Die Dichterin auf rother Erde
Im Münsterland, auf rother Erde,
„Wo’s schaurig ist, über’s Moor zu geh’n,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn,
Und die Ranke häkelt vom Strauche;
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt;
Es schaurig ist, über’s Moor zu geh’n,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche.“
wo das Vorkommen des „second sight“, das Vorgeschichtensehen heimisch ist, das Wunderbare und Mysteriöse sich tief in die Gemüther senkt, um Wohnung darinnen zu machen – dort liegt, von kurzen Eichenalleen und schmalem Graben umschlossen, ein kleiner Edelsitz, „das Ruschhaus“ genannt. Es ist kein stattlicher Herrensitz, dessen Bau in die Höhe ragt, ja, man würde es für ein nach altherkömmlichem Gebrauch aufgeführtes Bauernhaus halten, wenn es nicht größer und ganz massiv von Steinen aufgeführt wäre und es sich nicht an der entgegengesetzten Seite, an seinem Ende, zu einem hübschen, obschon nicht großartigen Herrenhause umgewandelt gezeigt hätte. Hier lag auch der Garten mit seinen Steinfiguren, von welchem aus die hohe Treppe in den Gartensalon führte mit seinem Rococo-Kamin und seiner hinter großer Doppelthür verborgenen, aber an Sonn- und Feiertagen sichtbaren Hauscapelle, der ein hübscher Altar nicht fehlte. Und hier durch die kleinen, niedrigen Entresolzimmer, durch deren farbige gemalte Scheiben die niedergehende Sonne ihre Strahlen wirft, schreitet eine leicht dahinschwebende, fast ganz durchgeistigte, zarte Gestalt. Sie ist über die ersten Jahre der Jugend hinaus, dennoch aber hat ihr ganzes Erscheinen etwas Elfenhaftes, Märchendurchwogtes. Wunderbar blaue Augen sind ihr eigen, während eine Fülle blonden Haares den Scheitel bedeckt. Schwalben und Finken flattern durch ein offen gehaltenes Fenster herein und setzen sich auf Tisch und Sophalehne, während drinnen im hintersten Zimmer, wie im Märchen von Dornröschen, ein altes, altes Mütterchen, ihre Amme, das Spinnrad dreht und den Rest ihrer Tage verträumt. Und nun läßt sie auf das altmodische, mit schwarzer Serge überzogene Kanapee sich nieder, nimmt einen alten Quartband zur Hand und beginnt zu lesen. Von einer Frauenbeschäftigung, wie sie sonst das Boudoir einer Dame zeigt, ist keine Spur; kein Strickstrumpf, keine Nadel, kein Garn, kurz nichts, das auf eine Beschäftigung der Art hinzudeuten vermöchte. Sie liest, die Augen dicht auf das Blatt gesenkt, denn diese blauen wunderbaren Augen sind märchenhaft construirt. Nur das Nahe, das Nächste lassen dieselben unterscheiden, während diese Kurzsichtigkeit doch wieder so wunderbar angethan ist, daß sie in einem Glase Wasser die Infusorien erkennen macht, die sonst ein gewöhnliches Menschenauge nur mit der Lupe bewaffnet oder unter dem Mikroskop gewahr zu werden vermag.
Es ist ein eigenthümliches Buch, das sie liest. Darinnen steht geschrieben, wie man sich unsichtbar zu machen vermöge, mit der Wünschelruthe Quellen finden könne, und was des Wunderbaren mehr der Art. Sie liest es, aber zugleich auch die Randglosse eines Ahnherrn, der dazu geschrieben, daß er das Recept probirt, allein zu keinem glücklichen Resultate gelangt sei. Dennoch, trotz dieser Randglossen, neigt sich ihr Herz glaubensvoll dem Räthselhaften zu. Hat sie doch selber des Wunderbaren genug erfahren! Sie denkt der Stunde, da sie als junges Mädchen, als Kind, von heftiger Lesewuth getrieben, über den Schrank geräth, in dem die Bücher verschlossen waren. Sie findet den Schlüssel wider Erwartung im Schloß; sie nimmt ein Buch heraus, sie liest, unbekümmert um Ort und Zeit, bis der nahende Schritt der Mutter sie aus ihrem Lesen weckt. Sie stellt das Buch hinein, dreht den Schlüssel ab, nimmt ihn mit und wirft ihn, wie sie dies auch später noch immer geglaubt, von Angst getrieben, ohne Ueberlegung, in den Hausgraben. Der Schlüssel wird gesucht, Niemand findet ihn. Da richtet sie, die nicht nach demselben gefragt wurde, ihr heißes, kindliches Gebet um Hülfe [621] an den lieben Gott. Sie entschlummert. Im Traume ist es ihr, als ob ein gütiges Wesen ihr nahe und spreche: „Sei getrost, der Schlüssel, von Dir in den Graben geworfen, wird morgen droben auf dem Schranke liegen.“
Und der Schlüssel lag auf dem Schranke!
