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Der seltsame Beweis!

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Textdaten
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Autor: A. v. K.
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Titel: Der seltsame Beweis
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der seltsame Beweis!
Von A. v. K.

„Mary, was mag es an der Zeit sein?“ frug die hübsche Mathilde, das blonde Krausköpfchen von dem Fenster, an dem sie seit geraumer Zeit stand, zur Gefragten wendend, die am andern Fenster arbeitete.

„Bald drei!“ lautete die Antwort. Mathildens blaue Augen richteten sich wieder der Straße zu – und die rosigen Finger trommelten ungeduldig an der Scheibe. „Ueber zwei Stunden! …“ fügte Mary hinzu.

„Frage ich darnach?“ brauste Mathilde auf; „warum suchst Du in der gewöhnlichsten Frage eine Absicht, die nur in Deiner Einbildung lebt?“

„Um Vergebung, gnädige Frau, ich vergesse immer, daß wir Dienstboten“ – und sie betonte das Wort – „das nie errathen sollen, was man uns nicht anvertraut, wenn auch durch die wärmste, die innigste Theilnahme getrieben. Zwischen dem Herzen der Dienerin und dem ihrer „gnädigen Frau“ darf es einmal nichts Gemeinschaftliches geben.“

Mathilde wandte sich um, ging auf die Beleidigte zu, die jetzt ausschließlich mit ihrer Arbeit beschäftigt zu sein schien, stand eine Weile stumm vor ihr, – da plötzlich traten Thränen in die hübschen blauen Augen, und sie schlang die Arme um Mary’s Hals.

„Wie Du redest, Du böse Mary, wie kannst Du das Wort Dienstbote aussprechen? – Bist Du nicht von Kindesjahren meine Freundin gewesen, bist Du es nicht jetzt noch?“

„Gnädige Frau, was die Güte Ihrer Eltern an Ihrer Gespielin gethan, konnte diese als Kind nicht ermessen, – um so mehr aber jetzt die Gesellschafterin, – sie wird sich auch an den Gedanken gewöhnen, daß die Gleichheit, die zwischen den Kindern herrschte, jetzt nicht mehr an der Stelle ist.“

„Nicht so, nicht so, Mary,“ liebkoste Mathilde unter Küssen, „sei mir nicht böse. Habe ich Dich verletzt, so geschah es ohne Absicht, denn die treue Freundin weiß ich an Dir zu schätzen, – und daß ich Dich von Herzen liebe, weißt Du ja!“

„Von oben herab!“ fiel die Engländerin bitter ein.

„Mary!“ rief vorwurfsvoll Mathilde.

„Und wie bezeichnen denn Sie Wohlwollen ohne Vertrauen?“ entgegnete kalt die stolze Mary.

„Vertrauen? und wozu?“ rief Mathilde in Thräuen zerfließend, „was könnte ich Dir sagen, was Du nicht wüßtest? Wozu klagen … und worüber? … weiß ich doch selbst nicht, ob ich nicht ungerecht bin, – aber unglücklich bin ich, sehr – sehr unglücklich!“ …

Jetzt umschlang die Engländerin die feine, zierliche Gestalt, die sich zu ihr beugte, das Köpfchen an ihre Schulter lehnte und sich ausweinte wie ein Kind am Mutterherzen. Auch Mary’s schwarze Augen wurden feucht.

„Armes, armes Herz,“ sprach sie, die Betrübte an sich drückend, „wie schwach, wie schwankend. …“

„Was kann ich dafür, gute Mary, – ich weiß ja nichts, ja nicht einmal, warum wir plötzlich nach Paris gereist, – was wir hier sollen! …“

„Wie!“ rief Mary verwundert, „der Zweck der Reise …“

„Ist mir unbekannt. Leo frug mich, ob ich ihn nach Paris, wohin ihn Geschäfte riefen, begleiten, dort mit ihm eine unbestimmte Zeit verweilen wollte – konnte es meiner Liebe einfallen, mich freiwillig von ihm zu trennen? Wir reisten. – Das Uebrige weißt Du; seit acht Tagen bin ich hier in dieser hübschen Wohnung meistens allein, Leo vernachlässigt mich; auf meine Fragen antwortet er: er sei durch Verhältnisse in Anspruch genommen, denen ich noch eine Zeitlang fremd bleiben müsse. Er geht beständig ohne mich aus, dazu ist er besorgt, unruhig, traurig, und ich, die ich bis jetzt sein volles Vertrauen besaß, Leid und Freude mit ihm theilte, muß mich zufrieden stellen und es ruhig abwarten, bis er mir das Geheimnißvolle seines Benehmens erklärt. … O Mary, Mary, ich bin ihm nicht mehr, was ich ihm war, und Geheimnisse, die eine Frau nicht kennen darf, giebt es nur einer Art!“

„Um Himmelswillen,“ rief Mary, „schlagen Sie diesen gefährlichen Weg nicht ein, bedenken Sie, welche Qual Sie sich bereiten! …“

„Kann ich denn dafür? Nun ja, ich bekenne es, ich bin eifersüchtig und liebe Leo zu sehr, um es nicht zu sein, – sieh, Mary, ein Verrath von ihm wäre mein Tod! …“

„Aber, Mathilde, worauf gründen Sie solch einen Verdacht?“

„Auf nichts und doch auf Alles, – vor Allem aber auf’s unerträgliche Nagen meines Herzens, auf meine Unruhe, auf meine Verzweiflung, die ich nicht bewältigen kann … Siehst Du, Du bleibst stumm, – so sprich doch, so widerlege, so tröste, beruhige mich, wenn Du es kannst!“

„Mathilde,“ sprach Mary entschieden und ernst, „da Sie mich zum Sprechen auffordern, so will ich Ihnen meine Ansicht sagen: den Mann, den ich liebe und dem ich einst mein Vertrauen geschenkt, würde ich nie durch einen Verdacht verletzen, ja selbst Gerüchten würde ich mein Ohr schließen, wenn solche mich erreichten. Nur ein sicherer Beweis könnte mich treffen. …“

„Und wenn Du einen solchen hättest?“

„Da, freilich, wäre Alles aus – aber auch die Liebe todt,“ [290] erwiderte Mary finster, „bei Ihnen aber,“ fuhr sie in sanfterem Tone fort, „ist’s noch lange nicht so weit gekommen – Wollen Sie Ihr Gewissen mit einem vielleicht ungerechten, jedenfalls aber unbegründeten Verdachte belasten?“

„Wollte Gott, es wäre so, liebe Mary, gern möchte ich Abbitte – Buße thun,“ und die blonde Mathilde neigte das Köpfchen und verfiel in eine melancholische Träumerei. Mary überließ sie ihren Gedanken, schweigend saßen sich die Freundinnen eine Zeitlang gegenüber, – da plötzlich fuhr eine brillante Equipage geräuschvoll durch Rue Montorgueil und hielt an der Hausthür. Mary warf einen Blick hinaus.

„Der Vicomte!“ sprach sie, „er kommt wohl Sie zur täglichen Promenade abzuholen.“

„Wahrscheinlich; – gieb mir meinen Hut und Shawl, liebe Mary, frische Luft wird mich erquicken.“

Jetzt trat Vicomte de Joly in’s Zimmer, es war ein schöner, schlanker, junger Mann, mit der tadellosesten Eleganz des Gentlemans in Haltung und Anzug. Er verbeugte sich ehrerbietig gegen Mathilde.

„Leo hat mir die schöne Hoffnung gegeben, gnädige Frau, daß Sie mir heute abermals die Ehre erweisen werden, von meiner Equipage Gebrauch zu machen.“

„Recht gern, Vicomte, ich nehme Ihren Vorschlag mit Dank an.“

„Mit Dank? … o gnädige Frau, das nennt man bei uns in Frankreich den Liebreiz der Gabe; Sie, die Geberin, danken dem beglückten Empfänger!“

Mary, die eben mit Hut und Shawl eintrat, hörte diese Worte, und nichts weniger als wohlwollend war der Blick, den ihre schwarzen Augen dem Vicomte zuwarfen. Nach einer Weile saß dieser an Mathildens Seite in der offenen Kalesche, die, mit zwei Rappen pur sang bespannt, dem Bois de Boulogne zuflog.

