Zum Inhalt springen

Didel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Karl Reinecke-Altenau
Illustrator:
Titel: Didel
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: Vorlage:none
Verlag:
Drucker:
Erscheinungsort:
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender 1939
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: [1]
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
unkorrigiert
Dieser Text wurde noch nicht Korrektur gelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du bei den Erklärungen über Bearbeitungsstände.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[44]

Didel.
Von Reinecke-Altenau


     So hieß mein Atelierzeisig.

     Es gab gewiß unter Gottes Sonne keinen lustigeren und unterhaltsameren Zeisig als Didel. Besser jedenfalls als er sang keiner, verlaßt euch drauf. Außerdem war er natürlich ein Landsmann von mir. So hielten wir große Stücke aufeinander.

     Im Atelierfenster hing ein knorriger Fichtenwipfel. Hier pflegte Didel seine Sing-, Putz- und Schlafstunden zu verbringen. Ansonsten gehörte ihm alles, was meine vier Wände umschlossen, ein Luftraum von so kleinen tausend Kubikmetern nämlich, in dem sich ein Zeisig schon austoben und müde fliegen kann, wenn er will. So wurde seine Gefangenschaft wenigstens des Drückensten und Bösesten entkleidet, der Einpferchung in drahtumgitterter Enge. Didel, du lustiger, lieber Kamerad, wie hätte ich es auch über das Herz gebracht, dich einzusperren!

     Jeden Morgen geschah die gleiche fröhliche und stürmische Begrüßung. Wenn ich die Werkstattür auftat, kam Didel von seinem Wipfel heruntergeschossen, drehte ein paar zwitschernde Kreise um meinen Kopf und ließ sich alsdann auf einem seiner Schock Ruheplätze nieder, wartend, was ich ihm heute wohl Schönes an Ertrakost mitgebracht habe, frische Tannapfel etwa, einen Zweig mit Ellernzapfen, ein paar Hanfkörner, Vogelmiere oder ein Blatt Salat. Er holte es sich alles gänzlich unbefangen aus meiner Hand und präpapelte in seinen Kropf hinein, was sich nur irgend schaffen ließ.

     Außer der Futterrei, dem Singen, Putzen und gelegentlichen kurzen Nickerchen erschöpfte sich Didels Tagewerk im Tollen und Dummheitenmachen.

     Was soll denn das Geschmiere wieder? sagte er, wenn er mir mit schiefgelegtem Kopf und nur sehr bedingt interessiert beim Schreiben [45] oder Zeichnen zusah, – könntest mir lieber noch ein paar Hanfkörner aufknacken ... Hier, Bettelsack! – Gut, danke sehr. Husch! fort ist Didel. Er treibt Unfug zwischen meinen Borstenpinseln. Er eselt sich mit einem Mallappen ab, läuft Schlittschuhe auf einer blanken Bilderrahmenkante oder seiltanzt auf der Lampionschnur hin, die zwischen die Fensterwände gespannt ist.

     So vollzog sich Didels Tageslauf in fröhlicher Kurzweil. Ihm selbst schien dies Leben zu behagen, und er hätte wohl kaum mehr an die grüne Freiheit draußen und den Wald und an Seinesgleichen gedacht, wenn ihn nicht eines Tages das Erlebnis mit der Finkin gänzlich aus dem gewohntgewordenen Gleis geworfen hätte.

     Das kam so.

     An einem Frühlingsmorgen brachte mir ein Bekannter eine flügellahme vermutlich angeschossene Finkin ins Haus. Ich pflegte sie. Sie erholte er sich, blieb jedoch ob der bösen Erfahrung so menschenscheu und flisprig, daß ich sie leider im Käfig belassen mußte.

     Ich hing sie unter Didels Fichtenwipfel auf, neugierig, wie sich mein Zeisig mit der neuen Kameradschaft abfinden würde.

