher, den Schlüssel mitgenommen zu haben?“
„Ebenfalls ganz sicher! Er steckt an demselben Bund wie andere Schlüssel, die ich noch gestern Abend in meiner Wohnung benutzt habe.“
„Und heute früh?“
„Die Kasse war wie gewöhnlich verschlossen, und ich öffnete sie ohne Schwierigkeit.“
Rawlston setzte sich nieder, gähnte gezwungen und sagte: „Alles wäre demnach in schönster Ordnung: die Schlüssel, das Schloß, die Thüren, die Fenster. – Aber das Geld ist fort! Das ist nicht in Ordnung.“
Darauf wandte er sich an den Comprador und den chinesischen Diener, welche stumme und ernste Zeugen dieser Vorgänge gewesen waren, und sagte. „Ihr könnt jetzt gehen.“ Und als er mit Büchner allein war, fuhr er fort: „Nun, und welchen Vers machen Sie sich auf die Geschichte?“
„Ich zerbreche mir den Kopf darüber.“
Unterdessen waren auch die anderen Angestellten des Hauses angekommen: ihrer sechs an der Zahl. Sie unterhielten sich kopfschüttelnd über den geheimnißvollen Vorfall, und weder der Eine noch der Andere war in der Lage, eine Vermuthung über den Urheber des Diebstahls auszusprechen. Man ging die Namen sämmtlicher Hausbewohner durch, aber hielt sich bei keinem länger als eine Sekunde auf. im ganzen „Hong“ (unter dieser Bezeichnung versteht man alle zu ein und demselben Grundstück gehörigen Baulichkeiten) wohnten nur erprobte, zuverlässige Menschen, auf die kaum ein Verdacht fallen konnte, am wenigsten befand sich darunter Jemand, dem man die nöthige Diebesgeschicklichkeit hätte zutrauen können, in das verschlossene Komptoir zu gelangen und dort die feste Kasse zu öffnen, ohne bemerkbare Spuren des Einbruchs zu hinterlassen.
„Ja, Herr Büchner,“ sagte endlich James Rawlston, „dann machen Sie nur bei der Polizei Anzeige von der Geschichte und gehen Sie lieber selbst auf das Amt und bitten Sie, man möchte die Untersuchung möglichst beschleunigen. – Morgen wird das Gold schon eingeschmolzen sein.“
Büchner, der sich die Sache sehr zu Herzen zu nehmen schien, rief nach seinem „Chair“ (Tragstuhl) und begab sich geraden Weges auf die Polizei. Nach einer halben Stunde kehrte er in Begleitung des ersten Inspektors, eines bewährten alten Londoner Beamten, zurück, der den Geldschrank und alle Eingänge zum Komptoir zunächst aufmerksam untersuchte, und sodann sämmtliche Bewohner des Hauses, die chinesischen Diener sowohl wie die Angestellten des Geschäfts, einem kurzen Verhör unterwarf, wobei er sich flüchtige Notizen machte. An Alle richtete er dieselbe Frage: wo sie seit Dienstag Abend fünf Uhr bis Mittwoch früh acht Uhr gewesen seien, und die darauf bezüglichen Antworten schrieb er auf einem besonderen Bogen nieder. Er machte das geschäftsmäßig und schnell ab, aber es wohnten im „Hong“ mit den Dienern an dreißig Personen, und es dauerte wohl vier Stunden, bis die Untersuchung beendet war. Dann unterhielt sich der Inspektor noch längere Zeit im Geheimen mit Herrn Rawlston, und darauf entfernte er sich.
Die nächsten Tage brachten noch mancherlei Unannehmlichkeiten für die Bewohner des Rawlston’schen Hauses. Einer nach dem Anderen wurde vor den Untersuchungsrichter gerufen, um Beweise dafür anzuführen, daß er die bewußte Nacht vom Dienstag auf Mittwoch in der That so verbracht, wie er in dem ersten Verhör ausgesagt hatte. Büchner konnte bei jener Gelegenheit nicht mehr und nicht weniger zu seiner Entlastung anführen als seine Genossen: er hatte bei einem Freunde, und zwar in Gesellschaft von James und Edith Rawlston zu Mittag gespeist, und er war am Abend nach seiner Heimkehr, noch eine Stunde etwa, im Garten des Hauses mit Fräulein Rawlston spazieren gegangen. Unmittelbar nachdem er diese verlassen, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen, wo er angab, bis zum nächsten Morgen verblieben zu sein. Zeugen für diese letztere Aussage konnte er nicht aufrufen. Er hatte die Gewohnheit, sich ohne Hilfe eines Dieners auszukleiden, und er schlief allein in seinem Zimmer. Seine Kollegen befanden sich übrigens in dieser Beziehung ganz in derselben Lage wie er. Die beiden Chinesen, die während der Nacht im Hofe Wache gehalten hatten, und zwar in Begleitung eines bösartigen Hundes, der jeden Fremden, der sich in den Hong gewagt hätte, angefallen haben würde – die beiden Wächter erklärten, zu keiner Stunde der Nacht ein verdächtiges Geräusch oder eine verdächtige Bewegung bemerkt zu haben. Das Resultat der Untersuchung war, daß der Diebstahl, aller Wahrscheinlichkeit nach, zwischen fünf und sieben Uhr Abends oder sieben und acht Uhr Morgens, also am hellen Tage, unmittelbar vor dem Beschließen oder nach dem Oeffnen des Komptoirs durch den Hausdiener, aber während der Abwesenheit der Angestellten, welche die Schreibstube zwischen fünf und sechs Uhr Abends verließen und zwischen acht und neun Uhr Morgens wieder betraten – ausgeführt worden sei. Der Dieb war augenscheinlich im Besitz eines Schlüssels zur Kasse und somit in der Lage gewesen, dieselbe schnell und geräuschlos zu öffnen. Er hatte dabei nicht zu fürchten brauchen, daß man ihn von außen beobachten werde, denn da man sich im Hochsommer befand, so waren die Jalousien während des ganzen Tages nicht aufgezogen worden.
Büchner hatte während der Untersuchungszeit Edith Rawlston häufig gesehen, aber kaum gewagt, ihre freundlichen Blicke zu erwiedern; auch die Unterredung mit dem Bruder hatte noch nicht stattgefunden. James Rawlston zeigte üble Laune und schien es zu vermeiden, mit Büchner allein zu sein. Dieser aber war zu schüchtern, um seinen zukünftigen Schwager unter solchen Umständen um Gehör in seiner Herzensangelegenheit zu bitten.
Am fünften Tage nach dem Diebstahl kam Rawlston eines Nachmittags mit sorgenschwerem Gesichte auf das Zimmer seiner Schwester, um ihr nach einer kurzen Einleitung verlegen, aber doch klar verständlich zu sagen, der Polizei-Inspektor sei der festen Ueberzeugung, Büchner und nur Büchner allein könnte die zehntausend Dollars gestohlen haben.
Edith wurde bleich, ihre großen Augen öffneten sich weit und starrten finster und stumm auf den Ueberbringer dieser schlimmen Post.
„Wiederhole das noch einmal!“ sagte sie endlich langsam.
„Der Inspektor ist der Ansicht, Büchner habe den Diebstahl verübt. Er ist der Letzte, den man im Kassenzimmer gesehen hat. Er besaß den Schlüssel zum Geldschrank. Dreißig Pfund Gold nehmen keinen großen Platz ein und können schnell bei Seite geschafft werden. Der Diebstahl ist sofort erklärt, sobald man annimmt, Büchner habe ihn verübt, in jedem anderen Falle ist er unerklärlich.“
„Du solltest Dich schämen!“ sagte Edith leise.
James blickte verwundert auf seine Schwester.
„Du solltest Dich schämen!“ wiederholte diese langsam mit gepreßter Stimme. „Verlaß mein Zimmer, ich mag Dich nicht mehr sehen!“
„Aber, Edith, hast Du den Verstand verloren? Was fällt Dir ein?“
„Ich habe den Verstand nicht verloren, weil ich mir klar mache, wie klein und erbärmlich Du bist.“
„Ich muß Dich bitten, Dich zu mäßigen oder …“
„Nun, oder was?“
Sie hatte bis dahin mit verhaltenem Grimm gesprochen, anscheinend ruhig; jetzt loderten Jugend und Leidenschaft in ihr auf.
„Nun so vollende doch: oder … was?“
„Oder,“ sagte James Rawlston zornig, „ich packe Dich auf den nächsten Dampfer und schicke Dich nach Hause.“
„Wie einen Ballen Seide oder eine Kiste Thee! … Nein, mein Lieber! Du kennst mich noch nicht, gerade wie ich Dich noch nicht kannte. Jetzt kenne ich Dich – und Du wirst mich kennen lernen. Ich kann Dir die Thür nicht weisen, ich [442] bin in Deinem Hause … aber … sieh mich genau an …“ Sie stand vor ihm, kerzengerade, die Augen in Feuer, die kleinen weißen Zähne zusammengepreßt, ein Bild der Entrüstung … „Sieh mich genau an! … So hast Du Deine Schwester zum letzten Male gesehen!“
Die Heftigkeit des jungen Mädchens wirkte beruhigend auf den reiferen Mann. „Ich bitte Dich, Edith, sei vernünftig, höre mich an!“
„Ich will kein Wort mehr von Dir hören!“
Sie irrte unstät im Zimmer umher. Sie hatte sich einen Hut aufgesetzt und näherte sich der Thür. Er stellte sich entschlossen davor.
„Wo willst Du hin?“ fragte er kalt.
Sie antwortete nicht und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Als sie sah, daß ihr dies nicht gelingen werde, trat sie einen Schritt zurück und sagte mit bebender Stimme:
„Höre, was ich Dir sage: wenn Du mir den Weg nicht sofort frei giebst … sofort! … so wahr mir Gott helfe! … ich stürze mich aus dem Fenster!“
Sie hätte gethan, wie sie drohte; er fühlte es und trat bei Seite. Sie sprang an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und gleich darauf hörte er ihren eilenden, leichten Schritt auf der Treppe.
[453] Rawlston verzog den Mund zu einem Lächeln, aber es gelang ihm nicht, heiter auszusehen, und er gab den Versuch schnell auf. Er blickte sich eine halbe Minute lang rathlos in dem leeren Zimmer um; dann murmelte er eine Reihe von Flüchen vor sich hin, mit denen er „allen Unsinn“ sowie „alle verrückten Weiber“ und „alle verrückten Liebeshändel“ zum Teufel wünschte – und nachdem er auf diese Weise seinem vollen Herzen etwas Luft gemacht hatte, stieg er nachdenklich die Treppe hinunter. [454] Als er über den Hof ging, sah er in der Kaffenstube am offenen Fenster das vergrämte Gesicht des langen Holländers, der hinter seinen großen Büchern saß und eifrig zu arbeiten schien.
„Der Halunke!“ sagte Rawlston vor sich hin, „sieht aus, als ob er kein Wasser trüben könnte, und hat das Geld so sicher gestohlen, wie ich hier gehe.“
Er wollte den Hof verlassen und sich auf den „Bund“ (den Hafendamm des Fremdenquartiers in Shanghai) begeben, um seine Nerven durch einen Spaziergang zu beruhigen, als ihm im Thorweg ein kleiner blasser Mann mit dunklem Vollbart und schlichtem, schwarzem, glänzendem Haare entgegentrat, der ihn mit seinen großen, klugen Augen freundlich anblickte und ihm artig lächelnd „Guten Tag“ bot.
„Seit wann sind Sie wieder hier, Herr Prati?“ fragte Rawlston.
„Ich bin in diesem Augenblicke zurückgekommen.“
„Nun, haben Sie etwas mitgebracht?“
„Ich bin ganz zufrieden. Ich habe etwa zwanzig Ballen Seide bekommen. Die Qualität ist nicht schlecht, und jedenfalls ist die Waare sehr billig.“
„Das ist recht angenehm! – Angenehme Nachrichten kommen in diesem Augenblick ganz besonders erwünscht.“
„Weßhalb gerade in diesem Augenblick?“
„Nun, wegen des verdammten Diebstahls.“
Herr Prati sah Herrn Rawlston mit seinen beredten Augen fragend an. „Von welchem Diebstahl sprechen Sie?“
„Haben Sie von der Sache noch nichts gehört?“
„Ich steige soeben aus dem Boote, Herr Rawlston. Seit acht Tagen habe ich mit keinem Menschen außer mit unseren Chinesen ein Wort gewechselt.“
Herr Prati war der italienische Seideninspektor des Hauses Rawlston & Co., ein sehr angesehener und der bestbezahlte Angestellte des Geschäftes. Er kehrte soeben von einer Reise in das Innere zurück, wo er Seideneinkäufe gemacht hatte.
„Lassen Sie sich die Geschichte von Büchner erzählen,“ fuhr Rawlston fort, „der kennt sie am besten, und seien Sie so freundlich, nach dem Essen zu mir zu kommen, damit wir noch wegen der Seide sprechen. In diesem Augenblick bin ich zu keiner Arbeit aufgelegt. Auf Wiedersehen heute Abend!“
„Ihr gehorsamster Diener!“
Herr Rawlston begab sich auf den Bund und Herr Prati in das Komptoir, wo er von seinen Genossen freundlich begrüßt wurde. Als er an Büchner’s Pult trat, das im Kassenzimmer allein stand, drückte er die Thür hinter sich zu, und nachdem er mit dem Kassirer einen freundschaftlichen Händedruck gewechselt hatte, sagte er theilnehmend: „Was ist denn das für eine Geschichte, die Rawlston soeben andeutete, – ein Diebstahl?“
Der lange Holländer blickte schwermüthig auf den kleinen Italiener hinab und antwortete: „Sie können von Glück sagen, daß Sie die ganze Sache nichts angeht.“ – Und darauf erzählte er bereitwillig die Geschichte, die seit vergangenem Dienstag all’ seine Gedanken beschäftigte. Prati hörte aufmerksam zu, hie und da die Stirn runzelnd, den Kopf schüttelnd oder die Achseln zuckend, wie das so südländische Art ist.
„Sind Sie ganz sicher,“ fragte er endlich vorsichtig, „daß der Comprador das Gold in den Schrank gestellt hat? Sie waren in Eile, so sagen Sie selbst, Sie haben die Kassenthür schnell zugeworfen. Die Chinesen sind geschickte Leute, und ich traue keinem von ihnen über den Weg.“
„Der Comprador ist seit zehn Jahren im Hause,“ antwortete Büchner verdrießlich, „und wenn er nicht ein Taschenspieler allerersten Ranges ist, so konnte er das Geld unmöglich sozusagen unter meinen Augen verschwinden lassen. Ich habe der Kasse nicht eine Viertelminute den Rücken gekehrt; ich hatte nur ein Formular auszufüllen, zehn Worte zu schreiben.“
„Wie Sie meinen,“ sagte Prati, „Sie haben vielleicht Recht. Aber wenn Sie soviel mit Chinesen zu thun hätten wie ich, so würden Sie meinen Argwohn nicht unbegründet finden.“
Büchner begnügte sich, darauf mit den Achseln zu zucken und Prati trat wieder in das Nebenzimmer zurück, wo er noch einige Worte mit den anderen Angestellten wechselte und sich sodann auf sein Zimmer begab.
Etwa eine halbe Stunde später ließ sich Frau Onslow bei Herrn Rawlston anmelden. Herr Wallice, der erste Buchhalter, ging hinaus, um der Dame höflich zu sagen, Herr Rawlston sei augenblicklich nicht im Hause. Frau Onslow erklärte darauf, sie wolle ihn erwarten, und wurde von Herrn Wallice in das Empfangszimmer des Hauses geführt, wo sie ihre große knochige Gestalt mit einem tiefen Seufzer auf einen bequemen Sessel niederließ.
Die genannte Dame, die Frau eines angesehenen amerikanischen Kaufmanns, war in der Fremdenniederlassung wegen ihrer Wohlthätigkeit und Herzensgüte beliebt und wegen ihres seltenen Rednertalents gefürchtet. Wer immer mit ihr zusammentraf, mußte sich darauf gefaßt machen, eine längere Abhandlung aus ihrem Munde über diese oder jene Frage, die Moral oder das allgemeine Wohl betreffend, zu vernehmen. Hatte sie nun aber gar Veranlassung, sich mit Jemand über einen von ihm begangenen Fehler oder etwas, was sie für einen solchen hielt, auszusprechen, so war sie sehr ermüdend, und ihre Opfer verschwanden gewöhnlich gänzlich zerknirscht aus ihrer Nähe und gingen ihr sodann während der nächsten Wochen mit ängstlicher Scheu auf weite Entfernung aus dem Wege. Aber das kümmerte Frau Onslow nicht. Sie betrachtete es als eine Pflicht, alle Sünder, mit denen sie zusammentraf, zu belehren und zu bekehren, und ob dies den Unglücklichen gefiel oder nicht, war ihr vollkommen gleichgültig. – Nachdem sie etwa fünf Minuten ungeduldig gewartet hatte, klingelte sie und beauftragte den eintretenden Diener, einige Boten auszusenden, um Herrn Rawlston zu suchen und diesem zu melden, Frau Onslow warte in seiner Wohnung, sie habe ihm eine wichtige Mittheilung zu machen. Der gut geschulte Diener that, wie ihm geheißen, und einer der Ausgesandten hatte das Glück, seinen Herrn in der Nähe des Hauses anzutreffen und Frau Onslow’s Bestellung schnell ausrichten zu können. Rawlston begab sich darauf eiligen Schrittes zu ihr, denn er vermuthete, sie werde ihm Nachrichten von seiner Schwester bringen.
Als James Rawlston in den Salon trat, nickte ihm Frau Onslow finster zu und bedeutete ihm durch eine stumme Gebärde, auf einem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen.
Rawlston wußte genau, was ihm bevorstand, und ließ sich ergeben auf den ihm angewiesenen Platz nieder. Darauf trat eine Pause ein, während deren Frau Onslow ihren Wirth unter majestätischem Heben und Senken des belockten Hauptes vom Kopf bis zu den Füßen und von den Füßen bis zum Scheitel musterte. Rawlston ertrug diese Untersuchung mit anscheinender Ruhe, öffnete und schloß langsam die Augen, zerrte an seinem Schnurrbart und begann endlich, um seine Unbefangenheit ganz klar zu machen, mit den Fingern beider Hände einen Marsch auf den Lehnen seines Sessels zu trommeln.
„Verhalten Sie sich ruhig!“ brach Frau Onslow zornig hervor.
Rawlston sah seinen Besuch mit einem Blick von unten an. Er hatte einen stark ausgeprägten Sinn für Humor, und Frau Onslow fing an, ihn trotz seiner üblen Laune zu erheitern. Unwillkürlich zuckte es ihm um Augen und Mund, und er war sich bewußt, zu lächeln.
„Lachen Sie nicht, höhnen Sie nicht, Sie … Mann!“
Das Onslow’sche Wörterbuch war reichlich versehen mit wohltönenden, salbungsvollen Worten, aber zur Aeußerung ihres Unwillens fehlten der Frau kräftige Ausdrücke. – „Mann“ war Alles, was sie zur Niederschmetterung ihres Gegners finden konnte. Das Wort verfehlte die beabsichtigte Wirkung. Rawlston’s Mund wurde im Gegentheil breiter, die Augen kleiner, und bald konnte kein Zweifel mehr darüber obwalten, daß er lachte – daß er es wagte, Frau Onslow auszulachen. Das war der guten Dame, ihres Wissens wenigstens, noch niemals vorgekommen. Sie wurde dunkelroth.
„Es giebt hier nichts zu lachen, Herr! Es handelt sich um das Glück eines edlen Wesens, welches das Unglück hat, Ihre Schwester zu sein! Lachen Sie nicht! Hören Sie! Schämen sollten Sie sich!“
Das wirkte ganz anders. Rawlston’s Gesicht wurde sofort ernst und er sagte verdrießlich:
„Meine liebe Frau Onslow, es ist nun das dritte oder vierte Mal, daß ich heute hören muß, ich sollte mich schämen. Das gefällt mir nicht! Mit aller Achtung, die ich einer Dame [455] schuldig bin und Ihnen bereitwillig zolle, gestatte ich mir die Bemerkung, daß ich ganz entschieden den Wunsch hege, es möge ausschließlich meinem Ermessen überlassen bleiben, ob und worüber ich mich zu schämen habe. Bestehen Sie darauf, darüber Betrachtungen anzustellen, so bitte ich um die Erlaubniß, mich entfernen zu dürfen. Mein Haus ist das Ihrige, aber ich mag mich auch bei Ihnen nicht schlecht behandeln lassen. Sie entschuldigen gütigst …"
Er erhob sich, aber er hatte nicht die Absicht, zu gehen; denn es lag ihm am Herzen, von seiner Schwester zu hören; und um die Unterredung nicht abzubrechen, beging er den Fehler, dieselbe durch eine Frage fortzusetzen:
„Worüber sollte ich mich denn schämen?“
Dies öffnete endlich die verschlossenen, zum Ueberfluthen gefüllten Schleusen der verheerenden Onslow’schen Beredtsamkeit. Rawlston verstand zunächst kaum, was ihm gesagt wurde: so überwältigend drang der Wortschwall auf ihn ein. Er blickte hilflos von rechts nach links und vom Fußboden nach der Zimmerdecke; dann sank er in den Sessel zurück, legte beide Hände auf der Brust zusammen, stützte das Kinn darauf und versuchte, den Inhalt des ihn umwogenden Wortgetöses zu erfassen. Es gelang ihm endlich, den Faden zu finden, und nun kam Klarheit in seine verwirrten Sinne. „Worüber er sich schämen sollte?“ Frau Onslow nahm nicht Anstand, es ihm klar und deutlich zu sagen. War nicht Edith ein edles Wesen von vollkommener Herzensgüte, hellem Verstande, makelloser Reinheit? War sie nicht jung, schön, reich, klug, gut – Alles in sich vereinigend, was ein Mädchen liebenswürdig machen kann? War sie nicht seine, James Rawlston’s, leibliche Schwester? Hatte sie je in ihren Pflichten dem Bruder gegenüber gefehlt? War sie nicht ganz auf ihn angewiesen, und hatte er dies nicht böswillig verkannt, indem er sie, die alleinstehende Jungfrau, in rauher Weise aus ihrem Heim, seinem Hause verstoßen hatte?
Rawlston schlug laut die Hände zusammen und blickte gen Himmel, als erwarte er eine höhere Einmischung, die ihn gegen diese böse und falsche Anklage schützen sollte.
„Ich Edith verstoßen! – Aber Frau Onslow, FrauOnslow! Edith war es ja, die gegen meinen Willen davonlief, die mir drohte, aus dem Fenster zu springen, wenn ich sie daran verhindern wollte.“
„Sehr richtig, ganz richtig!“
Frau Onslow wäre nicht die stets siegreiche Wortkämpferin gewesen, wenn ein Bischen erbärmlicher Logik sie erschüttert hätte.
„Sie erwarteten wahrscheinlich, daß Edith ruhig mit anhören sollte, wie Sie ihren künftigen Gemahl beschimpften.“
Rawlston war Frau Onslow nicht gewachsen; er folgte gehorsam, wohin sie ihn führte.
„Frau Onslow, gestatten Sie mir zwei Worte.“
„Ich höre Sie seit einer Stunde an, ohne Sie zu unterbrechen.“
„Liebe Frau Onslow, es ist unmöglich. daß meine Schwester sich mit einem Manne verlobe, der unter dem Verdacht steht, eine Veruntreuung begangen zu haben.“
„Wer verdächtigt ihn? – Sie! Das ist ja eben das Schändliche!“
„Sie irren sich. der Polizei-Inspektor hat den Verdacht ausgesprochen.“
„Und Sie haben sich diesen Verdacht sofort angeeignet. Es ist empörend!“
„Aber, gnädige Frau!“
„Wie lange kennen Sie Herrn Büchner?“
„Seit sechs Jahren.“
„Haben Sie jemals Ursache gehabt, an seiner Ehrlichkeit zu zweifel?“
„Nein.“
„Und ein Polizeimensch, der die Welt nur von der schwärzesten Seite kennt, der überall Diebe und Mörder wittert, der Herrn Büchner nie gekannt hat und der plötzlich, Gott weiß weßhalb! Ihr Vertrauensmann geworden ist, Ihr intimer Freund so zu sagen – der verdient mehr Glauben als Ihre eigene, durch lange Jahre befestigte, persönliche Erfahrung von der Ehrenhaftigkeit eines unbescholtenen Mannes? O Herr Rawlston! Ist das edel? Ist das gerecht? Ist das nicht im Gegentheil abscheulich ungerecht? Einen Menschen des Diebstahls zu zeihen, einfach weil keine materielle Möglichkeit vorliegt, daß er den Diebstahl begangen habe! Was spricht denn gegen Herrn Büchner? Daß er in Ihrem Hause wohnt, daß er den Kassenschlüssel besitzt. Wohnen Sie nicht auch hier, besitzen Sie nicht ebenfalls einen Schlüssel zur Kasse? Weßhalb richtet des Polizisten Verdacht sich nicht auf Sie?“
„Das wäre Unsinn!“
„Ja, das wäre Unsinn, in der That! Das Andere aber, die Verdächtigung eines unbescholtenen Mannes, wissen Sie, was das ist? – Eine Schlechtigkeit!“
„Gnädige Frau, ich fürchte, wir werden uns auf diese Weise nicht verständigen.“
„Daran habe ich vom ersten Augenblick an verzweifelt. Auch bin ich deßwegen nicht gekommen, sondern nur, um einen Auftrag meiner jungen Freundin auszuführen.“
„Und der wäre?“
„Ihre Schwester wünscht, daß unter meiner Leitung gewisse Sachen zusammengepackt werden, deren sie bedarf, um sich bei mir häuslich einrichten zu können.“
Rawlston dachte einen Augenblick nach. An eine sofortige Versöhnung mit seiner Schwester war nicht zu denken; ihr Charakter und seine Gefühle für sie schlossen den Gedanken aus, sie zwingen zu wollen, gegen ihren Willen in seinem Hause zu bleiben. Edith würde bei Frau Onslow, in der sie eine mütterliche Freundin erblickte, wohl aufgehoben sein. Die Sache würde zu mancherlei Gerede Veranlassung geben; aber daran war nun einmal nichts zu ändern.
„Wie meine Schwester wünscht und Sie befehlen,“ sagte Rawlston ruhig. „Aber eine Bedingung muß ich stellen. Edith darf mit Herrn Büchner nicht zusammentreffen. Ich verbiete es ausdrücklich!“
„Das verbieten Sie, Herr Rawlston? Und mit welchem Rechte, wenn ich fragen darf? – Sind Sie Edith’s Vormund? Sie ist einundzwanzig Jahre alt, soviel ich weiß, und ihre eigene Herrin. Sie haben jedes Recht über das arme Kind verloren, ich aber lasse mir keine Vorschriften von Ihnen machen und übernehme allein die Verantwortlichkeit für das, was Edith in meinem Hause thun und lassen wird.“
„Sie wollen also einen Bruch zwischen zwei Geschwistern herbeiführen, die stets in Frieden und Eintracht zusammen gelebt hatten. Es ist nicht christlich, was Sie da thun.“
„Ueber meine Christenpflichten brauche ich mich von Ihnen, Herr Rawlston, nicht belehren zu lassen; darüber werde ich mich mit meinem Gewissen verständigen!“
Die Erbitterung auf beiden Seiten hatte nun ihren Höhepunkt erreicht.
„Ihr gehorsamster Diener!“ sagte Rawlston und verließ das Zimmer mit einer Verbeugung. Er war Amerikaner, und seine Erziehung machte es ihm verhältnißmäßig leicht, der älteren Dame gegenüber die gesellschaftlichen Formen unter allen Umständen zu wahren. – Frau Onslow fand dies ganz in Ordnung und wußte dem höflichen Mann keinen Dank für seine Mäßigung. Bitterböse entfernte sie sich, um Ediths Auszug aus dem „ungastlichen“ Hause so schnell wie möglich zu bewerkstelligen.
Während sie damit beschäftigt war, setzte Rawlston, in einem Zustande großer Aufregung, ein kurzes Schreiben an Herrn Büchner auf. Dem unglücklichen Kassirer wurde darin in dürren Worten gesagt, die Herren Rawlston & Co. verzichteten für die Zukunft auf seine Dienste. Er werde deßhalb ersucht, die von ihm geführten Bücher und den Kassenbestand im Laufe des Tages an Herrn Waltice abzugeben.
