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Deutsches und englisches Geschäftsleben

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Textdaten
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Autor: H. Beta
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Titel: Deutsches und englisches Geschäftsleben
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 761–763
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Deutsches und englisches Geschäftsleben.

Von H. Beta in Berlin.

Mit der Zeit, den Eisenbahnen und Dampfschiffen, welche die Menschen immer häufiger und massenhafter durcheinander würfeln, werden auch die verschiedenen Völker mehr von einander lernen. Bis jetzt machen sie in dieser Schule des Lebens und Verkehrs freilich noch keine besonderen Fortschritte, und leider kommt es uns vor, als wenn die Deutschen neuerdings am meisten zurückblieben. Man beeilt sich zwar, französische Moden und Narrheiten möglichst schnell nachzuäffen, englische Medicin-Pfuschereien und sonstigen Schwindel ein- und die Leute damit anzuführen; aber just die Vorzüge der Franzosen und die Tugenden der Engländer scheinen bei uns nicht recht Wurzel fassen zu wollen. Um die Hauptstädte zu vergleichen, so ist der Pariser durchweg wirklich höflich und gefällig, der echte Berliner aber meist unerträglich grob und frech mit dem Mundwerke. Es wird keinem Franzosen, nicht einmal einem Engländer, einfallen, im engen vollen Omnibus sein nicotingiftiges Unkraut den Damen in’s Gesicht zu stänkern. Bei den Berlinern ist diese Unverschämtheit Regel und zwar auch mit Cigarren, das Tausend für drei Thaler. Noch weniger wird sich auch der gemeinste Pariser Straßenjunge oder der zerlumpteste Katharinen-Radschläger in London erlauben, öffentliche Orte zu verunreinigen. In Berlin bilden diese Frechheiten aller Stände die einzigen Bewässerungs-Anstalten im staubigen Sommer. Wo die bessern Stände solche Beispiele von Schamlosigkeit geben, kann es uns nicht wundern, daß der eigentliche Pöbel an Rohheit und herausfordernder Beleidigung der guten Sitten und gebildeten Menschen die schmutzigsten Bodensätze aller andern größern Städte der Welt übertrifft. Ueberhaupt sind die Berliner in der ganzen Welt wegen ihres vorlauten Maules, des schneidenden Rasirmesser-Dialekts und des giftigen Witzes mehr oder weniger verrufen. In keiner Stadt der Erde giebt’s so viel verdrießliche, kalte Essiggesichter, als in Berlin. Sie sind immer etwas „giftig“ auf einander, und „sich giften“ ist eine ganz wesentlich Berliner Redensart. Dies ist physisch und moralisch richtig. Die Berliner hocken in ihren zahllosen „Mieths-Kasernen“ viel zu dicht neben, über und in einander. Alle Stände und Bildungsgrade wohnen ganz dicht zusammen in je demselben Hause. Der Professor, Dichter, Künstler, Geheimrath, General der ersten Etage muß mit Frau und Kindern die allergemeinsten Schimpfreden und Unfläthereien der Leute im Keller, im Hofe, im Waschhause mit anhören. Der Kaufmann oder Schneider oder Kanzlei-Secretär im zweiten Stock über ihm bringt ihn mit seinen claviermißhandelnden und opernarienkrächzenden Töchtern, mit den über ihm trampelnden und schreienden Kindern zur Verzweiflung, während die Miether parterre über jeden seiner Schritte fluchen, in immerwährender Wuth erhalten von dem Zank oder Dienstbotengeklatsche auf dem Hofe und dem häuser- und nervenerschütternden Wagengerassel auf dem spitzigen, löchrigen, schauderhaften Steinpflaster, von dem Staube und Rinnsteingestank der Straße, auf die sie kaum hinaussehen können, ohne irgend einen Flegel den Ort verunreinigen zu sehen, den man durch eine Warnungstafel eben schützen wollte.