Mathildens zartes, von dem eleganten Hut umrahmtes Gesichtchen war gedankenumflort, die sanften blauen Augen blickten gleichgültig auf die bunten Reihen der Equipagen und Fußgänger im Bois de Boulogne, diesem täglichen Rendezvous-Ort des müßigen Paris zwischen drei und fünf Uhr. Noch hatte sie kein Wort mit dem Vicomte gewechselt. Dieser betrachtete sie mit einem Blicke, in dem sich so mannigfaltige Gefühle spiegelten, daß der feinste Physiognomist kaum hätte enträthseln können, was zunächst der unverhohlenen Bewunderung für die niedliche Gefährtin im tiefsten Hintergrunde dieses Blickes steckte, was dieses bisweilige, kaum merkbare Lächeln der feinen Lippen für einen versteckten Sinn hatte. Endlich brach der Vicomte das lange Schweigen.

„Wie mir scheint, gnädige Frau, hat unser Paris bis jetzt noch nicht Ihre volle Gunst gewonnen?“

„Sie irren sich nicht, Viceomte, es ist aber nicht zu verwundern. Sie wissen, wie sehr Leo seit unserer Ankunft in Anspruch genommen, – und ist man mit wichtigen, ernsten Dingen beschäftigt, so bleibt wenig Sinn für Genüsse und Vergnügungen, so reizend sie auch sind!“

Leo’s wichtige Geschäfte können Sie doch unmöglich treffen, gnädige Frau, ich will nicht einmal hoffen, daß er die Barbarei gehabt, Sie in dieselben einzuweihen? …“

„Wie so, Vicomte? Halten Sie mich für unfähig, mich mit ernsten Dingen zu befassen?“

„Das nicht, gnädige Frau; ich halte aber Leo für unfähig, Ihnen … gewisse Dinge mitzutheilen.“

„Leo theilt mir Alles mit,“ unterbrach ihn Mathilde lebhaft.

„Alles? … auch seine jetzigen …“

„Gewiß! … Alles, auch seine jetzigen Geschäfte!“

Der Vicomte verbeugte sich.

„Dann, gnädige Frau, darf es mich freilich nicht mehr wundern, Sie bisweilen in Gedanken zu sehen, denn der Grund, der Leo nach Paris geführt …“

„Sie kennen also den Grund?“ rief Mathilde unvorsichtig.

„Wie sollte ich nicht – ich, Leo’s alter Universitätsfreund, gewiß weiß ich Alles,“ sprach er mit Nachdruck, sie scharf beobachtend, „und um so weniger begreife ich Ihre Mitwisserschaft!“

„Leo sagt mir Alles,“ wiederholte Mathilde merklich verlegen, „wir haben uns das gegenseitige Versprechen gegeben, immer und in Allem ganz offen gegen einander zu sein.“

„Dann beuge ich bewunderungsvoll das Knie vor Ihnen, gnädige Frau, wenn ich auch Ihre Selbstverleugnungsfähigkeit nicht fasse!“

Mathildens fragend unruhiger Blick bestärkte den erfahrenen Beobachter in seiner Vermuthung. „Recht getroffen,“ dachte er, „sie weiß Nichts und brennt zu wissen, genug für den Augenblick!“ und er leitete das Gespräch auf ein anderes Thema.

Mathilde war aber so verstimmt, so zerstreut, daß sie nur mit Mühe hier und da eine Antwort zu Wege bringen konnte. Der Vicomte wußte, was sie ignorirte, er konnte durch ein Wort das sie quälende Räthsel lösen, aber ihn befragen war unmöglich, und auf geschickte Weise das Erwünschte von ihm herauslocken, war keine Aufgabe für die schlichte, unerfahrene Mathilde, dem schlauen Weltmann gegenüber. Mathildens Zerstreutheit entging dem Vicomte nicht, ihm stand die ganze Qual dieses gepeinigten Herzens deutlich vor Augen, er wurde aber um so gesprächiger, um so liebenswürdiger, schien den ersten Gegenstand des Gespräches völlig vergessen zu haben, und da Mathilde alle Hoffnung verloren, ihn wieder auf dieses für sie so interessante Thema zu bringen, beklagte sie sich über die Kälte und bat den Vicomte sie nach Hause zu bringen. Sie hüllte sich in ihren Shawl, drückte sich in die Ecke der Kalesche, und schweigend fuhren nun Beide durch Champs Elyées über Place de la Concorde. Plötzlich that der Vicomte eine rasche Bewegung, die selbstverständlich Mathildens Aufmerksamkeit auf sich ziehen mußte, im nächsten Moment saß er wieder still und blickte ruhig vor sich hin, Mathilde aber hatte sich umgewandt und sah – Leo – in traulichem Gespräche mit einer Dame, die er am Arme führte. Ein dichter Schleier verbarg ihre Züge, die Gestalt aber war die einer jungen Frau, die Tracht elegant und geschmackvoll. Leo hatte sich zu ihr gebeugt, schien ihren Worten zuzuhören und lächelte dabei freundlich. Mathilde hatte einen dumpfen Ausruf nicht unterdrücken können, eine Todesblässe überzog ihr Gesicht, und als der Vicomte, scheinbar durch ihren Ausruf aufgeschreckt, sie besorgt um den Grund frug, stammelte sie kaum vernehmbar: „Nichts – es ist Nichts … ich glaubte … das eine Pferd …“

„O, gnädige Frau, meine Pferde sind zuverlässig,“ sagte der Vicomte, „beruhigen Sie sich. Arme, arme Frau!“ fügte er leise hinzu, ihre Hand fassend und sie leise drückend. Mathilde ließ es geschehen, ohne weiter darauf zu achten.

Als die Equipage in Rue Montorgueil hielt und der Vicomte Mathilden zum Aussteigen die Hand reichte, hielt er diese Hand in der seinen zurück, auf diese Art Mathilden zwingend, ihn anzusehen. Sie begegnete einem feuchten, liebevollen Blick.

„Gnädige Frau,“ sprach der Vicomte mit bewegter Stimme, „Mathilde,“ flüsterte er leise hinzu, „ich gäbe mein Leben darum, um das Gesehene ungesehen, das Geschehene ungeschehen machen zu können; leider liegt es nicht in meiner Macht. Sie aber sind ein Engel, dem ja Alles gelingen muß; kann noch Jemand etwas ändern, so können nur Sie es! Darum fassen Sie Muth,“ fuhr er fort, „bedürfen Sie aber des Beistandes eines treuen Freundes, so bin ich da, ich bin ein Ehrenmann und Ihnen ergeben auf Leben und Tod!“

Mathilde, außer Stande ein Wort zu erwidern, zog langsam ihre Hand zurück, legte dann zum Zeichen des Schweigens einen Finger auf ihre bebenden Lippen und eilte die Treppe hinauf.

Vicomte de Joly sah ihr eine Weile nach. Der Ausdruck seines Gesichts hatte sich geändert, die Milde der Züge sich in ein sinnliches Lächeln verwandelt, die feuchten Augen funkelten von dämonischer Freude belebt – – „Nicht übel,“ murmelte er, „den Zufall nenne ich günstig, on a de la chance ou l’on n’en a pas! Guter Anfang, guter Anfang, et vogue ma galère!“

Er sprang in seine Kalesche und verschwand.