Nachdem Rawlston diesen Brief geschrieben hatte, schloß er ihn in sein Pult ein. Er wußte, daß damit die Aechtung Büchner’s unterzeichnet war, und er zauderte, das Schriftstück abzusenden. Er saß eine Weile grübelnd da. Büchner war ihm sechs Jahre lang als ein treuer, zuverlässiger Diener seines Hauses erschienen. Vor einer Woche noch hatte er ihn, wenn auch nicht mit Freuden, denn er wollte für seine Schwester höher hinaus, so doch artig und höflich als seinen zukünftigen Schwager begrüßen wollen; und nun wies er ihm die Thür wie einem Unwürdigen. – Frau Onslow’s Worte fielen ihm ein: sollten die sechs Jahre persönlicher Erfahrung von Büchner’s Charakter nicht schwerer wiegen als das Urtheil des Polizeibeamten? – Er wurde immer nachdenklicher. Alles, was in seiner Natur vornehm war, sträubte [456] sich dagegen, einen Schritt zu thun, der Büchner zu einem Unglücklichen machen mußte. Er nahm den Brief wieder hervor und las ihn noch einmal durch. Sinnend sah er sodann zum Fenster hinaus. Da erblickte er den langen Holländer, der schnellen, entschlossenen Schrittes über den Hof ging und sich dem Arbeitszimmer näherte, in dem Rawlston soeben dessen Schicksal erwog. Gleich darauf wurde heftig angeklopft.
„Herein!“
Die Thür öffnete sich und Büchner trat hastig in das Zimmer und an den Tisch, an dem der überraschte Kaufmann saß.
„Herr Rawlston,“ sagte Büchner – seine Stimme zitterte und hatte einen heiseren fremden Klang – „Herr Rawlston, Sie glauben, ich hätte Ihnen das Geld gestohlen? … Ich? … Herr Rawlston, das ist eine Niedertracht!“
Der Amerikaner war ein Mann aus guter Familie, der bei seinen Mitbürgern in hohem Ansehen stand und an schlechte Behandlung nicht gewöhnt war. Er gehörte nicht zu denen, die sich leicht einschüchtern lassen, und er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten Beweise persönlichen Muthes gegeben. Wenn er trotzdem bei dem neuen Schimpf nicht in die Höhe fuhr, oder nach californischen Sitten, die ihm keineswegs fremd waren, – denn er hatte eine Zeit lang in Nevada gelebt – nach dem Revolver griff, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, so erklärte sich dies dadurch, daß sein Vertrauen zu der Ansicht des Polizei-Inspektors im Laufe des Tages erschüttert worden war und er sich kurz vorher gefragt hatte, ob es nicht Unrecht von ihm gewesen sei, seinen Verdacht so bestimmt auszusprechen, wie er es gethan. Aber er war nicht der Mann, der eine Beleidigung, selbst wenn er sie eingestandenermaßen hervorgerufen haben mochte, ruhig hinnahm. Er erhob sich. Er war nicht so lang wie der Holländer, aber er war von stattlicher Gestalt, und wie er sich emporreckte und den Kopf zurückwarf, erschien er eben so groß wie der gebeugte Mann vor ihm.
„Es ist nicht meine Schuld,“ sagte er ruhig, „wenn ein schwerer Verdacht auf Ihnen haftet. Möglicherweise ist es auch nicht die Ihrige. Dann ist es Ihr Unglück. Aber das werden Sie durch Schimpfen nicht besser machen.“
„Wie dürfen Sie sich unterstehen,“ fuhr Büchner auf, „Anderen gegenüber einen unbegründeten Verdacht zu äußern, der mich entehrt!“
„Ich habe nur mit meiner Schwester gesprochen; das war mein Recht und meine Pflicht.“
„Sie haben auch mit Anderen gesprochen, leugnen Sie nicht!“
„Ich leugne nichts. Ich habe in der That auch mit Frau Onslow gesprochen, aber gegen meinen Willen. Sie war von meiner Schwester zu mir gesandt, um mit mir zu sprechen. Sie sind augenblicklich sehr erregt, und ich begreife das, aber wenn Sie fähig sind, eine Minute ruhig nachzudenken, so werden Sie sich sagen müssen, daß ich unter den obwaltenden Umständen meiner Schwester mittheilen mußte, ich könne meine Zustimmung zu ihrer Verlobung mit Ihnen augenblicklich nicht geben. – Ich verzeihe Ihnen das Wort, das Sie gegen mich gebraucht haben; denn ich kann heute keine Rechenschaft dafür von Ihnen fordern. Und damit sei die Sache nunmehr abgethan!“
„Sehr wohl,“ sagte Büchner ingrimmig, „die Sache sei abgethan – aber nur vorläufig! Der Tag wird kommen, da ich Rechenschaft von Ihnen fordern werde. Ich verlasse das Haus heute Abend. – Wem soll ich die Kasse übergeben?“
„Bedenken Sie wohl, was Sie thun, Herr Büchner. Es ist vielleicht in Ihrem Interesse besser, wenn Sie ruhig im Hause bleiben, so daß alle Welt sieht, ich habe Ihnen mein Vertrauen nicht entzogen.“
„Wie können Sie es wagen, so zu sprechen!“ stieß Büchner zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor. „Haben Sie nicht bereits gesprochen? Ist Ihr Verdacht nicht in diesem Augenblick Stadtgespräch?“
„Ich habe mit Niemand gesprochen, als mit meiner Schwester. Wenn diese und Frau Onslow reinen Mund halten wollen, so ist nach außen hin an Ihrer Stellung nichts geändert.“
„Nein“ sagte Büchner, „ich darf nicht wieder mit Ihnen zusammentreffen, es wäre gefährlich für Sie – lebensgefährlich.“ Er ballte die mächtigen Fäuste und schüttelte sie, und dabei nahm sein Gesicht einen furchtbaren Ausdruck an, und sein ganzer Körper bebte. – „Wem soll ich die Kasse übergeben?“
„Herrn Wallice. Aber es ist Ihr Wille; Sie verlassen mich.“
Darauf antwortete Büchner nicht mehr, sondern machte kurz Kehrt und verließ das Zimmer.
[469]
Während der nächsten Tage gingen allerhand Veränderungen im Rawlston’schen Hause vor, mit denen sich die öffentliche Meinung in Shanghai lebhaft beschäftigte: Edith war zu Frau Onslow gezogen. Sie machte und empfing keine Besuche. Man sah sie von Zeit zu Zeit neben ihrer Freundin im Wagen spazieren fahren. Die Männer grüßten sie ehrerbietig und sie dankte ruhig und vornehm.
Georg Büchner hatte sich im amerikanischen Viertel am äußersten Ende der fremden Niederlassung eine kleine Wohnung gemiethet, in der er zurückgezogen lebte. Die Meinung der Kolonie über ihn war getheilt. Die Mehrzahl seiner ehemaligen Genossen war der Ansicht, daß er ein ehrlicher Mann sei; aber hier und da wurden die Augenbrauen in die Höhe gezogen, die Köpfe geschüttelt und die Achseln gezuckt. Ob Büchner nun ein ehrlicher Mann oder ein Dieb war – seinen unangefochtenen guten Namen hatte er eingebüßt. Was er darunter litt, konnte Niemand sagen, denn er sprach nicht davon; aber wer ihn erblickte, der konnte in dem gramverstörten Gesichte deutlich lesen, daß er einen unglücklichen Menschen vor sich sah.
Büchner hatte sich nicht von der Welt abgeschlossen. Mehrere seiner Freunde pilgerten nach seiner Wohnung hinaus und besuchten ihn und sprachen zu ihm mit einer künstlichen Unbefangenheit, die bei den rauhen Männern etwas Rührendes hatte. „Wollen wir nicht eine Partie Kegel machen ? – oder einen gemüthlichen Rubber? – Reiten Sie heute nicht aus?“ Büchner schüttelte auf solche Anfragen stumm das Haupt. Er ging zu Niemand, er zeigte sich an keinem öffentlichen Orte. Wer ihn sehen wollte, der mußte ihn aufsuchen. Unter Denen, die dies thaten, erschien Keiner häufiger, als sein ehemaliger Kollege im Hause Rawlston, der Seideninspektor Prati. Büchner hatte gar nicht gewußt, daß er einen so guten Freund an dem kleinen Italiener habe, und empfand es dankbar, daß dieser sich in der Stunde der Noth treu zeigte.
Prati war der Einzige, der sich nicht Mühe gab, die Gedanken zu verhehlen, mit denen Alle zu der Zeit über Büchner’s Schwelle traten. Er sprach offen mit diesem von dem nahe bevorstehenden Processe, in dem Büchner der Unterschlagung verdächtig vor den Schranken des Gerichts erscheinen sollte.
„Nehmen Sie sich doch die Sache nicht so zu Herzen, Büchner! Sie sind unschuldig. Das wissen Sie, das weiß alle Welt. Niemand, um den Sie sich zu kümmern haben, zweifelt an Ihrer Unschuld.“
„Rawlston!“ warf Büchner dazwischen.
„Ach was, Rawlston! Der weiß ebenso gut wie ich, daß Sie ein Ehrenmann [470] sind. – Sie haben keine Idee, wie niedergeschlagen er ist; und er hat Grund, verdrießlich zu sein, denn sein Benehmen Ihnen gegenüber ist gar nicht zu rechtfertigen. O, ich habe es ihm gestern wieder gesagt, ich fürchte mich nicht vor ihm. Und wenn Sie sähen, wie klein er sich macht! Er ist einen Kopf größer als ich, aber wenn ich Ihren Namen ausspreche, dann sinkt er zusammen und reicht mir nicht bis zur Schulter. Sie wissen, daß er unter keinen Umständen als Ihr Ankläger auftreten wollte. Hätte es in seiner Macht gelegen, so wäre die ganze Sache zurückgezogen worden. Aber es ist gut, daß der Staatsanwalt sich veranlaßt gefühlt hat, auf die Anzeige der Polizei hin gegen Sie vorzugehen; denn Sie müssen die Genugthuung haben, vom Gericht für unschuldig erklärt zu werden. Und das wird geschehen! – Und dann, Büchner, dann versprechen Sie mir, wieder ein vernünftiger Mensch zu werden. Wollen Sie, Büchner? Versprechen Sie es mir!“
Der lange Holländer lächelte traurig. „Sie sind ein guter Freund,“ sagte er.
Jeden Abend um neun Uhr begab sich Büchner zu Frau Onslow, wo er seine Braut antraf und sodann in Gesellschaft der beiden Damen etwa zwei Stunden verblieb. Daß dies geschah, war Frau Onslow’s Werk. Büchner hatte an demselben Tage, an dem er mit Rawlston gebrochen, einen betrübten, aber keineswegs kläglichen Brief an Edith geschrieben und ihr auseinandergesetzt, weßhalb er sich für verpflichtet halte, ihr ihre Freiheit wiederzugeben: als er um sie geworben, habe er geglaubt, sie glücklich machen zu können, wenn sie ihr Schicksal an das seinige knüpfen wolle, nun dürfe er dies nicht mehr hoffen, denn er sei plötzlich ein unglücklicher Mensch geworden. Er sage ihr Lebewohl, und er bitte sie, ihm ein gutes Andenken zu bewahren. Als Antwort hatte er auf einer offenen Karte den kurzen Bescheid von Frau Onslow erhalten, sie bitte ihn, am Abend um neun Uhr im engsten Kreise den Thee bei ihr einzunehmen. – Büchner war erschienen und hatte Herrn und Frau Onslow angetroffen, von denen Ersterer nach kurzer, herzlicher Begrüßung wieder verschwunden war, wogegen die Dame des Hauses ihm eine längere Rede gehalten hatte, um ihm klar zu machen, daß in seinem Verhältniß zu Edith nichts geändert werden dürfe.
„Wofür halten Sie denn meine junge Freundin? – Für ein leichtfertiges Geschöpf, das ihr Herz heute giebt und morgen zurücknimmt? Man sieht, daß Sie ein Europäer sind, der nicht ahnt, was ein ordentliches amerikanisches Mädchen werth ist. Edith wird Sie nicht verlassen, sie hat sich Ihnen versprochen und sie gehört Ihnen. Ihr Glück liegt da, wo ihr Herz und ihre Pflicht sie hintreiben: bei Ihnen. – Herr Büchner, es giebt eine Art schlecht verstandenen Edelmuthes, der in seinen Folgen ebenso traurig ist wie beabsichtigte Bosheit. Wenn Sie Edith jetzt verlassen wollen, nachdem sie Ihretwegen mit James gebrochen hat und mit der ganzen Welt brechen würde, so wäre das eine schlechte Handlung, gleichviel ob Edelsinn oder Feigheit Sie dazu triebe. Seien Sie ein Mann! Sagen Sie nicht: Alles ist verloren. Das soll ein Mann, der das gute Recht auf seiner Seite hat, nicht thun. Kämpfen Sie bis zum Ende um das höchste Gut, das Ihnen auf Erden beschieden ist: um ein reines, treues Frauenherz.“
Es bedurfte nicht so langer Reden, um Büchner zu überzeugen. Er wünschte nichts sehnlicher, als was Frau Onslow ihm aufdrang. Er drückte ihr tief bewegt die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen.“
Darauf erhob sich Frau Onslow triumphirend und kehrte nach wenigen Minuten mit Edith zurück, die blaß und niedergeschlagen aussah, aber deren Wangen sich rötheten und deren Augen aufleuchteten, als Büchner ihre kleine Hand nahm, sie sanft streichelte und dazu leise sagte: „Mein ganzes Leben kann Ihnen nicht für diese Stunde danken.“
Ja, Edith fühlte sich glücklich. Ihre Liebe zu Büchner hatte, ohne sein Zuthun, in wenigen Tagen erstaunliche Fortschritte gemacht. Das unverdiente Unglück, unter dem sie ihn leiden sah, machte ihn in ihren Augen nur noch liebenswerther. Ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, ihm sein schweres Los zu erleichtern und es ihn womöglich vergessen zu machen.
„Du bist zu gut, meine Edith,“ sagte er. „Wie kann ich es Dir je vergelten?“
„Warte nur,“ antwortete sie lächelnd, „bis Du wieder sorglos und heiter bist, dann werde ich Dich schon genug quälen. Du sollst mit schweren Zinsen zurückzahlen, was Du jetzt empfängst.“
Wenn Büchner am Abend den dunklen Wussongfluß entlang über den verödeten „Bund“ nach seiner entfernten Wohnung heimkehrte, dann dachte er darüber nach, was Edith ihm gesagt hatte. Konnte er je wieder froh werden?
Der Wussong ist ein breiter, tiefer Strom. Inmitten einer baumlosen sumpfigen Ebene wälzt er seine gelben, schlammigen Wasser dem riesigen Yang-tse-kiang zu. Zur Zeit der Ebbe, die sich bis weit hinter Shanghai fühlbar macht, verfolgt er in wilder, wüthender Hast, gurgelnd und zischend, seinen mächtigen Lauf. Dies Gurgeln und Zischen schien einen eigenthümlichen Reiz für den langen Holländer zu haben, denn oftmals blieb er stehen und lauschte dem unheimlichen Getöse. – Konnte er je wieder froh werden? – In seiner Wohnung angelangt, entkleidete er sich langsam und suchte das Lager; aber er fand keine Ruhe. Dann erhob er sich wieder und trat auf die Veranda. Dort hörte er das Rufen des dunkeln Stromes! Ueber ihm breitete sich der tiefe, mit unzähligen Sternen besäete Nachthimmel. Und sein Blick richtete sich immer und immer wieder auf einen und denselben Stern, der im Zenith, aus unergründlichen Fernen in kaltem, ruhigem, wunderbarem Lichte auf ihn herabstrahlte. Mit welchen Gedanken sich seine Brust dabei füllte, das kann kein Mensch wissen; aber sie mußten bitter und schwer sein, denn er blickte in solchen Augenblicken hilflos, verzweifelt um sich, und dann sank er ganz geknickt zusammen und stöhnte laut. – Wenn er nur Ruhe finden, wenn er nur schlafen könnte! – Er trat in das Zimmer zurück, füllte ein großes Glas mit Brandy und leerte es. Dann steckte er einen Cheroot an und begann zu rauchen. Die Augen wurden ihm schwer, und er schloß sie. – Aber plötzlich fuhr er aufgeschreckt in die Höhe. – Wer hatte ihn gerufen? – Tiefe Stille ringsumher. Das ununterbrochene Gurgeln und Zischen des dahinschießenden Wussong, das deutlich vernehmbar war, gehörte zu der Stille der Nacht. – Er trank ein zweites Glas Brandy und dann warf er sich auf sein Lager, wo er in schweren unerquicklichen Schlaf versank, aus dem er am Morgen mit einer Last auf dem Herzen und dumpfem Kopfschmerz erwachte. – So lebte er nun seit drei Wochen, und es fiel Allen auf, wie sehr er sich in dieser kurzen Zeit verändert hatte, wie sehr er gealtert war.
Auch James Rawlston war nicht mehr der Alte. Freude und Jugend hatten sein Haus mit Edith verlassen. Verdrießlich verbrachte er den Tag in seinem Arbeitszimmer, verdrießlich saß er des Abends einsam bei Tische, von stummen, gleichgültigen Dienern umgeben, und verdrießlich bis spät in die Nacht hinein auf der Veranda, allein mit unerfreulichen Gedanken. Denn Büchner’s Freunde ließen ihn fühlen, daß sie sein Benehmen diesem gegenüber mißbilligten. Sie vermieden ihn. Er war zu stolz, Annäherungsversuche zu machen, und so blieb er allein, vereinsamt in dem großen Hause, in dem noch vor wenigen Wochen mit und um Edith frisches, junges Leben geherrscht hatte. Von Zeit zu Zeit ließ er Herrn Wallice oder Herrn Prati bitten, mit ihm zu speisen. Herr Wallice erschien mit dem Glockenschlage sieben, in schwarzem Frack und tadelloser, weißer Binde. Er aß und trank guten Appetits und war in dieser Beziehung ein vorzüglicher Tischgenosse, aber er sprach unaufgefordert kein Wort, und er hatte ein eigenthümliches Talent, auch verwickelte Unterhaltungsgegenstände durch kurze Antworten zu erschöpfen. Die langen Pausen, die oftmals eintraten, machten Rawlston geradezu verlegen, Herr Wallice schien sie nicht zu bemerken, sondern saß, wenn er nicht mit Essen beschäftigt war, kerzengrade hinter seinem Teller, den Blick sinnend auf die Blumen gerichtet, die in der Mitte des Tisches standen. – Prati war eine redseligere, aber deßhalb für Rawlston nicht gerade angenehmere Gesellschaft, denn er schien sich die Aufgabe gestellt zu haben, seinem Vorgesetzten Vorwürfe über dessen Benehmen Büchner gegenüber zu machen; und zwar wußte er dies in so höflicher Form zu thun, daß Rawlston, der an seinem Tische einem Gaste gegenüber artig bleiben wollte, ihn nicht zur Ruhe verweisen und dem Gespräch eine andere Wendung geben konnte.
„Was verlangen Sie eigentlich von mir?“ fragte Rawlston eines Abends, nachdem Prati sich wieder in der ihm eigenen [471] pathetischen Weise über das unverdiente Unglück des armen Büchner ausgesprochen hatte. „Können wir denn über Niemand und nichts Anderes in der Welt sprechen als über Herrn Büchner und seine traurige Lage? Fast hat es den Anschein, als liege es in Ihrer Absicht, mich zu verstimmen.“
„Das können Sie bei meiner Ihnen bekannten Verehrung für Sie unmöglich glauben; aber da Sie mich dazu auffordern, so erlaube ich mir, ganz offen mit Ihnen zu sprechen. Ja, ich wünschte, daß Sie etwas für Büchner thäten, nachdem Sie ihn unglücklich gemacht haben.“
„Ich bin mir nicht bewußt, ihn unglücklich gemacht zu haben.“
„Sie haben das gegen Ihre Absicht und ohne Ihr Wissen, aber Sie haben es doch wirklich gethan. Hätten Sie Ihren Verdacht nicht so bestimmt geäußert, so wäre Herr Büchner heute noch in derselben Lage wie Herr Wallice zum Beispiel, dessen Stellung und Ruf durch den bei Ihnen verübten Diebstahl in keiner Weise berührt worden sind. Dadurch allein, daß Sie dem Brautpaar gegenüber eine zwecklos feindliche Haltung eingenommen haben – denn verhindern können Sie die Verbindung zwischen den Beiden schließlich ja doch nicht, da Fräulein Rawlston Ihrer Vormundschaft entwachsen ist, – dadurch haben Sie meinen Freund aus Ihrem Hause getrieben und ihn in die schreckliche Lage versetzt, in der er sich jetzt befindet. Denken Sie an sein Los, Herr Rawlston! Malen Sie sich aus, was der Unglückliche zu erdulden hat – und zwar unverschuldet – und auf Ihre Veranlassung. Und sagen Sie selbst, die Hand aufs Herz: halten Sie Büchner einer Unterschlagung für fähig?“
Vor drei Wochen hätte Rawlston darauf unbedingt mit „Ja“ geantwortet, aber seitdem war seine Zuversicht geschwunden. Auch der Polizei-Inspektor, mit dem Rawlston noch verschiedene Unterredungen gehabt hatte, war seiner Sache durchaus nicht mehr ganz sicher. Büchner hatte nämlich einen Schritt gethan, auf den die Beiden nicht vorbereitet gewesen waren: an demselben Tage, an dem er seine Stelle aufgegeben, hatte er an Rawlston einen Check für den ganzen abhanden gekommenen Betrag mit einem kurzen Schreiben eingesandt, in dem gesagt war, er, Büchner, betrachte sich für die von ihm geführte Kasse verantwortlich und überweise deßhalb den Betrag, der an derselben fehle. Rawlston hatte die Anweisung zurückgesandt: es sei in China nicht Gebrauch, daß ein Kassirer die Verantwortlichkeit dafür übernehme, daß seine Kasse nicht ausgeplündert werde. Aber Büchner hatte das Geld nicht zurücknehmen wollen, sondern es auf dem amerikanischen Konsulat niedergelegt: „zur freien Verfügung der Herren Rawlston & Co. bis zu dem Tage, an dem die jüngst abhanden gekommene Summe von zehntausend Dollars wieder in deren Besitz gelangt sein würde.“ Büchner’s Guthaben bei Rawlston & Co. hatte nur achttausend Dollars betragen, die fehlende Summe war ihm geliehen worden und zwar, wie man später erfuhr, von seinem Kollegen und Freunde Prati, der sich im Besitz eines Vermögens von etwa zwanzigtausend Dollars befand, die er während der letzten glücklichen Jahre als Seideninspektor verdient hatte.
Als der Polizei-Inspektor erfahren, die zehntausend Dollars seien bei Rawlston wieder eingezahlt worden, hatte er zunächst gesagt: „Ich gratulire Ihnen, da sind Sie ja wieder zu Ihrem Gelde gekommen!“ Aber gleich darauf war er nachdenklich geworden, hatte sich das Kinn gestrichen und hinzugesetzt: „Das ist eigenthümlich. Ein ordentlicher Dieb hätte das Geld nicht so leicht wieder herausgegeben; der hätte es verscharrt oder irgendwo in Sicherheit gebracht, um später die Hand wieder darauf legen zu können.“ – Mit der Zeit war der Beamte immer unsicherer geworden, er hatte noch einmal die genauesten Erkundigungen über alle Bewohner des Hauses eingezogen und schließlich gesagt: „Mein Latein ist zu Ende. Vielleicht ist der Mensch so unschuldig wie Sie und ich.“ – „Der Mensch“ war Büchner, und es wurde Herrn James Rawlston recht unbehaglich zu Muthe, wenn er daran dachte, daß er „diesen Menschen“ ins Unglück gestürzt und sich seinetwegen mit Edith überworfen habe. – Als Prati ihn deßhalb fragte: „Halten Sie Büchner einer Unterschlagung für fähig?“ und ihn dabei mit seinen klugen Augen scharf ansah, zerrte Rawlston eine Weile an seinem Schnurrbart und antwortete endlich langsam: „Sie können Recht haben.“
„In diesem Falle habe ich sicherlich Recht,“ entgegnete Prati mit großer Bestimmtheit. „Unter den anständigen Menschen in Shanghai herrscht darüber nur eine Meinung. – Was die Andern sagen und denken, ist von keinem Werth und kümmert Sie nicht.“
„Das Geschwätz der Leute kümmert mich überhaupt nicht. Aber es ist in der That meine Sorge, das zu thun, was recht ist.“
„Nun wohl, Herr Rawlston, dann machen Sie Ihr Unrecht wieder gut. schreiben Sie an Ihre Schwester oder an Herrn Büchner und geben Sie Ihre Zustimmung zu deren Vermählung.“
„Nein, heute kann ich das nicht thun. Zunächst muß ich den Ausgang des Processes abwarten, in den Büchner verwickelt ist.“
„Das halte ich für falsch, denn einmal dürfte Ihre Haltung in der Sache auf die Richter, so unbefangen sie auch sein mögen, von großem Einfluß sein, und sodann werden weder Büchner noch Fräulein Rawlston in Ihrer Zustimmung, wenn dieselbe nach Büchner’s unzweifelhafter Freisprechung erfolgt, eine Genugthuung für das ihm von Ihnen zugefügte Unrecht erblicken.“
„Es würde mir sehr leid thun, wenn ich mich für immer mit meiner Schwester entzweien sollte, aber ich muß mich auch darüber hinwegsetzen, wenn es sich darum handelt, eine Pflicht zu erfüllen, und ich halte es für meine Pflicht, der Verlobung meiner Schwester mit einem Manne, der noch unter dem Verdacht eines Verbrechens steht, meine Einwilligung zu verweigern. – Weit wichtiger für meine Entschließungen ist Ihre erste Betrachtung. Ich möchte die Richter in keiner Weise beeinflussen, am wenigsten zu Ungunsten Büchner’s. Aber nach dem, was nun einmal geschehen ist, weiß ich nicht, was ich in der Sache thun könnte.“
Prati sann einen Augenblick nach und dann sagte er: „Sie könnten vielleicht dem Untersuchungsrichter ein Wort schreiben. Sie brauchten in dem Briefe nur zu wiederholen, was Sie eben gesagt haben, nämlich: daß Sie Ihre Zustimmung zur Vermählung Ihrer Schwester einfach deßhalb noch nicht gegeben hätten, weil Herr Büchner durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände in den Verdacht gerathen sei, eine unehrliche Handlung begangen zu haben. Sie selbst wären der Ansicht, daß der Verdacht ein unbegründeter sei, und nähmen an, daß auch der Gerichtshof sich in diesem Sinne aussprechen würde. Jedenfalls wollten Sie den Herrn Untersuchungsrichter darauf aufmerksam machen, daß Ihre augenblickliche Haltung Herrn Büchner gegenüber keineswegs einen Verdacht gegen diesen in sich schließe, und Sie im Gegentheil hofften, ihn bald als Ihren Schwager begrüßen zu können.“
„Den Brief will ich schreiben, “ sagte Rawlston, augenscheinlich befriedigt, irgend etwas zur Beruhigung seines Gewissens thun zu können. „Und um Ihnen zu zeigen, daß ich bereit bin, ganz in Ihrem Sinne zu handeln, bitte ich Sie, das Schriftstück selbst aufzusetzen und mir morgen früh zur Unterschrift vorzulegen. Sind Sie nun zufrieden mit mir? Sehen Sie nun ein, daß mein Benehmen durch keinerlei Feindseligkeit gegen Büchner, sondern nur durch berechtigte Fürsorge für meine Schwester beeinflußt ist?“
„Sie handeln wie ein Ehrenmann, Herr Rawlston, und ich hatte nichts Anderes von Ihnen erwartet. Ich werde Ihnen den Brief morgen früh auf Ihr Zimmer senden, denn es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Die Verhandlungen sind, wie ich erfahre, auf übermorgen angesetzt.“
Der verhängnißvolle Tag war gekommen, und Büchner stand vor den Schranken des Gerichts, das über sein Schicksal entscheiden sollte. Sein Aeußeres machte einen günstigen Eindruck. Seine Kleider saßen zwar etwas schlotterig auf dem abgemagerten Körper, aber es waren die Kleider eines Mannes aus der guten Gesellschaft, und daß Büchner dazu gehörte, das sah man sofort. Er trat ohne Aengstlichkeit und ohne Uebermuth auf: bescheiden und ernst. Das Gesicht war blaß, der Mund fest geschlossen, und die großen Augen hatten einen traurigen und gleichzeitig unverzagten Blick. Der Mann sah sicherlich nicht wie ein gemeiner Verbrecher aus! – Das hatte sich schon der Untersuchungsrichter gesagt, und in den Akten war von der guten Haltung des Angeklagten während des Verhörs gesprochen; das sagten sich jetzt auch die Mitglieder des Gerichtshofs, als sie in den öden Saal traten. – Derselbe war nämlich ganz leer. Die Freunde und Bekannten Büchner’s hatten unter einander verabredet, Keiner solle den Gerichtsverhandlungen beiwohnen. Sie wollten Büchner [472] ersparen, in einer so bedrängten Lage von Denjenigen gesehen zu werden, mit denen er Jahre lang frei und freundschaftlich verkehrt hatte und hoffentlich bald wieder verkehren würde. Nur in einer Ecke des Zuschauerraumes saß ein einzelner Herr, der sich so klein wie möglich machte, den bebrillten Kopf tief gebeugt hielt und eifrig schrieb: der Berichterstatter des „North China Herald“.
