Deutsche Herzen, deutscher Pöbel
Deutsche Herzen, deutscher Pöbel.
Im verflossenen Sommer besuchte mich der Verwandte eines Freundes aus Deutschland. Es war ein sehr ernster Mann, im Anfang der dreißiger Jahre. Er war nicht immer so ernst gewesen. Ein Tag, eine Stunde kann die Stimmung eines Menschen für sein ganzes Leben begründen. Er erzählte mir Folgendes:
Ich war ein lustiger Student. Wir fuhren von der Universitätsstadt nach der benachbarten grösseren Stadt zum Theater. Eines Tages im Sommer war ich mit einem Freunde hingefahren; wir hatten uns verspätet, so daß wir, um nicht zu viel zu versäumen, sofort nach unserer Ankunft, ohne weiter Jemanden zu sprechen, uns zu dem Schauspielhaus begeben mußten.
Es wurde ein Lustspiel gegeben; das Haus war voll, wie gewöhnlich. Nur in einzelnen, gerade den vornehmsten Logen war es leer, die höchste Adels- und Beamten-Aristokratie fehlte. Das Fehlen der Stammgäste gerade und der höchsten Classen fiel uns auf. Wir fanden indeß keinen Bekannten, den wir nach der Ursache hätten fragen können. In unserer Nachbarschaft wurde darüber gesprochen, aber nur Weniges, das uns keinen Aufschluß gab.
„Wo ist denn heute die Generalin mit ihren Töchtern, Herr Lieutenant?“
„Wie? Sie wissen nicht, Herr Assessor? Die wohnen einem interessanteren Schauspiele bei.“
„Ah, dort sind sie!“
„Allerdings. Auch die Präsidentin ist da und die schöne Comteß Gleichen.“
Sie sprachen noch von Mehreren, die zu dem „interessanteren Schauspiele“ gegangen seien. Was für ein Schauspiel es war, sagten sie nicht; Jeder setzte voraus, daß der Andere es kenne, und Jeder kannte es.
Das Theater war spät zu Ende. Mein Freund und ich kehrten zu unserem Gasthofe zurück und hofften dort zu erfahren, was alle Welt in der Stadt zu wissen schien. Der Gasthof lag vor dem Thore der Stadt, und um ihn schneller zu erreichen, hatten wir Seitenstraßen eingeschlagen, die zu den abgelegensten der Stadt gehörten, schon bei Tage wenig besucht und in der weit vorgerückten Abendstunde fast leer waren. Wir hatten mehrere zurückgelegt, und anfangs war uns noch hin und wieder Jemand begegnet, seit einer Weile aber schon war der Laut unserer eigenen Schritte der einzige Ton, den wir vernahmen, und gesehen hatten wir in den dunklen Gassen schon lange nichts mehr. Wir hatten oft, auch zur Nachtzeit, diese Straßen und Gassen durchwandert. Es wohnten nur geringe Handwerker und Arbeiter da, Leute, die vom frühen Morgen an den ganzen Tag hindurch ihre schwere, saure Arbeit haben und am Morgen früh zu dieser Arbeit wieder bei der Hand sein müssen; da legen sie sich denn auch früh am Abend zur Ruhe. Aber hin- und wieder hatte man doch Leben gesehen und gehört. Die Stille des heutigen Abends glich einer unheimlichen Todtenstille.
Auf einmal mußten wir unwillkürlich unsere Schritte anhalten. Eine Seitenstraße durchschnitt die Straße, in der wir gingen. Ein Schritt kam daraus hervor, ein schneller, leichter, flüchtiger Schritt. An der Kreuzung der Straße brannte eine Laterne, eine matte, hochhängende Oellampe. Aber wie schwach sie brannte, sie zeigte eine hohe, dunkle Frauengestalt, die an uns vorüberschritt.
„Teufel, eine schöne Gestalt!“ flüsterte ich meinem Freunde zu. „Und wie leicht und schwebend der Gang! Und wie war die Haltung!“
„Du bist ein Narr,“ sagte mir mein Freund zurück. „Komm nur.“
Er kannte mich. Wie gern ist ein lustiger Student auch ein leichtsinniger! Und was liebt und sucht der Leichtsinn mehr, als leichtsinnige Abenteuer?
„Ich muß ihr nach,“ versicherte ich meinen Freund.
Er wollte mich zurückhalten.
„Sie geht dem schlechtesten Winkel zu, der verrufensten und gefährlichsten Gegend der Stadt.“
„Meinetwegen.“
„Es muß schon elf Uhr vorbei sein.“
„Meinethalben mag es schon Mitternacht sein.“
Mein Freund kannte mich ganz, er wußte auch, daß ich das, was ich in meinem Leichtsinn mir einmal vorgenommen hatte, ausführen müsse. „Nimm das!“ sagte er nur noch.
Er reichte mir einen Dolch zu, den er in der damaligen nicht ganz gefahrlosen Zeit immer bei sich zu führen pflegte. Er war ein solider, vorsichtiger junger Mann. Wir trennten uns. Er ging weiter die Straße hinunter, ich schlug die Querstraße rechts ein und folgte der Frau. Sie war mit ihrem schnellen, leichten Schritt an uns vorübergegangen; sie hatte nicht nach uns hingeblickt, um so weniger hatte ich in der schwachen Beleuchtung der Laterne ihr Gesicht sehen können. Ich hatte sie bald eingeholt[WS 1]; sie war schneller gegangen, als sie meinen Schritt hinter sich gehört hatte.
Ich war an ihrer Seite. Ihre Gestalt hatte sich mir, je näher ich ihr kam, in schärferen und in schöneren Umrissen gezeigt; sie war groß, schlank, voll. Sie mußte jung sein, wenn auch der [370] leichte Schritt es nicht zeigte. So meinte ich. Ich wollte auch ihr Gesicht sehen. Sie trug einen dichten Schleier.
„Meine Schöne, darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?“
„Ich danke Ihnen.“
Sie sagte es kurz und abweisend und deutlich genug.
„Aber daß ich Sie begleite, werden Sie mir erlauben?“
„Ich danke Ihnen auch dafür.“
„Sie sind allein.“
„Und ich wünsche es zu bleiben.“
„Sie gehen einer verrufenen Gegend zu.“
„Um so mehr hätten Sie Veranlassung, mir nicht zu folgen.“
„Ah, wenn Sie mir anderswohin folgen wollten?“
„Mein Herr, verlassen Sie mich.“
„Jetzt wahrhaftig nicht mehr.“
Ich wollte ihren Arm nehmen. „Mein Herr!“ rief sie drohend.
Ich war in der That schon mitten in einem Abenteuer. Mitten in der Nacht in einer abgelegenen, dunklen Straße einer großen Stadt, allein mit einem fremden Frauenzimmer, das einsam die Straßen durchstrich, dem verrufensten Theile der Stadt zuging, einem Quartier, das darum das schlechte Viertel genannt wurde, weil die Hefe der Einwohnerschaft dort lebte und verkehrte. Und dieses Frauenzimmer hatte jene hohe, stolze Gestalt, schwebte in leichter, edler Haltung neben mir; ihr dunkles Kleid rauschte an meiner Seite wie schwere Seide; sie sprach in einem gebildeten Tone; sie wies mich strenge, befehlend zurück. Ich konnte, ich durfte mich nicht zurückweisen lassen.