Es ging auf sechs. Leo und Mathilde saßen bei’m Mittagsessen, die junge Frau bleich und verweint, Leo ernst, sorgenschwer. Es war ein schöner Mann, dieser Leo, seine edlen Züge trugen den Stempel männlicher Energie, verbunden mit Geist und Güte, sein ehrliches braunes Auge sah treuherzig vor sich hin, und dieser klare reine Blick allein hätte genügt, allen Verdacht von Falschheit oder Verstellung zu entfernen, hätte nicht in seinem ganzen Wesen etwas Sicheres und Offenes gelegen, das gleich bei’m ersten Anblick ein unwillkürliches Vertrauen einflößte. Das Ehepaar war in sich gekehrt, stumm. Mathilde berührte kaum die vorgesetzten Speisen, und nur mit Mühe drängte sie die Thränen zurück, die jeden Augenblick drohten auf’s Neue aus ihren Augen zu strömen. Leo mußte in der That durch sehr schwere Sorgen absorbirt sein, um die tiefe Verstimmung seines geliebten Weibes nicht zu bemerken. [291] merken. Endlich war die Mahlzeit zu Ende, der Diener trug ab, Leo erhob sich und ging auf Mathilde zu, die jetzt den nassen Blick emporrichtete. Erschrocken über die tiefe Trübsal, die er jetzt erst an ihr wahrnahm, trat er einen Schritt zurück. „Mathilde?“ fagte er sanft. „was ist Dir? Du hast geweint und bist bleich wie die Wand …“

Statt Antwort ließ Mathilde das Köpfchen in ihre Hände fallen und schluchzte von Neuem. Leo umfaßte sie, überhäufte sie mit Worten der Liebe, mit den zärtlichsten Benennungen. Mathilde aber befreite sich aus seiner Umarmung und brachte endlich unter Schluchzen die Worte hervor: „Leo, ich weiß Alles!“

Leo stieg das Blut in’s Gesicht. „Alles?“ rief er, „wer hat Dir sagen können …“

„Keiner, ich habe aber gesehen, mit eigenen Augen gesehen …“

„Was hast Du gesehen, Mathilde?“

„Dich mit …“

„Mit wem, um Himmels willen? …“

„Mit ihr, Place la Concorde!“

Leo antwortete nicht augenblicklich, er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, ging ein paar Mal nachdenkend im Zimmer auf und ab, stand dann vor Mathilde still und sah ihr in die Augen, mit seinem klaren, unwiderstehlichen Blicke.

„Mathilde,“ sprach er, „einst gelobtest Du mir unbegrenztes Vertrauen, nimmst Du dieses Versprechen zurück?“

„Nach dem, was ich gesehen!“

„Was Du gesehen, macht mich Deiner Liebe nicht unwürdig. Und ich frage Dich, Mathilde, liebst Du mich genug, um mir zu trauen, trotz dem Geschenen, genug, um ein Geheimniß zu ertragen, das ich Dir noch nicht enthüllen kann? Willst Du Geduld haben, nur noch kurze Zeit, oder willst Du durch Zweifel selbst unser Glück zerstören?“

„O sprich nicht von Glück,“ rief Mathilde verzweiflungsvoll, „mein Glück ist dahin!“

„Und warum, Mathilde?“

„Warum? kannst Du fragen? Sieh mich an, sieh was ich leide, wie könnte ich das Gesehene auf zweierlei Arten erklären?“

„Erkläre es gar nicht, Mathilde, denke nur: Leo kann kein Verräther sein, Leo lügt nie, Leo sagt: er liebt mich, ich will ihm trauen!“

„O wie gern möchte ich das!“ rief die junge Frau, unwillkürlich durch den Wahrheitshauch durchdrungen, der in Leo’s Worten lag.

„Nun, so thue es, meine brave Mathilde,“ fuhr dieser, sie an sich ziehend fort. „Entsage ein für allemal dieser Eifersucht, die Deiner unwürdig ist und leider schon so manche trübe Wolke über unser Glück gebracht hat. Sieh, Kind, es giebt keinen Anschein, der Dich mir verdächtigen könnte, und sollte jemals ein Zweifel in mein Herz dringen, ein Wort von Dir genügte, um ihn mir zu benehmen. Du aber, Du lässest die Möglichkeit zu, daß ich Dich mit einem Kusse verrathen könnte?“ und er drückte einen heißen Kuß auf ihre Lippen.

Mathilde bebte zusammen.

„Um Himmels willen, Leo,“ flehte sie, „löse das Räthsel, ich kann sonst leine Ruhe finden, sage mir, wer war es?“

„Ich liebe Dich, Mathilde,“ antwortete Leo mit einem Blicke, der diese Worte bestätigte.

„Du liebst mich und quälst mich, Leo, willst Du mir nicht sagen …“

„Ich kann nicht, Mathilde. Du aber, willst Du meine Bitte nicht erfüllen, nur noch kurze Zeit das Schwere tragen?“

„Und wenn ich es nicht wollte?“ rief die junge Frau trotzig.

Leo entfärbte sich.

„Dann,“ sprach er langsam, „dann wäre ich sehr unglücklich!“

„Wie – selbst dann würdest Du in Deinem Schweigen verharren?“

„Selbst dann, Mathilde, und daraus schließe, ob es mir möglich ist zu reden. Doch genug davon, eine Zeit wird kommen, wo Du selbst mir Recht geben wirst, jetzt aber, und es ist der größte Beweis von Liebe, den ich Dir geben kann, jetzt bitte ich Dich, bitte Dich flehentlichst, forsche nicht weiter, traue mir, denn sieh, Mathilde, wie ich hier vor Gott stehe, wiederhole ich: ich liebe Dich, Dich allein. Willst Du mir nun glauben?“

„Ich will es,“ sprach Mathilde nach einem kurzen Schweigen, das thränenbenetzte Gesicht an Leo’s Brust verbergend. Er drückte sie zärtlich an’s Herz, und somit war der Friede wieder hergestellt, wenn auch nur scheinbar. Denn hatte auch Leo’s Beredsamkeit den gewohnten Einfluß auf sie geübt, hatte er die Zweifelsucht momentan besiegt, war auch Mathilde Willens ihm zu trauen, so war doch der Stachel des Verdachtes in ihrem Herzen zurückgeblieben, und immer und immer wieder schwebte ihr Leo vor Augen, wie er mit der geheimnißvollen Unbekannten so traulich Arm in Arm dahinwandelte.

Am folgenden Tage saß Mathilde in ihrem keinen Salon. Leo war, seinen neuen Gewohnheiten treu, um zwölf ausgegangen, Mary war auswärts beschäftigt, Mathilde allein. Sie hielt ein Buch in der Hand, blickte auch bisweilen hinein, aber ihre Gedanken schweiften in die Weite und trugen sie in das Reich der Vermuthungen und Möglichkeiten, die leider alle nicht geeignet waren die geschlagene Wunde zu heilen.

Da trat der Diener in’s Zimmer und meldete: „Monsieur le Vicomte de Joly!“ Mathilde war schon im Begriffe ihn abweisen zu lassen, als ihr böser Genius ihr zuflüsterte: „Der weiß Alles! Ihn befragen, o nein, es wäre sündigen an Leo, aber –“ Der Diener stand noch harrend da. „Soll mir willkommen sein,“ sprach Mathilde, im nächsten Augenblicke diese Worte bereuend. Es war zu spät, der Vicomte war eingetreten. Verlegen wies ihm Mathilde einen Platz in ihrer Nähe an, und mit dem ersten Blick, den er auf sie warf, wußte der Vicomte, wie er es mit der Unerfahrenen zu halten hatte.

„Gnädige Frau,“ fing er an, „ich beschwöre Sie, meinen Besuch nicht als eine Indiscretion zu betrachten, der Zufall hat uns leider in eine peinlich falsche Situation gebracht, die wir nicht ändern können, das Beste ist also, mit Offenheit einander entgegen zu treten. Ich wiederhole, was ich gestern gesagt, Sie haben es mit einem Ehrenmanne zu thun, der bereit ist, Ihnen zu dienen, wo und soweit er kann, und deshalb hofft, daß Sie ihm die Mitwissenschaft vergeben werden.“

Nur zu gut fühlte Mathilde wie jedes Wort, das sie dem Vicomte in seinem Sinne antworte, so gut wie ein Schritt zu einer Coalition gegen Leo sein würde, sie raffte also die wenigen ihr zu Gebote stehenden Verstellungsmittel zusammen und sprach möglichst unbefangen, die dargebotene Hand mit ihren Fingerspitzen berührend.