Das Verlesen der Anklageschrift, das Verhör des Angeklagten, das Vernehmen der Zeugen, die Reden des öffentlichen Anklägers und des Vertheidigers, die Darlegung des ganzen Falles durch den Präsidenten endlich: alles Dies nahm viel Zeit in Anspruch. Das Verfahren hatte um zehn Uhr begonnen – nun war es ein Uhr. Büchner sah zum Erbarmen aus: todtenblaß mit fieberhaft leuchtenden Augen. – Der öffentliche Ankläger war sehr gelinde mit ihm umgegangen, aber der Präsident hatte gewissenhaft seine Pflicht erfüllt, ohne jede Voreingenommenheit Alles abzuwägen, was für und gegen die Anklage sprach, und dabei hatte sich Büchner eigentlich zum ersten Male klar gemacht, wie schwer, ja wie berechtigt der Verdacht sei, der auf ihm lastete. Seine Freunde, Prati besonders, hatten seine Unschuld als etwas so Selbstverständliches behandelt, daß auch er schließlich dazu gekommen war, seine Freisprechung als zweifellos zu betrachten. Bei der kalten, geschäftsmäßigen Zusammenstellung aller Momente, die dafür sprachen, daß Büchner der Dieb sei, überlief es ihn kalt. Wie wenn er schuldig befunden würde, schuldig eines Diebstahls? – Er konnte den Gedanken nicht ausdenken; er war zu schrecklich. Es summte ihm in den Ohren, es schwirrte ihm vor den Augen. Er schloß die Lider, und da erhob sich dicht vor ihm und schwebte auf und nieder der in Phosphorlicht bläulich leuchtende Stern, zu dem er wochenlang allnächtlich empor geblickt hatte; und seine Ohren vernahmen das Vorbeirauschen des dunkeln Wussong, der sich zu seinen Füßen dem unermesslichen Meere zuwälzte. Das schimmernde Licht erblasste, das summende Getöse verstummte; es wurde schwarz und still um ihn her. Er saß noch eine Weile, deren Dauer er nicht mehr ermessen konnte, mit geschlossenen Augen. Endlich schlug er sie wieder auf. Vor ihm stand sein Rechtsanwalt mit einem feuchten Taschentuch in der Hand, das nach Aether roch. – Büchner fühlte eine erfrischende Kühle an den Schläfen. Er blickte langsam, blöde um sich. Der Saal war leer; der Gerichtshof hatte sich zurückgezogen.
„Fassen Sie sich, Herr Büchner, haben Sie guten Muth!“ sagte der Advokat.
Gleich darauf öffnete sich eine Thür vor ihm, und die Richter erschienen wieder.
„Nichtschuldig!“
Mehr hörte er nicht. Er nahm alle Kraft, die er besaß, zusammen. Er wollte sich nicht ein zweites Mal schwach zeigen.
„Ein Glas Brandy,“ murmelte er. Der Advokat nahm ihn am Arm und führte ihn aus dem Gerichtssaal ins Freie.
Dort sah er sich plötzlich von einer jubelnden Menge umringt: „Hurrah für den alten Büchner!“ Zwanzig Hände streckten sich ihm entgegen; Prati, der erregbare Südländer, weinte laut und sprach in seiner Aufregung italienisch. In der ganzen Versammlung war nur ein Gesicht, das nicht freudig bewegt war: das des Freigesprochenen. Dieser blickte stumm und anscheinend theilnahmlos um sich und sagte endlich leise: „Bitte, meinen Chair.“ Der Tragstuhl war sogleich bereit, und die vier starken Kulis trabten mit ihrer Last davon.
„Wohin, Master?“
„Zu Frau Onslow!“
Als er durch den Garten getragen wurde, der vor Frau Onslow’s Hause lag, erblickte er auf der Veranda die lichte Gestalt Edith’s. Sie eilte ihm entgegen, aber einige Schritte vor ihm blieb sie stehen und wurde so bleich wie er.
„O Georg, o Georg! Ist es möglich? Sprich! Sag’, daß ich mich irre!“
Aber er konnte nicht sprechen, es war ihm, als müsse er ersticken. – „Meine Edith, meine einzig geliebte, gute, arme Edith!“ brachte er endlich hervor. Da brach das Mädchen mit einem leisen Aufschrei zusammen. Ihre Ohnmacht gab ihm seine Kraft wieder. Er nahm sie und trug sie auf die Veranda, und in demselben Augenblick erschien auch Frau Onslow.
„Freigesprochen!“ sagte Büchner kurz, und dann bemühte er sich mit Frau Onslow um die Ohnmächtige.
„Lassen Sie uns einen Augenblick allein,“ sagte diese ruhig; „das wird schnell vorübergehen. – Rufen Sie das Kammermädchen; sie soll kaltes Wasser und Eau de Cologne bringen.“
Büchner entfernte sich schleunigst und that, wie ihm geheißen war. Dann sah er am äußersten Ende der Veranda, wie die zwei Frauen mit der Leidenden beschäftigt waren; aber er wagte sich nicht in ihre Nähe. Die Kammerfrau kam und ging. Frau Onslow drehte ihm beharrlich den Rücken und verdeckte durch ihre breite Gestalt die vor ihr liegende Edith. Endlich wandte sie sich um, und durch ein freundliches Zeichen mit dem milde lächelnden Haupte beschied sie Büchner in ihre Nähe. Vor ihm, mit aufgelösten, feuchten Haaren und bleichem Antlitz, aber mit einem Ausdruck innigen Glückes in den großen Augen, lag seine Braut.
„Du böser Mann,“ sagte sie, „wie Du mich erschreckt hast!“
„Aber womit denn, mein Kind? Ich begreife nicht.“
„Du sahst aus, als ob man Dich verurtheilt hätte.“
„Um Gottes willen! Sag’ das nicht. – Wie konntest Du es nur denken?“ Er fuhr schaudernd zusammen.
„Nun ist Alles gut. Gieb mir Deine Hand, mein guter, alter, großer Georg.“
[485] Einen Monat lang schien es, als ob Alles gut werden wollte. Büchner’s Freunde wetteiferten während dieser Zeit mit einander, ihm zu zeigen, daß er ihr Vertrauen nicht verloren habe. Er empfing zahlreiche Einladungen von ihnen, bis bekannt wurde, er fühle sich noch angegriffen von der Aufregung der letzten Wochen und wünsche bis zu seiner Verheirathung zurückgezogen zu leben und nur mit seiner Braut und Frau Onslow zu verkehren. Das fand man in Ordnung und ließ ihn unbehelligt. Der Einzige, der sich nicht aus seiner Nähe vertreiben lassen wollte, war Prati, der sich auch mit Frau Onslow befreundet hatte und der keinen Tag vorübergehen ließ, ohne mit Büchner in dessen oder in Frau Onslow's Wohnung zusammenzutreffen.
Prati zeigte sich eifrig bemüht, eine Versöhnung zwischen Rawlston und Büchner herbeizuführen. Aber in dieser Beziehung scheiterte alle Beredtsamkeit an Büchner’s entschieden ablehnender Haltung. Hätte sich Edith mit ihm verbunden, so wäre es den Beiden vielleicht gelungen, Büchner’s Starrsinn zu beugen, aber das junge Mädchen stand auf Seiten ihres Verlobten. „James hat sich zu schlecht benommen,“ sagte sie. „Es ist unmöglich, daß Georg ihm jetzt schon verzeihe. Heute könnte es sich doch nur um eine Scheinversöhnung handeln. Ich selbst möchte meinem Bruder noch nicht wieder gegenübertreten. Später vielleicht, aber heute nicht.“
„Aber mein liebes, gnädiges Fräulein, seien Sie doch nicht so hart,“ entgegnete Prati. „Dem reuigen Sünder gegenüber soll man Barmherzigkeit üben. Und wenn Sie wüßten, wie reumüthig Ihr armer Bruder ist! Sie sind doch eine gute Schwester! Sehen Sie denn nicht, daß Sie ihn unglücklich machen, daß Sie ihm seine Stellung hier verderben? Denn keiner von Büchner’s Freunden will mit ihm umgehen, so lange Sie nicht mit ihm verkehren.“
„Das thut mir leid,“ antwortete Edith, „aber er hat sich zu schlecht benommen. Bedenken Sie doch, daß er mich gewaltsam von Georg losreißen wollte. Wie konnte er ihn je eines Diebstahls für fähig halten! – Nein, es geht wirklich nicht! Wir können vorläufig nicht zusammentreffen.“
„Und der Brief, den er an den Untersuchungsrichter geschrieben hat? Zeigt der nicht deutlich, was er von Büchner stets gehalten?"
„Lieber Herr Prati, lassen wir das! Sie haben die besten Absichten. Ich bin Ihnen dankbar für alle Freundschaft, die Sie uns in dieser schweren Zeit erwiesen haben und noch erweisen möchten. Ich bin Ihnen auch für Ihre Freundschaft zu meinem Bruder dankbar. Aber Alles, was Sie sagen und sagen konnten, macht nicht ungeschehen, daß James mir ins Gesicht gesagt hat, Georg sei ein Dieb. Ich wünsche, der Tag möge bald kommen, wo ich das vergessen habe; heute [486] wäre es mir unmöglich, nicht daran zu denken, wenn ich ihn sähe; und so lange ich dies fühle, ist es besser, wir gehen ein Jeder unsere eigenen Wege.“
Rawlston fühlte sich so unglücklich über die Wendung, welche die Dinge genommen hatten, daß er eines Tages den Entschluß faßte, China auf längere Zeit zu verlassen. Es schmerzte ihn, daß er an dem Tage der Verheirathung seiner Schwester in Shanghai sein sollte, ohne der Vermählung beizuwohnen, und er bereitete sich darauf vor, nach Amerika abzusegeln. Dort und in Europa wollte er ein Jahr oder länger verweilen. Während seiner Abwesenheit überließ er seinen Vertrauensmännern, den Herrn Wallice und Prati, die Leitung des Geschäfts. Er wußte, daß er sich auf die Sachkenntniß, Vorsicht und Ehrlichkeit dieser bewährten Diener seines Hauses vollständig verlassen konnte. Zwei Tage vor der Abreise schrieb er einen herzlichen Brief an Edith. Er sagte darin: er wäre sich nicht bewußt, ihr ein Unrecht zugefügt zu haben. Was er gethan, das sei aus Liebe für sie, aus Furcht, sie könne unglücklich werden, geschehen. Wenn er sie dadurch beleidigt habe, so betrübe ihn das in tiefster Seele, denn es lebe Niemand auf der Welt, der ihm seine Schwester je ersetzen könnte; sie werde in ihm stets einen treuen Bruder finden, und er bäte sie, ihm eine gute Schwester zu bleiben.
In der Dunkelheit ließ sich Edith durch Frau Onslow zu ihrem Bruder begleiten. Tief verschleiert, so daß sie von den Dienern nicht erkannt wurde, betrat sie sein Zimmer, während Frau Onslow in einem Nebengemach auf sie wartete. Sie fiel ihm um den Hals und sagte:
„Nur wenige Worte, James. Zwischen uns Beiden kann kein Haß leben. Ich bin und bleibe Deine treue Schwester. Aber das darf heute Niemand wissen als Du und ich und Frau Onslow. Lebe wohl! Auf Wiedersehen! Möge es Dir nur gut gehen!“
„Ein Wort, Edith,“ sagte Rawlston.
„Nein, James, laß mir meinen Frieden! Es ist unrecht von mir, daß ich ohne Georg’s Erlaubniiß zu Dir gekommen bin. Aber ich konnte nicht anders; es war mir unmöglich, Dich scheiden zu sehen, ohne mich mit Dir versöhnt zu haben. Aber weiteres Unrecht will ich nicht thun. Also lebe wohl, mein lieber, lieber Bruder!“ – Sie umarmte ihn noch einmal. „Schreibe an Georg, aber sprich nicht von unserer Zusammenkunft!“ Und gleich darauf war sie verschwunden. – Der Auftritt hatte kaum zwei Minuten gedauert.
Zwei Tage später brachte Prati dem langen Holländer einen Brief. Dieser erkannte auf der Adresse die Handschrift Rawlston’s und behielt das Schriftstück unentschlossen in der Hand, die leise zitterte.
„Nun, lesen Sie nur! Unangenehmes enthält das Schreiben nicht. so viel ist gewiß. Rawlston ist heute früh nach Kalifornien abgesegelt.“
Darauf erbrach Büchner den Brief. Derselbe enthielt folgende Zeilen:
„Geehrter Herr! Ich will Shanghai nicht verlassen, ohne Ihnen zu Ihrer bevorstehenden Vermählung mit meiner Schwester meine Glückwünsche darzubringen. Das Schicksal hat Sie in letzter Zeit hart angegriffen; aber indem es Ihnen die Liebe Edith Rawlston’s gab, war es gütig für Sie, und dessen freue ich mich. Glauben Sie an meine unveränderliche freundschaftliche Gesinnung. – Aufrichtig der Ihrige J. R.“
In Büchner’s Gesichte bewegte sich während des Lesens dieses Briefes keine Muskel. Prati, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, schien etwas Anderes erwartet zu haben und sagte verdrießlich:
„Es ist wirklich nicht leicht, Sie zufrieden zu stellen.“
Büchner sah seinen Freund eine Weile groß und stumm, abwesenden Blickes an, dann erwiederte er leise: „Es kann nie wieder gut werden.“ Daraus fuhr er, wie im Selbstgespräch, fort: „Heute Nacht träumte mir, ich sei verurtheilt worden und säße im Gefängniß. Das war auch nicht schlimmer, als was da ist. – Am liebsten wäre ich ganz allein, weit von hier, und sähe Niemand, der mich kennt.“
„Wie können Sie so undankbar und ungerecht sein! Auch Edith Rawlston möchten Sie nicht mehr sehen?“
„Es wäre besser für sie, ich sähe auch sie nicht wieder,“ sprach er finster.
Er erhob sich langsam, strich sich mit der Hand über die heiße Stirn und näherte sich dem Buffet, auf dem die Flasche stand. Prati folgte seinen Bewegungen mit aufmerksamen Blicken. Der lange Holländer nahm wieder einmal eine starke Dosis der von ihm beliebten Medicin gegen Unruhe und Traurigkeit.
„Sie trinken reinen Brandy bei dem heißen Wetter?“ bemerkte Prati. „Thun Sie das nicht, Sie schaden Ihrer Gesundheit. Ich trinke nie etwas Aufregenderes als Rothwein und Wasser.“
Büchner hatte das Glas bedächtig geleert und athmete befriedigt auf. „Ich trinke auch nichts Aufregendes, lieber Freund,“ sagte er in einem ganz anderen, in einem freundlichen Tone – „Beruhigendes!“
„Aber Brandy kann Sie doch nicht beruhigen!“ Der Andere nickte verschiedene Male und blinzelte dabei verständnißvoll mit den Augen, worauf Prati sich mit sorgenschwerem Gesicht entfernte. Die Zuneigung, die der Italiener zu dem langen Holländer gefaßt hatte, war geradezu rührend, und dabei war Prati nicht etwa ein Mensch, der sein Herz auf der Hand Jedermann entgegentrug; er war im Gegentheil ein recht zurückhaltender kleiner Mann, der wohl wegen seiner Höflichkeit und Gefälligkeit beliebt, aber eigentlich, ehe seine Zuneigung zu Büchner so zu Tage getreten war, keinen intimen Freund im ganzen „Settlement“ gehabt hatte.
Wenige Tage später fand die Vermählung zwischen Edith Rawlston und Georg Büchner in Frau Onslow’s Hause statt. Auf Büchner’s Wunsch waren nur wenige Einladungen zu der Feier ausgesandt worden, aber Prati hatte dabei natürlich nicht gefehlt. – Das junge Paar machte eine Hochzeitsreise von vier Wochen nach Nagasaki und kehrte sodann nach Shanghai zurück. Prati und Frau Onslow benutzten diese Zeit, um die neue Wohnung einzurichten, die Büchner in einem stillen Viertel der fremden Niederlassung gemiethet hatte. Es war ein hübsches, neues, kleines Haus, das Prati vor etwa sechs Monaten gekauft und das er seinem Freunde zu einer verhältnißmäßig billigen Miethe überlassen konnte. Er hatte nämlich mit dem Ankauf des Hauses ein gutes Geschäft gemacht, und es lag ihm besonders daran, einen ordentlichen Miether dafür zu finden. Er konnte sich deßhalb mit einem bescheidenen Zins begnügen. Büchner war mit dieser Anordnung wohl zufrieden, denn er mußte sich zunächst einfach einrichten. Das kleine Vermögen von achttausend Dollars, das er sich erspart hatte, lag auf dem amerikanischen Konsulat „zur freien Verfügung der Herren Rawlston & Co.“, und er hatte, seitdem er seine alte Stelle verlassen, noch keine Beschäftigung gefunden. Das machte ihm jedoch wenig Sorge. denn er hatte nur zu wählen zwischen einem halben Dutzend guter Anstellungen, die ihm angeboten waren, und wußte, daß er jeden Tag mit Leichtigkeit so viel verdienen könnte, wie er gebrauchte, um mit Edith ohne Geldsorgen zu leben. Einstweilen machte er ruhig von dem Kredit Gebrauch, den Prati ihm als etwas ganz Selbstverständliches eröffnet hatte. Alle diejenigen seiner Bekannten, die wohlhabend genug dazu waren, hätten dasselbe gethan, denn man war damals in Geldsachen nicht kleinlich in Shanghai, wo das Geschäft blühte und das Geld sozuagen auf der Straße lag.
Edith’s Mitgift betrug fünfzigtausend Dollars. Sie hatte darüber freie Verfügung, denn dies Geld war ihr Antheil aus der Hinterlassenschaft der verstorbenen Eltern. Büchner hatte mit seiner Braut nie ein Wort über deren Vermögensverhältnisse gewechselt. Erst als es sich darum handelte, den Heirathskontrakt aufzusetzen, kam die Sache zur Sprache. Der amerikanische Konsul, ein scharfer Geschäftsmann, stellte nach kurzer Unterredung mit Büchner und dessen Braut fest, wie die Sachen lagen: Edith besaß, wie gesagt, bare fünzigtausend Dollars – Büchner schuldete an Prati etwa dreitausend. Das Mißverhältniß war so groß, daß Büchner darüber eine gewisse Beschämung empfand und dem Konsul, der den Heirathskontrakt aufsetzen wollte, erröthend sagte, selbstverständlich werde das Vermögen seiner Frau deren Privateigenthum bleiben.
„Also keine Gütergemeinschaft?“ fragte der Konsul schnell.
„Nein, sicherlich nicht!“
Edith erhob dagegen zunächst lebhaften Einspruch. Der Konsul schwieg dazu und saß, die Augen geschlossen, anscheinend theilnahmlos da, während das junge Mädchen mit Entrüstung den Gedanken zurückwies, daß zwischen ihr und Büchner in Zukunft nicht Alles gemeinschaftlich sein sollte. Aber Frau Onslow hatte richtiges Verständniß für die Empfindungen ihres Günstlings und sagte ruhig und ernst: „Edith, Du mußt nachgeben. Was Herr Büchner vorschlägt, gereicht ihm zur Ehre und ist recht. Erschwere ihm nicht, seine Pflicht zu thun.“ Darauf wurde die Angelegenheit so geregelt, wie Büchner es gewünscht hatte.
[487] Das junge Ehepaar hätte nun mit den Zinsen der fünfzigtausend Dollars, wenn auch einfach, so doch bequem leben können; denn Edith, die als Mädchen sehr anspruchsvoll gewesen war, schien die bescheidenste Frau werden zu wollen; aber es erhob sich eine neue Schwierigkeit. Das Geld war bei Edith’s Bruder, im Hause Rawlston & Co. niedergelegt, und Büchner weigerte sich, auch nur einen Cent von dem Kapital oder von den Zinsen darauf zu entnehmen. Prati, Herr und Frau Onslow und Edith erklärten das für thöricht und redeten sich müde, um Büchner zur Vernunft zu bringen. Aber es zeigte sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, daß Büchner außerordentlich eigensinnig sein konnte.
„Unter keiner Bedingung darfst Du einen Heller von dem Gelde nehmen,“ sagte er. „Es ist dies mein ausdrücklicher Wille.“
Und davon war er nicht abzubringen. Ja, er zeigte sich bald so erregt, daß die Vier, die auf ihn einredeten, eingeschüchtert wurden und das Gespräch abbrachen.
„Das fehlte gerade noch!“ murmelte Büchner ergrimmt vor sich hin. „Ich hoffe im Stande zu sein, meine Frau auch ohne das Rawlston’sche Vermögen zu ernähren. Jedenfalls will ich es versuchen und für meine Person lieber Hungers sterben, als das Geld anrühren.“
Edith war einen ganzen Tag über diesen Auftritt unglücklich. Wie konnte Georg nur so heftig sein! Er hatte im Zorn gesprochen, und die Blicke, die er auf sie geworfen, waren feindlich gewesen. Aber die Liebe verzeiht Altes! Ja, Georg hatte ganz Recht. Edle, männliche Gesinnung machte ihm den Gedanken verhaßt, daß es scheinen könne, er lebe auf Kosten seiner Frau. Es war Unrecht gewesen, ihm dies nur einen Augenblick zuzumuthen.
Frau Onslow war zu gut, um sich über diese Sinnesänderung von Edith nicht zu freuen. Sie streichelte der schönen jungen Frau sanft die Wangen und sagte: „Du hast ganz Recht; thue oder verlange nie etwas, was Deines Mannes Stolz verletzen könnte. Er ist in dieser Beziehung krankhaft empfindlich. Das ist aber kein Unglück, und mit der Zeit wird sich das wieder ändern. Du bist jung und kannst es abwarten.“
Der Auftritt schien bald aus Aller Gedächtniß geschwunden zu sein; jedenfalls sprach Niemand mehr davon. Einstweilen lebte Büchner von dem Gelde, das Prati unaufgefordert zu seiner Verfügung stellte.
In dem neuen kleinen Büchner’schen Hause sah es, Dank Frau Onslow’s und Prati’s Bemühungen, wohnlich und hübsch aus. Büchner besaß von Alters her eine gute Einrichtung für zwei Zimmer. Weder er noch Edith waren während der Verlobungszeit in der Stimmung gewesen, die Einkäufe zu machen, welche zur Umwandlung der Junggesellenwirthschaft ist eine häusliche Einrichtung für Mann und Frau nothwendig waren. Man hatte übrigens damals in Shanghai keine große Wahl. Alle Welt besaß dieselben schwarzen, schweren Kanton-Möbel im Salon, dieselben hellbraunen Ringpo-Betten, Tische und Stühle im Schlafzimmer, und dieselben Pinang-Sessel auf der Veranda. Es handelte sich nur darum, ob man das Allerbeste oder weniger Gutes nehmen wollte. Darüber entschied der Geldbeutel allein, und Büchner hatte sich deßhalb damit begnügen können, Prati und Frau Onslow die Summe zu nennen, die er zu deren Verfügung stellen konnte, um Alles anzuschaffen, was noch an Möbeln und Wäsche zur Vervollständigung der Einrichtung gebraucht wurde.
Es war erstaunlich, wie gut Frau Onslow und Prati eine verhältnißmäßig geringfügige Summe angewandt hatten, denn es fehlte in der neuen Einrichtung an nichts Nothwendigem – und alles Vorhandene war vom Besten. Die Möbel für den Salon, die Prati besorgt hatte, waren zu einem Spottpreise erstanden worden. Im gewöhnlichen Handel wären sie das Doppelte und Dreifache des von Prati dafür gezahlten Preises werth gewesen. Dieser hatte Frau Onslow mitgetheilt, als sie sich bei Ankunft der prächtigen Tische, Schränke und Stühle etwas beunruhigt gezeigt, er habe einen Gelegenheitskauf machen können, bei einem ruinirten Möbelhändler. Frau Onslow war darüber höchlich erfreut und machte dabei die philosophische Bemerkung, daß des Einen Unglück oftmals des Anderen Glück sei. Als es schließlich an die Ausschmückung der Wohnung kam, leisteten die hübschen Hochzeitsgeschenke: alte Vasen, Pariser Uhren, japanische und chinesische Kabinette, französische Lampen und silberne Leuchter und Pokale aus Kanton – vortreffliche Dienste, und Frau Onslow und Prati konnten sich rühmen, gute Arbeit gethan zu haben, als sie am Tage vor Büchner’s Rückkehr den letzten Rundgang durch die niedliche Wohnung machten und Alles daselbst in schönster Ordnung fanden.
Die „Costarica“ aus Nagasaki langte rechtzeitig im Hafen von Shanghai an. Prati hatte sich an Bord begeben, um Büchners abzuholen, während Frau Onslow die Heimkehrenden in der neuen Wohnung erwarten wollte. Die Freude des Wiedersehens war jedoch nicht groß. Büchner schien wenig verändert, aber er hatte eben vor seiner Hochzeit schlecht genug ausgesehen, und seine Freunde hatten erwartet, er werde während der Reise sein altes gutes, offenes Gesicht wieder bekommen, das überall, wo es sich gezeigt, Wohlwollen und Vertrauen erweckt hatte. – Nein. Das alte Gesicht war nicht wiedergekommen. Büchner drückte Prati herzlich die Hand, als dieser ihn bewillkommte, aber seine Züge blieben ernst und starr, und sein ganzes Aussehen war das eines Mannes, der eine schwere Krankheit überstanden und sich noch lange nicht von derselben erholt hat. Noch trauriger fühlten sich Büchner’s Freunde durch Edith’s Anblick berührt. Aus dem heiteren frischen Mädchen mit den lachenden Augen und dem lachenden Munde war eine stille Frau geworden, der die Thränen in die Augen traten, als Frau Onslow sie umarmte und sie „meine liebe Tochter“ nannte.
Prati und Frau Onslow sahen sich betroffen an, und die Freude, die sie sich davon versprochen hatten, den Neuvermählten die Einrichtung der Wohnung in allen Einzelheiten zu zeigen, war ihnen gründlich verdorben.
„Was mag vorgegangen sein?“ fragte Prati Frau Onslow.
Die gute Dame zuckte die Achseln; sie stand vor einem Räthsel: zwei junge Leute, die sich aus reiner Liebe geheirathet hatten und die einen kurzen Monat nach der Hochzeit so gemessen und ernst dreinschauten, wie Georg und Edith! – Es war unerklärlich. Sie beschloß, Edith in die Beichte zu nehmen, und that dies auch schon am nächsten Tage, als die junge Frau ihrer alten Freundin einen Besuch abstattete. Aber das diplomatische Verhör brachte keine vollkommene Aufklärung.
„Nun, mein Kind, wie war es in Nagasaki?“
„Es ist das lieblichste Land der Erde. die schöne Bai, die freundliche, helle Stadt, die herrliche Umgegend, die artigen Leute! Ich hätte immer dort bleiben mögen.“
„Und wie hat es Georg gefallen?“
„Ausgezeichnet.“
„Ich finde, er sieht noch immer etwas niedergeschlagen aus.“
„Ach ja, leider …“
„Er war doch freundlich gegen Dich?“
„Freundlich? – Ein Engel ist er an Herzensgüte; der beste Mann der Welt!“
„Es freut mich und beruhigt mich, Dich so sprechen zu hören; denn offen gesagt, ich finde, daß auch Du nicht ganz wohl aussiehst.“
Darauf antwortete Edith nicht.