„Ei, meine Schöne, eine Frau, die um Mitternacht allein durch eine dunkle, einsame Straße geht, muß die Begleitung eines Mannes annehmen, der sich ihr anbietet; ich werde Sie daher nicht verlassen. Ich werde Sie begleiten, wohin Sie nun einmal gehen. Haben Sie Ihr Ziel erreicht, so können Sie dann mit mir machen, was Sie wollen.“
Sie hatte sich besonnen.
„Wohl, mein Herr, die Straße ist auch für Sie frei. Aber ich erwarte von Ihrer Ehre, daß Sie keinen Versuch machen, mich anzurühren.“
„Bis Sie selbst mich um meinen Arm bitten,“ lachte ich.
Sie antwortete mir nicht. Die Gasse, in der wir gingen, war sehr schmal; ein Wagen hätte dort nicht fahren können; sie mußte dicht an meiner Seite gehen.
Auf einmal – sie war rasch, aber nur wenige Schritte vorangegangen – blieb sie stehen.
„Geben Sie mir Ihren Arm, mein Herr.“
„Ah, jetzt schon?“
„Schweigen Sie. Lassen Sie uns langsamer gehen; hier, auf die Seite!“
Sie hatte meinen Arm genommen. Ich mußte sie aus der Mitte der Straße, in der wir gingen, zur Seite, unmittelbar an die Häuser und in deren tieferes Dunkel führen. Es war ein runder, weicher Arm, den sie in den meinigen gelegt hatte. Eine schöne, schlanke, volle Gestalt lehnte sich an mich. Aber der Arm war eisig kalt und die ganze Gestalt zitterte.
„Lassen Sie mich einen Augenblick ausruhen,“ bat sie, „bis jene vorüber sind.“
Wir hatten wieder eine Querstraße durchschritten. Ein Geräusch war uns daraus entgegengekommen, ein gleichmäßiger Tritt von mehreren Menschen – wie der Marsch eines Trupps Soldaten. Gesehen hatten wir in der Dunkelheit nichts. Wir waren schon nahe an dem schlechten Viertel; Straßenlaternen brannten dort gar nicht mehr, sie sind für den Luxus der Städte da, an Sitte und Wohlfahrt denkt man bei ihnen nicht.
Die Tritte kamen an uns vorüber. Es war wirklich eine Militärpatrouille, die in die Straße hinein marschirte. Wir waren zwischen zwei Häuser getreten, um ihnen Platz zu machen.
Ich hatte einmal daran gedacht, während wir in dem tiefen Dunkel allein da standen, die schöne Frau an mich zu drücken, aber ich konnte es nicht. Die Kälte des Armes, das Zittern, die bittende Stimme: „Lassen Sie mich einen Augenblick ausruhen!“ – Alles hielt mich zurück. Ich dachte mir dabei ihr Gesicht, bildschön, aber leichenblaß, aus dunklen Augen flehend und zugleich drohend zu mir gewandt. Ich wollte die dunkle Nacht, den schwarzen Schleier, der es bedeckte, durchbohren; ich sah nichts, aber ihr Zittern war stärker geworden.
„Kommen Sie,“ sagte sie hastig, als die Soldaten vorbei waren.
Wir gingen weiter in die Straße hinein, hinter der Patrouille her. Die Soldaten marschirten im Geschwindschritt, und wir hatten sie nach wenigen Minuten aus den Augen verloren und hörten nichts mehr von ihnen. Wir waren in dem schlechten Viertel angelangt; eine Menge kleiner, enger, krummer und dunkler Straßen durchkreuzten sich hier, lösten einander ab. Sie waren überall völlig leer, wir Beiden waren die einzigen lebenden Wesen darin. Stand jene Militärpatrouille mit dieser ungewöhnlichen Leere in Verbindung? Es war schon damals eine eigenthümliche Zeit. Bei unserer Ankunft in der Stadt hatten wir nur erfahren, daß am Tage vorher fremdes Militair eingerückt sei.
Meine Begleiterin führte mich mit sicherem Schritt weiter; sie schien jede der engen Straßen zu kennen, trotz Gewirre, trotz Dunkelheit. In dieser Gegend der Sünde, des Lasters, der Rohheit, der Verbrechen, des Elends? Sie, die hohe, schöne Gestalt, mit der stolzen Haltung, in dem seidenen Gewände? Auf ein galantes Abenteuer hatte ich längst verzichtet. Ich sah nur immer das blasse, leidende Gesicht, von dem ich dennoch nichts hatte sehen können. Aber wer war sie? Wohin führte sie mich? Ich dachte darüber nach.
Wir gingen schweigend neben einander. Ihr Schritt war hastiger, ungeduldiger geworden. Wir waren tiefer in das Straßengewirr des schlechten Viertels hineingekommen. In der Finsterniß war es bisher auch still gewesen; selten war uns ein Mensch begegnet, er war still an uns vorübergegangen. Es fing an lebendiger zu werden, nicht auf der Straße, aber in einzelnen Häusern. Die Laden der Fenster waren fest verschlossen, nur dann und wann drang ein dünner Lichtstrahl durch die Ritzen auf die Straße; aber hinter den dunklen Läden war es laut. Heisere Männerstimmen lärmten, Frauenstimmen riefen grell dazwischen; Gläser und Krüge stießen an einander.
Aus einem Hause tönte uns Musik entgegen. Oben waren die Fenster erleuchtet, und an dem trüben, schwitzenden Glase sah man tanzende Paare vorüberfliegen. Auf das Haus führte meine Begleiterin mich zu.
„Dahin?“ mußte ich sie erstaunt fragen.
„Ja,“ war ihre kurze Antwort.
Es waren die ersten Worte, die wir, seitdem die Patrouille an uns vorübergekommen war, wieder mit einander gewechselt hatten.
„Ich darf Sie hinein führen?“ fragte ich sie weiter.
„Ich bitte Sie darum.“ Sie sprach die Worte in einem dringend bittenden Tone.
Einen Augenblick hatte ich, bei der Tanzmusik, doch wieder an ein ordinaires Abenteuer denken wollen; der bittende Ton nahm mir den Gedanken. Aber was wollte sie in dem Hause? in der Tanzkneipe?
Wir traten in das Haus; die Thür stand offen, und wir kamen in einen engen Hausflur. Eine trübe Oellampe, die oben an der Wand hing, zeigte, wie schmutzig es überall war, sie zeigte uns auch eine schmale, dunkle Treppe, die nach oben führte; wir stiegen sie hinauf und gelangten wieder in einen schmalen Flur, aber es war hell darin. Eine Seitenthür, die hineinführte, stand offen, man sah in eine Küche, in der ein großes Feuer brannte; es wurde darin gekocht, geschmort, gebraten. Angenehme Gerüche dufteten nicht daraus hervor, aber durch eine Thür gegenüber drangen entsetzliche Gerüche von Schnaps, von Bier, von Tabak. In die Gerüche mischten sich die Töne einer schlechten Musik, eines plumpen, polternden Tanzes, das Rufen von Tanzenden, das Schreien von Zechenden.