„Ich danke Ihnen, Vicomte, ich schätze Ihre freundschaftlichen Gesinnungen und nehme Ihre Dienste für später an, falls ich ihrer einmal bedürfen sollte; für den Augenblick aber kann ich Sie nur bitten, das Gestrige zu vergessen. Ich war recht kindisch, aber einige Worte Leo’s genügten, um mich davon zu überzeugen, jetzt muß ich über mich selbst lachen und bin völlig beruhigt!“

Mathildens Stimme stand leider mit ihren Worten in so entschiedenem Widerspruche, daß sie Keinen hätten täuschen können. geschweige den schlauen Vicomte. Sie senkte erröthend die Augen, als sie seinem durchdringenden Blicke begegnete.

„Gnädige Frau,“ sprach er nach kurzem Schweigen, „ich sehe, daß Sie meine gute Absicht doch mißdeuten, ich kann also nur bedauern, dem Zurufe meines Herzens gefolgt zu sein, und trete zurück! – Fern sei es von mir, mich Ihnen aufzudringen … und doch,“ rief er, „haben Sie Unrecht, meine Freundschaft abzuweisen, ich schwöre es Ihnen!“

„Ich weise Ihre Frenndschaft nicht ab, Vicomte, nur Ihre Dienste, die für den Augenblick überflüssig.“

„Ist Alles berichtigt, desto besser, gnädige Frau,“ sprach er mit einem höhnischen Lächeln, „ich freue mich für Sie, komme aber einmal mehr in meinem Leben zur Erkenntniß, daß das einzige wahre Glück auf Erden Illusion ist!“

„Wie meinen Sie das, Vicomte?“

„Ich meine, daß ich die glückliche Fähigkeit besitzen möchte, mich von der ganzen Welt hintergehen, von meiner plastischen Ruhe einwiegen zu lassen, und sollte ein reiner Lichtstrahl durch das Miragegewebe, das mich umgiebt, durchschimmern, möchte ich hartnäckig das Auge zudrücken können, mich durch nichts aus dem labend betäubenden Taumel stören lassen! Es muß ein herrliches Gefühl sein, und die das können, denen ist gewiß die Hand auch nicht willkommen, die sie aus diesem süßen Schlafe zu wecken sucht, wenn gleich die treue Hand eines wahren Freundes!“

„Vicomte,“ rief Mathilde, „wie soll ich Ihre Worte auslegen?“

„Legen Sie sie gar nicht aus,“ antwortete der Vicomte sich [292] erhebend, „ich bereue sie ausgesprochen zu haben.“ Damit küßte er ihr leidenschaftlich die Hand und eilte der Thüre zu.

„Bleiben Sie, Vicomte,“ rief Mathilde angstvoll, „ist es recht von Ihnen, mir den Dolch in’s Herz zu stoßen und mich dann zu verlassen? – Reden Sie, seien Sie aufrichtig!“

„Aufrichtig, gnädige Frau, und wozu? – Wissen Sie nicht Alles so gut wie ich selbst? Aufrichtig! gehen Sie mir denn mit gutem Beispiel voran? Bin ich Ihr Freund oder bin ich es nicht? Nimmt man ein ernstes, ein heiliges Gefühl an, da wo man nichts dagegen bietet, nichts als das, was die Höflichkeit zur Pflicht macht?“

„Sie sind hart, Vicomte,“ entgegnete Mathilde, und Thränen stiegen in ihren Augen auf, „Sie sehen mich leiden, ja, Sie mehren meine Leiden und wollen dabei mein Freund heißen!“ …

Der Vicomte betrachtete sie eine Weile mit wehmüthigem Blicke.

„Sie thun mir leid, arme Frau,“ sprach er dann, „schon zu viel habe ich wohl gesagt, aber ich kann Lüge, ich kann Trug nicht ertragen, zumal einem reinen Wesen gegenüber, das die Welt nicht kennt. Jetzt, gnädige Frau, lassen Sie mich gehen, denn ich könnte leicht mehr sagen, und wozu sollte ich Sie aus Ihren glücklichen Illusionen wecken!“

„Illusionen sind kein Glück,“ rief Mathilde in der größten Aufregung, „solch ein Glück würde ich entschieden von mir stoßen!“

„Also doch – doch sind Sie die, die ich mir träumte,“ rief freudig der Vicomte, „das starke Herz in zarter Hülle – o, Mathilde, Sie sind anbetungswürdig! – Wie kann man einen solchen Schatz verkennen, ein solches Wesen vergessen?“

„Vicomte, reden Sie, zu viel haben Sie gesagt, um jetzt zu schweigen! Sind Sie wirklich mein Freund, so müssen Sie jetzt offen gegen mich sein! …“

„Ehe der Freund redet, muß er wissen, was Sie zu thun gedenken.“

„Eins sicher: gegen sichere Beweise entschieden handeln!“

„Sie sind jung und unerfahren, meine Freundin, zu jung und zu schön, um allein in der Welt zu stehen; wollen Sie mir versprechen, im ärgsten Falle mir zu vertrauen, sich auf mich zu stützen?“

„Und wenn ich das verspreche?“

„Wenn Sie das versprechen, werde ich suchen, Ihnen Beweise zu verschaffen, Beweise, nach denen freilich keine Rückkehr mehr möglich! Haben Sie den Muth, solche zu wünschen?“ …

„Ich habe den Muth, Vicomte!“

Wäre Mathilde nicht so aufgeregt gewesen, selbst ihrer Unerfahrenheit wäre des Vicomte’s triumphirende Freude nicht entgangen.

„Gut,“ sprach er nach einer Pause, „ich sehe Sie gern so. Alles lieber, als in den heiligsten Gefühlen hintergangen werden! Dieses Dulden ist eine Ihrer unwürdige Feigheit! Jetzt verlassen Sie sich auf mich: Sie geben mir acht Tage, während dieser Zeit werden Sie mich nicht sehen. Versprechen Sie mir auch Leo gegenüber die größte Ruhe; nach dieser Frist werde ich Ihnen mit Gewißheit sagen können: wir haben uns getäuscht, Sie sind geliebt! … oder – ich bringe Ihnen unwiderrufliche Beweise des Gegentheils. Ihre Hand, Mathilde!“

Mathilde legte ihre bebende Hand in die des Vicomte, der sie mit heißen Küssen bedeckte und mit den Worten: „in acht Tagen!“ aus dem Zimmer eilte.

– Acht Tage! wie schnell schwinden sie hin im glücklich einförmigen Schaffen und Treiben des alltäglichen Lebens, im ruhigen Glücke der Gewohnheiten, das unstreitig zu einem der größern im Leben zählen darf. Wie ewig lang erscheinen sie aber dem Herzen, das den Frieden mit sich selbst verloren und, durch Qualen aller Art gepeinigt, weder Tag noch Nacht Ruhe findet und nur dem ersehnten Augenblicke entgegenschlägt, der seine Pein vielleicht noch mehren soll! Seit der Stunde, da sie der Vicomte verlassen, lebte Mathilde in einer Aufregung, die nichts mildern konnte; – Leo’s Treiben hatte sich nicht geändert, er war oft abwesend, Mathilde zu oft allein, mit dem ganzen Heere ihrer Gedanken. In den Stunden des Beisammenseins zeigte ihr aber Leo eine so große Zärtlichkeit, daß oft, diesem treuherzigen Benehmen gegenüber, in dem das volle Vertrauen in ihr Versprechen, ihm unbedingt zu trauen, so deutlich lag, Mathilde sich selbst als eine Verbrecherin erschien. Mehrmals drängte es sie, ihm Alles zu beichten, ihr Mißtrauen, ihr Einverständniß mit dem Vicomte, da aber schwebte ihr wieder die Erscheinung auf der Place de la Concorde vor Augen, da tauchten des Vicomte Worte in ihrem Gedächtnisse auf, und die bessern Gefühle wichen dem Verlangen nach Beweisen, die sie in diesem oder jenem Sinne völlig überzeugen sollten!