„Fehlt Dir etwas, mein Kind?“
Nein, mir fehlt gar nichts … nur … nur … es macht mich natürlich traurig, Georg noch immer so still und ernst zu sehen. Aber nicht wahr? Das muß sich doch mit der Zeit ändern, und er wird wieder der Alte werden?“
„Natürlich,“ beruhigte Frau Onslow. „… Also sicher, meine liebe Edith, Du verheimlichst mir nichts? Er ist gut gegen Dich? Du bist glücklich?“
„Er ist der beste Mann der Welt.“
Das war soweit ganz befriedigend – aber Frau Onslow hatte doch das Gefühl, daß ihr irgend etwas verschwiegen wurde. Sie tröstete sich damit, daß dies ihrem Scharfsinn nicht lange verborgen bleiben könnte.
Bald nach seiner Rückkehr in Shanghai hatte Büchner sich um die gut bezahlte Stelle eines ersten Buchhalters in dem Hause des Herrn Francis Morrisson beworben und diese bekommen.
Er war infolge dessen täglich von Morgens neun bis Nachmittags fünf Uhr von seiner jungen Frau getrennt, denn er nahm sein zweites Frühstück in einem kleinen Zimmer ein, das ihm sein neuer Prinzipal in dem geräumigen Geschästshause zur Verfügung gestellt hatte. Seine Kollegen frühstückten gemeinschaftlich in der [488] „Junior mess“ (Tisch für die jüngeren Mitglieder des Hauses) oder gingen nach dem nahegelegenen Klub, wo sie Freunde und Bekannte antrafen. Die einsamen Mahlzeiten Büchner’s wurden bald vielfach besprochen. „Er trinkt,“ so hieß es. – Man bedauerte seine arme Frau, die natürlich darunter zu leiden haben mußte, und im Verhältniß, wie die Sympathie der Gemeinde für diese wuchs, verminderte sich das Wohlwollen für Büchner. Dazu kam, daß dieser in schroffer Weise gegen die ersten Regeln der Höflichkeit, die in der kleinen Kolonie streng beobachtet wurden, verstoßen hatte. Die verheiratheten Frauen und Männer warteten noch immer vergeblich auf den Antrittsbesuch der Neuvermählten. Diese ließen sich nirgends blicken. Frau Onslow, die überall umher kam und sich angelegen sein ließ, freundliche Gesinnungen für das junge Paar zu erwecken, bemühte sich vergebens, den groben Etiquettefehler damit zu entschuldigen, daß Büchner noch nicht wohl genug sei, um in Gesellschaft gehen zu können. Man bezeichnete das als eine leere Ausrede. Ein Mann, der täglich seinen Geschäften obliegen könne, wäre auch in der Lage, seinen gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen. Er wäre das schon seiner Frau schuldig! Aber es sei klar, daß er sich nicht sonderlich um deren Wohlergehen kümmere. Früher wäre es eine Freude gewesen, sie anzutreffen, Alles an ihr hätte damals gelacht und gelebt, jetzt thäte es Einem weh, wenn man ihr vergrämtes Gesichtchen sähe.
Büchner bekam dies und manches Aehnliche durch Frau Onslow wieder zu hören, denn wenn seine Freundin ihn auch den anderen Mitgliedern der Kolonie gegenüber entschuldigte, so theilte sie in ihrem Herzen vollkommen die Ansicht von Büchner’s Anklägern und bemühte sich, diesen zu veranlassen, das Versäumte nachzuholen.
„Ich begreife nicht,“ sagte sie, „daß Sie den Leuten die kleine Genugthuung nicht geben wollen. Setzen Sie sich einen Nachmittag in meinen Wagen und machen Sie die Runde von Shanghai: in drei Stunden und mit einem oder zwei Dutzend Visitenkarten haben Sie Alles gethan, was man von Ihnen verlangt.“
„Später!“ antwortete Büchner kurz.
Frau Onslow besaß die Ausdaner großer Redner. Sie wurde nicht müde, wiederholt auf denselben Gegenstand zurückzukommen, bis Büchner eines Tages ungeduldig wurde.
„Ich weiß nicht, weßhalb Sie mich zwingen wollen, zu den Leuten zu gehen, die mich doch nur aus Gnade und Barmherzigkeit empfangen. Verwünscht sei ihr Mitleiden! Oder verlangt Edith etwa danach.“
Edith äußerte überhaupt nur noch selten einen Wunsch. Sie war eine zurückhaltende, stille Frau geworden, die über nichts klagte, die auf Frau Onslow’s Frage über die Ursachen ihrer Traurigkeit ausweichende Antworten gab, aber die schon bei verschiedenen Gelegenheiten von ihrer alten Freundin mit rothgeweinten Augen angetroffen worden war.
„Was fehlt Dir?“ fragte Frau Onslow. „Habe doch Vertrauen und sage mir, was vorgeht. Ich bin eine alte erfahrene Frau, vielleicht kann ich helfen.“
„Es fehlt mir nichts,“ antwortete Edith. „Ich bin nur traurig, weil ich glaube, daß Georg kränkelt. Der große Mann ißt nicht mehr als ein kleines Kind, und dann kann er des Abends nie zur Ruhe kommen, und des Morgens, wenn er aufsteht, ist er todtmüde und niedergeschlagen. Ich weiß nicht, wie das enden soll. Ich thue ihm zu Liebe, was ich ihm an den Augen absehen kann, und er ist so dankbar dafür, so dankbar, liebe Frau Onslow! Aber ich sehe wohl, daß ich ihn nicht glücklich mache. Ist das nicht Grund genug, um traurig zu sein?“
Die Kolonie von Shanghai lernte bald, sich ohne Herrn Büchner und seine Frau behelfen. Hier und da fiel noch ein unfreundliches Wort über ihn, ein Ausdruck des Bedauerns über sie, aber im Allgemeinen hörte man auf, sich um die Beiden zu kümmern. Langsam jedoch, einer schleichenden bösen Krankheit gleich, trat der alte Verdacht gegen Büchner wieder hervor. Die Gesellschaft suchte nach einem Grund, um den verschmähen zu können, der sich so wenig aus ihr machte, und so war es wohl zu erklären, daß manchmal eine entfernte Andeutung laut wurde: ob Büchner nicht vielleicht ein schlechtes Gewissen habe, da er sich in der Gesellschaft anständiger Leute nicht mehr wohl fühle. Es waren die Böswilligen allein, die so sprachen, aber es fand sich auch unter den Gutmüthigen Niemand, um den Abwesenden zu vertheidigen. Er hatte eben nach und nach die Sympathien seiner Mitbürger verloren.
Frau Onslow und Prati machten sich deßwegen große Sorge und unterhielten sich häufig und lange über das Los ihrer jungen Freunde. Als die Beiden eines Abends zusammensaßen und das für sie unerschöpfliche Thema wieder aufgenommen hatten, sagte Frau Onslow nach längerem Nachdenken:
„Wissen Sie, Herr Prati, was Büchner fehlt?“
Dieser blickte die Sprecherin etwas verwundert an, denn seit einer Stunde hatten sich Beide den Kopf über diese Frage zerbrochen.
„Ich will es Ihnen sagen,“ fuhr Frau Onslow mit großer Bestimmtheit fort, „es ist mir jetzt klar geworden: Büchner fühlt, daß er in den Augen Mancher doch noch nicht wieder so rein dasteht, wie vor dem unglücklichen Diebstahl. Er wird erst wieder ruhig und froh werden, wenn man den Uebelthäter entdeckt hat. Leider wird das mit jedem Tage unwahrscheinlicher. Die Polizei hat längst aufgehört, auf ihn zu fahnden; selbst melden wird sich der Elende natürlich nicht; daß ein Zufall die Wahrheit ans Licht bringen sollte, ist in hohem Grade unwahrscheinlich – und so fürchte ich denn, daß Büchner sich hier nie wohl fühlen wird. Wir sollten deßhalb darüber berathen, ob es nicht besser wäre, ihn aus einer Umgebung zu schaffen, wo jeder Stein ihn an die dunkle Sache erinnert, und wo er in jedem Gesichte eine stumme Anklage liest. Glauben Sie mir, er traut in dieser Beziehung Niemand: weder Ihnen, noch mir, noch meinem Mann; er traut nicht einmal seiner Frau. Erinnern Sie sich, daß er wiederholentlich Anspielungen auf deren Ohnmacht gemacht hat, als sie einen Augenblick fürchtete, er sei verurtheilt worden. Er hat einmal mit mir darüber gesprochen – nicht etwa ausführlich – das ist ja überhaupt nicht mehr seine Art. Er warf ein paar bittere Worte hin, die ich aber aufnahm, um sie ihm als eine grausame Ungerechtigkeit gegen seinen Engel von Frau vorzuhalten. Ich sagte ihm, Edith sei an jenem Tage ohnmächtig geworden, weil sie gefürchtet hätte, es sei eine Art Justizmord an ihm begangen worden. An seiner Unschuld hätte sie nie eine Sekunde gezweifelt, und sie würde ihren Glauben an ihn bewahrt haben, auch wenn die Richter ihn zehnmal verurtheilt hätten. Er antwortete nicht, aber in seinem Gesicht las ich deutlich die alten Zweifel. Er ist ein halsstarriger Mensch in Allem, was er thut und will, aber nirgends ist sein Trotz unglücklicher für ihn und für die arme Edith, als in seinem Unglauben an das Vertrauen der Menschen zu ihm. Das ist seine ganze Krankheit. Glauben Sie mir: an dem Tage, an dem der Dieb entdeckt sein wird – ein Tag, den wir aber wohl leider nicht erleben werden – erst an dem Tage wird Büchner wieder gesunden.“
Prati hatte still zugehört und schwieg. Der berühmte Onslow’sche Redefluß ergoß sich breit und ruhig. Der Italiener aber schien nicht mehr darauf zu achten. Er blickte sinnend vor sich hin. Nach einer Weile – Frau Onslow hatte den besondern Fall Büchner längst verlassen und sprach gerade von der Liebe im Allgemeinen, nachdem sie sich in einer Reihe sinnreicher Betrachtungen über den Trotz der Männer und die Milde edler Frauen ergangen hatte – nach einer langen Weile unterbrach Prati sie plötzlich.
„Sie irren sich!“
Frau Onslow hatte soeben mit vielem Gefühle ein schönes Gedicht hergesagt, in dem die Allgewalt der Liebe besungen wird, und der unerwartete Widerspruch des Italieners erfüllte sie mit Entrüstung. Sie hatte für eine gute Sache zu kämpfen und sie kämpfte mit Feuereifer. Ihre leidenschaftlichen Worte, die den kleinen Italiener niederschmettern sollten, erfüllten ihn aber nur mit großem Erstaunen, und diese Verwunderung war auf seinem beweglichen Gesicht so deutlich zu lesen, daß Frau Onslow plötzlich unaufgefordert innehielt.
„Verzeihung,“ sagte Prati, die Pause schnell benutzend, „wir verstehen uns nicht mehr. Ich dachte darüber nach, daß Sie gesagt hatten, die Entdeckung des Diebes würde Büchner retten, und da erlaubte ich mir die Bemerkung, Sie irrten sich vielleicht.“
Frau Onslow war schnell wieder besänftigt. „So,“ sagte sie, „das ist in der That etwas Anderes. Aber wie konnte ich glauben, daß Sie jetzt auf etwas antworteten, was ich vor einer halben Stunde gesagt hatte.“
„Ihre Worte hatten tiefen Eindruck auf mich gemacht und mich während der ganzen Zeit beschäftigt,“ erklärte Prati.
Das schmeichelte Frau Onslow. Sie war vollständig versöhnt, und Prati konnte auf geneigtes Gehör bei ihr rechnen. [490] „Weßhalb glauben Sie, daß ich mich irre?“ fuhr sie fort. „Ich bin begierig, Ihre Gründe zu hören.“
Der kleine Italiener blickte an Frau Onslow vorbei zum Fenster hinaus, wie Einer. der seine Gedanken sammeln und gut beisammen behalten will, und sagte mit einem Ausdruck tiefen Nachsinnens: „Um diese Frage zu beantworten, muß ich Ihnen eine kleine Geschichte aus meiner eigenen Erfahrung erzählen. Es ist eine alte Geschichte. Sie ereignete sich vor … vor zwanzig Jahren etwa, als ich noch ein Kind war, und Sie müssen entschuldigen, wenn ich sie vielleicht etwas unklar vortrage. Sie ist mir nicht mehr ganz deutlich im Gedächtniß, aber sie paßt auf den vorliegendett Fall. – Urtheilen Sie selbst.“
Prati sprach langsam, wie Einer, der in seinem Gedächtniß nach etwas sucht, das Jahre lang daraus verschwunden war.
„Es war in Bergamo – ich selbst bin nicht aus Bergamo, ich bin ein Mailänder, aber ich hatte Verwandte in Bergamo, die seitdem gestorben sind und die ich während der Schulferien manchmal besuchte. Was ich Ihnen erzähle, ereignete sich also in Bergamo. Dort lebten zwei Brüder, deren Familiennamen ich vergessen habe. Der älteste hieß Joseph, glaube ich, der jüngste Anselm. Diese Beiden liebten sich zärtlich und waren immer beisammen. Sonst hatten sie nicht viel Freunde, weil sie sich eben um Niemand als um sich selbst kümmerten Da wurde eines Nachts ein großer Diebstahl verübt in dem Erdgeschoß des Hauses, das die Beiden bewohnten. Der Verdacht, das Verbrechen begangen zu haben, lenkte sich auf sie. Weßhalb? Das weiß ich nicht mehr genau – aber es war ein schwerer Verdacht. Der ältere Bruder wurde nur wenig behelligt. Er konnte irgend etwas anführen, was seine Unschuld klar bewies – ein Alibi vielleicht – aber das thut nichts zur Sache. Kurz und gut, der jüngere Bruder allein wurde verhaftet und zur Untersuchung gezogen. Dabei stellte sich nun zwar heraus, daß dieser den Diebstahl wohl habe verüben können, aber weiter nichts, und da seine Vergangenheit rein war, so wollte man ihn auf einen bloßen Verdacht hin nicht verurtheilen und sprach ihn frei. Die beiden Brüder waren, wie gesagt, nicht eben beliebte gesellige Menschen, aber es waren angesehene junge Männer. Sie stammten aus guter Familie, sie waren nicht unbemittelt und hatten vornehme und reiche Verwandte. Diese nun waren stolze Leute und fühlten sich so gekränkt dadurch, daß man ihren Namen in den Zeitungen mit einem Diebstahl in Verbindung gebracht hatte, daß sie ihre Beziehungen zu den beiden Brüdern abbrachen. Am meisten litt natürlich der beargwohnte jüngere Bruder Anselm darunter, dem auch trotz des freisprechenden Urtheils persönliche Kränkungen nicht ganz erspart blieben. Er nahm sich das sehr zu Herzen und wurde schwermüthig. Da war es denn nun rührend, wie Joseph seinen kranken Bruder pflegte. Er hütete ihn wie eine Mutter ihr Kind und wich Tag und Nacht nicht von seiner Seite. Aber alle Sorgen halfen nichts. Anselm wurde kränker und kränker, und der Arzt, der ihn behandelte, fing an, für den Verstand seines Patienten zu fürchten, und sprach dies dem älteren Bruder gegenüber aus.
,Was kann ich thun?‘ fragte Joseph. – ‚Würden Sie eine Luftveränderung anempfehlen?‘
‚Das würde sicherlich nichts schaden, aber ob es viel helfen würde, das bezweifle ich. In dem Zustande, an dem sich Ihr Bruder augenblicklich befindet, wird er sein Leiden überall mit sich schleppen. Es stellen sich schon Wahnvorstellungen bei ihm ein, er glaubt sich wegen des Diebstahls verfolgt. Er bedarf der sorgfältigsten Behandlung, und seine Genesung wird auch unter den günstigsten Umständen eine sehr langsame sein, es sei denn, daß der Dieb entdeckt und Ihr Bruder dadurch vollständig zu Ehren gebracht werde.‘
,Sie meinen, das würde ihn retten?‘
,Ich bin fest davon überzeugt.‘
Darauf ereignete sich nun Folgendes: Am Abend nach dem Essen, als die beiden Brüder wie gewöhnlich allein beisammen waren, begann Joseph eine lange und verwickelte Geschichte, die mit dem Bekenntniß endete, er habe den Einbruch verübt und sei bereit, dies öffentlich zu bekennen, so daß Anselm von jedem Verdacht frei sein werde.“
„Ist es möglich!“ unterbrach Frau Onslow.
„Und wissen Sie, was Anselm darauf that?“ fuhr Prati fort. „Er fiel dem Anderen um den Hals und brach in Thränen aus und rief: ‚Mein armer Joseph, was mußt Du gelitten haben!‘ – ,Das sei Gott geklagt,‘ antwortete Joseph; ‚aber was bleibt nun zu thun?‘ – Da waren sie Beide rathlos. Endlich beschlossen sie, das gestohlene Geld heimlich zurückzuerstatten und sodann auszuwandern. Das Erstere thaten sie auch, zum Anderen kam es aber nicht, wenigstens nicht für Beide. Anselm hatte nicht zugeben wollen, daß sein Bruder sich öffentlich als Schuldigen bekenne. Was ihn gekränkt hatte, sagte er, könne doch nicht wieder gut gemacht werden – bemerken Sie dies wohl, Frau Onslow. Daß er kein Verbrecher sei, dafür zeuge seine Freisprechung, aber daß man ihn unter seinen nächsten Verwandten eines Diebstahls für fähig gehalten, das habe seine Ruhe für alle Zeiten zerstört. Morgen werde er vielleicht eines Mordes angeklagt werden. Warum nicht? Mit demselben Rechte konnte man es jedenfalls thun, mit dem man ihn des Diebstahls verdächtigt hatte. Seine Furcht, man werde ihn eines Tages unschuldiger Weise einer Missethat zeihen, wuchs immer mehr, und zuletzt wurde er geisteskrank und mußte in ein Irrenhaus gebracht werden, wo er bald darauf seinen Leiden erlag. Joseph, der sein kleines Vermögen der Pflege seines Bruders geopfert, und den die Aufregung jener bösen Zeit arbeitsunfähig gemacht hatte, verarmte. Er wanderte nach dem Tode seines Bruders aus – und seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört.“
„Das ist eine merkwürdige Geschichte,“ sagte Frau Onslow nachdenklich. „Aber wie ist es bekannt geworden, daß der ältere Bruder der Dieb war, wenn Anselm das Geheimniß mit sich ins Grab genommen hatte?“
„Das weiß ich nicht mehr genau,“ antwortete Prati. Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Ich glaube, Joseph hatte von einem fernen Welttheile her an einen seiner Verwandten geschrieben und den Sachverhalt aufgeklärt. Sein Gewissen trieb ihn, das Andenken seines verstorbenen Bruders von jedem Makel zu befreien. Sie sehen, er war kein schlechter Mensch.“
„Erlauben Sie!“ sagte Frau Onslow, deren unverfälschte Moral nicht leicht Zugeständnisse machte. „Er mag seinem Bruder gegenüber treu gewesen sein – aber er war ein Dieb. Und ein Dieb ist und bleibt ein schlechter Mensch.“
„Sie haben ganz Recht, Frau Onslow. Aber nicht wahr? Dem reuigen Sünder gegenüber soll man Barmherzigkeit üben. – Und Joseph hatte sein Verbrechen bitter bereut und es zu sühnen versucht. Er hatte das gestohlene Gut wieder herausgegeben, und schließlich war Niemand geschädigt als er selbst.“
„Und sein armer unschuldiger Bruder,“ unterbrach Frau Onslow.
„Ja, das ist wahr,“ sagte Prati mit einem Ton tiefer Entmuthigung. „Aber das war Joseph’s Unglück, nicht seine Schuld. Hätte er geahnt, sein Bruder könne für das von ihm begangene Verbrechen verantwortlich gemacht werden, so wäre es unterblieben. Sie werden mich vielleicht leichtfertig finden, wenn ich bekenne, daß ich eine gewisse Sympathie für den älteren Bruder fühle. Ich denke mir so, daß er kein schlechtes Herz hatte. Er war vermuthlich leichtsinnig, seine moralischen Grundsätze waren nicht von den festesten, und dann trat eine große Versuchung an ihn heran und er unterlag derselben, er strauchelte und fiel. Liebe Frau Onslow! Fallen ist traurig, ist jammervoll – aber es ist verzeihlich. Liegen bleiben ist schlimm! Und wenn Joseph sich nicht wieder ganz erheben konnte, so möchte ich ihn beinahe bemitleiden, denn er machte verzweifelte Anstrengungen, sich wieder emporzurichten.“
Prati’s sanfte Stimme war noch weicher als gewöhnlich geworden, und seine dunklen Augen schimmerten in feuchtem Glanze. Er nahm augenscheinlich lebhaften Antheil an dem Schicksale seines Joseph.
„Kannten Sie den Menschen,“ fragte Frau Onslow, „da Sie ihn so warm vertheidigen?“
„Ich vertheidige ihn nicht, ich versuche es, ihn zu erklären,“ antwortete Prati. „Ich habe ihn niemals gesehen, ich war ein Kind, als die Geschichte sich ereignete. Aber ich erinnere mich noch, daß man ihn als einen wohlthätigen, freundlichen Mann darstellte. Wenn ich vorher sagte, man solle einen gefallenen Menschen nicht unwiderruflich verurtheilen, so sprach ich im Allgemeinen.“
„Nun,“ meinte Frau Onslow, „was mich angeht, so würde ich dem Schuldigen wohl verzeihen können; aber näher treten möchte ich ihm nicht. Es giebt ehrliche Menschen, die unglücklich sind, und die stehen meinem Herzen doch näher als unglückliche Diebe. – Ein Dieb ist ein Dieb – etwas Häßliches. Davon halte ich mich lieber fern.“
[491] Prati und Frau Onslow unterhielten sich fast täglich über Büchner’s Schicksal, und es wurden bei der Gelegenheit oftmals entfernte Gegenstände berührt. Auf manche dieser Themata kamen die Beiden gelegentlich zurück, und so sprachen sie auch noch verschiedene Male von den beiden Helden der Prati’schen Erzählung, Anselm und Joseph. Aber Prati hatte seine Freundin nicht überzeugen können, daß die Entdeckung des Diebes nichts an Büchner’s Gemüthszustand ändern würde. Diese blieb bei ihrer entgegengesetzten Meinung, und Prati gab es schließlich auf, sie zu der seinigen zu bekehren.
„Wir wollen nicht mehr darüber sprechen,“ sagte er; „ich sehe, wir können uns doch nicht verständigen.“
„Ich möchte nur, daß wir den Dieb hätten,“ bemerkte dazu Frau Onslow; „dann wollte ich Ihnen thatsächlich beweisen, daß ich Recht habe.“
Darauf antwortete Prati nicht und kam auch später nicht wieder auf die Sache zurück.
Die nächsten Monate verliefen für Büchner und Edith ohne bemerkenswerthe Ereignisse. Erst nach Verlauf längerer Zeit, fast eines Jahres, konnten Prati und Frau Onslow sich Rechenschaft davon ablegen, daß die Lage ihrer Freunde langsam, aber stätig, eine immer schlechtere geworden war.
Es ließ sich nicht mehr verbergen, daß Büchner trank. Zwar hatte ihn noch keiner seiner Bekannten trunken gesehen, aber an seinem ganzen Aussehen und Wesen erkannten die zahlreichen Sachverständigen der Kolonie, daß Büchner Gewohnheitstrinker der schlimmsten Art, einsamer Trinker sei. Seine geistigen Fähigkeiten nahmen ab, seine Arbeitskraft verringerte sich. Zu verschiedenen Malen schon hatte er als Buchhalter Irrthümer begangen, die Herrn Morrisson zwar keinen wirklichen Schaden zugefügt, wohl aber ihn in seinem kaufmännischen Stolze verletzt hatten.
„In meinen Büchern dürfen keine Fehler gefunden werden,“ hatte er eines Tages verdrießlich bemerkt. „Es ist früher niemals vorgekommen und es darf auch in Zukunft nicht wieder geschehen. Sie müssen sich mehr in Acht nehmen, Herr Büchner.“
Büchner hatte sich so sehr wie möglich in Acht genommen – aber ohne Erfolg. Die Fehler häuften sich mehr und mehr – und eines Tages, angesichts eines neuen von ihm begangenen Irrthums, stand er zunächst eine Weile rathlos da und dann trat er in Herrn Morrisson’s Arbeitszimmer und erklärte diesem, er sei krank, fühle sich unfähig, den berechtigten Ansprüchen, die man an ihn stelle, zu genügen, und bitte deßhalb um seine Entlassung.
Büchner war nicht mehr beliebt in Shanghai. Herr Morrisson, der seine Angestellten gut bezahlte, aber dafür tüchtige Arbeit verlangte, war froh, einen unzuverlässigen Buchhalter los zu werden, und begnügte sich damit zu sagen, er hoffe, Herr Büchner werde bald wieder hergestellt sein. Dann würde sich auch vielleicht wieder ein Platz für ihn im Hause finden. Einstweilen stehe ihm frei, dasselbe sofort zu verlassen, um sich zu pflegen. Selbstverständlich werde ihm sein Gehalt noch für die nächsten drei Monate ausgezahlt werden.
Am Abend dieses Tages wartete Edith schon lange Zeit vergeblich auf ihren Mann, der zwischen fünf und halb sechs Uhr nach Hause zu kommen pflegte. Es war sieben Uhr geworden, und noch immer hatte er sich nicht blicken lassen. Man befand sich im Monat November. Die Nacht war längst eingebrochen und das Wetter stürmisch. Es regnete und der Himmel war mit finsterem, niedrigem Gewölk dicht bedeckt. Frau Edith wurde unruhig. Sie sandte einen Diener zu Herrn Morrisson und ließ sich erkundigen, ob ihr Mann bald heimkehren werde. Ihr ahnte sofort Schlimmes, als nach Verlauf einer kleinen Stunde Herr Morrisson selbst, den sie seit ihrer Verheirathung nicht wieder gesehen hatte, sich bei ihr anmelden ließ.
[501] Es ist ein Unglück geschehen!" rief Edith aus, sobald sie Morrisson erblickte.
„Ich hoffe, nein,“ sagte Morrisson, ein wenig zögernd.
„Ach, sprechen Sie schnell!" bat Edith.
Morrisson erzählte nun kurz, was zwischen ihm und Büchner vorgefallen war, wobei er betonte, daß es seine Absicht sei, diesen nach seiner Wiederherstellung von Neuem zu beschäftigen. Büchner, so setzte er hinzu, habe das Komptoir zur gewöhnlichen Stunde, gegen fünf Uhr verlassen und dabei gesagt, er werde am nächsten Tage wieder kommen, um die Bücher seinem Nachfolger zu übergeben.
„Gott sei mir gnädig!“ murmelte Edith. Sie war todtenblaß, aber sie wurde nicht ohnmächtig. „Sind Sie in einem Wagen gekommen?“ fragte sie.
„Er steht vor der Thür,“ antwortete Herr Morrisson.
„Ach bitte, dann fahren Sie gleich nach der Polizei. Es müssen sofort Nachforschungen angestellt werden.“
„Es war meine erste Sorge, dies zu veranlassen, sobald Ihr Diener bei mir erschien. In diesem Augenblick sind bereits alle verfügbaren Polizeikräfte aufgeboten, um nach Herrn Büchner zu suchen, auch meine eignen Leute sind sämmtlich unterwegs.“
„Ich danke Ihnen,“ sagte Edith flüchtig. Sie trat an das Fenster. Es regnete in Strömen.
Sie kam wieder zurück, die gefalteten Hände auf der Brust, ein Bild des Jammers. „Was kann ich thun?" fragte sie.