Verhältnißmäßig glücklich wären vielleicht die Miether in der obersten Etage zu preisen, wenn nicht über ihnen noch Trockenböden und Holzgelasse allen 10–12–15 Familien des Hauses zugleich das Recht gäben, mit Holz-Pantinen über deren Köpfen zu wandeln, Holz hinauf und herunter zu tragen und dabei immer Stücke, auch manchmal den ganzen Korb fallen zu lassen. Auch kommt es vor, daß Leute nach zwölf Uhr des Nachts gleich oben Holz hacken. Die in je einem Hause zusammengepferchten Familien werden sich gegenseitig auch dann zur Last, wenn sie den besten Willen und die gebildetste Schonung für einander haben. Sie können sich aus den Hinterstuben in die Fenster sehen. Man hört, man behorcht sich gegenseitig. Durch die Dienstboten auf Vorder- und Hintertreppen, des Abends hinter dunkeln Hausthüren mit verdächtigen rothen Kragen und Schmalz-Töpfchen, wird Scandal, Klatsch, Verleumdung, Gift und Galle hin- und her-, auf- und abgetragen, geschürt, genährt, in Gährung gebracht. Zu den Kellern und Hinterhäusern wohnen Leute, die sich betrinken, schlagen, schimpfen. Zu den Familienkriegen unten bilden sich Zungengefechte aus den Hinterfenstern von 3 – 4 – 5 Etagen. Kinder schreien, Hunde bellen dazwischen. Von der Straße her dringt der Sandfuhrmann, der Schleifer, der Faßbinder, der Milchmann in den Hof, schlägt metallenen Lärm und ruft mit furchtbarer Stimme für alle Etagen und Familien zugleich. Hat der Wirth oder die Wirthin (Haus-Potentaten in der Regel von sehr untergeordneter Bildung und längst gährend Drachengift gegen alle ihre Unterthanen) etwas Ruhe gestiftet, wogegen die unterliegenden Parteien noch lange hinterher protestiren, so kommt natürlich der erste, zweite, dritte bis sechste und siebente Leierkasten und durchschallt alle Etagen [762] mit der furchtbarsten Fluth von verstimmten Trompeten-Pfeifen. Die Dienstmädchen in den Küchen ziehen ihre Pantoffeln aus, tanzen und werfen Dreier, wohl gar Groschen hinunter. Kinder aus dem Hause und von der Straße lärmen und jauchzen drum herum. Der Gelehrte oder Künstler irgend einer Etage schickt hinunter und heißt ihn weggehen. Der Kerl lacht ihn aus, die Dienstmädchen, die Leute aus dem Keller, froh, den „etwas Besseres sein wollenden“ Miether ärgern zu können, stimmen ein und geben dem Leierkastenmanne noch einen Dreier oder Groschen, der nun vor Wonne noch gar zu seinem Kasten singt. Endlich aber hört auch diese Qual auf, bis sich eine Ziehharmonika, eine Guitarre, eine Flöte, wohl gar eine Clarinette auf demselben Hofe hören läßt. Dazwischen schreien die „Madams“ ihren Dienstboten oben und unten Befehle zu, wozu Andere aus irgend einer Etage für alle 10–15 Familien zugleich „schlechte Witze“ machen.

In solcher Umgebung arbeitet der Künstler, der Gelehrte, der Kaufmann in seinem Hinterzimmer. Unmittelbar neben ihm in der Wohnung schreien Kinder, poltern und putzen und zerbrechen Dienstboten. Madame und Mutter und Gattin kommt dann und wann ganz entrüstet hereingeflogen und appellirt an den Hausherrn um Geld, Schlichtung, Schiedsgericht. Beide – sonst die besten Menschen – sind giftig, aufgebracht, gehetzt – Beide werden ungerecht gegen einander und gehen im besten Falle erkältet auseinander.

Unter solchen Verhältnissen (es sind nur einige Hauptzüge) arbeiten die Berliner, treiben sie Geschäfte. In Berlin ist’s am schlimmsten; aber ganz Deutschland leidet mehr oder weniger an demselben Uebel. Die Wurzel desselben erkennt man in ganzer Entsetzlichkeit moralischer und physischer Zerstörung, wenn man damit das geordnete und gegliederte englische Geschäfts- und Familienleben vergleicht.