So verging ein Tag nach dem andern, die festgesetzte Frist ging zu Ende, und eines schönen Abends erschien der Vicomte, als die jungen Ehelente beim Theetische saßen. Leo empfing ihn freundlich wie immer, frug nach dem Grunde seines langen Ausbleibens, der Vicomte antwortete: er habe in wichtigen Angelegenheiten eine kleine Reise machen müssen, die aber einen glücklichen Erfolg gehabt, da er sein Ziel erreicht. Mathilde fühlte bei diesen Worten ihr Blut stocken. Leo aber rief:

„Ach, da können Sie von Glück sagen; nun, mit Gottes Hülfe hoffe auch ich bald, recht bald so weit zu sein!“ Dabei warf er einen bedeutungsvollen Blick auf Mathilde, deren Augen aber unverwandt auf ihrer Arbeit hafteten.

Die Gesellschaft vermehrte sich durch das Erscheinen noch einiger Personen, und als das Gespräch allgemein wurde, benutzte der Vicomte einen günstigen Augenblick, um Mathilden zuzuflüstern: „Morgen, gegen eins!“ – Es war die Zeit, wo Leo nie zu Hause war, da er gewöhnlich um zwölf ausging und erst zur Zeit des Mittagsessens, d. h. gegen sechs zurückkehrte.

In der größten Seelenangst harrte Mathilde der festgesetzten Stunde, mit heftigem Herzpochen hörte sie einen Wagen vorfahren, sah den Vicomte aus der Miethkutsche steigen, entkräftet sank sie in einen Sessel und behielt kaum Kraft genug, dem Eintretenden die Hand zu reichen, die dieser ergriff und an seine Lippen drückte.

„Sie haben versprochen Muth zu haben, und wie treffe ich Sie, meine Freundin!“ sprach er vorwurfsvoll, „können Sie das Versprechen nicht halten, sagen Sie es, noch ist es Zeit!“

„Nein, nein,“ rief Mathilde, „ich kann, ich will Alles hören, reden Sie!“

„Reden? … was sind Worte! Kommen Sie, sehen Sie selbst. Haben Sie wirklich Muth, so überzeugen Sie sich mit eigenen Augen, wie grausam Sie hintergangen werden. Kommen Sie, folgen Sie mir!“

„Wohin soll ich Ihnen folgen, Vicomte?“

„Dahin, wo kein Auge Sie sehen soll, dafür ist gesorgt. Vertrauen Sie mir, Mathilde, Sie sollen sehen, ohne gesehen zu werden, ich habe Ihnen sichere Beweise versprochen – die sollen Sie haben!“

„Also doch, doch!“ rief Mathilde die Hände ringend, und raffte sich mühsam vom Sessel auf.

„Kommen Sie, Vicomte, ich folge Ihnen, je eher, je besser.“ Sie stürzte in ihr Zimmer und forderte Hut und Mantel; Mary, die sie bleich und in der größten Aufregung sah, wagte eine Frage.

„Gute Mary, Du hast gesagt: Nichts ohne Beweis – wenn ich aber einen sicheren Beweis habe, willst Du mir dann beistehen, kann ich auf Dich rechnen?“

„Gewiß, auf Leben und Tod!“

„Gut, ich danke Dir; ich bin bald wieder bei Dir.“

Mary folgte ihr in den Salon, den sie sofort in Begleitung des Vicomte verließ.

„Der Vicomte!“ rief Mary, den Davoneilenden finster nachsehend, „das hätte ich mir denken können! Arme Mathilde, was auch geschehen mag, von dem da muß sie befreit sein. Sie ist jung und unerfahren, und meine heiligste Pflicht ist es, sie dieser Gefahr um jeden Preis zu entziehen!“

[305] Die Miethkutsche fuhr durch mehrere Straßen, die Mathilde nicht sah, da der Vicomte aus übermäßiger Vorsicht auch noch die seidenen Vorhänge der Wagenfenster heruntergelassen hatte. Wortlos und bebend saß sie da, und nach einigen erfolglosen Versuchen, ein Gespräch anzuknüpfen, überließ sie der Vicomte ihren Gedanken.

Der Wagen hielt, der Vicomte half Mathilden aussteigen und geleitete sie durch einen feuchten Flur eine halbdunkle Treppe hinauf. Dann zog er einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete eine Thür, und Mathilde trat in ein leeres Vorzimmer und von da in einen ziemlich einfach möblirten Salon, dessen Eingange gegenüber sich eine zweite Thüre mit dichter, herabgelassener Portière befand.

„Jetzt,“ sprach der Vicomte mit leiser Stimme, „frage ich Sie nochmals: haben Sie Muth? – noch ist ein Rückschritt möglich.“

„Nichts, kein Wort,“ antwortete Mathilde, „halten Sie Ihr Versprechen.“

„Dann aber halten Sie auch das Ihrige, meine hülfreiche Hand nicht von sich zu stoßen.“

„Ja doch, ja – quälen Sie mich nicht länger!“

Der Vicomte näherte sich der Portiere und hob sie auf. Sie verdeckte eine Glasthüre, durch deren Scheiben man in’s benachbarte Zimmer sehen konnte. Mathilde trat näher, warf einen Blick hinein und einen Schrei unterdrückend starrte sie das Bild an, das sich ihren Augen zeigte. In einem Voltaire-Fauteuil saß Leo, den Kopf zurückgeworfen, an die Lehne des Sessels gestützt, die Augen auf eine weibliche Gestalt gerichtet, die vor ihm stand. Die Dame hatte ihre beiden Arme um seinen Hals geschlungen, er umfaßte die feine Taille, jetzt bückte sich die Fremde und drückte einen Kuß auf Leo’s Lippen. – Kaum einen Moment betrachtete Mathilde das Schreckensbild, das ihr Glück auf immer zertrümmerte; der Vicomte ließ die Portiere fallen, und als sie nach derselben greifen wollte, taumelte sie entkräftet dahin … Mit sicherm Arm faßte sie der Vicomte und trug sie auf das Sopha, wo sie sich nach und nach erholte, – der treue Freund saß an ihrer Seite, umfaßte sie und sparte weder Worte des Trostes noch Küsse, mit denen er ihre eiskalten Hände bedeckte. Mathilde befreite sich mechanisch aus seinem Arm und wollte sich wieder der Portiere nähern. Er hielt sie zurück.

„Wozu, Mathilde?“ sprach er in bittendem Tone, „Sie haben genug gesehen, zu viel, fürchte ich. Fassen Sie sich und verlassen wir diesen Ort, wohin ich bereue, Sie geführt zu haben!“

Halb ging sie, halb ließ sie sich führen, und halb bewußtlos hob er sie in den Wagen, der nach einigen dem Kutscher zugerufenen Worten rasch dahinrollte. Trockenen Auges und stumm saß Mathilde neben dem Vicomte, der die zarteste Besorgniß um sie zeigte und mit tausend Worten sie zu beruhigen suchte. Abermals hielt der Wagen, Mathilde stieg aus und schon im Begriffe, die Hausschwelle zu betreten, stand sie plötzlich still.

„Wohin haben Sie mich gebracht, Vicomte?“ frug sie. „Wir sind nicht zu Hause.“

„Kommen Sie nur, Mathilde, kommen Sie,“ flüsterte er und versuchte sie zum Eintreten zu nöthigen.

„Keinen Schritt weiter, Vicomte, wohin haben Sie mich geführt?“

„Mathilde, nach dem Vorgefallenen können Sie doch unmöglich zu Leo zurückkehren. Ich habe für ein anderes, passenderes Unterkommen für Sie gesorgt. Haben Sie nicht versprochen, meinen Schutz anzunehmen?“

„Wenn ich denselben beanspruche, nicht eher,“ rief Mathilde mit einer Entrüstung, die eine für den Augenblick heilsame Reaction ihrer schwindenden Kräfte hervorrief. „Jetzt wünsche ich nach Hause zu fahren und das sofort!“

„Aber, Mathilde,“ … wollte der Vicomte einlenken.