„Sie können augenblicklich nichts thun als warten," erwiederte Morrisson milde. „Beruhigen Sie sich, meine liebe gnädige Frau; es ist noch kein Grund vorhanden, Schlimmes zu befürchten. Herr Büchner kann sich einfach im Klub verspätet haben.“
„Er geht nie in den Klub.“ Sie klingelte und sagte dem Diener, der schnell eintrat: „Eilen Sie zu Herrn Prati, suchen Sie ihn zu finden, wo er auch sein möge. Ich müßte ihn sofort sprechen!“
Dann ging sie in fieberhafter Aufregung im Zimmer auf und ab. Morrisson folgte ihren Bewegungen mit theilnehmenden Blicken.
„Ich will auf das Polizei-Amt fahren,“ sagte er endlich. „Sobald dort Nachricht eintrifft, bringe ich sie Ihnen.“
„Vielen Dank, vielen Dank! Bitte, thun Sie das.“
Gleich darauf vernahm sie das Geräusch des davonrollenden Wagens, aber nach wenigen Minuten schon kehrte derselbe zurück.
Sie öffnete das Fenster und sah Herrn Morrisson aus dem Wagen springen und durch den kleinen Garten dem Hause zueilen. Noch ehe er die Thür erreicht hatte, trat sie ihm schon entgegen. Er führte sie in das Haus zurück und rief ihr zu:
[502] „Sie können ganz ruhig sein. Alles ist in Ordnung!“ Sie athmete tief auf und seufzte leise.
„Aber erschrecken Sie nicht …“
„Sie täuschen mich!“ rief sie, plötzlich wieder auf das Aeußerste geängstigt. – „Was ist vorgefallen? Ich beschwöre Sie, sagen Sie mir das Schlimmste.“
„Es ist nichts Schlimmes vorgefallen, Frau Büchner. Hören Sied“ – Sie war zurückgetaumelt, einer Ohnmacht nahe. – „Frau Büchner, ich gebe Ihnen mein Wort, Ihr Mann lebt, er wird in wenigen Minuten hier sein, und morgen so gesund, wie er Sie heute verlassen hat. Es ist ihm ein kleiner Unfall zugestoßen, aber ohne jede bedenkliche Folgen. Ohne jede! Hören Sie? Aber nun seien Sie ruhig, bitte, seien Sie ruhig.“ Er nahm sie am Arm und führte sie in den Salon, wo sie leise weinend auf einen Sessel zusammenbrach.
„Was ist denn geschehen?“ fragte Edith nach einer kleinen Weile, noch immer weinend, aber durch die Versicherung, die Morrisson ihr gegeben hatte, augenscheinlich beruhigt.
„Nichts Erschreckliches, liebe Frau Büchner“ … Er lächelte gezwungen und verlegen „Ich fürchte … ich fürchte …“ fuhr er fort … „nun, Sie werden es ja selbst sehen, und es wäre unnütz, es Ihnen verheimlichen zu wollen … Ich fürchte, Büchner … Büchner hat sich betrunken.“
Sie nickte langsam mit dem Haupte. „Ich will lieber allein sein, wenn er ankommt,“ sagte sie nach einer kleinen Pause mit sanfter Stimme. „Ich danke Ihnen, Herr Morrisson.“
Dieser entfernte sich darauf schnell.
Nach einigen Minuten lag Büchner sinnlos betrunken auf dem Bette, wo ihn ein paar grinsende Kulis niedergelegt hatten: die Kleider besudelt, zerrissen, vom Regen durchnäßt, hilflos, die Haare wüst auf der bleichen Stirn, – ein Bild des Ekels noch mehr als des Jammers. Seine Augen waren halb geschlossen und er sah und vernahm nichts von dem, was um ihn her vorging.
Frau Edith schien kein Auge zu haben für das Abschreckende des Anblicks vor ihr, sondern nur zu sehen, wie jammervoll derselbe war: in ihrem stillen Antlitz war kein Zug von Verachtung oder Abscheu, nur Erbarmen und Traurigkeit waren darin zu lesen und diese Traurigkeit hatte etwas eigenthümlich Ruhiges, Entschlossenes. Wie sie in dem matt erleuchteten Zimmer geräuschlos hin- und herging, in sachverständiger Weise für den bewußtlosen Mann sorgend, zu dessen Pflege sie keine fremde Hilfe hatte zulassen wollen, da glich sie einer jener frommen Dulderinnen, die sich in selbstloser Barmherzigkeit für die Leiden der kranken Menschheit aufopfern. Nach einer halben Stunde mühevollen Schaffens der armen kleinen Frau war Büchner’s Anblick ein ganz anderer geworden. Sein bleiches Haupt ruhte auf weichen, weißen Kissen und glich in seiner kalten Unbeweglichkeit dem eines Mannes, der nach schweren Leiden endlich Ruhe gefunden hat. Edith schien sich in seinen Anblick ganz zu vertiefen. Ihre Züge, die in Schmerz erstarrt gewesen waren, wurden weicher, bis sich zuletzt ein Ausdruck kindlicher, herzzerreißender, hilfloser Traurigkeit darüber lagerte und sie leise weinend neben dem Bette niedersank. Sie hörte nicht, wie die Thür geöffnet wurde und Prati in das Gemach trat. Er blieb eine kleine Weile am Eingang stehen, näherte sich dann vorsichtig der weinenden Frau, die, als sie seine Nähe fühlte, zunächst erschrocken auffuhr, aber dann mit einer stummen Gebärde der Verzweiflung, die zitternde Handfläche nach oben, auf den Unglücklichen deutete und nun in ein lautes, bitteres Weinen ausbrach.
„Was ist geschehen?“ fragte Prati. Sie antwortete nicht. „Soll ich einen Arzt rufen?“ Sie schüttelte verneinend den Kopf.
Eine lange Pause trat ein. Dann trocknete Edith sich die Augen, und Prati die Hand reichend, sagte sie milde: „Ich danke Ihnen, Sie lieber, treuer Freund.“
Etwas Kläglicheres als der Gesichtsausdruck des Italieners bei diesen herzlichen Worten läßt sich kaum denken.
Am nächsten Tage war der Unfall, der Büchner betroffen hatte, Stadtgespräch. Die von Morrisson ausgesandten Konstabler hatten ihn im Matrosenviertel, in der Nähe einer elenden Schenke, wo Schwefelsäure mit Wasser als Branntwein verkauft wurde, auf der Straße liegend gefunden und ihn von dort nach seiner Wohnung geschafft. Die Entrüstung in der Kolonie war allgemein. Wenn ein Junggeselle sich betrank, so war das schon schlimm genug – man konnte es jedoch zur Noth noch hingehen lassen; aber daß ein verheiratheter Mann, mit einer Frau wie Edith Rawlston, sich zum Thier herabwürdigte, das war unverzeihlich. Kein Wort schien zu stark, um die sittliche Empörung der Kolonie und Büchner’s Benehmen zu kennzeichnen. Nur vier Personen stimmten nicht ein in den Entrüstungschorus, eigentlich sogar nur drei. Prati, Morrisson und Frau Onslow. Herr Onslow sagte zwar auch nichts gegen Büchner, aber dies geschah ausschließlich aus Furcht vor seiner Frau. Hätte er den Muth gehabt, seine Meinung zu äußern, so würde er auf Seiten der Ankläger Büchner’s gestanden haben. Ein sonderbarer Heiliger der Gemeinde kam auf den Gedanken, es sei die Pflicht der anständigen Amerikaner von Shanghai, für Frau Büchner zu sorgen, und da er bei einigen seiner Landsleute Zustimmung fand, so redete er sich ein, er habe eine Mission zu erfüllen, und begab sich mit einer nicht geschriebenen Vollmacht, die er sich selbst ausgestellt hatte, zu Frau Büchner, um ihr zu verkünden, daß, falls sie sich von ihrem Gatten trennen wollte, sie die Sympathien der ganzen Kolonie zu einem solchen Schritt für sich habe, und daß diese sie sicherlich auch thatsächlich unterstützen werde. – Der Empfang, der ihm zu Theil wurde, übertraf die kühnsten Erwartungen derjenigen, die vorsichtig genug gewesen waren, von einem Einmischen in die häuslichen Angelegenheiten des Büchner’schen Ehepaares abzurathen. Frau Edith wies dem unberufenen Beschützer, sobald sie dessen Absichten erkannt hatte, in so energischer Weise die Thür, daß jener, ein eitler und würdevoller Mann, der Dank und Ehre zu ernten gehofft hatte, mehrere Tage lang ganz verwirrt blieb und – wenn man von seinem Abenteuer sprach – nur die Hände zusammenschlagen und verzweifelnd gen Himmel blicken konnte. Die erste Aeußerung über Frau Büchner, die man von ihm vernahm, war: „Eine furchtbare Frau – schlimmer als ihr Mann!“ Aber er hatte damit keinen Erfolg und wurde nur hinter seinem Rücken ausgelacht. Die verheiratheten Männer sagten von Frau Edith mit aufrichtiger Bewunderung: „Eine muthige kleine Frau, die das Herz auf dem rechten Flecke hat.“
Büchner erwachte erst nach vierundzwanzig Stunden aus der schweren Betäubung, in der er gelegen hatte, und war noch mehrere Tage lang krank. Nicht ein Wort wurde zwischen ihm und seiner Frau über das, was vorgefallen war, gewechselt. Aber er würdigte diese Schonung in seiner Weise. Er nahm ihre kleine Hand und streichelte sie leise, wie es seine Art war, und blickte sie dabei stumm mit dankbaren Augen an. – Und Edith? – Sie sagte: „Mein armer guter Georg!“ – Das war seine ganze Strafe. Aber die Geschichte war ihm doch sehr nahe gegangen. – Er zog sich von jedem Umgang zurück. Selbst vor Frau Onslow versteckte er sich, wenn diese in das Haus kam. Nur mit Edith verkehrte er noch und mit Prati, der, so oft seine Geschäfte es erlaubten, mit Büchner zusammen war und diesem wie ein treuer Hund folgte, der schon dafür dankbar ist, wenn er nur in der Nähe seines geliebten Herrn geduldet wird. Edith und Büchner fanden dies ganz natürlich – Prati gehörte zum Hause.
Acht Tage etwa nach seiner Genesung empfing Büchner einen Brief von Herrn Morrisson mit einem Check für das Gehalt, das Büchner noch für die nächsten drei Monate zu empfangen hatte. Der Brief schloß mit den Worten: „Ich hoffe, daß Ihr Gesundheitszustand Ihnen bald gestatten wird, Ihre Dienste meinem Hause wieder zu widmen, in dem ich Ihre alte Stellung bis auf Weiteres für Sie offen halte.“
Büchner zeigte diesen Brief zuerst Edith und sagte dazu: „Morrisson ist ein guter Mensch.“
„Ja, in der That,“ antwortete Edith darauf.
Am Abend sprach Büchner sodann mit Prati über Morrisson’s Anerbieten. Auch der Italiener erkannte die wohlwollende Gesinnung des Engländers bereitwillig an. Aber er hatte seinem Freunde ein anderes Anerbieten zu machen. Das Geschäft ging sehr gut. Prati hatte während des letzten Jahres sein Kapital mehr als verdoppelt, er wollte seine Beziehungen jetzt noch mehr ausdehnen und schlug Büchner vor, sich zu dem Zweck mit ihm zu verbinden.
„Rawlston, dem ich geschrieben habe,“ sagte er, „ist damit einverstanden, daß ich, unbeschadet meiner Stellung in seinem [503] Hause, für eigene Rechnung Geschäfte mache. Er stellt nur die Bedingung, daß ich mich seines Hauses als Agenten bediene. Das paßt mir ganz und gar. Aber ich brauche Jemand zur Buchführung und Korrespondenz. Ich möchte mich auch mit einem zuverlässigen Tea-taster (Einkäufer von Thee) in Verbindung setzen. Früher verstanden Sie sich, wie ich mich sehr wohl erinnere, vortrefflich auf diesen Artikel, und wenn Sie Ihre Zunge schonen, wenig rauchen und keinerlei scharfe Sachen trinken wollen, so werden Sie bald in der Lage sein, allen Ansprüchen zu genügen, die ich an Sie für das Theegeschäft stellen würde. Ich habe mich schon lange nach einem Partner umgesehen, und da Sie jetzt frei sind, so frage ich, ob Sie Ihr Glück mit mir versuchen wollen. Wir sind Beide vorsichtige und sachverständige Leute, und ich kann mir nicht denken, daß Sie als mein Socius nicht ebenso viel verdienen sollten wie als Morrisson’s Buchhalter.“
Büchner erbat sich Bedenkzeit. Er wollte mit seiner Frau sprechen. Diese besaß für Geschäftsfragen wenig Verständniß und zog nur in Erwägung, daß, wenn Georg sein eigener Herr würde, er nicht wieder Vorwürfe wie die ihm einmal von Francis Morrisson gemachten zu fürchten habe. Das war eine beruhigende Aussicht. „Ich würde Prati’s Vorschlag annehmen,“ sagte sie – und damit war die Sache abgemacht.
Ein Zimmer in der Büchner’schen Villa wurde als Komptoir eingerichtet; dort verbrachte Büchner fortan den größten Theil seines Tages in ruhiger, wenig anstrengender Beschäftigung, der er vollständig gewachsen war und der er sich mit Interesse für die Sache hingab. Die Einkäufe und Verkäufe sowie die Verschiffung von Thee und Seide besorgte Prati durch Vermittelung von Rawlston & Co. Büchner hatte nur mit der Korrespondenz und Buchführung und mit dem „Kosten“ und der Abschätzung der zu versendenden Thees zu thun. Das Theegeschäft gewann schnell an Umfang und gab Büchner viel zu schaffen.
Eines Tages, während Büchner im Komptoir beschäftigt war, stattete Prati Frau Edith einen kurzen Besuch ab, um sich mit ihr, wie dies bei solchen Gelegenheiten fast immer der Fall war, über Büchner’s Gesundheitszustand zu unterhalten.
„Ich kann Ihnen niemals genug danken, Herr Prati,“ sagte Edith. „Sie haben ihn gerettet. Ein Bruder hätte nicht mehr für ihn thun können. Sie sind sein guter Engel. Sein Gesundheitszustand wird täglich besser, und seine Entmuthigung, die eine vollständige geworden war, beginnt zu schwinden. Gestern machte er Zukunftspläne! Ich dankte Gott im Herzen dafür und ich danke Ihnen, lieber Freund. Wissen Sie, daß er das Rauchen ganz aufgegeben hat, und … und –“ sie stockte etwas – „und das Andere auch. Wenn das nur dauern wollte! Ach, wenn ich meinen alten Georg wieder wie früher vor mir sehen könnte!“
Büchner’s Gesundheit verbesserte sich in der That augenscheinlich – aber doch nur langsam. Auch war er noch immer außerordentlich schweigsam und nachdenklich, und seine Menschenscheu hatte seit seiner Besserung womöglich noch zugenommen. Namentlich schien er vor Morrisson und Frau Onslow Furcht zu haben und vermied es ängstlich, mit ihnen zusammenzutreffen.
Prati, der ohne Büchner’s Wissen über dessen Zustand mit einem Arzte gesprochen hatte und mit diesem in regelmäßiger Verbindung geblieben war, erhielt von ihm gegen Ende des Frühjahrs den Rath, Büchner zum Sommer eine längere Reise machen zu lassen. Es würde seinem Gemüthe wohlthun, sagte der Doktor, andere Menschen und ein hübscheres Land als Shanghai zu sehen. Nagasaki sei zu heiß im Sommer; er solle nach Yokohama oder Hakodate gehen; man könnte dort schon irgend Jemand zu seiner Ueberwachung finden. Doktor Jenkins in Yokohama zum Beispiel würde eine geeignete Persönlichkeit dazu sein. Wenn Prati es wünsche, so wolle er, der Doktor, seinem Kollegen schreiben und ihm alle nöthigen Anleitungen bezüglich Büchner’s Behandlung geben.
„Wäre es gut, wenn seine Frau mit ihm ginge?“ fragte Prati.
„Besser nicht,“ meinte der Doktor. „Sie würde ihn zu sehr verhätscheln und er mit Niemand verkehren wollen als mit ihr. Er muß wieder mit fremden Menschen umzugehen lernen, und dazu ist es am besten, daß er allein in Yokohama ankommt.“
„Aber fürchten Sie nicht, daß er von neuem anfängt zu trinken, wenn er sich nicht mehr so streng beobachtet fühlt wie hier?“
„Es ist möglich, aber ich fürchte es nicht. In dem Falle würde übrigens mein Kollege einschreiten und mit einem Bericht nach Shanghai drohen. Büchner hat den Entschluß gefaßt, sich zu bessern, und die Energie, mit der er ihn nun seit sechs Monaten durchführt, läßt mich hoffen, seine Heilung sei bereits soweit vorgeschritten, daß wir ihn sich selbst überlassen können. Sie behaupten, er trinke jetzt nur noch Thee und Rothwein und Wasser. Sagen Sie ihm, er müsse dabei beharren, und …“ fügte der Doktor lächelnd hinzu – „lassen Sie sich wöchentlich einen Theebericht von ihm geben und verlangen Sie von ihm die Einsendung von Mustern mit Gutachten. Sendet er keine Berichte oder erfahren wir, daß er wieder angefangen hat zu trinken, nun, so lassen wir ihn schleunigst zurückkommen. Aber wir müssen einmal den Versuch machen, ob man ihn sich selbst überlassen kann, und nach meinem Gefühl ist der richtige Zeitpunkt dazu gekommen.“
Es kostete nicht geringe Mühe, Frau Edith zu bewegen, sich auf mehrere Monate von ihrem Mann zu trennen. Schließlich siegte jedoch die vereinigte Onslow’sche und Prati’sche Beredtsamkeit. Kein Opfer war der kleinen Frau zu groß, wenn es dem Wohle ihres Mannes gebracht werden sollte, und nachdem sie einmal überzeugt worden war, es sei zur vollständigen Wiederherstellung Büchner’s nothwendig, daß er Shanghai eine Zeit lang allein verlasse, wurde sie Prati’s Verbündete, um dahin zu wirken, daß Büchner im Monat Mai nach Japan gehe. Den Vorwand zur Reise gaben kaufmännische Unternehmungen, die Büchner in Yokohama gründlich studiren sollte, und von deren Ausführung Prati sich, wie er seinem Socius mit ernstem Gesicht versicherte, großartige Erfolge versprach.
„Lassen Sie nur Niemand merken, was Sie vorhaben,“ sagte er geheimnißvoll. „Sagen Sie, Sie kämen als Leidender, um Ihre Gesundheit herzustellen. Geben Sie sich viel mit Doktor Jenkins ab, der übrigens ein liebenswürdiger Mensch sein soll. Ich werde Ihnen eine Einführung bei ihm verschaffen; unter der Hand ziehen Sie dann genaue Erkundigungen über die Seidenkultur im Innern ein und studiren Sie den Theemarkt. Rawlston & Co. – dies ganz vertraulich – machen in San Francisko und in New-York ein großartiges Geschäft mit Japan-Thees. Schreiben Sie mir regelmäßig und ausführlich, ich werde Ihnen von hier aus weitere Anweisungen geben, je nachdem Sie mir die Lage des Marktes darstellen.“
Büchner nickte bedeutungsvoll. „Ich habe wohl verstanden,“ sagte er, „verlassen Sie sich auf mich.“
„Wie auf mich selbst.“
„Das können Sie.“
„Büchner, noch ein Wort … nehmen Sie es mir nicht übel.“ Der lange Holländer sah seinen Freund fragend und ängstlich an. „Sie müssen da drüben leben wie hier, in jeder Beziehung: nicht rauchen und …“
Er hielt inne. Büchner wurde roth und sah verlegen zu Boden.
„Ich darf mich auf Sie verlassen?“
Eine kurze Pause. Dann sagte Büchner mit leiser Stimme, aber entschlossen: „Mein Wort darauf!“
„Das ist recht,“ versetzte Prati und drückte herzhaft die ihm dargereichte Hand.
Und so kam der lange Holländer in geheimer Sendung nach Japan, im Mai 1862, vier Monate, ehe ich an Bord der „Aurora Belisle“ seine Bekanntschaft machte und ihm freie Ueberfahrt nach Shanghai anbot.
Büchner hatte in Yokohama während der vier Monate, die er dort verweilte, ruhig gelebt, sicherlich hatte er nicht getrunken. Aber heiter und gesellig war er nicht geworden. Er hatte außer mit Doktor Jenkins mit keinem Europäer verkehrt. Der Grund seiner Zurückhaltung in dieser Beziehung war folgender: Jenkins hatte Büchner in den Klub einführen und ihn, da er mehrere Monate in Japan zu bleiben beabsichtigte, als Mitglied vorschlagen wollen; aber einige der jungen Leute, die seine Geschichte [506] von Shanghai her kannten, hatten die Nase gerümpft: er habe im Verdacht eines Diebstahls gestanden, er sei ein Säufer und mache seine Frau unglücklich; in Shanghai erscheine er seit Jahr und Tag nicht mehr im Klub, weil er fürchten müsse, man könne seinen Austritt beantragen, und wenn er für den Shanghaiklub zu schlecht wäre, so sei er für den von Yokohama auch nicht gut genug. Die Gesellschaft in Japan könne schließlich ebenso anspruchsvoll sein wie die in China.
Doktor Jenkins war ein angesehenes Mitglied der fremden Gesellschaft in Yokohama, aber er gehörte nicht zu den Leitern der öffentlichen Meinung. Seine Thätigkeit brachte es mit sich, daß er gern gut mit aller Welt stand. Er wollte sich nicht des Fremden aus Shanghai wegen mit alten Bekannten in Yokohama streiten, möglicherweise überwerfen. Er ließ den Sturm auf Büchner über sich hinweg gehen und begnügte sich damit, diesem in schonender Weise mitzutheilen, er, Büchner, würde wohl daran thun, sich nicht in den Klub einführen zu lassen.
Jenkins war durchaus kein hartherziger Mensch, aber er dachte zuerst an „Nummer Eins“, an sich selbst. Das thun die meisten anderen Menschen ebenfalls – und man darf den Doktor nicht wegen seines Kleinmuths schelten. Er selbst empfand jedoch darüber eine gewisse Beschämung; es kam ihm vor, als ob er Büchner gegenüber etwas wieder gut zu machen habe, und dies äußerte sich dadurch, daß er persönlich den ihm anempfohlenen Gast aus Shanghai mit großer Herzlichkeit empfing. Er zweifelte nicht, daß der Verdacht der Unterschlagung, der sich auf Büchner gelenkt hatte, ein ungerechter sei; was des Genannten Leidenschaft für den Trunk anging, so wußte Jenkins als Arzt, daß der lange Holländer dieselbe mit seltener Energie zu beherrschen bemüht war.
Der Doktor hatte anfänglich gewissermaßen ein Opfer gebracht, indem er sich Büchner gegenüber freundlich gezeigt. Bald änderte sich dies jedoch, und er faßte eine eigenthümliche Zuneigung zu dem fremden Mann. Es giebt Menschen, die gar nichts zu thun brauchen, um zu gefallen. Gewöhnlich sind es weiche, gutmüthige, stille Naturen und sie müssen, um möglichst vollkommen in ihrer Art zu sein, ein gutes Aeußeres, klare, ehrliche Augen, gesunde Zähne und eine angenehme Stimme besitzen. Alles dies war Büchner eigen. Sein herzgewinnendes Wesen war in letzter Zeit nur noch Edith und Prati gegenüber zu Tage getreten. Aber auch den freundlichen Doktor Jenkins gewann er sich schnell, nur weil er diesem für die Aufnahme, die er bei ihm fand, dankbar war und deßhalb ihm gegenüber das finstere Wesen ablegte, das ihm seit seinem Unglück fremden Menschen gegenüber eigen war und ihn unliebenswürdig erscheinen ließ.
Büchner hatte die vorsichtigen Aeußerungen, die Jenkins in Bezug auf den Besuch des Klubs gemacht hatte, bei den ersten Worten verstanden. Er hatte darauf nichts erwiedert, aber sein Leben danach eingerichtet, indem er nicht nur den Klub, sondern überhaupt jeden Fremden in Yokohama vermied. Er hatte sich ein Pferd gekauft und ein Boot gemiethet und trieb sich einen guten Theil des Tages auf dem Meere und in der Umgegend von Yokohama umher. Da er Niemand grüßte und mit Niemand sprach, so wurde er auch von keiner Seele behelligt, denn die jungen Leute von Yokohama, und unter diesen auch seine Gegner, waren keine boshaften Klatschschwestern. Nachdem sie den Verdächtigten von sich fern gehalten hatten, ließen sie ihn unbehelligt seiner Wege ziehen. Im Uebrigen verkehrte Büchner viel mit Japanern und Chinesen, von denen er sich über Alles belehren ließ, was auf den Handel von Yokohama Bezug hatte. Am Abend saß er gewöhnlich bei Jenkins auf der Veranda und hörte den langen Geschichten zu, die der Doktor zu erzählen liebte und für die er nur selten so aufmerksame Zuhörer fand, wie Büchner einer war.
Der Doktor bemerkte nach einiger Zeit, daß Büchner mit einer an Geiz grenzenden Sparsamkeit lebte. Während die jungen Leute in Yokohama damals mit dem Gelde um sich warfen, hoch wetteten und spielten, zahlreiche Diener besoldeten und das Beste an theueren Speisen und Getränken gerade für gut genug für ihren Tisch hielten, lebte der lange Holländer wie ein Eingeborener mit Reis, Fisch und Thee und gestattete sich, außer für ein Pferd und ein Boot, nicht die geringste überflüssige Ausgabe. Nun aber paßte Geiz gar nicht zu seinem Charakter, wie Jenkins ihn zu kennen glaubte, so daß dieser ihn eines Tages geradezu fragte, weßhalb er sich so sehr einschränke; ob er etwa Geldsorgen habe. In diesem Falle möge er über seine Börse verfügen.
Büchner dankte ohne übertriebene Wärme für das Anerbieten und antwortetete: nein, er habe keine Geldsorgen, er empfinge sogar von seinem Partner in Shanghai Nachrichten, aus denen hervorginge, daß sie dort sehr gute Geschäfte machten. Aber in Yokohama könne er nicht recht vorwärts kommen. Die kleinen Unternehmungen, in die er sich eingelassen habe, seien zwar nicht mißglückt, aber hätten auch nicht viel abgeworfen. An das Geld, das in Shanghai verdient werde, wolle er jedoch nicht rühren. Er habe noch einige Schulden, die ihn zwar nicht drückten, aber die er doch möglichst bald abzutragen wünsche, und sodann müsse er auch daran denken, seiner Frau, falls er sterben sollte, etwas zu hinterlassen.
„Wie können Sie, ein junger, kräftiger Mann, an Sterben denken?“ fragte Jenkins.
„Ich denke nicht viel daran und ich fürchte mich nicht davor. Aber es wird eine Beruhigung für mich sein, wenn ich mir sagen kann, daß meine Frau auch nach meinem Tode genug zu leben haben wird.“
„Ich habe gehört, Ihre Frau sei wohlhabend.“
„Das ist sie in der That. Aber ich habe mir nun einmal in den Kopf gesetzt, ihr durch das, was ich selbst verdiene, eine ruhige Existenz zu sichern. Ich lege mir keine Entbehrungen auf: ich habe jetzt nur noch wenig Bedürfnisse, und es macht mir Vergnügen, nachzurechnen, wie klein meine heutigen Ausgaben im Vergleich zu den früheren sind.“
Alles das war schön und gut, aber Jenkins war damit nicht zufrieden. Der Gemüthszustand seines Patienten hatte sich seit Monaten nicht verbessert. Büchner war, ohne je zu klagen, wortkarg, nachdenklich und traurig.
„Sehnen Sie sich vielleicht nach Shanghai zurück?“ fragte ihn Jenkins eines Abends.
„Ja, ich möchte meine Frau und meinen Freund Prati bald wiedersehen,“ antwortete Büchner. „Ich lebe nun schon lange von ihnen getrennt. Aber Geschäft geht vor Vergnügen! Ich muß hier ausharren, bis Prati mich zurückruft. Ich fürchte, meine Reise hat nicht viel genützt. Doch habe ich mir große Mühe gegeben, Alles in Erfahrung zu bringen, worüber Prati unterrichtet sein wollte.“
„Sie ernten vielleicht später die Früchte Ihrer Thätigkeit,“ tröstete der Doktor.