     Didel machte einen langen Hals. Ihm blieb vor Erstaunen das Lied in der Kehle stecken. Er reckte sich, guckte, stierte förmlich und wurde beim Anblick des Finkenweibchens um die gute Hälfte seiner Körperlänge schlanker.

     Nanu, denkt Didel, – das sieht doch beinahe so aus ...., das könnte doch ...., man muß ein wenig näher hupfen. Man muß reinweg erst einmal auf den Käfig klettern und durch die Käfigdrähte glustern: Wahrhaftig, es könnte eine Zeisigin sein! O, Frühling, o Liebe!

     Didels interessiertes Gehupfe auf dem Finfenbauer schien allerdings so, als ob er sich zunächst noch über einige Zweifel klar werden müsse. Eigentlich ist sie ein bißchen groß für eine Zeisigfrau. Aber dies graue Grün ... So ganz bin ich nicht im Bilde, und doch möchte ich glauben, es sei eine Zeisigensie. Jawohl, es muß eine sein! Didel hatte sich nun gänzlich in seine Illusion hineingelebt. Die Nähe der Finkin brachte den Wippenden und Hüpfenden in immer größere Erregung. Schließlich flog er auf seinen Ast und holte ein feuriges Liebeslied aus seiner Kehle heraus. Die Finkin sagte zu allem Schwung und Feuer nur: pink!

     Ob dieser fremden Entgegnung stußte Didel. Aber es sah aus, als wolle er bewußt den ungewohnten Laut überhören, sich das Trugbild nicht zerstören lassen, in das er sich hineingesungen hatte. Etwas war wachgeworden in ihm, das seither geschlummert hatte. Nun begann das zu sieden, zu brausen, das Blut heiß, die Ohren taub, die Augen blind zu machen. Didels Gefieder sträubte sich, das schwarze Häubchen auf seinem Kopf richtete sich auf, der Schwanz fächerte sich zu einer breiten Gabel auseinander, und nach einem erregten Balztanz stürzte sich der Liebesbetörte schwirrend auf den Käfig der Finkin ... Klack! sagte es. Didels Lied war still. Hart schlugen die Flügel auf die Käfigstäbe. Der Zeisig flog ernüchtert auf seinen Ast zurück. Er schüttelte sich die Enttäuschung ab und zupfte ein paar in Unordnung geratene Federn zurecht. Dennoch hielt ihn die böse Erfahrung dieses ersten Eroberungssturmes nicht von weiteren heißen Stürmen ab, bis er einsah, daß auch das feurigste Zeisigentemperament an drahtenen Käfigstäben jämmerlich zerschellen muß.

     Aber das nun einmal Wachgewordene in ihm kam nicht zur Ruhe. Das Gesetz wirkte, das jeder Frühling schreibt und das Buchstaben um Buchstaben erfüllt sein will. Didel gehorchte ihm, wie jede Kreatur ihm gehorchen muß, – doch schicksalhaft verdammt, es in Unerfülltheiten, Halbheit und Selbsttäuchung ausleben zu müssen.

     Die Stürme der Balzzeit waren verrauscht. Didel begann ein Rest zu bauen: denn so wollte es der zweite Buchstabe des Gesetzes.

     Er stahl mir die Wollgrashälmchen vom Tisch. Von jedem Seilrahmen suchte er Leinwandfusseln abzuzupfen. Er zerrte an den Pinselborsten herum, – was überhaupt an Tauglichem zu ergattern war, trug er hinauf in seinen Wipfel. Zuweilen hielt er auf diesen Flügen auf dem Käfig der Finkin Rast und fragte mit augenscheinlicher Verwunderung durch die Gitterstäbe hinein: Warum hilfst du nicht? Die Finkin legte den Kopf schief und machte zu allen Fragen nur traurige Augen, und da sie das Zeisigische nicht begriff, begann Didel nunmehr auf Finkisch zu fragen: pink, pink? – So echt kam das heraus, als habe er sein Lebtag nichts anderes gelernt.