„Vicomte,“ rief Mathilde am ganzen Körper bebend, „mit welchem Rechte nennen Sie mich Mathilde? Mit welchem Rechte wollen Sie mich zwingen, ein Haus zu betreten, das ich nicht betreten will? … Ich wünsche nach Hause zu fahren, Vicomte, haben Sie mich verstanden, oder soll ich um Hülfe rufen?“

Mit diesen Worten sprang sie in den noch offenen Wagen und rief dem Kutscher „Rue Montorgueil“ zu. Die Pferde zogen an.

Der Vicomte biß wüthend die Lippen zusammen.

„Verwünscht!“ rief er endlich und starrte ihr lange nach, „ich habe mich übereilt, wer hätte aber auch der keinen Person so viel Willenskraft zugemuthet? Sacrée petite Allemande! – Doch Geduld, vielleicht ist noch nichts verloren.“

Mathilde war nach Hause gekommen und beinahe besinnungslos in die Arme der treuen Mary gesunken, die in Todesangst ihrer harrte. In kurzen Worten theilte sie ihr Alles mit.

„Mary,“ schloß sie, „Du hast versprochen, daß ich im äußersten Falle auf Dich rechnen könnte; willst Du mir nun beistehen?“

„Gewiß, Mathilde, was haben Sie aber vor?“

„Vor Allem, ihn nie wiedersehen. Mache schnell, Mary, wir müssen fort, schnell fort; nimm das Nothwendige mit, Geld habe ich für den Augenblick genug, komm, bringe mich nach Deinem Vaterlande. Unter Deinem Schutze, im freien England, will ich [306] mein Unterkommen suchen. Gott verläßt mich nicht, wenn auch er mich verlassen hat!“

Der über Leo’s Verrätherei entrüsteten Mary war es zunächst darum zu thun, Mathilde vor ferneren Verfolgungen des Vicomte zu sichern; sie machte wohl noch einige Einwendungen, deren Resultat aber kein günstiges war. Drei Stunden später dampften die beiden jungen Frauen, mit leichtem Reisegepäck versehen, dem Hafen zu, von wo aus sie bald nach Albions Ufer segelten.


Einige Monate später, in einer der entlegensten Straßen Londons, in einem kleinen Zimmer der vierten Etage, saß Mathilde vor einer Staffelei und beendete das ziemlich gelungene Pastetbild einer blonden Miß in weißem Kleide.

Mathilde war verändert, die frische Rose zur schmachtenden Lilie verwandelt, die blühenden Farbe ihrer Wangen einer durchsichtigen Blässe gewichen. Erst seit wenigen Tagen hatte sie das Krankenlager verlassen, an welches sie während langer Wochen in Folge der erlittenen Gemüthsbewegungen gefesselt gewesen. Während dieser schweren Zeit war die treue Mary nicht von ihrer Seite gewichen, bis endlich die jugendlichen Lebenskräfte die Oberhand gewonnen und der grelle Schmerz sich in stille Wehmuth verwandelt hatte. Leider traten aber den Geflüchteten statt der gewichenen Sorgen neue entgegen. Die ungenügenden Mittel waren durch Einrichtung, Krankheit und nöthige Pflege so ziemlich erschöpft, es mußte für das künftige Fortkommen gesorgt werden. Mathilde wollte ihr nicht geringes Talent für Pastelmalerei dazu verwenden, aber guter Wille und Fleiß allein sind in einer großen, kalten Weltstadt, ohne Bekanntschaften, ohne Freunde, ohne Protection, nicht genügend. Mary hatte wohl Verwandte und Freunde in der Vaterstadt, aber leider meistens unbemittelte, wie sie selbst. Nach vielen Bemühungen war es ihr doch gelungen, Mathilden die erste Bestellung zu verschaffen, und zwar durch Vermittlung ihrer Cousine, die bei den Eltern der jungen Miß, an deren Bild Mathilde jetzt arbeitete, in Diensten stand. Da Mathilde noch zu schwach war, um auszugehen, so hatte sich die junge Miß ausnahmsweise zu ihr bemüht, und nun arbeitete Mathilde eifrig, sowohl um den geringen Lohn zu erwerben, als auch um ein Probestück ihres Talents abzulegen, das ihr, wie sie hoffte, neue Bestellungen zuführen würde. Noch saß sie an der Staffelei, als Mary eintrat, Hut und Mantel bei Seite warf und, nachdem sie auf Mathildens Stirn einen Kuß gedrückt, einen zufriedenen Blick auf’s Bild warf.

„Bravo, Mathilde,“ sprach sie, „wenn Miß Maxen nicht zufrieden ist, so weiß ich nicht, was sie will … Nun aber machen Sie, daß das Bild bald fertig wird. Soeben begegnete mir Kitty und erzählte, ihre Lady habe gestern Gesellschaft gehabt, und Mutter und Tochter hätten mit Begeisterung von Ihnen gesprochen und sich dabei auf dieses Bild berufen, das zur baldigen Anschau versprochen wurde.“

„Gute Mary,“ antwortete Mathilde gerührt, „diesen ersten Erfolg verdanke ich Dir, wie meine Genesung. Was wäre aus mir geworden ohne Deine liebevolle, aufopfernde Pflege?“

„O, vergessen wir diese Schreckenstage, liebe Mathilde, und vor allen Dingen schonen Sie sich. Noch gestern sagte der Doctor, daß Ihnen nichts fataler sein könnte, als ein Rückfall!“

„Beruhige Dich, meine gute Mary, ich fühle mich ganz wohl, ja so wohl, daß ich vielleicht noch glücklich leben könnte mit Dir und mit meiner Kunst, wäre es mir nur möglich, meine Erinnerungen zu verbannen.“

Ein energisches Pochen an der Thür unterbrach Mathilde. Auf ihr „Herein!“ trat ein Mann in die Stube, der echte Typus des Engländers, wie ihn sich die Franzosen zu ihren Caricaturen nicht besser hatten wünschen können. Röthliches Haar, ein rother Backenbart, ein hochrothes Vierzigergesicht, ein sandfarbiges tout de même, von welchem ein rothes cachez-nez grell abstach, bildeten das glückliche Ensemble des ziemlich wohlbeleibten Herrn, der ohne Weiteres auf Mathilde zuging und sie mit steifem Gruße frug:

„Sie thun sein Lady Leo?“

„Ja, mein Herr, ich bin es.“

„Sie thun malen?“

„Zu dienen, mein Herr, wie Sie sehen,“ und sie deutete auf das Bild.

„Ho!“ gurgelte der Engländer, besah das beinahe beendete Portrait und fuhr fort. „Yes, ich sehe, die Ladies haben gesprochen wahr gestern Abend, Sie seien eine Meisterin, und das ist die wahre, lebendige Miß Sarah Maxen, ich bin sehr zufrieden mit meine Besichtigung!“

Mathilde verbeugte sich lächelnd.

„Erlauben Sie,“ fuhr der Engländer fort, „daß ich mir setzen, denn ich muß erzählen Ihnen eine lange Geschichte von das, was Sie sollen thun.“

„Reden Sie, mein Herr,“ sprach Mathilde, während Mary dem Original einen Sessel vorrückte.

„Erst Sie müssen erfahren, meine Lady, daß ich bin verliebt, sehr, viel verliebt, und Sie sollen machen mir das Bild von meinem Liebling.“

„Recht gern, mein Herr, das Fräulein …“

„O! ist keine Fräulein!“

„Also die Dame …“

„Ho! ist auch keine Dame!“

Mathilde sah ihn befremdet an und konnte kaum ein Lächeln unterdrücken, als sie der drollig ernsten Miene ihres Gastes begegnete.

„Wohl, mein Herr,“ sprach sie, „so will ich mich Ihres eigenen Ausdruckes bedienen. Wenn also Ihr Liebling mir einige Sitzungen gestatten will, bin ich bereit das Bild zu machen.“

„O! wird nicht sitzen, kann nicht! steht immer, wird auch stehen!“

„Dürfte aber sehr ermüdend sein …“

„O! thut ihr nichts, wird stehen! Sie sollen aber nur malen Kopf und Schultern, denn Körper schlecht! Sehen Sie, ich konnte kaufen ihr ganz, aber kaufe nicht, weil Körper schlecht. Will nur Kopf haben.“

Trotz alledem, was Mathilde über englische Originalität gehört, schien ihr dieses denn doch ein wenig zu stark, und sie fürchtete im Ernst einen Geisteskranken vor sich zu haben.