„Erst das Geschäft und dann das Vergnügen“ ist in Berlin eine schnatterige Redensart, in London eine praktisch ausgeprägte Thatsache. Bei uns hocken die verschiedensten Familien und Bildungsgrade und Geschäfte in je denselben Häusern auf-, in- und durcheinander, in England hat, nach Salomo, Alles seine Zeit und seinen Ort. Die Grundregel für alles menschliche Gedeihen: „Arbeitstheilung“ ist mit allen Vorbedingungen und Ergebnissen praktisch durchgeführt und unverbrüchlicher geworden, als das strengste Gesetz. London ist der classischste und kolossalste Ausdruck dafür, die individualisirteste, gegliedertste Stadt der Welt.

Um dies anschaulich zu machen, suchen wir uns einen der Tausende von großen Geschäftsmännern der City aus und beobachten ihn einen Werktag lang. Weit draußen im Westen, Süden oder Norden des ungeheuern Häuser-, Straßen-, Gärten- und Eisenstacket-Labyrinthes dehnen und verschränken sich Dutzende von Vorstädten zwischen Bäumen, Gärten und Parks. Die Häuser liegen alle mehr oder weniger zurückgezogen von der Straße, hinter eisengeländerumgebenen Vorgärten und vor Hinter-, oft auch Seitengärten, jedes für je eine Familie eingerichtet und von einer einzigen Familie bewohnt. Dieser Häuser – Villa’s und Cottages – giebt es in solch ungeheuern, städtegroßen Massen und in solcher Auswahl von Größe, Preis und Bequemlichkeit, daß auch jede halbweg anständige Familie mit Einnahmen, wofür man in Berlin kaum drei Treppen hoch in einer Mieths-Kaserne, den Launen des Wirths, der Mitbewohner, dem Gestank und Scandale der Straßen und Höfe preisgegeben, wohnen kann, daß selbst ganz gewöhnliche Arbeiter-Familien, Commis, Schreiber, Eisenbahnbeamte, Lastträger, Fabrikarbeiter, Gehülfen und Gesellen in je ihrem eigenen Häuschen mit ummauerten und eisengeländerumgebenen Vor- und Hintergärtchen „leben“ können. Der Engländer wohnt nicht, er „lebt“ in seinem Hause.

Von diesen vorstädtischen, mit Grün und Lebenslust umwehten Asylen des Familienlebens eilt der Engländer jeden Morgen zwischen 9–11 Uhr mit Omnibus, Dampfschiff oder Eisenbahn in die verdichtete und nach Straßen gegliederte Geschäftswelt und kehrt Nachmittags 4 – 6 Uhr zum Mittagsessen in seine Familie, in sein grünes, ruhiges, heiteres Lebens-Asyl zurück, um hier seines Lebens froh zu werden und Mensch, Gatte, Familienvater, Freund zu sein.

Das Zerschneiden des schönen Tages durch ein unruhiges, an Zeit kostspieliges Mittagsessen mit Kaffee, Cigarren und schlechter Verdauung hinterher just während der Höhe des Tages und der höchsten Blüthe des Geschäfts ist in England undenkbar und würde ganz richtig als die größte Barbarei gegen eigene Gesundheit, eigenen Vortheil verhöhnt werden.

Doch vergessen wir unsern ausgewählten Muster-Geschäftsmann nicht. Er wird vom Geflüster der Bäume und den Sängern, die auf deren Zweigen sich wiegen, geweckt. Kein Kindergeschrei um ihn herum. Sie schlafen unter besonderem Schutze in einem besonderen Zimmer, ebenso die größeren Töchter und Söhne.