Was suchte die Fremde in diesem Hause? In dem hellen Scheine des Feuers stand ihre Gestalt doppelt schön, edel, stolz vor mir. Ihre Kleidung war eine elegante, aber tiefschwarz; man sah keinen weißen, keinen bunten Streifen. Und doch war es keine eigentliche Trauerkleidung. Das Gesicht war noch immer von dem schwarzen Schleier bedeckt.
Aus der Küche trat eine Frau in den Flur. Es war eine häßliche, dicke, schmutzige Alte.
„Sie sind doch noch gekommen?“ fragte sie meine Begleiterin.
„Ist das Zimmer für mich bereit?“ fragte diese zurück.
„Gewiß, Madame.“
„Es ist doch Niemand darin?“
„Kein Mensch.“
[371] „Es kann auch Niemand hineinkommen? aus dem Tanzsaale da?“
„Sie können sich darin einschließen.“
„Wer tanzt dort?“
„Die fremden Soldaten.“
„Sie hatten mir gesagt, es werde hier heute Nacht still sein.“
„Es ist nicht meine Schuld, Madame. Diese fremden Soldaten spielen hier die Herren. Ich wollte sie zurückweisen; sie drohten mit Gewalt.“
„Führen Sie mich in mein Zimmer.“
Die Wirthin kehrte in die Küche zurück und kam gleich darauf mit einem Lichte und einem Schlüssel wieder. Meine Begleiterin hatte mich unterdeß durch ihren Schleier betrachtet.
„Sie bleiben bei mir, mein Herr!“ bat sie mich dann leise.
„Ich bitte Sie, verlassen Sie mich nicht.“
„Ich verlasse Sie nicht.“
Die Wirthin schloß eine Thür seitwärts von der des Tanzsaals auf. Wir traten in eine einfach meublirte, ziemlich reinliche Stube.
Die Wirthin stellte das Licht auf einen Tisch. „Wünschen Sie etwas?“ fragte sie.
„Nein.“
Sie verließ das Zimmer. Sie hatte mich nur einen Augenblick neugierig angesehen, aber ohne alle Frechheit der Neugierde solcher Weiber. Der Fremden war sie mit einer Art von Ehrerbietung begegnet. Jeder Gedanke an ein galantes Abenteuer war aus meinem Innern verschwunden. Aber was wollte, was erwartete die Fremde hier, daß sie mich so dringend gebeten hatte, sie nicht zu verlassen? Und anfangs bei unserem ersten Begegnen hatte sie meine Begleitung so entschieden zurückgewiesen.
Die Stube, in der wir uns befanden, stieß an den Tanzsaal, sie lag aber hinter diesem; sie mußte an der Rückseite des Hauses liegen. Sie hatte nur die eine, auf den Flur führende Thür, durch die wir eingetreten waren. Der Thür gegenüber waren zwei Fenster, die dicht mit Vorhängen bedeckt waren.
„Darf ich Sie bitten, die Thür von innen abzuschließen?“ bat mich meine Begleiterin.
Ich that es. Als ich fertig war und mich wieder nach ihr umsah, saß sie an einem der Fenster. Sie schien mit großer Aufmerksamkeit hindurch zu blicken; sie hatte den Vorhang zur Seite geschoben. Von ihrem Gesichte hatte sie den Schleier zurückgeschlagen. Ich konnte dennoch nichts von ihrem Gesichte sehen. Sie hatte es fest an die Scheiben des Fensters gedrückt. Ich war neugierig, wonach sie so angelegentlich ausschaute. Ich trat an das zweite Fenster. Die beiden Fenster führten auf einen schmalen Hof. Unmittelbar an dessen anderer Seite erhob sich ein hohes, langes, dunkles Gebäude mit Flügeln, Vorsprüngen und Thürmen. Ich kannte es. Ich hatte es oft gesehen, freilich nicht von dieser Seite, sondern in seiner Hauptfront, die an der um die Stadt führenden Promenade lag.
„Das ist ja das Zuchthaus!“ rief ich überrascht.
„Ja, es ist das Zuchthaus,“ erwiderte die Fremde kalt und eintönig, und es war mir, als wenn der Ton mir in das Herz schneide.
Meine Augen mußten weiter forschen, was sie in oder an dem dunkeln Gebäude suchen möge. Ich hatte es bald entdeckt. Gerade unseren beiden Fenstern gegenüber und fast in derselben Höhe mit ihnen war in dem Zuchthause ein hohes, breites Fenster. Man sah durch dasselbe in einen weiten, sehr hell erleuchteten Raum. Weiter aber konnte man nichts unterscheiden. In dem Raume mußte eine große Hitze herrschen. Das Fenster war von dickem Schweiße bedeckt, der verhinderte, irgend einen Gegenstand auf dessen anderer Seite klar zu erkennen. Nur eine Menge von Gestalten glaubte man in dunkeln, ungewissen Umrissen zu gewahren. Stimmen von Menschen, manchmal von mehreren zugleich, ein paar Mal einem allgemeineren Gemurmel oder Gesumme ähnlich, schienen die Anwesenheit vieler Menschen in dem Raume zu bestätigen.
Dahin waren Auge und Ohr meiner Begleiterin gerichtet, angelegentlich, gespannt. Ich hatte keine Ahnung davon, was dort vorgehen, was die Fremde durch das Dunkel der Mitternacht, durch die Einsamkeit verrufener Straßen hierher geführt haben, was jetzt ihr ganzes Denken und Sein so völlig in Anspruch nehmen könne. Sie saß, das Gesicht an die Scheiben gedrückt, unbeweglich wie eine Bildsäule da. Und doch konnte sie nichts sehen, als eine in das Unbestimmteste verschwimmende Masse von Gestalten, und nichts hören, als schwache, kaum vernehmbare, vollkommen unverständliche Laute von Menschenstimmen.
Nach einiger Zeit wurde ein Flügel des großen Fensters gegenüber halb geöffnet. Wahrscheinlich war die Hitze in dem Raume groß geworden. Man unterschied eine Menge Menschen. Sie befanden sich in einem weiten Saale, an dessen weißen Wänden Lampen brannten. Sie saßen in langen Reihen, mit dem Rücken nach uns gewandt. Es waren Herren und Damen zu unterscheiden, Damen, wie es schien, in reichen Toiletten, Herren vielfach in Uniform.
Mir fiel unwillkürlich jene Aristokratie ein, die heute im Theater gefehlt hatte und einem anderen, interessanteren Schauspiele beiwohne. In der That schienen sie vor einem Schauspiele zu sitzen. Ganz hinten in dem Saale standen mehrere Lichter auf einem Tische. Hinter und zu beiden Seiten neben den Lichtern sah man neue Gestalten. Sie bewegten sich nicht. Aber von dort her kamen Stimmen; dort hinten an dem Tische wurde gesprochen. Ich konnte unter den Personen, die sich dort befanden, nur einen starken Mann besonders unterscheiden. Er schien zu stehen, während die Uebrigen saßen. Bewegungen seiner Hände zeigten, daß er sprach. Zu verstehen war auch jetzt nichts.