„Wie soll ich Sie verstehen, mein Herr?“ sprach sie, „und wo kann ich die Bekanntschaft der Dame machen? Will sie sich zu mir bemühen, oder …“

„Habe schon einmal gesagt, ist keine Dame, wird sich auch nicht bemühen. Mr. Smith ist ein sehr eigensinniger Mann, giebt sie nicht, aber bei ihm können Sie malen, das erlaubt er!“

„Und wo ist denn dieser Mr. Smith, der über die Dame zu verfügen hat?“

„Wieder Dame! Ist keine Dame, ist Puppe, schlechter Körper, das habe ich auch Mr. Smith gesagt, aber schöner Kopf, in Kopf bin ich verliebt, sehr verliebt!“

Jetzt trat Mary lächelnd hinzu. „Liebe Mathilde,“ sprach sie, „ich muß wohl helfen, wenn Du Dich mit dem Herrn einverständigen sollst. Mylord, ist Mr. Smith nicht der Besitzer der Wachsgallerie, der so meisterhaft nach Natur portraitirt?“

To be sure! Alle kennen Mr. Smith.“

„In der That habe ich von seiner Kunst gehört. Diese Lady ist aber noch fremd in London, weiß Nichts von Mr. Smith, konnte Sie also auch nicht verstehen.“

„O! Alle kennen Mr. Smith,“ wiederholte der Engländer.

Mathilde drängte das sie plagende Lachen zurück und sprach möglichst ernst: „Also, Mylord, Sie wünschen, daß ich das Portrait einer Wachsfigur male, in die Sie verliebt sind?“

„Yes, yes, kann keiner verbieten mir in eine Figur verliebt zu sein … malen Sie mir Portrait, und ich werde zahlen wie für eine wahre lebendige Figur! Gehen Sie zu Mr. Smith, er wird Ihnen zeigen: Nr. 37, Fancy Pictures. Sie werden sehen, schöner Kopf – – aber schlechter Körper!“ murmelte er hinzu, zu seiner fixen Idee zurückkehrend.

Jetzt wurde der Handel geschlossen. Mathilde versprach, sich in den nächsten Tagen zu Mr. Smith zu begeben und das Bild in möglichst kurzer Frist zur Zufriedenheit des Verliebten zu vollführen.

Noch lange unterhielten sich die Freundinnen über die echt englische Originalität des Lords, der sich in eine Wachsfigur verliebt hatte. Es war seit langen Wochen der erste heitere Moment Mathildens, die immer und immer wieder lachen mußte, wenn sie an den vierzigjährigen Seladon und an den sonderbaren Gegenstand seiner Flamme dachte. Sie hatte bereits noch eine Stunde gearbeitet und stand ziemlich abgespannt auf.

„Mary,“ sprach sie, „das Wetter scheint heute schön zu sein, ich hätte Lust meine Kräfte zu versuchen und einen Spaziergang zu wagen. Wollen wir nicht Mr. Smith besuchen? Ich bin in der That begierig, die Bekanntschaft meines Modells zu machen.“

[307] Mary war einverstanden, hüllte die zarte Gestalt Mathildens in einen warmen Pelz, und Beide wandelten durch Londons nebelige Straßen, die Mathilde zum ersten Mal sah, da sie gleich nach ihrer Ankunft erkrankt war. Das Interesse des Neuen, das rege Leben der Londoner Straßen, Bewegung und frische Luft, die sie so lange entbehrt, wirkten heilsam auf Mathilde. Lebhaften Schrittes ging sie neben der Freundin, ihre Wangen färbten sich mit einem frischen Roth, die Augen blickten dunkler, lebhafter als seit langer Zeit. Nach ungefähr zwanzig Minuten standen sie vor dem bewußten Wachscabinet, das die ganze erste Etage eines Hauses in einer der Hauptstraßen Londons einnahm. Mathilde frug nach Herrn Smith und erklärte ihm den Zweck ihres Besuches. Mr. Smith antwortete lächelnd, er wisse schon, wovon die Rede sei, und schickte sich an, Mathilden das Modell zu zeigen, das seiner Aussage nach kein Portrait, sondern eine Schöpfung seiner Phantasie war. Nun geleitete er die beiden Freundinnen durch seine Säle, und machte die Honneurs mit der ganzen Liebe eines Künstlers, der erinm der That war.

Mr. Smith’s Wachscabinet ist nicht mit denen zu vergleichen, die bis jetzt durch Europa gezogen, und in denen sich das Publicum an Napoleon auf dem Sterbebette, an Luther mit seinem Freunde Melanchthon und an Werther nebst Charlotte ergötzte. Mr. Smith hat diese Kunst, an der bis jetzt immer etwas Marionettenhaftes klebte, veredelt und zur höchsten Stufe emporgebracht; sein Cabinet bildet zur jetzigen Zeit – was nicht wenig bedeutet – eine der sehenswürdigsten Raritäten Londons. Mathilde, selbst Künstlerin, vergaß bald den Zweck ihres Besuches vor den Schöpfungen dieser neuen, einigermaßen unheimlichen Kunst, sie blieb vor bekannten, noch lebenden Persönlichkeiten stehen, die in solcher Wahrheit dargestellt waren, daß man vergessen mußte, was man eigentlich vor sich hatte, und gespannt auf eine Bewegung, auf ein Wort aus diesen stummen Lippen wartete. Mary, weniger Künstlerin, theilte unterdessen ihre Aufmerksamkeit zwischen den Besuchten und den Besuchern, und konnte sich eines schalkhaften Lächelns nicht enthalten, als sie einige Russen an der Gestalt des verstorbenen Kaisers, der in seiner wohlbekannten imposanten Majestät dastand, vorbeigehend mechanisch die Hand an den Hut legen sah.

Jetzt gelangte man an einen Salon, über dessen Thür die Aufschrift stand: „Fancy Pictures.“ – „Hier,“ sprach lächelnd Mr. Smith, „finden Milady das bewußte Ideal, dieser Raum enthält Phantasiestücke und zurückgesetzte Portraits – in meinen Augen ist er nicht der interessanteste.“

Nr. 37. stellte ein junges Mädchen vor, ein Köpfchen à la Greuze, mit blonden Locken und regelmäßigen Zügen, in dessen blauen Augen ein seltsamer Zug von wehmüthiger Sanftmuth lag. Mathilde suchte schon in ihrer Phantasie, wie sie in einem Gemälde dieses sanfte Gesichtchen am besten zur Geltung bringen könnte, als die danebenstehende Mary durch einen Verwunderungsausruf ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Mathilde wandte sich um, – und das Blut stockte in ihren Adern, sie wurde leichenblaß, und Mary mußte ihren Arm um die Schwankende schlingen, um sie zu stützen.

In einem Voltaire-Fauteuil saß – Leo, den Kopf zurückgeworfen und an die Lehne gestützt, genau in derselben Stellung, wie Mathilde ihn zum letzten Mal gesehen, nur fehlte die Frauengestalt, die damals den Kuß auf seine Lippen drückte.

Mit einem Blicke, den alle Intelligenz verlassen zu haben schien, starrte Mathilde die Figur an, bleich wie die Wand, bebend am ganzen Körper stand sie da, wie gebannt, – vergeblich versuchte es die erschrockene Mary, sie wegzuführen, sie athmete endlich tief auf, wandte sich zu Mr. Smith und frug mit erstickter Stimme: „Mr. Smith, wie kommt dieses Portrait in Ihre Sammlung?“

„O,“ antwortete er gleichgültig, „dies ist ein unbedeutendes Exemplar, ich weiß nicht einmal, wen es darstellt!“

Mathilde sah ihn flehend an.