Im Ankleidezimmer findet er Alles, was er braucht, schneeweiße Leibwäsche, gebürstete Kleider, gewichste Stiefeln. Er klingelt um warmes Wasser und rasirt sich selber. Dann nimmt er eine gründliche Wäsche mit sich vor und kleidet sich an mit keinem falschen Fleckchen um und an sich. Dasselbe haben inzwischen die andern Mitglieder der Familie in ihren besonderen Zimmern gethan, so daß sie nun Alle frisch und schmuck sich im Frühstückszimmer treffen und küssen. Im Zimmer glüht ein offenes, helles Kohlenfeuer, der Tisch ist mit blanken Kannen, Tellern, Tassen, weichgekochten Eiern, gebratenem Speck, geröstetem Weißbrod (zwischen silbernen Raufen), Fleisch, duftigem, aromatischem Käse etc. sehr substantiell ausgeschmückt, denn es wird mit Thee oder Kaffee (je nach Wahl) sehr gründlich „vorgelegt“ für den Tag. Ein Knabe oder ein Mädchen haben die Pflicht, ein Gebet zu lesen oder zu sprechen, dann wird so recht lustig zugegriffen und eingehauen. Dabei kommen wohl Familien (keine Geschäfts-) Briefe und die Times an, die noch rasch durchflogen werden. Dann eilt der Hausherr zur nächsten Omnibus-, Eisenbahn- oder Dampfschiffstation, von wo stets eifrige, serapulös rein gekleidete Gentlemen nach der City abfliegen. Hier angekommen ist er bis 4-6 Uhr nur Geschäftsmann und ein ganz Anderer, als zu Hause. Seine Office, sein Geschäfts-Bureau befindet sich in der Straße, wo nur Geschäfte seiner Art sich angesiedelt haben, und in einem Hause, in welchem nur Geschäftsbureaux sind und keine Familien wohnen. Im Bureau ist Alles durch hohe Holzwände sorgfältig abgetheilt, wie die verschiedenen Fächer der Arbeit. Jeder sitzt innerhalb seines Verschlags und weiß stets genau, was und wie er’s zu thun hat. Der Geschäftsherr selbst hat wenig Sitzfleisch. Er schießt von einem Fache zum andern hin und her und giebt und empfängt Befehle, da jeder Untergebene in seinem Fache Herr ist (was sich constitutionelle Herrscher zu ihrem Vortheil merken sollten); er fliegt aus und ein. Börse, Bank, Geldwechsler, Geschäftsfreunde, Kunden, Docks und Speicher etc., Alles was zur raschen und großartigen Entfaltung und Durchführung von Geschäften nothwendig ist, befindet sich überall in bestimmten Straßen und in verhältnißmäßiger Nähe. Für weitere Ausflüge stehen immer die fliegenden, zweiräderigen Götterfuhrwerke der sogenannten „Safety-Cabs“, Sicherheitsdroschken, bereit, oder Omnibus oder Dampfschiffe unten an der London-Brücke oder den City-Eisenbahnen, die immer alle 5–6 Minuten ankommen und abgehen, bald über, bald unter den Straßen und Häusern. Jeder eilt, fliegt, ist kurz und bestimmt mit Worten, die den Cours baarer Münze haben, und macht so während der kurzen, aber ausschließlichen Geschäftszeit mehr „Pfunde“, als unsere deutschen Geschäftsleute Thaler während ihrer zwei zerschnittenen, langen Tageshälften, die ihnen den Morgen und den Abend rauben und den ganzen Tag verleiden. Wer in England während dieser Geschäftszeit nicotingiftiges Unkraut zulpen und sich zu einem „Seidel“ oder „Töpfchen“ oder Kruge hinsetzen, kannegießern, klatschen, „gemüthlich“ sein wollte, würde entweder keinen Platz finden oder in seinem einsamen Winkel als ein Barbar verachtet oder als ein Geisteskranker bedauert werden.

Man ißt und trinkt auch in London während der Geschäftszeit ein „luncheon“, zweites Frühstück, aber rasch, im Fluge, oft stehend. Ein „Sandwich“, belegtes Butterbrod, und ein Glas Ale sind im Nu vertilgt. So fliegen sie während der Mittagszeit tausendweise ab und zu und stehen an langen Zahl-und Servirtischen entlang, stumm und voller Geschäft, das nur erst zwischen 4–6 Uhr ebenso gründlich und allgemein geschlossen wird, wie es zwischen 9–11 Uhr anfing. Ich bemerke hierbei, daß dies nur von den Großgeschäften gilt, die seit Jahren mit Erfolg betriebene Agitation für frühes Schließen aller Geschäfte aber mit Erfolg aufrecht erhalten wird. Schon jetzt schließen eine Menge Detailgeschäfte im Anschluß an die großen, und alle respectablen Geschäftshäuser erster Classe machen aus dem Sonnabend Nachmittag einen „halben Feiertag“.