Das Fenster war nach der Seite hin geöffnet, wo meine Begleiterin saß; sie konnte vielleicht mehr sehen, als ich. Sie war plötzlich aufgefahren. Dann hatte sie leise ihr Fenster geöffnet; nur wenig, nur ein paar Zoll weit, um eben hindurch horchen zu können. Ich vernahm an meinem Fenster darum nicht mehr. Doch nach einer Weile hörte ich deutlich ein lautes Gelächter. Es kam aus den Reihen der vornehmen Herren und Damen, der Zuschauer und Zuhörer. Die Fremde fuhr heftig von dem Fenster zurück.
„Es ist entsetzlich!“ rief sie.
Als ich nach ihr hinblickte, hatte sie schon wieder horchend und schauend das Gesicht an das Fenster gepreßt. Auf einmal flog sie wieder zurück. In dem Saale drüben war, wie ich deutlich hatte erkennen können, ein alter Mann mit wenigen schneeweißen Haaren erschienen. Er hatte sich dem starken Herrn genaht, der an dem erleuchteten Tische stand und zu sprechen schien. Er hatte diesem etwas überreicht, wie es mir vorkam, ein Papier. Ich glaubte wahrzunehmen, wie in dem Saale zuerst ein allgemeines Geflüster, dann eine tiefe Stille entstand. Die Blicke der Zuschauer schienen nur auf den Greis und den starken Herrn gerichtet zu sein. Es war wirklich ein Papier, das dieser von jenem erhalten hatte. Er öffnete, er las es. Die tiefste Stille währte in dem Saale fort. Der Lesende ließ plötzlich die Hand mit dem Papiere sinken. Er sah nach Jemandem hin. Er verließ seinen Platz. Ich konnte nicht sehen, wohin er gegangen war.
Meine Begleiterin stieß einen Schmerzensschrei aus.
„Allmächtiger Gott! Es ist Alles vorbei!“
Sie war von ihrem Fenster zurückgeflogen. Sie kam auf mich zu. Ich sah zum ersten Male ihr Gesicht. Es war völlig entschleiert. Meine Phantasie hatte in dem finsteren Straßenwinkel mir dieses Gesicht bildschön, aber leichenblaß, mit dunklen, drohenden Augen gezeichnet. Wie weit war sie hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben! Nie habe ich ein edel schöneres und leichenblasseres Gesicht gesehen, nie aber auch in einem Gesichte mehr Schmerz und Leid und Angst und Zorn.
Sie war noch jung. Sie konnte in der Mitte der zwanziger Jahre sein. Und diese Frau hatte ich leichtfertig verfolgt! Mit ihr hatte ich ein galantes Straßenabenteuer bestehen wollen! Ich stand beschämt vor ihr. Meine Scham konnte nur durch den festen Entschluß ausgelöscht werken, mich ihrem Dienste zu weihen, mochte sie von mir fordern, was sie wollte. Sie sah mich mit den dunkeln Augen bittend an.
„Mein Herr, auch Sie haben in den Saal drüben geblickt?“
„Ja, Madame.“
„Sie haben den alten Mann gesehen, der eintrat?“
„Ich habe ihn gesehen.“
„Ich habe eine Bitte an Sie.“
„Befehlen Sie über mich.“
„Der alte Mann ist mein Diener. Ich muß ihn sprechen. Er weiß nicht, daß ich hier bin. Führen Sie ihn zu mir. Eilen Sie. Wenn Sie links um dieses Haus gehen, so kommen Sie durch eine kleine Gasse an ein Gitterthor, das Sie unmittelbar zu jenem Theile des Zuchthauses führt.“
[372] Ich war schon auf dem Wege und fand ihn, wie sie ihn mir bezeichnet hatte. Durch das Gitterthor sah ich einen weiten Hof, einen Hinterhof des Zuchthauses. Er war durch Laternen hell erleuchtet. Ueberall zeigte ihr Schein mir Soldaten, die in Gruppen oder in Reihe und Glied standen. An dem vergitterten Thore befand sich ein Doppelposten. Ein Unterofficier, der daneben stand, hatte mich in der leeren Gasse herankommen sehen.
„Wohin wollen Sie?“ fragte er.
Ich konnte, zumal bei dem Anblick des mit so großer Strenge militairisch bewachten Zuchthauses, keinen Zweifel mehr über die Bedeutung des Schauspiels haben, dem ich, ohne es zu verstehen, aus der Ferne beigewohnt hatte, das meiner Begleiterin das Herz zerschnitt, das für jene eleganten Herren und Damen interessanter als das Theater gewesen war, das ihnen jenes laute Gelächter abgelockt hatte. Der blassen Frau war es ein entsetzliches Lachen gewesen. Errieth ich, warum? Die Unglückliche! Wir lebten damals in einer furchtbaren, entsetzlichen Zeit. Sie traf vernichtend deutsche Männer – und auch wie manches edle deutsche Frauenherz. In der Brust des deutschen Studenten aber schlug zu jener Zeit kein deutsches Mannesherz, lebten nicht einmal Gefühle für deutsche Männer, und die Frauen waren für ihn nur zu leichtfertigen Abenteuern da. Ich war nicht anders gewesen, als die Andern, aber mit einem Male war eine tiefe Umwandlung in mir vorgegangen.
„Das Standgericht hält hier seine Sitzungen?“ fragte ich den Unterofficier.
„Ja.“
„Ich wünschte dort Jemanden zu sprechen.“
„Wen?“
„Einen Bekannten im Zuschauerraume.“
Der Mann musterte mich durch das eiserne Gitter. Er schien nichts Verdächtiges an mir zu finden. Das Verfahren war ein öffentliches. Er schloß das Thor auf und ließ mich eintreten.
Das Standgericht wurde in einem Seitenflügel des Zuchthauses gehalten, in einem Eckzimmer. Die schmalere Seite desselben war dem Hause zugekehrt, aus dem ich kam, und die Dame, die ich hingeführt, und ich hatten durch das nach jener Seite befindliche einzige Fenster hinein sehen können. Die breitere Front zeigte eine Reihe beleuchteter Fenster. Unter ihnen trat ich durch das Portal in das Gebäude. Auch im Innern standen überall Schildwachen. Sie standen die Treppe entlang, die ich hinaufsteigen mußte, bis oben zu den Thüren des Saales. Oben trat wieder ein Unterofficier an mich heran.
„Wollen Sie in den Zuschauerraum?“
„Ich suche den alten Bedienten, der vorhin in den Saal gelassen wurde.“
„Ah, er hatte dem Vertheidiger etwas zu übergeben?“
„Richtig.“
„Er ist noch drinnen. Sie können hier auf ihn warten.“
Der Unterofficier war ein höflicher Mann.
„Darf ich unterdeß in den Zuschauerraum eintreten?“ fragte ich ihn.