Aber mit der nächsten Post schrieb er an seinen Kollegen in Shanghai, er solle veranlassen, daß Büchner dorthin zurückberufen werde, er verzehre sich in Sehnsucht nach seiner Frau und eine weitere Ausdehnung der Trennung von ihr könne ihm nur schaden. Von der Trunksucht erscheine er vollkommen geheilt. Darauf traf mit umgehender Post ein Brief von Prati an Büchner ein, der glänzende Berichte über ein von Prati unternommenes großes Seidengeschäft enthielt.
„Ich hoffe, Sie werden am Ende des Jahres alle Ihre Schulden abbezahlt und noch etwa achttausend Dollars übrig haben. In der Beurtheilung des japanischen Marktes bin ich aber, so scheint es mir jetzt, auf falscher Fährte gewesen. Sicherlich ist augenblicklich hier mehr zu verdienen als dort. Also wickeln Sie die kleinen Geschäfte, die noch laufen mögen, baldmöglichst ab und kommen Sie herüber: je eher je lieber.“ So schloß Prati’s Schreiben.
Auch von Edith war gleichzeitig ein liebevoller Brief eingetroffen, in dem sie ihre Freude ausdrückte, ihren alten Georg nun bald wiederzusehen.
Büchner’s kleiner Hausstand war in wenigen Tagen aufgelöst, nachdem aber die Miethe bezahlt und die Diener abgelohnt worden waren, blieben dem langen Holländer nur noch wenige Dollars übrig. Er hatte darauf gerechnet, für sein Pferd denselben Preis wieder zu bekommen, den er dafür gegeben. Es fanden sich jedoch keine Käufer, und er überließ das Thier als Geschenk dem Doktor, zum Andenken an die Stunden, die sie zusammen verlebt hatten. Jenkins hätte dem Scheidenden sicherlich und gern die kleine Summe geborgt, die zur Reise nach Shanghai mit dem Dampfschiff „Costarica“ nöthig war. Er konnte aber nicht ahnen, daß Büchner sich in Geldverlegenheit befand, und dieser, sei es, daß es ihm unangenehm war, Jenkins um Geld zu bitten, sei es, daß ihm die billige Ueberfahrt auf dem Segelschiff besser zusagte, als die theuere auf dem Dampfer, sei es endlich, daß er die [507] Gesellschaft anderer Passagiere vermeiden wollte, die er auf der „Costarica" unfehlbar angetroffen haben würde – Büchner zog es vor, mit der „Aurora Belisle“ zu fahren und sich wegen der Zahlung des Ueberfahrtsgeldes mit mir zu verständigen.
Die letzte Stunde seines Aufenthaltes in Yokohama verbrachte Buchner mit Jenkins, dem er bei dieser Gelegenheit auch den Inhalt von Prati’s Brief mittheilte. Dazu bemerkte er, daß er nun, Dank seinem Partner, am Ende des Jahres ziemlich genau wieder in derselben Lage sein werde wie vor seinem Austritt aus dem Hause Rawlston & Co.
„Ich besaß damals achttausend Dollars,“ sagte er, „die durch einen Unglücksfall verloren gingen. Die achttausend Dollars habe ich wieder bekommen, das Unglück kann nicht wieder gut gemacht werden.“
Es war dies die erste Anspielung auf seine Vergangenheit, die Jenkins von ihm hörte.
„Alles kann wieder geheilt werden,“ tröstete er freundlich.
Büchner schüttelte den Kopf. „Wenn mir ein gesunder Zahn ausgeschlagen worden ist, so kann ich mir einen falschen einsetzen lassen, den Fremde für einen gesunden ansehen mögen; aber die Bekannten wissen, daß es ein falscher Zahn ist. Und wenn sie es auch vergessen wollten, ich müßte doch jeden Abend und jeden Morgen daran denken."
[517] Jenkins brachte Büchner an Bord der „Aurora Belisle" und verließ uns erst, als wir die Anker gelichtet hatten und die Barke mit der Ebbe langsam aus der Bai dem offenen Meere zu schwamm. Es war ein schöner Abend. Die Sonne ging hinter den schwarzen Hakkonibergen unter und röthete den breiten, mit Schnee bedeckten Krater des Fusi-Yama. Das tiefblaue Meer war sanft bewegt und mit Hunderten von Fischerbooten bedeckt, deren Insassen, wenn wir in ihrer Nähe vorbeifuhren, uns „Glückliche Fahrt!" zuriefen. Die straff gezogenen Segel waren mit lauer Luft leicht gefüllt und durch die Raaen und Taue zog ein leises Summen, das zur Ruhe einlud. Büchner hatte sich auf dem Deck lang ausgestreckt, die Hände unter dem Kopf, die Augen weit geöffnet, und schaute in die Höhe mit einem Ausdruck tiefen Friedens auf dem stillen Gesichte. Ja, von dem Augenblick an gefiel mir der Mann – ich weiß selbst nicht warum.
Es gab bei dem ruhigen Wetter wenig zu thun. Ich setzte mich auf eine Bank neben dem Platze, wo Büchner lag.
„Friedliche Fahrt,“ sagte ich.
Er machte ein zustimmendes Zeichen mit dem Haupte.
„Hoffentlich bleibt das Wetter gut," setzte ich hinzu.
Er richtete sich halb in die Höhe, und auf den einen Ellenbogen gestützt, musterte er langsam den ganzen Horizont. „Kein Wölkchen am Himmel.“
„Schlechtes Wetter kommt unverhofft.“
„Ja, das ist wahr,“ sagte er.
Aber diesmal blieb das Wetter unverändert günstig, bis ich nach zehntägiger Reise die Anker vor Francis Morrisson’s Hong in Shanghai fallen ließ. Während dieser wenigen Tage war ich nun von früh bis spät mit Büchner zusammen. Er aß natürlich mit mir. Ich trinke an Bord nie etwas Anderes als Wasser, Thee und Kaffee, aber ich fragte meinen Passagier, ob er Wein oder nach Tisch ein Glas Brandy nehmen wolle. Er dankte. Ich hatte ihn, wie gesagt, beim ersten Anblick für einen Trinker gehalten. Seine Geschichte kannte ich damals nur unvollkommen, und seine Weigerung, ein Glas Wein zu nehmen, verdroß mich. Sie kam mir wie eine Heuchelei vor; ich war überzeugt, er hätte sich eine Kiste Spirituosen mit an Bord gebracht und tränke des Nachts, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Aber ich hatte [518] mich geirrt: er hielt sich, wie ich es that, ausschließlich an Wasser und Thee. Nur an der Art, wie er sich einschenkte und das Glas hielt, sah ich noch, daß er nicht immer so mäßig gewesen war. Trinker gehen nämlich mit Flüssigkeiten sorgfältiger um als andere Menschen. Sie füllen das Glas bedächtig bis zu einer bestimmten Höhe, sie scheinen jedesmal genau abzumessen, was sie nehmen. Und dann stürzen sie das Getränk nicht etwa hinunter – kein ordentlicher Trinker thut das – sondern sie legen alle fünf Finger um das Glas, führen es sorgfältig zum Munde und leeren es langsam. Wenn Büchner sein Wasser aus einem dunklen Glase zu sich genommen hätte, so hätte man wetten mögen, er trinke kostbaren Wein: so große Aufmerksamkeit widmete er der einfachen Handlung.
Am vierten oder fünften Tage nach unserer Abfahrt von Yokohama – es war mir, als kennte ich meinen Passagier seit einem Jahre, obgleich wir nicht viel mit einander gesprochen hatten – fragte ich ihn, ob er sich immer mit Wasser und Thee begnügte. Ich, so setzte ich hinzu, fände ein Glas Claret oder Sherry unvergleichlich schmackhafter als ein Glas Wasser und gäbe jenen Getränken den Vorzug, sobald ich am Lande wäre. Er antwortete anscheinend unbefangen, er könne keine Spirituosen vertragen und habe ihnen deßhalb entsagt. Er fühle sich seitdem wohler. Während der ersten Zeit sei ihm die Enthaltsamkeit etwas schwer geworden, aber jetzt denke er gar nicht mehr daran; jedoch verkehre er am liebsten mit Menschen, die sich, wie er, mit Wasser begnügten.
„Nun,“ sagte ich, „dann werden Sie mich in Shanghai nicht gern sehen, denn dort stehe ich meinen Mann beim Trinken.“
„Ich werde Sie unter allen Umständen gern sehen,“ antwortete er. „Sie haben sich sehr freundlich gegen mich gezeigt. Auch Doktor Jenkins habe ich lieb gewonnen,“ fuhr er fort. „Früher achtete ich nicht darauf, wenn ich gute Menschen antraf. Jetzt macht es mir Freude und ich bin ihnen dafür dankbar.“
Ich kann nicht recht sagen, weßhalb solche und ähnliche einfache Worte meine Zuneigung zu dem Manne vermehrten. Aber es war so. Ich hätte schon damals dem langen Holländer von Herzen gern etwas zu Liebe gethan. Später, nachdem ich seine Frau kennen gelernt hatte, wurde ich gut befreundet mit den Beiden, und wenn ich in Shanghai war, so schlug ich mein Hauptquartier immer bei ihnen auf, obgleich mein Geschäft mich für gewöhnlich zu Morrisson zog, an den die „Aurora Belisle“ fest konsignirt war.
Während Büchner sich in Yokohama aufhielt, war James Rawlston von seiner Reise nach Shanghai zurückgekehrt. Seine erste Sorge war gewesen, sich mit seiner Schwester in Verbindung zu setzen. Diese war mit ihm am Tage nach seiner Ankunft bei Frau Onslow zusammengetroffen.
„In meinem Hause kann ich Dich nicht empfangen,“ hatte sie mit großer Traurigkeit gesagt „Auch darf ich Dich nicht besuchen. Du billigst meine Haltung sicherlich.“
Das that James Rawlston nun zwar nicht, denn er konnte nicht begreifen, weßhalb Büchner ihm noch immer zu zürnen schien. Rawlston’s Schuld war es doch sicherlich nicht, daß der Diebstahl verübt worden war und daß sich ein schwerer Verdacht auf Büchner gelenkt hatte. Es wäre dem Amerikaner unter allen Umständen lieber gewesen, seine Schwester hätte sich mit dem reichen Francis Morrisson verheirathet, anstatt mit dem unbemittelten langen Holländer. Aber wenn er, Rawlston, geneigt war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, so hätte man ihm dafür Dank wissen sollen. Büchner’s Benehmen ihm gegenüber war nicht zu rechtfertigen. Rawlston sprach in diesem Sinne mit Frau Onslow. Diese empfahl ihm, das Thema in Gegenwart seiner Schwester lieber nicht zu berühren. Sie hinge in voller Liebe an ihrem Ehegemahl und sei der Ansicht, daß der von Rawlston unmittelbar nach dem Diebstahl offen ausgesprochene Verdacht die Hauptursache von Büchner’s Unglück gewesen sei. „Sie haben in Edith eine treue Schwester,“ schloß Frau Onslow; „aber muthen Sie ihr nie zu, zwischen Ihnen und ihrem Mann zu wählen. Sie wird sich bemühen, beide Verbindungen aufrecht zu erhalten, aber im Falle der Nothwendigkeit einer Wahl würde sie sicherlich auf Büchner’s Seite treten, wie schwer es ihr auch fallen möchte.“
Rawlston mußte sich dabei beruhigen. Aber seine Zuneigung zu Büchner wuchs dadurch nicht. Er traf mit seiner Schwester gelegentlich bei Frau Onslow zusammen. Das war besser als sie gar nicht zu sehen. Aber der richtige Verkehr, wie er zwischen Schwester und Bruder bestehen sollte, war es doch nicht.
Prati hatte nicht aufgehört, oft bei Frau Onslow zu erscheinen. Zu den kleinen Vereinigungen, die bei ihr stattfanden, gesellte sich bald auch Herr Morrisson. Größer wurde der Kreis nicht. Die Gesellschaft bestand außer den Wirthen immer aus denselben Personen: Rawlston, Edith, Prati und Morrisson.
Diese Zusammenkünfte waren harmloser Natur. Die Kosten der Unterhaltung wurden ausschließlich von Frau Onslow getragen. Rawlston war mürrisch; Edith saß still in sich gekehrt da, mit einer Handarbeit beschäftigt, die sie wohl aufgenommen hatte, um ihre Schweigsamkeit und Zurückhaltung weniger auffällig erscheinen zu lassen; der geschmeidige Italiener hatte einen freundlichen Gruß und ein freundliches Lächeln für Jedermann – aber auch er war der Alte nicht mehr. Eine geheimnißvolle Sorge schien an ihm zu nagen, und er saß oftmals da, anscheinend mit schweren Gedanken beschäftigt, die mit Frau Onslow’s philosophischen Abhandlungen sicherlich nichts gemein hatten; auf Francis Morrisson hatte die gedrückte Stimmung der Anderen ihren Einfluß nicht verfehlt. Das war die einfachste Erklärung dafür, daß er, sonst so heiter und anregend, den langen Abend ruhig verbringen konnte, ohne etwas Anderes zu thun, als hier und da einige artige Worte an den einen oder anderen der Anwesenden zu richten. Er saß gewöhnlich im Schatten, etwas vom Tisch entfernt, auf dem die Lampe brannte, die das bleiche Gesicht der still arbeitenden Edith hell beleuchtete.
Herr Onslow wohnte den Gesellschaften, die er „meiner Frau feierliche Thees“ benannt hatte, selten und auch dann gewöhnlich nur auf kurze Zeit bei. Er fand die Genossen, die er im Klub oder bei Bekannten antreffen konnte, ungleich mehr nach seinem Geschmack als die steinernen Gäste seiner Frau. „Höchst achtungswerthe Menschen,“ sagte er, „aber unglaublich langweilig!“ Der Frau Edith gefielen sie augenscheinlich, denu sie war Frau Onslow’s regelmäßigster Gast, bis sie sich eines Tages, einen Monat etwa vor Büchner’s Rückkehr, plötzlich beunruhigt fühlte. War es recht, daß sie ohne Wissen ihres Mannes, möglicherweise gegen dessen Wünsche, häufig und regelmäßig mit ihrem Bruder zusammentraf? Sie richtete diese Frage an Frau Onslow, die zunächst meinte, Büchner werde sicherlich nichts dagegen einzuwenden haben, daß seine Frau ihren Bruder sehe. Aber als Edith darauf entgegnete, dann sei es wohl das Einfachste, sie schriebe ihrem Manne, was vorginge, da wurde Frau Onslow nachdenklich und sagte, bei seinem Gesundheitszustand sei es schwer, zu wissen, wie er eine solche Nachricht aufnehmen werde, es dürfte sich deßhalb empfehlen, sie ihm mündlich zu machen. Edith war damit einverstanden, nahm sich jedoch vor, ihre Besuche bei Frau Onslow in Zukunft einzuschränken oder dieselben so zu verlegen, daß sie ein Zusammentreffen mit ihrem Bruder und Herrn Morrisson nicht zu befürchten hatte. An Prati dachte sie nicht. Diesen treuen Freund durfte sie überall und täglich sehen, ohne zu befürchten, ihren Mann dadurch zu erzürnen. Aber James und Herr Morrisson kamen nicht in ihr Haus, und sie durfte sie auch nicht regelmäßig an fremden Orten antreffen, wenigstens so lange nicht, bis sie die besondere Erlaubniß ihres Mannes dazu erhalten hatte.
Das Wiedersehen zwischen Edith und ihrem Mann war ein unbeschreiblich herzliches. Beide waren so erregt, daß geraume Zeit lang weder sie noch er Worte finden konnte, bis endlich Edith dem ergreifenden Auftritt dadurch ein Ende machte, daß sie ihre Thränen trocknete und den alten scherzenden Ton aus ihrer Mädchenzeit anzuschlagen versuchte.
„Nun laß Dich einmal ordentlich betrachten,“ sagte sie. „Ich will sehen, ob ich Dir ein gutes Zeugniß ausstellen kann.“ Sie musterte ihn aufmerksam und dann setzte sie hinzu: „Nein, ich bin nicht zufrieden mit Dir. Du siehst viel zu schmal aus. Man hat Dich in Yokohama wahrscheinlich schlecht genährt. Und dann, wie kannst Du nur bei der Hitze, die wir haben, so warm gekleidet gehen? Du siehst aus wie ein Missionär. Das muß Alles von jetzt bis auf heute Abend vollständig anders werden. Also komm nur zunächst zum Essen – und dann werde ich nach Deinen Sachen sehen.“
[519] „Du gefällst mir auch nicht,“ sagte Büchner, seine Frau mit inniger Liebe betrachtend. „Wo sind Deine hellen Augen und Deine frischen Farben geblieben?“
„Die hat der heiße Sommer fortgenommen; aber jetzt wird Alles gut werden. Merke Dir, ich lasse Dich nie wieder auf so lange Zeit fort!“
„Ich gehe auch nicht wieder. Es war recht einsam da drüben.“
„Warst Du denn immer allein, mein armer Georg?“
„Nein, ich verkehrte mit Doktor Jenkins. Ein guter Mann! Auch die Bekanntschaft mit ihm verdanke ich Prati. Wo steckt der übrigens?“
Dieser ließ nicht lange auf sich warten. – Die Begrüßung zwischen den beiden Freunden war herzlich, jedoch ruhiger seitens des Italieners, als man nach dessen gewöhnlichem Gebaren erwarten durfte. Es war vielmehr, als ob zwei Engländer sich wiedersähen: ein kräftiger Händedruck – und damit basta. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre es zwischen dem Deutschen und Italiener ohne eine herzhafte Umarmung nicht abgegangen. Büchner, der von Natur zurückhaltend und ein Feind lebhafter Gemüthskundgebungen war, bemerkte Prati’s Ruhe nicht, aber nach einer Weile fiel ihm doch das stille Wesen seines Freundes auf.
„Fehlt Ihnen etwas, Prati?“ fragte er theilnehmend, und um seine Sorge für das persönliche Wohl Prati’s zu verbergen, fügte er hinzu: „Es ist doch nichts Unangenehmes im Geschäfte vorgefallen?“
„Durchaus nicht. Alles geht nach Wunsch. Aber ich bin etwas abgespannt. Der Sommer war diesmal recht schwer und ich habe mehrere weite Ausflüge ins Innere gemacht, die nicht gerade Erholungsreisen waren. Hinter Sutschow sieht es erschrecklich aus. Es wird Jahrzehnte dauern, ehe sich das Land von den Verheerungen der aufständischen Tai-ping erholen kann. Ueberall Trümmer und furchtbares Elend. Die Leute verhungern zu Tausenden und unter den Ueberlebenden wüthen Pestilenz und Cholera. Ich habe eigentlich ganz gute Nerven, aber diesen Sommer ist ihnen doch ein Bischen zuviel zugemuthet worden. Das ist Alles! Die kühle Jahreszeit wird mich schon wieder gesund machen.“
Als Prati sich entfernt hatte, begann Edith ausführlich zu erzählen, wie sie während der Abwesenheit ihres Mannes gelebt hatte. Sie war voll des Lobes der unermüdlichen Aufmerksamkeit und Freundschast von Prati und Frau Onslow und brachte das Gespräch, anscheinend unbefangen, auf die geselligen Abende, die sie bei dieser zugebracht hatte. Büchner sagte kein Wort und machte keine Bewegung, als von dem häufigen Zusammentreffen mit James Rawlston und Francis Morrisson die Rede war. Edith aber wollte eine Erklärung von ihrem Mann über diesen Punkt haben und fragte geradezu, ob er es billige, daß sie die Beiden oftmals gesehen habe. Er schwieg eine Weile und sagte dann milde:
„Ich weiß, wie sehr Du Deinen Bruder liebst. Also sieh’ ihn, so oft Du es wünschest. Ich zürne ihm nicht mehr … aber … nun, wozu soll ich Dir lange Erklärungen machen, da Du ja doch ohnehin weißt, wie ich fühle – ich für meine Person sehe ihn lieber nicht.“
Von Morrisson war nicht weiter die Rede gewesen. Büchner stellte seiner Frau augenscheinlich frei, ihn zu sehen oder nicht, ganz wie es ihr gefiel.
„Wirst Du Frau Onslow einen Besuch machen?“ fragte Edith schüchtern.
„Es geht wohl nicht gut anders,“ antwortete Büchner; „sie würde es mir übelnehmen, wenn ich sie nicht aufsuchte, und sie ist eine gute Frau. Wir wollen lieber gleich heute Abend zu ihr gehen, dann ist die Sache abgemacht, und ich brauche nicht mehr lange darüber nachzudenken.“
Edith willigte freudig ein, und die Beiden verbrachten den Abend bei ihrer redseligen Freundin. Diese verstand es, Alles in ihrer Unterhaltung zu vermeiden, was Büchner unangenehm hätte berühren können, so daß dieser zufrieden von dem Besuche den Heimweg antrat und unterwegs zu Edith sagte: „Sie ist doch wirklich eine herzensgute Frau. Und wenn ich bedenke, wieviel ich ihr zu verdanken habe! Geh’ recht häufig zu ihr und unterhalte Dich dort, so gut Du kannst, natürlich auch mit Deinem Bruder. Es ist mir eine Beruhigung, mir sagen zu können, daß Du durch meine Schuld nicht entbehrst, wonach Du Dich sehnst. Hörst Du, Edith? Sieh Deinen Bruder recht oft. Es macht mir Freude. Ja, sicher, jetzt, da ich darüber nachgedacht habe: es macht mir Freude, ich bitte Dich darum.“
„Du guter Mann!“ sagte Edith.
Die nächsten Monate gingen ruhig vorüber. Büchner machte sich viel im Komptoir zu thun, unternahm lange Spaziergänge und Spazierritte mit Prati und trieb sich in einem schmalen leichten Boote, einem „Outrigger“, auf dem Wussong umher. Das kleine Fahrzeug aus Mahagoniholz, ein Meisterstück der Schiffbaukunst, war auf einer Gewerbeausstellung in San Francisko durch eine Medaille ausgezeichnet worden. Wer es nach Shanghai gebracht hatte, weiß ich nicht mehr. Es war dort lange unverkäuflich geblieben, weil sich kein Liebhaber für das theure Spielzeug gefunden, bis Prati es eines Tages entdeckt und für Büchner gekauft hatte, der von jeher ein großer Freund des Rudersports gewesen war. Der lange Holländer nahm das hübsche Geschenk dankbar an, ließ es mit großer Sorgfalt in Stand setzen und begab sich damit, sobald es tüchtig war, auf den Wussong. Für einen reißenden Strom mit zahlreichen Strudeln und Schnellen und häufig starker Wellenbewegung war das leichte Fahrzeug nun aber nicht berechnet, und Prati machte sich klar, als er Büchner in demselben durch den Hafen fahren sah, daß er seinem Freunde ein etwas gefährliches Geschenk gemacht hatte. Aber der lange Holländer war einer der besten und sichersten Ruderer der fremden Kolonie und ein ausgezeichneter Schwimmer. Wenn sein Boot auch wirklich zu Schaden kommen sollte, so war bestimmt anzunehmen, daß er selbst sich aus demselben mit Leichtigkeit so lange würde halten können, bis ihm Hilfe käme. Daß er sich unterhalb des Hafens hinauswagen sollte aus dem Bereich der Schiffe, die dort zu jeder Jahreszeit vor Anker lagen – an eine solch’ waghalsige Thorheit brauchte man nicht zu denken. Büchner hegte auch nicht entfernt die Absicht, etwas Aehnliches zu unternehmen, und seine weitesten Fahrten brachten ihn auf die andere Seite des Wussong, bis wohin Prati ihn von scharfen Matrosenaugen beobachtet wußte. Denn Jack (englischer Spitzname für den Matrosen) sagte sich natürlich, einmal werde das kleine Ding doch wohl kentern, und dann seien für Denjenigen, der mit seinem Boote am schnellsten am Orte des Unfalls eintreffe, wohl einige zwanzig Dollars zu verdienen.
Der Sommer verging – die Tage wurden kürzer, die Spazierritte mußten verkürzt, die Fahrten auf dem Wussong ganz eingestellt werden. Es kamen die langen Abende, und Büchner war während derselben nicht selten allein.
Frau Edith hatte von der ihr ertheilten Erlaubniß, mit ihrem Bruder bei Frau Onslow zusammenzutreffen, anfänglich nur bescheidenen Gebrauch gemacht. Aber die harmlosen Besuche, die ihre einzige Zerstreuung bildeten, waren mit der Zeit häufiger geworden. Die Wirthschaft gab ihr, wie allen anderen Frauen in Shanghai, nichts zu thun. Sie hatte nicht gelernt, sich um Küche, Speisekammer und Wäscheschrank zu bekümmern. Das war Sache des Cook, des Boy und der Ama (Koch, Diener, Kammerfrau). Was sollte sie thun, während Georg im Komptoir arbeitete oder auf dem Wussong lag oder seine langen einsamen Spaziergänge machte, die ihm, dem Anscheine nach, ein Bedürfniß geworden waren? Besuche empfing sie nicht und hatte deßhalb auch keine zu erwiedern. Sie konnte doch nicht den ganzen Tag Romane lesen und sticken, und es war natürlich, daß sie sich bisweilen auch nach anderer Gesellschaft sehnte, als der des nachdenklichen Mannes, der ihr am Abende unendlich freundlich und liebevoll, aber wortkarg und traurig in dem stillen Salon gegenübersaß, bis die Uhr endlich, manchmal nach recht langer Weile, ankündigte, es sei nun an der Zeit, nach der ermüdenden Einförmigkeit des Tages die nächtliche Ruhe zu suchen. Sie bedurfte nicht so vieler Ruhe. Sie war jung! Bei Frau Onslow wurde sie mit offenen Armen empfangen, verzogen, wie sie es als Mädchen gewöhnt gewesen war. Ihr Bruder überhäufte sie seit ihrer Versöhnung mit Aufmerksamkeiten aller Art. Herr Morrisson brachte ihr neue Bücher. Selbst Herr Onslow entrichtete seinen Tribut, indem er ihr Geschichten aus der Shanghaier Gesellschaft erzählte, der sie seit ihrer Verheirathung fern stand, aber die für sie natürlich ein Interesse bewahrt hatte.
Das Wetter war rauh und unfreundlich geworden. Drei Abende hinter einander hatten Büchner und Edith sich allein gegenüber gesessen. Prati war auf einem seiner zahlreichen Ausflüge in das Innere und durfte erst in einer Woche etwa zurück erwartet werden.
[520] „Willst Du nicht zu Frau Onslow gehen?“ fragte Büchner.
„Was willst Du ganz allein anfangen, mein armer Georg?“ antwortete Edith.
„Ich habe noch zu thun unten im Komptoir – geh nur, mein Kind.“
„Wenn Du es erlaubst.“
Er hing ihr den Mantel um und half ihr in die Sänfte, die sie zu Frau Onslow tragen sollte. Dann kehrte er in das stille Zimmer zurück, in dem er nachdenklich lange Zeit auf- und abging. Endlich öffnete er die Thür zur Veranda. Der rauhe Wind blies in das Zimmer, das Lampenlicht flackerte in die Höhe. Er schloß die Thür hinter sich und trat auf die offene nasse Terrasse. Er blickte in die Höhe, er suchte seinen Stern, aber dunkles dichtes Gewölk lagerte niedrig und schwer über ihm. Aus der Ferne vernahm er das Rauschen des Wussong. „Es muß Hochwasser sein,“ sagte er im Selbstgespräch.
Er trat in das Zimmer zurück. Der Tisch war mit Büchern bedeckt. Er nahm eines davon, einen neuen Roman, und begann darin zu lesen. Aber seine Aufmerksamkeit erschlaffte bald. Er gab es auf, dieselbe anzustrengen, warf sich in den Sessel zurück, bedeckte das Gesicht mit der Rechten und blieb unbeweglich, wie ein in Schlaf Versunkener. Endlich vernahm er im Garten das helle Rufen der „Chair-Kulis“. Er erhob sich, strich sich mit der Hand über die Stirn, athmete tief auf und ging seiner Frau entgegen.
Diese trat elastischen Schritts mit leicht gerötheten Wangen in das Zimmer. „Frau Onslow läßt Dich herzlich grüßen. Nun, was hast Du ohne mich angefangen?“
„Ich hatte noch zu arbeiten und ich habe gelesen. Woher kommen all’ die neuen Bücher, die auf dem Tische liegen?“
„Kleine Aufmerksamkeiten des Herrn Morrisson.“
Die Besuche bei Frau Onslow wiederholten sich noch zweimal in derselben Woche, jedesmal auf Büchner’s Anregung; dann kam Prati zurück und leistete seinem Freunde des Abends Gesellschaft. Es war Vollmondszeit. Das Wetter hatte sich gebessert. Die beiden Freunde machten nach dem Essen lange Spaziergänge, so daß Edith gewöhnlich schon von Frau Onslow heimgekehrt war, wenn Büchner von seiner Promenade wieder nach Hause kam. Aber bald verschwand Prati von Neuem auf mehrere Tage.