Zwischen 4–6 Uhr liefert die City ihre Tausende von Geschäftsleuten mit rasender Dampfgeschwindigkeit wieder in ihren [763] ruhigen, reinen, heitern, umgrünten und umblüheten Familienasylen ab. Frauen und Kinder strecken glücklich ihre Arme nach ihnen aus. Das prächtigste Hauptmahl des Tages wartet. Sie Alle sind von nun an bis spät am Abend glückliche, unabhängige, von keinem Nachbar gestörte Menschen, Väter, Gatten, Kinder, Verwandte und Freunde. Diese Privat-Familien-Asyle, in denen Frauen und Kinder immer und der Hausherr die größte und schönste Hälfte jedes Tages „leben“, sie umranken London und andere große Städte Englands mit ihren Blüthentrauben von Villa-Vorstädten in solchen Gliederungen und Individualisirungen, daß überall ziemlich gleichartige Familien, in Vermögen, Bildungsgrad, Anschauungsweise und Stand einander ziemlich gleiche Menschen unabhängig neben einander wohnen. Störungen, Aergernisse, Rohheiten können daher so leicht nicht vorkommen. Jede Familie lebt von Mauern, Gittern und Gärten umhegt in ihrem „Schlosse“. Der Verkehr mit den Nachbarn ist entweder ein sehr höflicher, sehr gebildeter und wirklich herzensfreundlicher, oder er fehlt ganz. Wo die Häuser und Gärten unmittelbar aneinander grenzen, kommen Wohl auch Zwiste, Klatschereien vor, aber da Jeder auch hier sein „Schloß“ hat, eine eigene Stätte, worin er sich erholen, seine Nerven, seine abgehetzten Kräfte stärken, vollständig sein eigener Herr sein kann, werden sich die Nachbarn nie zu solcher Qual und Quelle unaufhörlicher Vergiftung, wie in den rinnsteinumgebenen, baum- und lebenslustlosen Miethskasernen Berlins, in denen sich die Menschen wirklich fortwährend gegenseitig Gift zuathmen, da sie das Bischen Sauerstoff verbrauchen und dafür Kohlensäure von sich geben, ohne daß sich die Luft zwischen diesen baumlosen Steinmassen mit offenen Rinnsteinen und ungeheuern Vorräthen von Unrath in den Höfen wieder verbessern kann. Auch ist längst medicinisch-statistisch nachgewiesen, daß die Menschen in Städten desto giftiger und ungesunder sind, je dichter neben und über einander sie athmen.

London ist nicht nur die größte, sondern auch die gesundeste große Stadt der Erde, weil es seinen Bewohnern die gesundeste Luft, die in Städten möglich ist, sichert und alle reichen, wohlhabenden und auch ärmeren ordentlichen Leute durch Nahrung, Arbeits- und Lebens-Organisation, durch rasches, ausschließliches Geschäft hinter einander und tägliche Erholung, Ruhe und Sittlichung in der Familie das gesundeste, reinlichste Leben führen. Wenn man von London nach Berlin kommt, erschrickt man vor diesen gelblichen, blassen, verbissenen Gesichtern, unreinlichen, knurzigen Gestalten. Die Engländer sind „pöbelhaft gesund“, sagt Heine. Die Hunderttausende namentlich, die alle Tage in der City ein- und auswandern, sehen durchweg klar, weiß, rothbäckig, außerdem ungemein rein aus, und sind durchweg größer, länger, gesunder, daher auch höflicher.

London ist voller Parks, öffentlicher Rasen- und Baumplätze, und die Vorstädte nisten im Grünen. Berlin ist in dieser Beziehung eine der verpfuschtesten, barbarischsten Städte der Welt, besonders in mehreren neuen Stadttheilen, die aus Steinen und Rinnsteinen bestehen. Da es in diesem Vandalismus gegen das grüne Leben rascher und rascher wächst, wird die Bestialität, Pestilenzialität und Mortalität in furchtbaren Steigerungen zunehmen, wenn nicht für Sittlichkeit, Gesundheit, Ruhe und Erholung, Familien- und Geschäftsleben den englischen Einrichtungen ähnliche Maßregeln sich geltend machen. Die Zerreißung des Tages durch ein Mittagsessen zwischen den beiden Hälften der Geschäftszeit ist so ungesund, zeitraubend und unpraktisch, daß sich wohl mit der Zeit und der immer gebieterisch werdenden Nothwendigkeit die Großherren der Geschäfte einmal zu der englischen Praxis entschließen werden. In Köln und anderen großen Handelstädten hat man damit, wie ich hörte, schon begonnen.