Er öffnete mir die Thür, an der wir standen. Ich trat in den Saal des Kriegsgerichts.
Ich befand mich in dem Zuschauerraume, mitten zwischen dem vornehmen, eleganten Publicum, das hier einem interessanteren Schauspiele zusah, das vorhin so laut und so lustig über dieses Schauspiel hatte lachen müssen. Aber mein Blick glitt an diesen aristokratischen Herren und Damen vorüber, um den Mann aufzusuchen, um dessen Leben es sich hier handelte, der hier zum letzten Male kämpfte um seinen Kopf, und über dessen Todeskampf jene hatten lachen können. Ich fand ihn. Es war ein großer, schöner, junger Mann; er stand mit dem feinen, aber kräftigen, ausdrucksvollen, aristokratischen Gesichte klar und ruhig da. Sein Auge weilte furchtlos auf seinen Richtern. Die Masse der vornehmen Zuschauer würdigte er keines Blickes.
[397] In dem Saale des Kriegsgerichts sah ich auch die Richter des jungen Mannes. Ich begegnete nur strengen, harten, mitunter stumpfen Soldatengesichtern. Der Präsident allein, ein Stabsofficier, zeigte einen anderen Zug, als den der dienstlichen Unempfindlichkeit, aber er schien das Menschliche, das sich in ihm regte, seiner Umgebung gegenüber zurückdrängen zu müssen. Hatte der Angeklagte von diesen Richtern eine Hoffnung?
Das bekümmerte Gesicht seines Vertheidigers, jenes kräftigen, stattlichen Mannes, den ich schon vorhin durch das Fenster gesehen hatte, suchte mit Anstrengung den Ausdruck der Zuversicht festzuhalten, wohl nur, um dem Angeklagten nicht seinen Muth zu nehmen. Aber es bedurfte dessen für diesen nicht; mochte er Hoffnung oder keine Hoffnung haben, mochte er aus diesem verhängnisvollen Saale in die Arme seines Weibes, seiner Kinder zurückkehren, oder mochten sie ihn unmittelbar von hier zu der abgelegenen grünen Wiese führen, wo die sieben Todeskugeln seiner harrten, er stand ungebeugt, stolz und muthig da, und der Stolz und Muth waren auch ferner in ihm nicht zu brechen.
Sie kennen ihn ja, fuhr der junge Erzähler zu mir fort, jenen edlen Angeklagten, Sie haben mit ihm, er hat mit Ihnen gekämpft für Deutschlands Freiheit und für Deutschlands Einheit. Dieser Sohn eines der edelsten deutschen Geschlechter, dieser Mann der ausgezeichnetsten Bildung, des einnehmenden Wesens, des wohlwollenden Herzens, des eisenfesten Charakters, der glühendsten Vaterlandsliebe. Ich erkannte ihn; ich hatte ihn nie gesehen, ich hatte nur am Tage vorher flüchtig seinen Namen gehört; ich war ja am Tage vorher noch der leichtsinnige Student.
Ich sah ihn. Ich sah ihn, wie er so stolz und muthig, wie er so groß kämpfte für sein Leben, nein, noch immer für sein deutsches Vaterland, für das er sein Leben eingesetzt hatte, für das er noch jetzt es einsetzte. Seine Liebe zu seinem Vaterlande, seine Aufopferung für sein Volk, das waren seine Verbrechen geworden, wofür auf der stillen grünen Wiese die sieben Soldatenkugeln ihn treffen sollten. Ich sah den Gatten jener unglücklichen Frau, mit dem schönen, leichenblassen Gesichte, wenige Schritte von ihm in Todesangst um ihn bebend.
Der Vertheidiger schrieb etwas. Der alte Diener, den ich suchte, stand vor ihm; er schien auf das Geschriebene zu warten. Der Greis war der Diener auch des Angeklagten; er vermochte nicht den Blick auf seinen Herrn zu richten, es hätte ihm das Herz brechen müssen; die alten Augen standen ihm voll Thränen.
Der Präsident setzte, während der Vertheidiger schrieb, die Verhandlung fort; sie war bis nahe zu ihrem Schlusse gediehen. Die Zeugen waren vernommen, der anklagende Officier hatte die Anklage aufrecht erhalten. Der Vertheidiger hatte geantwortet; ich hatte ihn vorhin durch das Fenster gesehen, als er seine Rede hielt.
Der Präsident richtete, während ich eintrat, die gewöhnlichen Schlußfragen an den Angeklagten:
„Angeklagter, haben Sie noch etwas zu Ihrer Vertheidigung anzuführen?“
Es waren die letzten Worte, die er jetzt zu seinen Richtern zu sprechen hatte. Sie konnten entscheidend für ihn sein, die Würfel über Leben und Tod, selbst jenen kalten, starren Richtern gegenüber. Die letzten Worte eines Angeklagten üben oft eine wunderbare Macht aus.
Der Angeklagte verlor nichts von seiner Ruhe, seinem Stolze, seinem Muthe.
„Meine Herren Richter,“ sprach er mit fester, klarer Stimme, „ich habe an dem Kampfe Theil genommen, der in diesem Lande gekämpft wurde. Sie nennen ihn die Revolution. Sie haben in diesem Augenblicke ein Recht dazu, denn Sie sind die Sieger.“
Unter den Zuschauern wurde es unruhig, er kümmerte sich nicht darum, er fuhr ruhig fort:
„Aber, meine Herren Richter, es wird eine andere Zeit kommen, und sie muß kommen, sie kann nicht mehr fern sein, da werden Sie für das Nämliche kämpfen, für das ich, für das wir gekämpft haben, für ein einiges Deutschland. Denn nur für –“
Er wurde unterbrochen; ein lauten Lachen erhob sich in dem Zuhörerraume. In den vorderen Reihen, unter den vornehmsten und elegantesten Damen begann es höhnisch; lauter pflanzte es sich von Reihe zu Reihe fort, bald hatte es den ganzen Raum erfüllt. Dem aristokratischen Pöbel war der Angeklagte ein Ueberläufer aus dem Lager der Aristokratie in das der Demokratie.
Die unglückliche Frau da hinten an ihrem einsamen Fenster – sie konnte dort ihren Gatten sehen – ihr Herz, wenn auch nicht ihr Ohr, hatte seine Worte vernommen; dieses rohe, gemeine Gelächter war die Antwort darauf – wie mußte es ihr Herz zerreißen!
In den Augen des Präsidenten des Kriegsgerichts blitzte ein edler Unwille; aber erst eine ernste, strenge Ermahnung konnte den Ausbruch der Gemeinheit zum Schweigen bringen.
Der Angeklagte hatte sich stolzer erhoben.