„Mr. Smith, ich beschwöre Sie, mir zu sagen, wie es sich damit verhält, wie …“

„Es ist ganz einfach, Milady. Vor ungefähr drei Monaten kam ein junger Franzose zu mir, brachte mir die photographische Karte dieses Herrn und forderte unter einigen Angaben eine vollständige sitzende Figur, die in der kürzesten Frist vollendet werden sollte. Nach drei Tagen war die Figur auch fertig, – Sie begreifen aber, Milady, daß es schwerer ist, nach einer Photographie zu arbeiten, als nach der Natur, – somit war der junge Mann nicht zufrieden. Ich mußte nach neuen Angaben einen neuen Kopf modelliren, der, wie es scheint, seinen Wünschen entsprach, und hier sehen Sie den ersten, den mißlungenen, den ich des Pikanten der Physiognomie wegen in die Fancy-Sammlung gestellt habe.“

„Und – und wissen Sie, wer dieser junge Franzose war?“

„Seinen Namen muß ich wohl noch in meinem Notizbuche haben,“ sagte Mr. Smith, dasselbe hervorziehend, – „September, den 20., Monsieur le Vicomte de Joly!“

Laut schluchzend fiel Mathilde an Mary’s Brust; verwundert und erschrocken sah Mr. Smith die beiden Frauen an. Mary gab ihm eine genügende Erklärung, indem sie sagte, der Herr sei ihrer Freundin wohlbekannt, und die Figur habe trübe Erinnerungen in ihr wachgerufen, und bat schließlich Mr. Smith, einen Wagen vorfahren zu lassen, um die aufgeregte Freundin nach Hause zu bringen, was denn auch augenblicklich geschah.

Wer könnte Mathildens Verzweiflung, ihre Gewissensbisse schildern! Alles war nun klar, das schändliche Benehmen des Vicomte, der ihre Eifersucht benutzt und nichts gespart, um einen Beweis zu schaffen, der in seine geheimen Hoffnungen spielen sollte. Hundert Mal warf sich Mathilde ihre Blindheit, ihre Uebereilung vor, dazwischen tauchte wieder das auf Place de la Concorde gesehene Bild auf, das doch kein Trug war. Mary suchte vergebens, sie durch Worte der Vernunft zu beschwichtigen, ihre krankhafte Phantasie war zu stark aufgeregt worden, die noch schwachen Kräfte hatten einen zu harten Stoß erlitten; gegen Abend trat das Fieber mit neuer Gewalt ein, Mathilde phantasirte, raste, beschuldigte bald sich, bald den Vicomte, bald Leo, mischte Lüge und Wahrheit durcheinander – die von der armen Mary befürchteten Schreckenstage waren wieder da! Und Tage und Wochen lag Mathilde wieder bewußtlos, bald ein Opfer des Fiebers, bald in einer gänzlichen lethargieähnlichen Entkräftung. Der Arzt gab wenig Hoffnung und wartete auf die immer Alles entscheidende Krisis. Endlich stellte diese sich ein, und noch einmal siegte die jugendliche Lebenskraft; Mathilde verfiel in einen ruhigen Schlaf, während dessen der Arzt das Wort gerettet aussprach. Als sie die Augen aufschlug, fiel ihr erster klarer Blick auf Leo, der an ihrem Bette saß, ihre Hand hielt und seine Augen unverwandt auf dem bleichen Antlitze haften ließ.

Mathilde war zu schwach, um sich zu erinnern, – daß Leo da, fiel ihr nicht auf, sie fühlte nur die Seligkeit seiner Gegenwart, versuchte einen schwachen Händedruck, ein Lächeln und schloß wieder die müden Augen. Nach und nach, in den nächsten Tagen der Besserung, kehrte aber mit den zunehmenden Kräften auch die Erinnerung an das Vorgefalleue zurück; noch wagte Mathilde keine Frage, ihr unruhiger Blick fagte aber bisweilen mehr als Worte, und diese stumme Frage beantwortete Leo gewöhnlich mit einem Kusse, Mary aber mit einem seligen Lächeln, das deutlich sagte: mein Werk!

Als endlich eines Tages der Arzt erklärte, alle Gefahr sei vorüber, schloß sie der beglückte Leo in seine Arme und sprach unter den wärmsten Küssen: „Du böse, böse Mathilde, ohne unsere treue Mary wüßte ich bis heute nicht, wo mein süßes Glück weilt. Wie um Gottes willen konnte mich mein liebes Weibchen mit einer Wachsfigur verwechseln?“

„O, vergieb mir, Leo, ich war wahnsinnig, aber dazu auch so unglücklich, und dann …“

„Und dann?“ wiederholte lächelnd Leo.

„Das, was keine Wachsfigur war!“

„O Mathilde, hättest Du nur drei Tage gewartet, nur noch drei Tage mir vertraut, so hättest Du erfahren, daß die, die Du mit mir gesehen, keine Andere war, als Henriette, meine theuere Schwester!“

„Henriette in Paris – und das durfte ich nicht wissen?“

„Nein, Mathilde, Du durftest nicht. Höre, wie es sich verhielt: Henriettens Mann, aus politischen Gründen gezwungen, heimlich seine Heimath zu verlassen, flüchtete nach Paris, um sich dort eine Zeit lang zu verbergen. Er war auch da nicht sicher. Henriettens aufopfernder Liebe gelang es, den stark Compromittirten eine Zeit lang allen Blicken zu verbergen, sie berief mich nach Paris, um ihr in der fernern so schwierigen Angelegenheit seiner weitern Flucht beizustehen. Alle, ohne Ausnahme, [308] mußten getäuscht werden, selbst Du, mein armes Weibchen. Die Gefahr war zu groß, bei Deiner Unerfahrenheit, Deiner Lebendigkeit hätte ein unvorsichtiger Blick, ein unwillkürliches Erröthen von Dir Alles verrathen, und dann war Alles verloren. – Ich galt die ganze Zeit für etwas Anderes, als Henriettens Bruder, und so peinlich mir auch die Rolle war, ich mußte sie spielen, denn es war das einzige Mittel, um das Mysteriöse der Dame zu motiviren und jeden Verdacht zu entfernen, daß ein Mann im Hause verborgen war. Dieser Anschein hat auch den Vicomte getäuscht, dessen schändliches Benehmen mir sein Verschwinden bald nach dem Deinigen völlig erklärt. Meine Bemühungen blieben nicht erfolglos: in diesem Augenblicke segelt Henriette mit ihrem Manne Amerika zu; die Schwester hatte ich gerettet, dabei aber mein Glück zum Opfer gebracht, mein Liebstes eingebüßt! Ich hatte den ganzen Schmerz Deines Entfliehens, ohne den eigentlichen Grund desselben zu kennen, und alle meine Bemühungen, den Ort Deines Aufenthaltes zu entdecken, blieben fruchtlos. Ich schrieb nach Hause, auch da wußte man nichts von Dir. Welche Tage ich verlebt, magst Du nach alledem ermessen. Da endlich empfing ich Mary’s Brief, ich eilte zu Dir und mußte nun befürchten, das kaum wiedergefundene Glück wieder zu verlieren. Gott hat aber Mitleiden mit mir gehabt, jetzt habe ich Dich wieder …“

„Und gebessert, mein Leo,“ fiel Mathilde ein, „gebessert durch recht trübe Erfahrungen!“

„Arme Frau, was magst Du gelitten haben! Nun aber, Mathilde,“ fuhr Leo fort, und der alte Humor trat wieder in sein Recht, „nun und vor Allem werde wieder mein gesundes, frisches Weibchen von früher. Dann wollen wir zusammen Mr. Smith besuchen und gemeinschaftlich dem den Hals brechen, der alles Uebel zwischen uns verschuldet.“

„Nein, Leo, diesem nicht, dieser hat ja im Gegenteil Alles wieder gut gemacht, der Andere war es, der mich so namenlos unglücklich gemacht, um den ich so viele Thränen vergossen habe!“

„So viele Thränen um ein Unglück von Wachs!“ sprach Leo und küßte ihr die Thränen von den Wimpern.