Damit wäre denn auch die Grundbedingung für örtliche und zeitliche Trennung des Geschäfts- und Familienlebens gewonnen. An Eisenbahnen fehlt es ja schon jetzt nicht mehr. Wenn sich erst gebildete Baucapitalisten oder lieber Compagnien finden, die endlich Ernst damit machen, draußen weit im Felde an Eisenbahnen wirkliche menschliche Häuser zu bauen, Häuser in Blüthentrauben um die Stadt herum, Häuser mit Bäumen und Gärten und grünen Parks dazwischen, wie meilenweit um London und alle großen englischen Städte umher: dann können Familien, die Ruhe, Sittlichkeit, Reinheit, Unabhängigkeit, Gesundheit brauchen, auch danach wohnen. Es käme nur auf einen Anfang an. Ein paar intelligente Männer von Geld und Bedeutung mit rechtem Willen und Einsicht würden hinreichen, um diesem vertrackten giftigen Berlin auf die Bahn des Heils zu verhelfen. Wenn sie ein paar Dutzend geschmackvolle Wohnungen irgendwo draußen an einer Eisenbahn neben statt über einander bauen und etwa noch mit der Eisenbahn übereinkommen, daß sie dort halte, wenn’s etwas auszuladen oder mitzunehmen giebt, dann ist Bahn gebrochen. In Berlin seufzen alle gebildeten Familien unter dem Fluche des rinnsteinumdufteten Miethskasernen-Systems. Sie wohnen nicht in ihren Wohnungen, geschweige, daß sie darin leben. Sie suchen Zerstreuung nach außen, so lange sie darin stecken, und rechnen schon im October wieder, wie lange es noch dauere bis zur nächsten Sommerwohnung oder Vergnügungs- und Badereise. Es giebt kein Familienleben in Berlin. Das ist furchtbar richtig, wenn man weiß, wie Engländer in ihren „Schlössern“ Familienleben genießen.

Solche Familien würden sich leidenschaftlich nach jenen Asylen drängen. Die Rentabilität solcher Vorstadts-Dörfer oder Colonien unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Was nothwendig, gesund, schön, Sittlichkeit und Cultur fördernd ist, bezahlt sich immer. Dasselbe gilt von der Vereinigung der zerschnittenen Geschäftshälften jedes Tages.

Berlin ist die im Schwindel-Casernismus am weitesten fortgeschrittene Stadt und muß daher am ersten und ernstlichsten Auswege und Asyle gegen sein inneres Gift bahnen, wenn es nicht darin umkommen will. Aber auch die andern großen Städte, die als Eisenbahnschwingungsknoten sich ansehen und ausdehnen, sollten bei Zeiten dafür sorgen, daß sie, indem sie Felder, Bäume und Gärten um sich her verschlingen, sich in den steinernen Bauten nicht selbst Grabgewölbe mauern. Das Land muß in die Stadt kommen, indem die Stadt auf’s Land geht. Die Barbaren, die sich jetzt größtentheils mit Häuserbau abgeben, speculiren so, daß sie denken, den als Baustelle getauften Garten und dessen Bäume desto besser zu verwerthen, je höher sie Steine darauf thürmen. Die Vandalen! In euren Steinmassen wird blos kohlensaures Gift ausgeathmet, und wenn die Bäume fehlen, sie wieder zu verzehren und dafür mit Lebenslust zu bezahlen, so werden eure Häuser wirklich blos zu Giftfabriken, in denen ihr selbst mindestens zehn Jahre eures Lebens verliert. Wenn das speculiren und Profit machen heißt (ich rechne in euren Egoismus alle die Andern nicht, die für den Aufenthalt in euren Giftbuden schwere Miethe bezahlen), so wartet wenigstens erst auf eure Doctor-, Apotheker- und Todtengräberrechnungen, um dann Facit und Probe zu machen!