„Ja,“ fuhr er fort, „nur für unser Vaterland, nur für Deutschlands Einheit, Freiheit und Größe haben wir gekämpft. Jetzt hat nur das deutsche Volk den Kampf aufgenommen, aber wie gerade vor einem Menschenalter Deutschlands Heere und Fürsten mit dem Volke sich vereinigen mußten, um das Vaterland, das sie leider nicht einig machen konnten, und das deshalb seitdem auch nicht wieder groß werden konnte, wenigstens wieder frei zu machen, so wird nochmals eine Zeit anbrechen, in der das gesammte deutsche Volk wieder für seine Freiheit und dann auch für seine Einheit und Größe kämpfen wird, mit seinen Fürsten und seinen Heeren, oder wenn die Fürsten nicht wollen, ohne sie; und das deutsche Vaterland wird dann einig und groß werden, und an das Wort Revolution – wer möchte dann daran denken wollen, denken können? – Doch, meine Herren, das ist erst eine Sache der Zukunft. Sie haben über Thatsachen der Vergangenheit und der Gegenwart zu richten, ich weiß es. Und dafür habe ich Ihnen nur noch wenige Worte zu sagen; urtheilen Sie über mich, wie Ihr Gewissen es von Ihnen fordert. Erwägen Sie dabei zweierlei: zuerst, kein unlauterer Gedanke hat mich geleitet; und dann, ich habe ein edles Weib, das mich liebt – ich habe drei unmündige Kinder. Dürfen Sie milde gegen mich sein, seien Sie es um der Armen willen.“
Es herrschte doch tiefe Stille in dem weiten Saale; ein Schluchzen unterbrach sie. Der alte Diener konnte das laute Weinen nicht mehr zurückhalten; er hatte von dem Vertheidiger ein Billet empfangen. Er war geblieben, um die letzten Worte seines Herrn zu hören; er mußte aus dem Saale hinausstürzen, wenn er nicht zusammenbrechen wollte.
Ich mußte ihm folgen, in dem entscheidendsten Momente. Die Verhandlung war beendigt; die Richter mußten sich jetzt zurückziehen, um ihr Urtheil zu berathen, in wenigen Minuten mußten sie zurückkehren, um das gefundene Urtheil dem Angeklagten zu verkünden, Leben oder Tod. Der Greis hatte sich erschöpft draußen an einen Thürpfosten gelehnt, ich trat zu ihm.
„Ihre Herrin erwartet Sie, sie ist hier.“
Er erschrak.
„Hier die Arme? Führen Sie mich hin.“
Er erzählte mir unterwegs; er kam aus der Residenz. Der alte Vater des Angeklagten, der höchsten Aristokratie angehörig, selbst in seinem hohen Alter unvermögend zu reisen, hatte den greisen Diener mit einer Bittschrift für das Leben seines Sohnes an die Regierung gesandt. An zweihundert Bauern von den Gütern des Angeklagten hatten eine gleiche Bittschrift beigefügt. Der Bote hatte die Gesuche in der Residenz übergeben; sie waren zurückgewiesen. Er hatte dem Vertheidiger die unglückliche Antwort in die Gerichtssitzung gebracht. Er mußte sie jetzt noch seiner Herrin mittheilen.
Aber die arme Frau kannte sie ja schon. Sie hatte an ihrem Fenster ihn in den Saal treten, ihn mit dem Vertheidiger sprechen, darauf diesen trostlos gesehen. „Es ist Alles vorbei!“ hatte sie dann gerufen.
„Es ist Alles vorbei!“ stürzte sie dem Diener entgegen.
„Bei den Menschen, die von Gottes Gnaden sprechen,“ sagte der Greis. „Aber hoffen wir doch noch auf die Gnade Gottes.“
Er überreichte ihr ein Billet. Es war das, welches der Vertheidiger [398] in der Sitzung geschrieben hatte. Sie durchflog es. Es enthielt keinen Trost für sie. Der Vertheidiger schien sie, um ihr keine vergeblichen, grausamen Hoffnungen zu machen, auf das Schrecklichste vorbereitet zu haben. Man las es in ihren Zügen. Sie zuckte einen Augenblick zusammen, wie unter ihrem eigenen Todeskampfe. Aber dann hatte sie sich erhoben.
„Adolph ist gefaßt, schreibt mir der Vertheidiger. Er läßt mich bitten, daß auch ich es sei, möge kommen, was da wolle. Ich will es sein. Ich will seiner würdig sein. Die Verhandlung ist zu Ende, wenn ich recht gesehen habe. In wenigen Minuten muß die Entscheidung folgen. Sie wird mich stark finden, wie sie meinen Gatten groß finden wird. Bleibe Du hier, Konrad. Und auch Sie, mein Herr. Sie haben mir Ihren Beistand bisher gewidmet, verlassen auch Sie mich nicht.“
Sie war wunderbar gefaßt. Ihr edles Herz war auch ein starkes. Sie kehrte zu ihrem Fenster zurück. Sie hatte es wieder geöffnet. Der Diener und ich waren ihr gefolgt. Man konnte tief in den Saal hineinsehen, weiter als ich an dem andern Fenster es früher gekonnt hatte. Man sah den Vertheidiger und zugleich den Angeklagten. Das Gericht war noch nicht zurückgekehrt.
Der Angeklagte saß auf seinem Platze. Er hatte seine Ellbogen auf seine Kniee gestützt und das Gesicht in die Hände gelegt. Welche Empfindungen, welche Gedanken mochten ihn durchströmen in diesen Augenblicken, so nahe vor der Entscheidung über sein Schicksal! Daß die Gattin in seiner Nähe war, daß ihr Auge ihn sehen konnte, er hatte keine Ahnung davon. Wie viel schwerer hätte es ihm das Herz machen müssen!
Der Vertheidiger ging unruhig auf und nieder. Seine Bewegung litt ihn nicht auf seinem Platze. Das Publicum verhielt sich ruhig. Jene Mahnung des Präsidenten wirkte wohl noch nach. Zu ihrer Ehre wollen wir glauben, daß auch das Schwere, Furchtbare des Moments selbst auf jene Menschen seine Einwirkung ausübte.
Die Gattin des Angeklagten blieb gefaßt. Das Gericht kehrte noch nicht zurück. Sie erzählte dem Diener, wie sie im Gasthofe auf seine sich mehr und mehr verzögernde Rückkehr zuletzt nicht mehr habe warten können und daher, indem sie Niemanden gefunden, dem sie sich anvertrauen mochte, sich allein hierher zu der schon gestern gemietheten Stube auf den Weg gemacht habe. Unterwegs, setzte sie großmüthig hinzu, habe sie meinen Schutz angenommen.
Wir Alle hatten unterdeß die Blicke unverwandt nach dem Gerichtssaale gerichtet. Das Gericht war noch immer nicht zurückgekehrt. Es waren furchtbar peinliche Momente des Wartens. Sie waren in der tiefen Stille, die umher herrschte, um so schrecklicher.
Die Mitternachtsstunde war längst vorüber. Die Tanzgesellschaft neben dem Zimmer, in dem wir uns befanden, hatte sich während der Zeit, daß ich abwesend gewesen war, entfernt. Im Hause war Alles still. Aus dem Gerichtssaale drang kein Laut hervor. Einen Augenblick wurde die arme Frau von ihren Gefühlen überwältigt.
„Wie sie entsetzlich lange ausbleiben!“ rief sie.
Ich suchte sie aufzurichten.
