Die Wolfsschlucht und die Waldkapelle bei Selbach
Kommst etwa du einmal der Wolfsschlucht nah,
Dann, Wanderer, nimm dich in Acht!
Unheimliche Wesen nur treiben sich da
Im düsteren Schleier der Nacht.
Zusammen bei mondlichem Strahl,
Draus liebesbethörende Tränke sie braut
Im Kessel im einsamen Thal.
Sie schwingt um den Herd sich im lustigen Tanz,
Von ferne schon siehst du den höllischen Glanz,
Dann kreuz’ dich und flüchte nach Haus!
Jetzt aber geschieht dies nur Einmal im Jahr,
In Andreas’ geheiligter Nacht:
Die rühret die Hexe mit Macht.
Vor Zeiten, da war sie ein reizendes Weib,
Bezaubernd durch Satanas’ Kunst,
Doch ihm war verfallen mit Seele und Leib,
Einst führte die Jagd einen Ritter daher,
Verirrt in dem einsamen Wald;
Ihn quälte der Durst und die Hitze gar sehr,
Die Kräfte versagten ihm bald.
Zu forschen nach labendem Quell,
Da plötzlich vernimmt er, o himmlischer Klang!
Ein Rieseln aus heimlicher Stell’.
Er bricht durchs Gestrüppe sich eilige Bahn,
Dort lächelt das reizendste Mägdlein ihn an,
Die je noch sein Auge gesehn.
Am Borne dort sitzt es, auf moosigem Rand,
Und schöpft aus den Wellen so klar
Und bietet dem Ritter es dar.
Der schlürfet mit gierigen Zügen den Trank,
Doch kaum ist der Becher geleert,
So fühlt er im innersten Herzen sich krank,
Nicht spielt sie die Spröde, nicht bebt sie zurück,
Da kosend sein Arm sie umschließt,
Die Minne verheißt ihm das seligste Glück,
Das sehnenden Herzen ersprießt.
So reich’ mir als Gattin die Hand,
Auf ewig vereinige uns am Altar
Der Kirche geheiligtes Band!“
Ein Klausnerkapellchen ist nahe dem Ort,
Wohl flüchtete gerne sie wieder sich fort,
Doch läßt er sie nimmer entfliehn.
Schon kniet vor dem Priester das bräutliche Paar,
Schon hebt er zum Segen die Hand, –
Sturz drohet das Dach und die Wand.
Noch einmal ein Schlag – mit betäubendem Krach
Der Boden sich spaltet zum Grab,
Und schlingt vor den Augen des Ritters jach
Und als er der Sinne sich wieder bewußt,
Da war ihm entfremdet die Welt:
Statt von irdischer Lust, ihm nun einzig die Brust
Von himmlischem Drange geschwellt.
Der heiligen Jungfrau geweiht;
Dort lebt er noch lange in Büßung und Reu,
Bis Ruhe der Herr ihm verleiht. –
Bei Selbach im Walde, da winkt es dir zu,
Dort wieget die heilige Mutter in Ruh
Des stürmischen Herzens Gewühl.
Bei der Teufelskanzel, dicht am Wege nach Gernsbach, zieht sich links ein Fußpfad in die Tiefe hinab, der zu einer Felsenmasse führt, welche insgemein die Wolfsschlucht genannt wird.
Nach H. Schreiber in seinem Taschenbuch „Baden-Baden, die Stadt“ etc., S. 137, wäre der Name Wolfsschlucht der allbekannten Oper „Freischütz“ entlehnt, also neuesten Ursprungs; jedenfalls dürfte unsere Sage in der Nähe Badens ebenfalls heimisch geworden seyn. Mochte sie auch nicht gerade an jene Stätte sich knüpfen, so ist doch die Stelle sehr geeignet, den Schauplatz der Sage darzustellen. Es ist dieselbe Schlucht, in welcher der arme Geiger (Siehe S. 125) sein Abenteuer mit dem Wolfe bestand. – Das Dorf Selbach liegt in einem Seitenthälchen des Murgthals.