„Darf ich zu Frau Onslow gehen?“ fragte Edith am Abend nach der Abreise des Italieners.
„Welche Frage! Natürlich, mein Kind. Viel Vergnügen!“
Dann drei Stunden später: „Frau Onslow läßt Dich herzlich grüßen. Wie hast Du den Abend verbracht?“
Und immer dieselbe Antwort: „Ich hatte noch zu arbeiten. Ich habe etwas gelesen. Die Zeit ist mir ganz schnell vergangen.“ Und eines Abends der Zusatz: „Welch’ schöne Blumen Du mitgebracht hast!“
„Herr Morrisson war so liebenswürdig, mir den Strauß zu schenken.“
Das ging noch ein halbes Dutzend Male so, und dann fing die gewsssenhafte kleine Frau an, sich Vorwürfe zu machen. Sie durfte ihren Georg nicht jeden Abend allein lassen; es war nicht denkbar, daß er immer arbeitete und las. Der Aermste langweilte sich wahrscheinlich tödlich.
„Gehst Du heut Abend nicht zu Frau Onslow?“
„Nein, ich bleibe bei Dir.“
Büchner’s Gesicht verklärte sich. „Meine gute Edith!“
„Siehst Du, daß Du Dich freust, mich hier zu haben. Weßhalb schicktest Du mich jeden Abend fort?“
„Ich schicke Dich nicht fort.“
„Nun gehe ich auch nicht wieder.“
Der Abend verging schnell und angenehm. Aber es giebt in einer einzigen Woche sieben – lange sieben Abende. Sie erschienen Edith mit jedem Tage länger. Ein unbeschäftigter Mann ist etwas Schreckliches!
„Willst Du nicht rauchen? Prati hat mir gesagt, es sei jetzt kein Thee zu kaufen, Du dürftest wieder rauchen.“
„Nein, Kind, es hat mir Mühe genug gekostet, es mir abzugewöhnen. Jetzt entbehre ich es nicht, und ich mag es mir nicht noch einmal angewöhnen, um es später wieder aufgeben zu müssen.“
Nach zehn oder zwölf Tagen war es Büchner wieder, der Edith bat, zu Frau Onslow zu gehen, und an demselben Abend, nachdem Edith gegangen war, ohne sich mehr als nöthig bitten zu lassen, erschien Prati. Er fand Büchner allein, noch nachdenklicher als gewöhnlich und erfuhr im Laufe des Abends die Ursache der besonderen Traurigkeit seines Freundes.
Das Gespräch zwischen Beiden lenkte sich in natürlicher Weise auf die abwesende Hausfrau. Prati hatte sich nach ihr erkundigt, und Büchner ihm geantwortet, sie befinde sich ganz wohl, sie sei zum Besuch bei Frau Onslow.
Darauf gerieth das Gespräch ins Stocken.
„Woran denken Sie eigentlich?“ fragte der Italiener.
Büchner begann langsam und leise zu sprechen; es war, als denke er laut: „Edith ist bei Frau Onslow. Ich habe sie gebeten, sich zu zerstreuen. Hier ist es einsam. Dies ist nicht das Haus, in dem sich eine junge Frau wohlbefinden kann. Ich bin traurig und Edith hat in meiner Gesellschaft keine Freude. Ihre Jugend sehnt sich nach Glück. Sie hat redlich versucht, es zu finden in dem freudlosen Kreise, in den mein Dasein gebannt ist. Vergeblich! Ich sehe wohl, wie sie nach Sonne und Wärme dürstet und sie in dem kalten Schatten, in dem ich lebe, dahin welkt. Ich selbst habe ihr die Thür des Gefängnisses geöffnet und sie ins Freie geführt. Aber sie fühlt sich dort ohne mich nicht sicher und flattert ängstlich nach ihrem Käfig zurück. Die treue Seele mag sich nicht freuen, weil ich traurig bin. Neulich kehrte sie heim mit Blumen, einem Zeichen, wie schön Gottes Welt da draußen ist. Und hier ist es öde und kalt, und ich allein halte sie zurück! …“ Er blickte starr vor sich hin. „Graue Dämmerung rings umher! – Ich möchte, es wäre dunkle Nacht!“
Prati fand kein Wort des Trostes. „Wollen wir einen Spaziergang machen?“ fragte er leise.
Keine Antwort.
„Raffen Sie sich auf, Büchner!“
„Wozu.“
Prati sah wohl, daß er an diesem Abend nicht helfen konnte. Er drückte Büchner die Hand und begab sich zu Frau Onslow. Als er die Treppe hinaufging, vernahm er freundliches Lachen, und deutlich unterschied er den hellen Klang von Edith’s frischer Stimme. Während er die Anwesenden begrüßte, sagte Frau Edith: „Herr Morrisson, erzählen Sie auch Herrn Prati die reizende Geschichte, sie wird ihm gefallen und wir hören sie gern noch einmal.“ Herr Morrisson ließ sich nicht lange bitten. Edith lauschte seinem Vortrag mit glänzenden Augen und stimmte wieder ihr fröhliches Lachen an, als er geendet hatte. Prati konnte an der Geschichte nichts Komisches finden, aber er sagte mit seinem verbindlichen Lächeln: „Sehr hübsch.“
Bald darauf entfernten sich die Anderen, und Prati blieb mit Frau Onslow allein. Er erzählte von seinem Besuche bei Büchner. Frau Onslow hörte aufmerksam zu.
„Was Büchner von den Blumen sagte, macht mich nachdenklich,“ bemerkte sie, als Prati geendet hatte. „Morrisson hatte sie Edith geschenkt.“
„Sie glauben doch nicht, daß Büchner eifersüchtig ist?“
„Nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Er weiß so gut wie Sie und ich, daß er sich auf Edith’s Liebe und Treue unbedingt verlassen kann.“
„Nun, was glauben Sie?“
„Er grämt sich über seine Ohnmacht, Edith glücklich zu machen: er bildet sich ein, daß dies Anderen gelingen könnte. Er denkt dabei vielleicht an Morrisson, – wie der Kranke an den Gesunden: mit einer Art von Neid, aber ohne Uebelwollen für den Andern.“
„Ich quäle mich nun seit bald drei Jahren mit Büchner,“ sagte Prati. „Ich habe es ehrlich versucht, ihn von seinem Elend zu heilen. Aber, Gott sei es geklagt, ich habe nichts erreicht, und heute fühle ich mich entmuthigt.“
„Sie waren ihm ein treuer Freund, Herr Prati, niemals hatte Jemand einen besseren, als Büchner in Ihnen besitzt. Sie haben Ihre Pflicht getreulich geübt. Der Beste kann nicht mehr als sein Bestes thun. Das haben Sie gethan. Aber ich fürchte, unserm Freunde ist nicht mehr zu helfen; er ist ein gebrochener Mann.“
„So geben auch Sie die Hoffnung auf, ihn je wieder froh zu sehen?“ fragte Prati verzweifelt.
„‚Je‘ ist ein langes Wort. Die Zeit heilt Alles. Aber ich komme wieder auf meinen alten Gedanken zurück. Edith und Büchner müssen China verlassen. Man müßte in Amerika oder in Europa etwas für sie zu thun finden.“
„Das ist auch meine letzte Hoffnung,“ sagte Prati. „Ich werde darüber nachdenken; wir kommen später darauf zurück. [522] Ich sage Ihnen heute Lebewohl. Von Büchner habe ich mich schon verabschiedet, er wird es wohl seiner Frau bestellen, ich vergaß, ihr zu sagen, daß ich morgen wieder nach Sutschow gehe.“
„Sie sind ja soeben zurückgekehrt.“
„Ich konnte nicht Alles erledigen, was ich dort zu thun fand. Gegen Ende der Woche hoffe ich wieder in Shanghai zu sein. Auf Wiedersehen, Frau Onslow!“
Es war Prati’s letzte Reise. Er kehrte von derselben lebend nicht zurück. Er erkrankte in dem verpesteten Lande an der Cholera und starb auf dem Großen Kanal, eine Tagereise vor Shanghai.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze fremde Niederlassung; nur Edith und Büchner, die mit Wenigen verkehrten, erfuhren davon zunächst nichts. Frau Onslow empfand tiefe Betrübniß darüber. Ihre größte Sorge aber war, wie Büchner diesen neuen Schlag ertragen werde. Sie sandte einen Boten zu Edith und bat diese um ihren Besuch. Edith erschien bald darauf. Sie erkannte sofort an Frau Onslow’s Miene, daß diese eine Trauerbotschaft zu machen habe, und fragte ängstlich, was vorgefallen sei. Frau Onslow erzählte es in möglichst schonender Weise.
„Mein armer, armer Georg! – Der gute treue Prati!“ rief Edith, und dann brach sie in Thränen aus. „Wie soll ich es Georg mittheilen?“ sagte sie weinend. „Ach, ich bin recht unglücklich; ich fühle mich vollständig rathlos.“
Frau Onslow erbot sich, die schwere Aufgabe zu übernehmen, Büchner die Nachricht von dem Tode seines Freundes zu bringen. Davon wollte Edith nichts hören. „Nein,“ sagte sie, „das darf ich Niemand überlassen. – Aber, liebe Frau Onslow, kommen Sie in einer Stunde etwa; dann ist es wohl besser für ihn, auch noch Andere als mich zu sehen.“
Die muthige kleine Frau trocknete ihre heißen Thränen und machte sich auf den Weg, die schwere Pflicht zu erfüllen, die sie sich auferlegt hatte.
Genau eine Stunde später erschien Frau Onslow in dem Büchner’schen Hause, wo Todtenstille herrschte. Der Diener sagte, Herr und Frau Büchner seien im Salon. Frau Onslow hatte nicht die Gewohnheit, sich bei guten Freunden anmelden zu lassen. Aber sie lauschte einen Augenblick, ehe sie einzutreten wagte. Alles war still. Als sie die Thür öffnete, erblickte sie Büchner vor dem Tisch sitzend und in seiner Rechten die Hand Edith’s haltend, die neben ihm stand. Er war sehr bleich, seine Augen waren trocken, auch schien es Frau Onslow nicht, als ob er geweint hätte. Der Redefluß der guten Frau war versiegt angesichts des großen Schmerzes, dessen Zeugin sie war. Sie drückte ihrem Freunde stumm die Hand, dann winkte sie Edith abseits und fragte, wie Büchner die Trauernachricht aufgenommen habe. Edith sagte nur: „Ach, der Arme!“
Die Beerdigung Prati’s fand am nächsten Morgen statt. An der Spitze der Leidtragenden, unmittelbar hinter dem Sarge, schritt der lange Holländer, alle übrigen Anwesenden um Hauptes Länge überragend. Er blickte starr auf die mit Blumen bedeckte Bahre, die vor ihm dem Kirchhof zugetragen wurde, und er bemerkte nicht, daß Aller Augen auf ihn gerichtet waren. Es war ein ergreifendes Schauspiel, wie der große starke Mann mit seinem Schmerze kämpfte, um Fassung zu bewahren, und wie er sie bis zum Ende nicht verlor.
Nachdem ein Priester die Trauerrede gehalten und man die Leiche in die Gruft gesenkt hatte, warfen die Anwesenden in üblicher Weise ein Jeder etwas Erde auf den Sarg und zogen sich still zurück; dann schaufelten die Todtengräber das offene Grab zu. Von dem Sarge war längst nichts mehr zu sehen, aber Büchner hatte seinen Platz neben der Gruft nicht verlassen und starrte noch immer nach der Stelle, wo die letzten Blumen unter der darauf geworfenen Erde verschwunden waren. An der Thür des Kirchhofes drehte Mancher, der Prati das letzte Geleit gegeben hatte, noch einmal den Kopf nach Büchner um. Dieser stand wie festgebannt auf derselben Stelle. Da berührte Edith, die sich mit Frau Onslow dem Leichenzuge in einem Wagen angeschlossen hatte, sanft den Arm ihres Mannes. Er wandte sich langsam zu ihr.
„Komm nach Hause,“ sagte sie. Darauf folgte er den Anderen. Unterwegs sprach er kein Wort, und Edith versuchte nicht, ihn zu trösten.
Der italienische Konsul hatte, gleich nachdem er die Anzeige von Prati’s Tode empfangen, dessen Nachlaß versiegeln lassen. Im Laufe des Tages, an dem das Begräbniß stattgefunden, erschien er sodann in Begleitung eines Kanzleibeamten, um das Inventarium der Hinterlassenschaft auszunehmen und in Gemeinschaft mit Rawlston nach Prati’s Testament zu suchen, da ein solches auf dem Konsulate nicht niedergelegt worden war. Aber es fand sich keines. Darauf bat der Konsul, Herr Rawlston möchte einen verständigen Diener zu seiner Verfügung stellen, der ihm bei der Aufzeichnung aller in Prati’s Zimmer vorgefundenen Gegenstände behilflich sein könnte. „Die Arbeit muß sorgfältig gemacht werden,“ sagte der Konsul; „sie wird wohl einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, denn nicht eine Stecknadel darf in dem Nachlaßverzeichniß fehlen.“
„Ich werde Ihnen den Komprador hinaufschicken“ antwortete Rawlston, „das ist ein gewandter Mann, auch spricht er gut englisch, außerdem können Sie sich noch von Prati’s Boy helfen lassen.“
Der Konsul dankte; er setzte sich in des Verstorbenen Zimmer auf einen Sessel und begann zu lesen, während der Kanzleibeamte unter dem Diktat des Komprador’s und des Boy Alles niederzuschreiben begann, was diese als Herrn Prati angehörig bezeichnen konnten.
Die Arbeit währte schon seit einer Stunde, und der Konsul war trotz des ununterbrochenen Kommens und Gehens der Diener sanft eingeschlafen, als er plötzlich aus seinem Schlummer geweckt wurde durch den eigenthümlichen hellen Ausruf, der die Ueberraschung der Chinesen zu erkennen giebt.
„Ai–joh!“
Der Konsul wandte sich um und erblickte den Komprador und den Boy vor einem alten ledernen Koffer stehend, den sie soeben aus dem Schlafzimmer herbeigeschleppt, und dessen Inhalt, aus Kleidern und Büchern bestehend, sie auf dem Boden ausgebreitet hatten.
Der Komprador hielt einen gelblichen glänzenden Gegenstand von der Größe und Form eines kurzen kleinen Lineals in der Hand.
„Das gehört zu dem Ki-tschong-Golde,“ sagte er lakonisch.
Der Konsul verstand nicht, was das heißen sollte. Es wurde ihm bald erklärt. Und noch vor dem Essen wußten Rawlston und Wallice und Morrisson und Onslow und ganz Shanghai, mit der üblichen Ausnahme von Büchner und Edith, die ihre Wohnung seit dem Begräbniß nicht wieder verlassen hatten, daß Prati, den man am Morgen feierlich zur Erde bestattet hatte, der Dieb der zehntausend Dollars gewesen sei, für den der arme Büchner jahrelang gegolten hatte.
Die Geschichte war ziemlich verwickelt, aber die Aufklärung eine vollständige.
[533] Der Komprador hatte auf der Goldbarre, die er in einem von Prati’s Koffern gefunden, auf den ersten Blick den ihm wohlbekannten Stempel seines Geschäftsfreundes Ki-tschong erkannt, und dieser hatte aus seinen Büchern den unzweifelhaften Nachweis führen können, daß diese Goldbarre, im Werthe von etwa fünfhundert Dollars, einen Theil des Geldes bildete, das er Büchner eingezahlt hatte, und das diesem, in einer bis dahin unaufgeklärten Weise, abhanden gekommen war. Als man einmal auf die richtige Spur des Diebes geleitet war, klärte sich das ganze Geheimniß wie von selbst auf.
Prati hatte sich einen Schlüssel zur Kasse zu verschaffen gewußt. Dies war ihm leicht gemacht worden. In dem Kassenschrank befand sich nur in seltenen Fällen baares Geld. Derselbe diente in erster Linie und gewöhnlich dazu, die Hauptbücher des Hauses und gewisse Werthpapiere – Konnossemente, Wechsel, Kontrakte, Versicherungsscheine etc. – in feuerfestem Verwahr zu halten. Nicht nur stand die Kasse während der Komptoirstunden gewöhnlich offen, von Niemand sonderlich bewacht, da das, was dieselbe enthielt, für keinen Dieb Geldeswerth hatte, sondern es war verschiedene Male vorgekommen, daß Prati während längerer Beurlaubungen von Büchner dessen Vertretung übernommen und auf diese Weise den Kassenschlüssel Wochen lang zu seiner Verfügung gehabt hatte. Da war es ihm leicht gewesen, sich von einem chinesischen Schlosser einen Nachschlüssel machen zu lassen, und selbst an demselben so lange zu feilen, bis er die Kasse ebenso gut öffnete, wie der richtige.
[534] Der Diebstahl war nun an einem Dienstag Abend verübt worden. Am vorhergehenden Sonntag hatte Prati zu einem seiner häufigen Ausflüge in das Innere Shanghai verlassen. Eine Tagereise hinter der Stadt, am Montag Abend, war sein Boot von den Tai-ping-Rebellen aufgehalten worden, und er hatte zu seiner Bestürzung bemerkt, daß er keinen Passirschein besitze. Die Rebellenhäuptlinge waren stets bereit, jedem Fremden, der in den von ihnen überzogenen Landstrichen reisen wollte, ein derartiges Schriftstück auszustellen. Aber ohne im Besitz eines solchen zu sein, war es gefährlich, manchmal sogar, wie in dem vorliegenden Falle, unmöglich, die Grenzen der von den Tai-ping beherrschten Provinz zu überschreiten. Prati besaß einen Paß in bester Ordnung, mit allen nöthigen amtlichen Siegeln versehen und von einem halben Dutzend „himmlischer“ und anderer „Könige“ visirt. Das Schriftstück war von ihm in Shanghai vergessen worden. Nun mochte Prati aber gewichtige Gründe haben, Niemand den Schlüssel zu seinem Schreibtisch anzuvertrauen, denn er bequemte sich dazu, selbst nach Shanghai zurückzukehren. Da die Strömung im Kanal, in dem er sich befand, die Rückreise im Boote zu einer sehr langwierigen gemacht haben würde, so befahl er den Bootsleuten bis nach einem bestimmten Orte zurückzugehen. Dort wollte er sie in der Nacht vom Dinstag auf Mittwoch wieder antreffen. Er selbst miethete einen von Menschenhand gezogenen Karren, wie dergleichen in China auf den Landstraßen gebräuchlich sind, um darin nach Shanghai zurückzukehren. Er verließ sein Boot Dinstag mit Grauen des Tages und langte gegen fünf Uhr Abends in der chinesischen Vorstadt von Shanghai an. Dort ließ er das primitive Fuhrwerk, dessen er sich bedient hatte, warten und begab sich zu Fuß nach seiner Wohnung. In der Nähe derselben begegnete er dem Kaufmann Ki-tschong, der ihm beiläufig erzählte, er komme soeben von Rawlston & Co., wo er zehntausend Dollars eingezahlt habe. Sieben Stunden später, etwas nach Mitternacht, war Prati wieder auf seinem Boote.
Ueber die Art, wie der Italiener einen Theil dieser Zeit angewandt hatte, fehlen bestimmte Nachrichten, jedoch ist es leicht, dies mit nahezu vollständiger Sicherheit festzustellen. Prati war – so erklärt man sich die Sache – ohne bemerkt zu werden, in das Komptoir gelangt. Er hatte sein Pult geöffnet, um den Paß herauszunehmen. Und in demselben Pulte mochte wohl auch der Nachschlüssel zur Kasse gelegen haben. Das Komptoir war leer. Da trat die Versuchung an den Italiener heran und fand ihn schwach. Dicht neben ihm lagen zehntausend unbewachte Dollars. Er öffnete die Kasse, bemächtigte sich des Goldes, schloß den Schrank wieder und war verschwunden. Der Diebstahl hatte im Verlaufe einer halben Minute verübt werden können. Die Zeit von fünf bis sechs Uhr ist die ödeste Stunde für das Straßenleben in der Niederlassung von Shanghai. Die Fremden sitzen dann gewöhnlich bei Tisch. Die unbeschäftigten Diener pflegen dies zu benutzen, um zu schlafen. Prati hatte auf dem Rückwege zur chinesischen Stadt, wobei er die wenigst belebten Straßen gewählt haben mochte, keinen Bekannten angetroffen; und um halb sieben Uhr rollte er bereits wieder auf seinem Schiebkarren dem Orte zu, den er seinen Bootsleuten bezeichnet hatte und wo er dieselben auch richtig antraf.
Der größte Theil der entwendeten zehntausend Dollars war wahrscheinlich sofort gegen Seide umgetauscht worden. Die Rebellen, mit denen Prati auf seiner damaligen Reise verkehrt hatte, kümmerten sich wenig darum, wie das Geld erworben war, das sie für die von ihnen gestohlene Seide bekamen. Sie selbst hatten Interesse daran, den Ursprung des Geldes zu verbergen, da die obersten Häuptlinge, die für ihre eigene Rechuung unbarmherzig raubten und plünderten, darauf hielten, daß von ihren Untergebenen strenge Manneszucht beobachtet wurde. Die Goldbarren mit dem Stempel Ki-tschong’s waren sicherlich sofort eingeschmolzen worden. Wie es gekommen, daß eine Goldbarre in Prati’s Besitz geblieben war, darüber schwanken die Ansichten. Einige nehmen an, er habe nicht mehr gewagt, das Ki-tschong-Gold auszugeben, nachdem der Diebstahl bekannt geworden war, Andere glauben – und diese Ansicht hat die Wahrscheinlichkeit für sich, – daß Prati, mit jener eigenthümlichen Unvorsichtigkeit, welche gewisse Handlungen der verschlagensten Verbrecher kennzeichnet, kein Bedenken getragen hatte, einen Theil des gestohlenen Gutes zurückzubehalten, in einem verschlossenen Koffer, zu dem er den Schlüssel bei sich trug, und in dem es Niemand, auch keinem Diebe, eingefallen sein würde, Gold zu suchen. Als der Italiener acht Tage nach dem Verschwinden des Goldes wieder in Shanghai eintraf, war die polizeiliche Untersuchung längst beendet. Weder Rawlston noch der Polizei-Inspector hatten dabei an Prati denken können, den sie an dem Tage, an dem das Verbrechen begangen worden war, weit von Shanghai glauben mußten. Der Komprador erinnerte sich nachträglich, daß Prati’s chinesischer Diener, der seinen Herrn nach Sutschow begleitet hatte, von den Unannehmlichkeiten gesprochen, die ihnen das Fehlen des Passes verursacht hatte. Aber dieser Umstand war vom Komprador in keinen Zusammenhang mit dem Diebstahl gebracht morden und er hatte ihn in der Aufregung jener Tage schnell vergessen. Auch auf Ki-tschong hatte die kurze, unverdächtige Begegnung mit Herrn Prati auf der Straße so wenig Eindruck gemacht, daß er derselben gar nicht erwähnt hatte. Es waren ihm an jenem Tage und zur selben Zeit auch noch andere Mitglieder des Rawlston’schen Hauses zu Gesicht gekommen. Er hatte an Keinen von diesen als an den möglichen Dieb der zehntausend Dollars gedacht. Hätte er damals von dem Zusammentreffen mit Prati gesprochen, so würde dies auch nicht genügt haben, einen begründeten Verdacht auf den Italiener zu lenken. Seine unfreiwillige kurze Anwesenheit in Shanghai konnte durch die Umstände, welche dieselbe begleiteten, vollständig erklärt werden.
Rawlston war geradezu betroffen, als Büchner’s Unschuld nun sonnenklar vor ihm stand. Der Vorwurf, den Andere ihm wiederholt gemacht hatten, er habe Büchner zu Grunde gerichtet, gewann plötzlich an Schärfe. Fast empfand er Bedauern darüber, daß die Wahrheit nun ans Licht gekommen sei. Aber diese Empfindung machte schnell bessern Gefühlen Platz, die ihn drängten, dem gekränkten Manne jede mögliche Genugthuung zu verschaffen. Er begab sich schnurstracks zu Francis Morrisson, den er von ähnlichen Gesinnungen Büchner gegenüber beseelt fand und mit dem er sich nach kurzer Unterredung dahin verständigte, die ganze Kolonie, da sie sich als solche, absichtlich oder nicht, an der Kränkung Büchner’s betheiligt hätte, solle nunmehr förmlich und feierlich ihre wohlgesinnte Theilnahme an dessen Schicksal zu erkennen geben, und zwar in der üblichen Form: durch Ueberreichung einer Ehrengabe.
Rawlston und Morrisson gehörten zu den einflußreichsten Mitgliedern der fremden Niederlassung. Sie zweifelten nicht daran, daß ihre auf Büchner bezüglichen Vorschläge allgemeine Zustimmung finden würden, und sie irrten darin auch nicht. Nachdem jeder von ihnen mit einigen der reichsten Kaufleute der Kolonie gesprochen hatte, konnte eine Liste, in dereingeladen wurde, Herrn Georg Büchner ein „Testimonial“ zu überreichen, in Umlauf gesetzt werden, an deren Spitze die besten Namen von Shanghai mit nicht unerheblichen Beiträgen prangten, und die sich schnell mit zahlreichen Unterschriften bedeckte. Shanghai war damals reich und Kleinlichkeit in Geldsachen gehörte nicht zu den Eigenthümlichkeiten der „Pioniere“. Die Beiträge zu dem „Büchner-Testimonial“ ergaben bald die stattliche Summe von neuntausend und etlichen Dollars. Morrisson und Rawlston thaten sich zusammen, um dieselbe auf zehntausend Dollars abzurunden. Sodann fand eines der beliebten „Meetings“ im Klub statt, in dem Morrisson den Vorsitz führte, und das nach kurzer Berathung, wie in der Zeitung zu lesen war, mit dem Beschlusse endete, ein aus zehn Personen bestehender Ausschuß – derselbe wurde auf der Stelle durch Acclamation ernannt – solle Herrn Büchner die Summe von zehntausend Dollars in geeignet scheinender Weise überbringen, als „ein Zeichen der Theilnahme und der Hochachtung der Kolonie für deren verehrtes Mitglied Herrn Georg Büchner“.
Frau Onslow theilte dies Edith vertraulich mit. Man wollte die Freude haben, Büchner angenehm zu überraschen. Aber derselbe mußte in irgend einer Weise auf die außerordentliche Kundgebung vorbereitet werden. Edith zeigte sich erfreut über die Nachricht. Das Geld war ihr gleichgültig. Sie hatte sich niemals arm gefühlt und es fehlte ihr die richtige Schätzung von Geld und Geldeswerth. Aber sie war stolz auf die ihrem Manne gezollte Verehrung. Nun endlich würde er wieder erhobenen Hauptes durch die Straßen von Shanghai gehen!
Edith’s Empfindungen in Bezug auf Prati waren zunächst getheilter Natur gewesen. Im ersten Augenblick, nachdem sie erfahren, was er verübt, hatte sie nur Bestürzung gezeigt: Prati, [535] der treue Freund, die Stütze ihres unglücklichen Mannes, Prati ein Dieb! – Es erschien unglaublich, und doch war es so. Der Unglückliche! – Aber gleich darauf hatten die berechtigten Gefühle der Gattin die Oberhand gewonnen. Prati also war an dem Unglück ihres geliebten Georg schuld. – Der Elende! In heller Entrüstung eilte sie nach ihrem Hause zurück, dem Schmerz um einen Unwürdigen, unter dem Büchner litt, Einhalt zu thun. Sie vergaß alle Rücksichten, die sie seit ihrer Verheirathung gewöhnt war auf ihres Mannes Zustand zu nehmen.
„Georg!“ rief sie ihm entgegen, sobald sie ihn erblickte, „der Dieb ist entdeckt.“
Er sah sie erstaunt an.
„Prati, – ja Prati ist der Dieb!“
„Allmächtiger Gott!“ sagte Büchner leise und sank auf den Sessel zurück, von dem er sich beim Eintritt seiner Frau erhoben hatte.