„Sollte es nicht ein günstiges Zeichen sein? Es zeigt eine Uneinigkeit der Stimmen, einen Widerspruch gegen das härtere Urtheil. Wie leicht kann da die mildere Meinung siegen!“
Aber sie schüttelte schmerzlich das bleiche Gesicht.
„Bei diesen Richtern nicht. Sie können nur hassen. Sie sollen es nur.“
Dann hatte sie sich wieder gefaßt. Dem Hasse konnte sie nur Größe entgegensetzen. Sie nahm ihren Platz am Fenster wieder ein.
Endlich entstand in dem Gerichtssaale eine Bewegung. Man hörte dort eine Thür sich öffnen. Das Militärgericht trat wieder ein, der Präsident an der Spitze. Sie begaben sich zu ihren Plätzen.
Hunderte von Herzen schlugen in banger, furchtbarer Erwartung. In meiner eigenen Brust hörte ich das laute Klopfen. Ich glaubte auch das unruhige Pochen in der Brust der Frau an meiner Seite zu vernehmen. Es herrschte in diesem Augenblicke rund um uns her die tiefste Stille. Sie trug die Schritte des zurückkehrenden Soldatengerichts aus dem Saale zu uns herüber. Die Fenster waren noch geöffnet, das des Saals, wie das, an dem wir uns befanden. Wir mußten jedes Wort verstehen können, wenn der Präsident jetzt das Urtheil verkündete.
Ich zitterte am ganzen Körper. Die unglückliche Frau hatte krampfhaft eine Stange gefaßt, die sich an dem Fenster befand. Der alte Diener hatte sich zur Seite niedersetzen müssen. Er hatte sein Gesicht mit beiden Händen verhüllt. Der Präsident des Gerichts erhob sich. Er nahm ein Papier in die Hand. Es war das Urtheil, das er nun verkünden wollte.
[413] In dem Augenblicke, wo der Präsident das Urtheil verkünden wollte, wurde die Stille in unserer Nähe unterbrochen. Ein Haufen lärmender Menschen stürzte die Treppe herauf. Männer schrieen, Weiber kreischten; heisere, verstimmte Tanzmusik führte sie. Es war die zurückkehrende Tanzgesellschaft oder ein Theil derselben. Sie hatten sich wohl in der Nachbarschaft, in einem anderen Hause noch mehr berauscht und kamen wilder, lärmender zurück, um von Neuem ihren Tanz zu beginnen. Sie stürmten in das Zimmer, das sie verlassen hatten; die Musik mußte lauter aufspielen. Von dem Gepolter des Tanzes, dem Schreien, Jauchzen, Kreischen zitterte das Haus; kein anderer Laut war mehr zu hören.
Der Gerichtssaal drüben mit allen seinen Menschen lag für uns wie eine todte Masse da. Doch es sollte Leben in die Masse kommen. Wir hatten kein Auge von dort verwandt. Der Präsident hatte sich erhoben, das Papier in der Hand. Auch der Angeklagte war aufgestanden, er stand aufrecht, fest und muthig wie immer da. So blickte er dem Präsidenten, allen seinen Richtern furchtlos und ruhig in das Gesicht. Das Profil seines Gesichts war uns scharf zugewandt, wir sahen die feste, klare Ruhe darin.
„Mein Adolph!“ sprach die Frau leise vor sich hin, bewundernd und doch erbebend.
Der Präsident begann zu lesen, man konnte es nicht hören, man sah es. Der Angeklagte verwandte den ruhigen Blick nicht von ihm, er bewegte sich nicht. Aber auf einmal – „Ewiger Gott!“ schrie die unglückliche Frau vor mir auf.
„Sie haben ihm das Todesurtheil verkündet!“
Woher sie es wußte? Sie hatte es nicht gehört, man konnte keinen Laut hören, geschweige ein Wort verstehen. Auch ihre Augen hatten es ihr nicht sagen können. In dem Augenblicke, als sie es rief, war nicht die leiseste Bewegung im Saale wahrzunehmen. Der Angeklagte stand aufrecht und unbeweglich, wie er gestanden. Der Präsident las noch, wohl die Schlußformel des Erkenntnisses. Und doch wußte es die Unglückliche.
„Ich sah ihn erblassen,“ sagte sie mir nachher, „nur eine Secunde lang. Ich wollte mir gleich darauf sagen, es sei nicht möglich, daß ich in der weiten Entfernung, in dem Scheine von Kerzen einen flüchtigen Wechsel der Farbe hätte wahrnehmen können. Aber ich hatte es deutlich gesehen; es war der Schatten des Todes, der sich plötzlich durch sein Gesicht zog.“
Sie hatte Recht gehabt. Sie hatten ihm das Todesurtheil gesprochen. Gleich nachher zeigte Alles da drüben es an. Ich hatte einen raschen Blick in den Saal geworfen, der Schreck herrschte darin. Alle saßen oder standen sie dort wie erstarrt, mochten sie dieses Urtheil erwartet oder nicht erwartet haben. Es war der erste Augenblick der allgemeinen Ueberraschung.
Hinter uns rauschte die heisere Tanzmusik, lärmten die Tanzenden. Die Frau des Verurtheilten war aufgesprungen, auch sie stand einen Augenblick wie vernichtet da; ihr Gesicht hatte den [414] Ausdruck einer Todten. Aber auf einmal war das Leben in sie zurückgekehrt; mit dem Leben ein großer, fester Entschluß.
„Mein Herr,“ sagte sie zu mir, „ich habe jetzt eine Bitte an Sie. Er hat sein Todesurtheil empfangen, Sie sehen es an dem Schrecken jener Elenden, die vorhin über Muth, über Seelenadel lachen konnten. Ich hatte mich vorher nach Allem erkundigt. Das Urtheil wird schon morgen in der frühsten Frühe vollzogen werden. Nur die wenigen Stunden dieser Nacht gehören ihm. Ich muß ihn sehen, noch einmal, jetzt gleich. Führen Sie mich zu ihm.“
Sie hatte so fest, so ruhig gesprochen; sie war des Mannes würdig, der Mann ihrer.
„Gnädige Frau, um des Himmels willen!“ rief der alte Diener entsetzt. „Gehen Sie nicht, es ist Ihr Tod; Sie machen ihm die letzten Lebensstunden schwerer.“
Sie blieb ruhig.
„Nein, guter Konrad. Wie wenig kennst Du ihn und mich! Es wird uns Beide aufrichten, ihn für seine letzte Stunde, mich für das ganze Leben. Aber der Tod wird auch mir nahe sein, wenn ich ihm zum letzten Male die Hand gedrückt habe, zum Tode. Meine Füße werden mich nicht tragen können, besorge mir einen Wagen, der mich dann zum Gasthofe zurückbringt. Mein Herr, geben Sie mir Ihren Arm.“
Sie war eine wahrhaft große Frau. Der Diener beugte sich schweigend ihrem Willen. Ich bot ihr meinen Arm, sie legte den ihrigen hinein, fest, ohne Zittern. So führte ich sie aus dem Hause. Wie anders hatte ich sie vor wenigen Stunden hineingeführt! Was Alles hatte in der kurzen Zeit sich ereignet! Ich selbst, das fühlte ich, war für mein Lebenlang ein anderer Mensch geworden.