     Das Nest war fertig. Ein unbeholfenes Bauwerk lag in der Astgabel. Der andere Teil, der das Nest mit Wärme und Mütterlichkeit ausstattet, hatte gefehlt. Doch Didel stellte feine großen Überlegungen über die Mängel seiner Nestbaufertigkeit an. Dies genügte ihm. Und in diesem Nest mußte jetzt eigentlich ein brütendes Weibchen sitzen, oder es müßten Junge darin liegen...

     In solcher, aus dunkelgefühlter Folgerichtigkeit heraus geborenen Illusion lebte Didel so vollkommen, daß sich des Öfteren begab: Der Zeisig duckte sich in sein Nest, trippelte behutsam mit ausgebreiteten Fittichen darin herum und fing unendlich leise, unendlich zärtlich zu erzählen an: krü-kri-kri-krü-kri ...

     Wollte er seinem Weibchen etwas Liebes zuflüstern? Seinen Jungen etwas sanft in den Schlaf Lullendes oder väterlich Fürsorgliches sagen? Einen ergreifenderen Beweis für den Zwang des Sichauslebenmüssens eines einmal entfachten Naturtriebes sah ich nie.

     Zuweilen dann saß Didel wieder so nachdenklich da, als begriffe er das Hoffnungslose, Vergebliche und Komödienhafte alles seines [46] Tuns. Es sah aus, als wenn sich ein aus einem Wahn erwachender Mensch ernüchtert vor die Stirn tippt und sagt: ist ja alles Quatsch ...

     Hast recht, Didelein, hier stimmt was nicht. Und über das Weibchen da unten im Käfig könnte man sich kaputt ärgern. Sein bißchen faßt sie mit zu. Es müßten doch jetzt.

     Dann brach es in Didel wieder auf, dies, was jetzt sein müßte, zur Fortführung des Begonnenen, alles dessen, was noch der Erfüllung harrte. Ein Nest ist vorhanden, ein Weibchen ist vorhanden, (das sich freilich unverständlicherweise zurückhält,) und ießt müßten also im Nest Junge liegen, und es gehört sich für einen Zeisigenvater für Atzung zu sorgen.

     Didel gehorchte auch diesem Gebot des im Blute und im Trieb wirkenden Gesetzes. Doch in seinem Neste öffnete sich kein hungriger Schnabel, so zärtlich auffordernd auch sein kri-krü-kri klingen mochte. Aber Erfüllung muß sein, so oder so: Didel flog auf das Bauer der Finkin, würgte weiße Kropfbreikügelchen aus seinem Kropfe heraus und reichte sie der unbefangen zugreifenden Finkin in den Käfig hinein ... Verdammt vom Schicksal, doch als echtes Naturkind gehorsam dem in ihm wirkender: Muß, das Erfüllung verlangt auf Biegen oder Brechen, auf geraden Wegen oder auf Irrwegen.

     Bis dann Wahn und Rausch verflogen warren. Didel kehrte zu seinen alten Lebensgewohnheiten zurück. Für die Finkin hatte er nur noch verächtliche Seitenblicke übrig. Zu allem ihrem pink-pink sagte Didel nur: ich spiele nicht mehr mit.

     Im Frühjahr drauf entwischte er durch das Atelierfenster.

     Könnt ihr euch denken, daß ich ihm nachtrauerte?

     Es tröstete mich, daß er sich durchfinden und nicht draufgehen würde, wie die meisten der Gefangenschaft entronnenen Vögel. Denn Didel war an Naturfutter gewöhnt. Ich sah ihn auch wirklich noch etliche Wochen in unserer Nachbarschaft herumflirren. Manchmal in Gesellschaft der Spatzen. Dann mit einem Male blieb er verschollen.

     Ich konnte nur hinter ihm her denken: Auf glückliche Fahrt, du lieber, du lustiger Kamerad Didel!