Diese, ohne die Niedergeschlagenheit ihres Mannes zu beachten, vielleicht ohne sie zu bemerken, erzählte in fliegender Hast Alles, was sie soeben von Frau Onslow erfahren hatte. Büchner hörte stumm zu. Von Zeit zu Zeit schüttelte er das Haupt.
„Der Arme!“ sagte er, als Frau Edith geendet hatte. Und unwillkürlich die Worte wiederholend, die Prati in seiner Erzählung über das Schicksal der Brüder Joseph und Anselm gebraucht hatte, fügte er hinzu: „Was muß er gelitten haben!“
„Der Arme?“ rief Frau Edith entrüstet. „Der Elende, der Heuchler, der Dich und mich unglücklich gemacht hat!“
„Er hat dafür schwer gebüßt.“
Edith war einige Sekunden sprachlos. „Für diese Art von Edelmuth,“ brachte sie gereizt hervor, „fehlt mir in der That das Verständniß.“
„Ja“ sagte Büchner, „ich fürchte, wir werden uns darüber nicht verständigen. Du hast vollkommen Recht.“
„Aber bist Du denn nicht froh – wäre es auch nur um meinetwillen, – daß Du nun in Aller Augen wieder makellos dastehst?“
„Ja, ich freue mich in der That … Deinetwegen. Mir ist es gleichgültig – ich bin fertig.“
„Georg, versündige Dich nicht.“
„Ich bin fertig, fertig, fertig!“ wiederholte er und sah sie mit weit geöffneten Augen befremdlich an. Er preßte die linke Hand auf das Herz und hob und senkte sie wieder in schnellen, harten Schlägen: „Ach, Edith, wenn Du wüßtest, wie sie mich Alle gequält haben!“
„Alle? O Georg!“
„Nein, Du nicht, Du warst treu – Du – und Prati …“
„Nenne mich nicht mit dem Nichtswürdigen!“
„Du hast Recht, verzeihe mir!“
Er fühlte sich gänzlich vereinsamt. Es war dunkel geworden. – „Ich will etwas an die freie Luft gehen,“ sagte er sanft. Edith sah ihm kopfschüttelnd nach. – Sie zürnte ihm wegen seiner Schwäche für Prati. –
Während der nächsten Tage wurde dem langen Holländer das Geld zurückgegeben, das er auf dem amerikanischen Konsulat vor etwa drei Jahren niedergelegt hatte, „zur freien Verfügung der Herren Rawlston & Co., bis zu dem Tage, an dem die abhanden gekommenen zehntausend Dollars wieder in deren Besitz gelangt sein würden.“ – Diese Summe sollte später aus dem Nachlaß Prati’s gedeckt werden. Bei der Prüfung jener Hinterlassenschaft hatte sich übrigens herausgestellt, daß Prati’s Vermögen in den letzten Jahren nicht unerhebliche Einbuße erlitten. Von den glänzenden Geschäften, über die er Büchner Abrechnungen geliefert und von denen er angegeben hatte, sie seien durch die Vermittlung von Rawlston & Co. ausgeführt worden, war weder in Prati’s noch in Rawlston’s Büchern eine Spur zu entdecken. Die ersteren erschienen übrigens ohne besondere Bedeutung, denn seit zwei und einem halben Jahre waren in denselben nur noch wenige Eintragungen gemacht worden. In einem Notizbuche, das in Prati’s Pulte vorgefunden wurde, entdeckte man den flüchtigen Bleistiftentwurf eines Kontokorrents. Dasselbe hatte keine Unterschrift. Auf der rechten Seite stand 10000 und zweimal die Zahl 1200. Die andere Seite war beinah vollgeschrieben. Zuerst las man die Ziffer 2000, dann folgten verschiedene größere und kleinere Beträge, deren Gesammtsumme nahe an 12400 ausmachte. Rawlston schloß nach einigem Nachdenken, daß er das Konto Büchner’s bei Prati vor sich habe. Die Zahl 10000 bezeichnete augenscheinlich die gestohlene Summe; 2400 bildeten zweijährige Zinsen auf jenen Betrag zu dem, wenn auch hohen, doch in Shanghai nicht ungebräuchlichen Satze von 12% – Die Ziffer 2000 entsprach dem Darlehn, das Prati seinem Freunde gemacht hatte, um die fehlenden zehntausend Dollars an Rawlston & Co. zurückerstatten zu können; die übrigen Summen endlich bezeichneten aller Wahrscheinlichkeit nach verschiedene Beträge, die Prati im Verlauf von zwei Jahren an Büchner geborgt oder demselben unter dem Vorwande ausgezahlt hatte, daß sie den Nutzen geschäftlicher Unternehmungen darstellten, die für gemeinschaftliche Rechnung ausgeführt waren. – Der Italiener erschien demnach als ein eigenthümliches Gemisch von Ehrlichkeit und Spitzbüberei. Es lag kein Anzeichen dafür vor, daß er über den von ihm verübten Diebstahl Gewissensbisse empfunden hatte; den von seinem Freunde erlittenen Geldverlust hatte er dagegen reichlich wieder getilgt. Frau Onslow verstand nun erst die Geschichte der beiden Brüder, die Prati ihr einmal erzählt hatte. – „Fallen ist traurig, ist jammervoll – aber es ist verzeihlich, Liegenbleiben ist schlimm,“ hatte er gesagt, um einen Dieb zu entschuldigen. Er hatte große Anstrengungen gemacht, sich wieder emporzurichten und im tiefsten Innern ihres guten Herzens bemitleidete Frau Onslow den reuigen Sünder. Es war ihr jedoch nicht möglich, ihm zu verzeihen. „Ein Dieb ist ein Dieb – etwas Häßliches!“ und sie hörte ruhig mit an, wenn der Italiener in ihrer Umgebung allgemein verdammt wurde.
Edith hatte es nicht ohne Zagen unternommen, Büchner auf den Besuch der Abgesandten der Kaufmannschaft vorzubereiten. Sie fürchtete, seine Menschenscheu werde ihren Wünschen Widerstand leisten. Sie gebrauchte viele Worte, um Büchner mit dem Vorhaben seiner Mitbürger – ohne des Ehrengeschenks zu erwähnen – bekannt zu machen, dann schloß sie mit einer Bitte: „Thu’ es mir zu Liebe und sei recht freundlich mit den Herren! Sie sind mir beinah ganz fremd geworden, aber es wird mir leicht werden, wieder unbefangen mit ihnen zusammenzutreffen, wenn ich einmal gesehen habe, wie hoch Du in ihrer Achtung stehst.“
„Ich bin es Dir schuldig und thue es gern,“ hatte Büchner geantwortet, und damit war die Angelegenheit in befriedigender Weise erledigt worden.
Der Tag war gekommen, an dem die Abgesandten der fremden Niederlassung Herrn Büchner den angekündigten feierlichen Besuch machen wollten. Edith hatte Alles darauf vorbereitet. Der hübsche Speisesaal zu ebener Erde, das größte Gemach des Hauses, war überfüllt mit Blumen und Ehrenkränzen, die von den ehemaligen Freunden und Genossen Büchner’s als ein ferneres Zeichen der Theilnahme an dessen Geschick seit frühem Morgen eingetroffen waren. Der lange Holländer hatte es sich ruhig gefallen lassen, daß man ihm statt des gewöhnlichen bequemen Hausanzuges seine besten Kleider hingelegt, und er hatte dieselben, ohne eine Bemerkung zu machen, angezogen. – Mit dem Glockenschlage zwölf erschienen die Abgeordneten in schwarzen Fräcken, mit weißen Binden und den sonst nur bei Hochzeiten und Leichenbegängnissen gebräuchlichen hohen Hüten. An ihrer Spitze ging Francis Morrisson, der unter dem Arm ein großes Portefeuille aus rothem Leder trug. Sie stellten sich in feierlicher Ordnung an dem einen Ende des Saales auf und beschieden sodann den chinesischen Diener, der sie mit stummer Verwunderung beobachtet hatte, Herrn und Frau Büchner zu bedeuten, daß man sie erwarte. Gleich darauf öffnete sich die Thür, und Büchner, von seiner im Weiß gekleideten Frau gefolgt, trat in das Zimmer. Er blieb einen Augenblick an der Schwelle stehen, verneigte sich tief und sagte leise, doch so, daß Alle es verstehen konnten:
„Ich danke Ihnen, meine Herren für die große Ehre, die Sie mir erweisen.“
Darauf näherte er sich der Gruppe der Abgesandten und reichte einem Jeden, Rawlston mit inbegriffen, die Hand, die sie Alle herzlich drückten und schüttelten. Sodann gesellte er sich wieder zu seiner Frau, die in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war und dem Auftritt mit einem Gemisch von Rührung, Freude und Stolz beigewohnt hatte. Und nun trat Herr [538] Francis Morrisson mit dem großen rothen Portefeuille hervor. Er öffnete dasselbe, – und man sah, daß es, gleich einem Brautgeschenk, mit blendend weißem Atlas gefüttert war, – entfaltete einen beschriebenen Bogen, der darin lag, räusperte sich und begann mit lauter, fester Stimme eine Adresse an Herrn Georg Büchner zu lesen. In wohltönenden, sorgfältig gewählten Ausdrücken war darin gesagt, daß Büchner von einem großen Unglück heimgesucht worden sei, daß er dasselbe mit männlichem Muth, ohne ein Wort der Klage ertragen und in seiner Gattin, einem Vorbilde aller edlen Frauen, eine muthige Gefährtin gefunden, die in unwandelbarer Treue an seiner Seite gestanden habe; der gütigen Vorsehung sei es zu danken, daß das Unglück, unter dem Büchner Unverdientes erduldet, sich nunmehr von ihm abgewandt habe. Deß müsse sich jeder Gute freuen, deß freue sich die gesammte Kolonie, und als ein Ausdruck dieser herzlichen Theilnahme überreiche sie Herrn Büchner hiermit eine Ehrengabe, die er zu empfangen gebeten werde, „für sich und die Seinen als ein dauerndes Zeichen der Liebe und Achtung seiner Mitbürger“.
Frau Edith rannen die Thränen – Thränen des Glücks, über die Wangen, die ganze Versammlung – und es befanden sich darunter einige recht rauhe Männer – war sichtlich ergriffen. Und Büchner? Er lauschte der Rede starr und stumm, aber er verstand die Worte nicht. Er begriff nur, daß man ihm Wohlwollen bezeigte, und er empfand, daß er sich dessen nicht mehr freuen konnte. Unwiderstehlich wie die Fluth drang der Jammer über sein Elend auf ihn ein und bemächtigte sich seines ganzen Wesens. Die letzten Jahre der Einsamkeit zogen vor seinem Geiste vorüber. Er sah sich verachtet, ausgestoßen von der Gesellschaft, des Diebstahls verdächtig, ein Trinker; er sah sein düsteres, kaltes Heim, das selbst die lichte Erscheinung Edith’s nicht zu erleuchten und zu erwärmen vermocht hatte; er sah, wie sie an seiner Seite freudenlos dahinwelkte, und er sah den Urheber all seines Elends, Prati, den ängstlichen Freund – und er zürnte ihm nicht. Sein Glück war dahin, das, was man ihm jetzt bot, machte es nicht wieder erstehen. Sie kamen zu spät mit ihren Glückwünschen und mit ihrem Troste. Was kümmerte ihn jetzt noch Anerkennung? Er hatte abgerechnet – abgerechnet mit Allem. Er war fertig mit dem Glück, mit der Hoffnung und mit dem Leben!
Morrisson hatte geendet und legte das geschlossene Portefeuille auf den Tisch. – Büchner wollte sprechen, danken. Die Stimme versagte ihm. Wie ein Greis bewegte er den Kopf leise hin und her, und einem gänzlich Hilflosen gleich erhob er zitternd beide Hände. Ein rauher Laut – ein Seufzer, ein Stöhnen – entrang sich seiner Brust. Noch einmal richtete er einen trostlosen Blick auf Alle, die gekommen waren, ihn zu erfreuen, darauf wandte er sich langsam ab und schritt der Thür zu. Dort blieb er einige Sekunden stehen, seine Lippen bewegten sich, aber man vernahm nicht, was er sprach – und dann war er gegangen.
Edith eilte ihm nach, nicht, ohne einem jeden der Anwesenden die Hand gedrückt zu haben. „Die Freude hat ihn überwältigt,“ wiederholte sie dabei verwirrt. – „Sehr erklärlich, sehr natürlich,“ erwiederten die Gäste, „er ist nicht mehr an Freude gewöhnt. Grüßen Sie ihn herzlich! Wir hoffen, Sie und ihn bald wiederzusehen.“
Sie entfernten sich höchlichst befriedigt mit der Art, wie sie ihren Auftrag ausgeführt hatten, und mit dem tiefen Eindruck, den dies auf den langen Holländer gemacht zu haben schien. Sie wußten plötzlich Alle, daß er seit Jahr und Tag das Trinken aufgegeben hatte:
„Wie die kleine Frau an ihm hängt – er muß ein edler Mann sein – eine Seele von Mensch – nun wird er bald wieder der Alte sein – ich freue mich schon darauf, ihn im Klub und auf der Kegelbahn zu sehen. – Es müßte ihm dort ein feierlicher Empfang bereitet werden.“ – Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung: ein silberner Pokal sollte ausgeschoben und es dabei so eingerichtet werden, daß Büchner ihn gewinnen müsse. Diese Frage beschäftigte die Mehrzahl der Abgesandten auf dem Heimwege.
Ich befand mich während der ganzen Zeit in Shanghai und hatte Büchner oftmals gesehen. Er fühlte sich zu mir hingezogen – das kann ich mir nachsagen, ohne mich zu rühmen; denn wenn ich einmal einen Tag hatte vorübergehen lassen, ohne bei ihm vorzusprechen, so besuchte er mich an Bord der „Aurora Belisle“, während er sonst doch nicht gern zu irgend Jemand ging. Ich glaube deßhalb auch, daß ich seinem Herzen näher stand als seine alten Bekannten in Shanghai. – Weßhalb? – Vielleicht weil ich ihm von Anfang an vertrauensvoll entgegengetreten war, sodann, weil ihm die schöne Reise, die wir von Yokohama nach Shanghai zusammen gemacht hatten, in guter Erinnerung geblieben sein mochte, und endlich – Sie dürfen dies nicht für eine Eitelkeit halten – weil ihm das ruhige Wesen des alten Seemanns vielleicht besser gefiel als die laute Zutraulichkeit der Leute auf dem Lande. Denn ich bin schweigsam – wenn ich nicht spreche. Sie verstehen, was ich sagen will: ich kann lange Geschichten erzählen und thue es ganz gern, aber wenn ich nichts zu sagen habe, so verhalte ich mich ruhig. Ich störe nicht leicht Jemand durch mein Sprechen. Büchner fühlte sich bei mir willkommen und unbeobachtet. Manchmal kam er an Bord und sagte: „Guten Tag!“ und ging dann nach hinten, wo er sich niederlegte, mit dem Kopfe auf die Schiffswand, um den Wussong vorüberfließen zu sehen. Er hatte eine eigenthümliche Zuneigung zu dem Strome gefaßt. – Nach einer Stunde sagte er: „Auf Wiedersehen!“ Und die vier Worte waren Alles, was ich während seines Besuches von ihm gehört hatte. – Ein anderes Mal war er gesprächiger. Das heißt nach seiner Art: hier und da einige Worte, die ich mir dann am Abend, wenn ich auf dem Deck spazieren ging, zusammenreimen mußte, um sie zu verstehen. Das Auffallendste an ihm in der letzten Zeit war sein ewiges Nachdenken und Grübeln, und ich fand heraus, daß seine Gedanken sich unausgesetzt mit seiner Frau, seinem verstorbenen Freunde und auch mit Francis Morrisson beschäftigten. Seine Frau beklagte er: sie führe an seiner Seite ein freudenloses Dasein, und das könne nie besser werden, so lange er lebe. Morrisson nannte er häufig „den liebenswürdigen Herrn Morrisson“, aber es klang nicht freundlich in seinem Munde, und das fiel mir auf; denn es war nicht seine Art, sich über Andere unfreundlich oder spöttisch zu äußern; von Prati sprach er nie anders, als von seinem Freunde: „Er war für Andere ein schlechter Mensch, aber für mich war er gut,“ sagte er. „Alle dürfen ihn verachten – auch Edith – aber ich kann es nicht und ich will es nicht!“ Die letzten Worte: „Ich will es nicht“ wiederholte er mehrere Male mit besonderem Nachdruck, gleichsam als weise er eine an ihn gerichtete Zumuthung zurück. Ich habe mir gedacht, daß über diesen Punkt zwischen ihm und seiner Frau eine Meinungsverschiedenheit bestand, die gelegentlich zu unerfreulichem Wortwechsel führen mochte.
Am Tage meiner Abreise von Shanghai, eine Woche etwa, nachdem Büchner die Ehrengabe der Kolonie überbracht worden war, kam er in der Dämmerung an Bord. Ich hatte mich bereits von ihm und seiner Frau verabschiedet; aber es freute mich, ihn noch einmal zu sehen, und ich hieß ihn an der Treppe willkommen.
„Weßhalb haben Sie keinen Sampan (chinesisches Boot) genommen?“ fragte ich. „Die Ebbe läuft heute stark. Ihr ‚Outrigger‘ ist in solchem Wasser gefährlich.“
„Nein, das kennt mich,“ antwortete er.
Er schwang sich an Bord, nachdem er sein Fahrzeug an der Treppe befestigt hatte.
„Ich wollte Ihnen noch einmal Lebewohl sagen, Kapitän.“ Er blickte nach dem grauen Novemberhimmel. „Sie werden Wind bekommen,“ fuhr er fort, und dann, auf den Wussong deutend, der zischend und gurgelnd an der Schiffswand vorüberzog. „Wie er singt und ruft!“
Nachdem er einige Minuten gleichgültig die Vorbereitungen zur Abreise, die an Bord getroffen wurden, beobachtet hatte, zog er sich die schwere Jacke aus, mit der er gekommen mar, und legte sie nach Matrosenart sorgfältig gefaltet in ein kleines Packet zusammen.
„Was machen Sie?“ fragte ich.
„Ich mache es mir bequem. Ich will noch eine Spazierfahrt unternehmen und will in meinen Bewegungen nicht beengt sein.“
Er schwenkte die langen Arme hin und her, als versuche er, ob sie auch gut in den Gelenken arbeiteten.
„Sie würden besser thun, nach Hause zu fahren,“ sagte ich; „in einer Stunde haben wir dunkle Nacht.“
„In einer Stunde bin ich zu Hause,“ antwortete er leise und nachdenklich. – Er zauderte noch einige Sekunden, endlich sagte er: „Es muß geschieden sein. Also noch einmal, leben Sie wohl, Kapitän, [539] und bewahren Sie mir ein gutes Andenken!“ Er stieg behende die Treppe hinab, nahm mit Sicherheit in dem schwankenden Fahrzeuge Platz, löste das Tau und stieß ab. Ein einziger Ruderschlag brachte ihn hinter das Schiff. Ich sah ihm nach. Sein Gesicht war mir zugewandt, aber er blickte nicht wieder auf. Es war ein Antlitz so starr und kalt wie das eines Todten. – Er spielte anfänglich mehr mit den Rudern, als daß er arbeitete, und bog langsam nach dem entgegengesetzten Ufer ab. – Herr Boswell, der Steuermann, hatte sich zu mir gesellt.
„Herr Büchner sollte sich mit dem kleinen Ding nicht zu breit vor den Strom legen,“ sagte er.
Es war, als ob der lange Holländer es vernommen hätte, denn in demselben Augenblick schlug er mit dem einen Ruder kräftig ein; das Boot machte eine viertel Wendung und lag gerade mit der vollen Strömung. Und nun begann Büchner wirklich zu arbeiten. Wie ein großes Pendel schwang der lange Körper vor- und rückwärts. Ich erkannte an der regelmäßigen Geschwindigkeit und dem großen Umfang der Bewegungen, daß Büchner sich, weit ausgreifend, mit der ganzen Kraft seines schweren Körpers auf die Riemen legte.
„Wenn Herr Büchner noch zehn Minuten so weiter fährt, so gebraucht er eine Stunde, um zurückzukommen,“ bemerkte der Steuermann. Er setzte das Glas, das er in der Hand hielt, ans Auge und beobachtete den Davoneilenden etwa eine halbe Minute lang, dann reichte er mir das Instrument, ohne ein Wort zu sagen.
Büchner war bereits über die Sutschow-Creek hinaus und näherte sich dem Ausgang des Hafens.
„Mein Boot,“ rief ich, „und die vier besten Männer!“
Jedermann verstand, was es galt. Eine Minute später hielt ich das Steuerruder der Gig: „Nun Leute! Euer Bestes!“
Alle hatten sie den langen Holländer lieb gewonnen, wennschon der stille Passagier kaum je mit einem von ihnen gesprochen hatte. Wir flogen durch die Bai. Das kleine Fahrzeug erbebte bei jedem Ruderschlag. Von den Schiffen aus, an denen wir vorbeifuhren, blickte man uns nach. Man meinte wohl, wir liefen ein Rennen gegen Zeit. Aber so hatten meine Leute noch in keiner Regatta gearbeitet. – Jetzt waren wir an Sutschow-Creek vorüber, In weiter Entfernung sah ich den „Outrigger“, und durch das Glas konnte ich erkennen, daß der lange Holländer noch immer mit voller Kraft ruderte. Der eine und der andere meiner Leute versuchte, sich nach ihm umzudrehen – aber die schwere, schnelle Arbeit gestattete es nicht.
„Nun, Kapitän?“ fragte der Mann am Schlagruder.
„Vorwärts, Männer! Ich sehe ihn.“
Und die Schwingungen der Leute über den Riemen wurden noch weiter und schneller. Es war ein kalter Abend – aber der Schweiß rann ihnen von den Stirnen.
Die Entfernung zwischen uns und dem „Outrigger“ verringerte sich. Ich zog ein Tuch aus der Tasche und stand auf und winkte damit. Es kam mir vor, als ob Büchner jetzt langsamer führe.
Ich sah durch das Glas. – Richtig! Er hatte die Riemen gehoben und ließ sich vom Strome treiben.
Ich gab das Signal. „Eins, zwei, drei: Hurrah!“ und noch einmal: „Eins, zwei, drei: Hurrah!“ riefe wir Fünf wie aus einer Kehle.
Der Wind trug den Schall zu dem Flüchtigen. Aber der hatte die Ruder wieder ergriffen, und sein Fahrzeug flog vor uns dahin. – Die Jagd hatte schon über eine halbe Stunde gedauert. – „Vorwärts, Leute! Muth!“ – Sie keuchten schwer, aber arbeiteten tapfer weiter. Die Nacht brach schnell herein. – Kaum konnte ich das Boot vor mir noch auf dem grauen Wasser unterscheiden. – „Was ist das?“ – Ich suchte es mit dem Glase – da schwamm es – leer! Nach wenigen Minuten lagen wir daneben.
Die Leute beugten die Köpfe bis dicht über das Wasser und sahen scharf aus nach allen Richtungen. Nirgends eine Spur vom langen Holländer. Im Boote fanden wir seinen Hut und die sorgfältig zusammengelegte Jacke. Wir suchten das Wasser noch eine halbe Stunde lang ab. Da war es dunkle Nacht geworden, und wir mußten die Rückfahrt antreten. Bald darauf ging der Mond auf, und es wurde wieder heller. Auf halbem Wege, den Strom hinauf, kam uns eine dunkle Masse entgegengeschwommen: die „Aurora Belisle“. Boswell hatte schon vom Deck aus gesehen, daß wir fünf Mann an Bord des Gig waren; und als auch der leere „Outrigger“ aufgezogen wurde, da brauchte ich ihm nicht erst zu sagen, was vorgefallen war.
Am nächsten Morgen begegneten wir, noch im Fluß, einer Bark, die nach Shanghai ging. Der gab ich einen Brief für Frau Onslow mit. An Frau Edith zu schreiben hatte ich nicht den Muth.
Wir bekamen schlechtes Wetter und machten eine lange Reise bis Hongkong. Bei meinem dortigen Agenten fand ich von Frau Onslow einen Brief, der mir von dem Jammer ihrer Freundin erzählte. Die Leiche Büchner’s war nicht gefunden worden. Sein Freund, der Wussong, hatte sie hinausgetragen in das graue Meer.
Ich kehrte damals nicht nach Shanghai zurück, da ich Fracht für London bekam und im December nach dort absegelte. Ich war jedoch mit Frau Onslow in Verbindung geblieben und erfuhr durch diese im Laufe der Zeit, Edith habe ein ganzes Jahr in vollständiger Zurückgezogenheit verbracht, den Verstorbenen beweinend, ihrem Schmerze allein lebend, ohne Trost zu suchen, ja zunächst ohne Trost empfangen zu wollen. Aber der friedliche Bote hatte nicht allzu lange vergeblich an das junge Herz geklopft. Ungefähr zwei Jahre, nachdem ich Shanghai verlassen hatte, schrieb mir Frau Onslow, Edith habe endlich dem langen, treuen Werben Francis Morrisson’s nachgegeben und sich mit diesem vermählt. „Jedermann,“ so schloß der Brief, „wünscht ihr von Herzen, sie möge an seiner Seite das Glück finden, das sie durch ihre treue Liebe für unsern armen verstorbenen Freund, nach dem schweren Trübsal, das sie erduldet, so reichlich verdient hat. Aber sie sieht noch nicht glücklich aus, wenn sie auch wieder ruhig und freundlich geworden ist und von ihrer Menschenscheu geheilt erscheint. Sie würden in der stillen Frau mit den ernsten Augen die lachende Edith Rawlston kaum wiedererkennen. – Und wissen Sie, Kapitän, was sie am meisten zu Francis Morrisson hingezogen hat? – Daß er Georg’s Freund im Unglück war, daß er stets an seine Unschuld glaubte, daß er den Armen in seinem Elend bemitleidete und ihm hilfreich zur Seite stand. Das hat ihn der guten kleinen Frau theuer gemacht; das hat sie ihm nie vergessen; das allein war es, was ihm zuerst die Thüren ihres Hauses wieder öffnete, die, nach Büchner’s Tode, außer für ihren Bruder und für mich, ein Jahr lang Jedermann verschlossen blieben. – Als ich erkannte, wie die Sachen lagen, daß Francis Morrisson Edith liebte, daß es der Zweck seines Lebens sein würde, sie glücklich zu machen, da habe ich gethan, was in meinen Kräften stand, um die Trauernde dem neuen Werben zuzuneigen. Es ist mir endlich gelungen – und ich glaube damit ein gutes Werk gethan zu haben.“
Der nächste Sommer brachte mich wieder nach Shanghai. Aber meine Freunde Morrisson und Onslow waren vor der Hitze nach Chefoo im Norden entflohen, wohin ich ihnen nicht folgen konnte.
Eines Tages machte ich dem Kirchhof meinen Besuch. Ich thue dies jedesmal, wenn ich nach Shanghai komme. Früher kannte ich dort Niemand, heute ruht dort so Mancher, den ich im Leben lieb gehabt habe. Ich suchte nicht nach Büchner’s letzter Ruhestätte, denn ich wußte, ich würde sie nicht finden können. Aber als ich durch die stillen Reihen schritt, fiel mein Blick auf ein mit frischen Blumen bedecktes Grab; darauf stand ein Kreuz aus schwarzem Marmor. – Der Stein trug ein Datum – aber keinen Namen!
Ich blieb sinnend stehen. – Wie kam das Grab eines Namenlosen zu solch’ liebevollem Blumenschmuck? Da erblickte ich den Todtengräber und winkte ihn herbei.
„Wer ruht in diesem Grabe?“ fragte ich.
„Ein Fremder, ein Italiener, so hat man mir gesagt.“
„Und wer sorgt für das Grab?“
„Frau Francis Morrisson. Augenblicklich bin ich damit beauftragt, da sie verreist ist. Der Fremde hier soll eines Herrn Büchner, des ersten Mannes von Frau Morrisson, treuer Freund gewesen sein; aber Herr Büchner hat auf diesem Friedhof keine Stätte, und so kommt die Frau und betet an dem Grabe des Fremden, als wie an dem ihres verstorbenen Mannes. Eine treue Frau – und eine mildthätige Frau. – Gott segne sie!“
Dazu sagte ich: „Ja und Amen!“