Ich führte sie an dem wüsten, rohen Tanze vorbei durch die dunkle, stille Gasse zu dem Zuchthause. Auch hier war es still, die Zuschauer hatten den Gerichtssaal noch nicht verlassen. Wir durchschritten ohne Hinderniß das Gitterthor. Die Soldaten waren überall geordnet aufgestellt. Ich hatte vorher an eine Rettung denken wollen.
„Gnädige Frau, haben Sie für den Fall der Verurtheilung an eine Flucht gedacht?“
Wir standen vor dem Gitterthor. Sie zeigte durch die Gitter. „Sehen Sie die strenge Bewachung dort, und er bleibt die Nacht hier. Von hier aus wird er morgen früh –“
Sie konnte doch nicht vollenden. Wir erreichten das Portal des Zuchthausgebäudes. Mehrere Officiere begegneten uns, an ihrer Spitze der Stabsofficier, der dem Standgericht präsidirt, dem Verurtheilten das Todesurtheil verkündet hatte. Er sah bekümmert aus, sein schweres Amt war ihm schwer geworden. Meine Begleiterin wandte sich an ihn.
„Mein Herr, kann ich meinen Mann sehen?“
Sie brauchte ihm nicht zu sagen, wer sie sei. Der Officier erschrak. Er hätte wohl lieber im Kugelregen der Schlacht gestanden.
„Gnädige Frau, ich bedauere. Ihr Gatte steht nicht mehr unter meinem Befehle; seit der Verkündigung des traurigen Spruchs haben meine Functionen hier aufgehört, Sie müssen sich an den Stadtcommandanten wenden.“
„Und wo finde ich den Commandanten?“
„Er ist im Commandanturgebäude.“
Das Gebäude lag in einem anderen Theile der Stadt. Mitternacht war vorüber. Einer der jüngeren Officiere erbot sich dennoch, die unglückliche Frau zu dem Commandanten zu führen oder für sie hinzueilen. In dem Augenblicke öffnete sich eine Seitenthür.
Der Verurtheilte trat heraus, von einer Militairwache geleitet. Er sollte in seine Zuchthauszelle zurückgeführt werden. Die Gattin sah ihn.
„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sagte sie zu dem jungen Officier.
Dann flog sie auf ihren Mann zu.
„Adolph, mein Adolph!“
Sie lag in seinen Armen. Die Wache war unwillkürlich zurückgetreten. Es giebt ein großes, edles Unglück, das die Brust eines jeden Menschen mit Ehrfurcht erfüllt. Die Officiere entfernten sich schweigend. Auch sie waren von jener Ehrfurcht ergriffen. Die Gatten hielten sich umfangen. In der ersten Secunde hatte das völlig Unerwartete den Verurtheilten wohl niederschmettern wollen. Dann war er klar gefaßt.
„Ich hatte nur an Dich gedacht, Alexandra.“
„Ich weiß es.“
„An Deinen Schmerz –“
„Du sollst mich aber auch Deiner würdig finden, Adolph. Darum siehst Du mich hier. O, ich weiß es. Du bist ein echter deutscher Mann. Du weißt für Dein Vaterland zu sterben. Das mußte ich Dir sagen. Meine Bewunderung mußte ich Dir bringen, den Dank des Vaterlandes.“ –
Sie wollte noch weiter sprechen. Eine Thür in der Nähe hatte sich geöffnet. Ein paar elegante Damen waren herausgetreten. Sie mußten in der vornehmen Aristokratie die Vornehmsten sein. Das übrige Publicum war auf einer anderen Seite aus dem Gerichtssaale hinausgelassen. Sie hatten durch diese Thür treten dürfen. Sie blieben stehen, als sie das edle, dem Unglücke, dem tiefsten Schmerze geweihte Paar erblickten. Sie zogen ihre Lorgnetten hervor.
„Ah, eine Scene!“
Sie traten nicht zurück. Die unglückliche Frau sah sie. Sie konnte ihre Fassung behalten.
„Wir müssen uns trennen, Adolph. Gieb mir den Kuß der Scheidung und für unsere Kinder deinen letzten Segen.“
Auch der Verurtheilte blieb gefaßt.
„Bringe den Kindern meinen Segen. Emma wird werden wie Du, und die beiden Knaben – lehre sie, nie ihres Vaters vergessen; sie werden dann auch dem Vaterlande nicht untreu werden. Und nun lebe wohl, Alexandra, mein theures, mein edles Weib.“
Sie umarmten sich still. Dann wandte er sich an die Soldaten zurück, die ihn geleiteten.
„Führt mich!“
Er stieg festen Schrittes mit ihnen eine Treppe hinauf. Ich war zu ihr hingetreten. Sie nahm meinen Arm. Sie zitterte heftig, aber sie konnte voranschreiten. Ich führte sie aus dem Hause. Nach den beiden vornehmen Damen hatte ich mich nicht wieder umgesehen. Wer kann in solchen Momenten sich nach der Gemeinheit umsehen? Draußen auf der Promenade wartete der alte Diener mit einem Wagen. Sie stieg hinein. Er mußte sich zu ihr setzen. Zu mir sagte sie noch: „Erfüllen Sie mir noch eine Bitte. Sehen Sie meinen Mann sterben und bringen Sie mir die Botschaft. Sein Vertheidiger kann es nicht, er ist zu sehr angegriffen. Auch nicht mein alter Konrad. Einen anderen Freund habe ich hier nicht.“
Dann brach sie zusammen. Ich sah noch, wie sie, vielleicht in einer wohlthätigen Ohnmacht, in die Arme des alten, treuen Dieners sank. Der Wagen fuhr davon. Ich erfüllte ihre Bitte.
Es war eine warme Augustnacht. Schlaf konnte nicht mehr in meine Augen kommen. Ich verließ die Stadt; ich suchte die grüne Wiese auf, in deren Winkel das Todesurtheil vollstreckt werden sollte. Ein kleiner Kirchhof mit niedriger Mauer lag daneben. Ein klarer, schöner, großer deutscher Strom stoß vorbei. Ich sah die Vorbereitungen zu der Execution.
Bald nach vier Uhr – der Tag begann zu grauen – nahte sich der traurige militairische Zug. Zehn Minuten später fielen an der Mauer des Kirchhofes sieben Schüsse. Sieben Kugeln hatten das Herz einen deutschen Mannes durchbohrt. Welcher Schmerz hatte es schon vorher zerrissen! Er starb muthig und edel, wie er gelebt hatte.
Als er sterbend hinsank, tauchten fern am östlichen Horizont die ersten Strahlen der Sonne auf. Er hatte sie nicht mehr gesehen. Er hat die Sonne der deutschen Freiheit und Einheit nicht mehr gesehen. Sie wird dennoch aufgehen. – Seiner Frau brachte ich die Botschaft.
„Sie haben einen deutschen Mann sterben sehen,“ sagte sie nur und langsam rollte der Wagen mit der Unglücklicken davon, der Heimath, den verwaisten Kindern zu.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Original: einholt