Aber noch ein anderer Tag, eine andere Stunde steigt in ihrem Geiste auf. Es ist die Osternacht. Das Gesinde beginnt, nach hergebrachtem Brauch, um Mitternacht auf dem Hofe in einem geistlichen Volksliede die Auferstehung des Herrn zu feiern. Sie lehnt am Fenster, dem Liede lauschend, und schaut auf den Hof hinaus. Sie erkennt die Diener, Knechte und Mägde. Da öffnet sich die Thür des Hauses, eine weibliche Gestalt tritt heraus, einen Leuchter mit flackerndem Kerzenlicht in der Hand. Und sie selber ist es. Sie erkennt sich selbst in jener Gestalt. Die Versammelten machen ihrer Doppelgängerin Platz, die ruhig über den Hof schreitet, die hinanführende Treppe zum Saale hinauf, [622] wo sie verschwindet. Alle haben die Gestalt gesehen und verkünden und bestätigen dies der Sichselbstgeschauten.
Leise, in tiefem Sinnen, schließt sie das Buch; in Gedanken verloren schreitet sie durch das Zimmer. Jetzt tritt sie zu ihrem Instrument, sie öffnet es, läßt die feinen, durchsichtigen Finger über die Tasten gleiten und beginnt ihr Lieblingslied zu singen, das sie gedichtet und soeben in Musik gesetzt hat. Mit schöner, ergreifender Melodie hub sie zu singen an:
„Es steht ein Fischlein in einem grünen See,
Danach thu ich wohl schauen, ob es kommt in die Höh’.
Wandl’ ich über grüne Haide bis an den kühlen Rhein,
Alle meine Gedanken bei meinem Feinsliebchen sein.“
Sie sang das Lied bis zu Ende mit ganzer Brust, mit ganzem Herzen:
„Trau’ nicht den falschen Zungen, was sie dir blasen ein,
Alle meine Gedanken, sie sind bei dir allein.“
Die Schwalben und Finken, sie ließen sich nicht stören, sie kamen ungehindert durch das Fenster herein; es war, als müßten auch sie aufhorchen und sich verwundern, daß ihre Wohlthäterin, die noch jüngst auf hohem Thurme gestanden, das Haar im Winde flatternd, den Geistern dort gelauscht zu haben schien, die über Moor und Haide wie ein Elfenkind gehuscht, so schön zu singen und zu spielen vermöge! Aber es kamen später noch andere Lauscher und Geister dazu. Es war Abend geworden, dunkler, märchenhafter im Garten und im Hause. Und draußen in den Gängen lauschte und wisperte es, Buben und Mädchen schlichen herzu, Eines dem Andern zunickend, und doch nur leise, verstohlen ein Wort wechselnd. Sie schlichen durch den Garten, von verschiedenen Wegen her, alle der Treppe zu, die zum Saale hinaufführte. Und hier standen sie, wie von den Schauern einer Märchenwelt durchschüttelt, und lugten in das Gemach hinein. Sie hörten den Gesang und wagten ihn nicht zu unterbrechen. Jetzt aber, als derselbe schwieg, als die Sängerin, vom aufdämmernden Mondenschein umleuchtet, in den Saal trat, da konnten die kleinen, ungeduldigen Geister, die Buben und Dirnen des Dorfes, sich nicht länger halten, sie reckten die Köpfe auf, sie rüttelten an der Thür, riefen und baten: „Vertellen, Frölen, vertellen!“
Und sie, die all die flachsköpfigen Buben und Mädchen kannte, sie öffnete die Saalthür, kauerte auf den Sessel sich nieder, hüllte in ein Tuch sich ein, wie ein Waldelf in seinen Mantel, und begann ihre Märchen zu erzählen, Märchen, aus denen späterhin Lieder wurden.
„Fest hält die Fibel das bange Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was rasselt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht.
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind –
Hin ducket das Knäblein zage.
Baumstümpfe starren am Ufer vor,
Unheimlich nicket die Föhre;
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere.“
Den Kindern gruselt’s, sie möchten entfliehen – und bleiben doch zu gern. Der Mond wirft sein dämmerndes Licht in den Saal, die Bäume rauschen und flüstern dazu. Jetzt aber, jetzt springt sie auf, läßt ihr Tuch, es wild, gespenstisch schwenkend, den Kindern entgegenflattern – und ruft: „Husch! husch! – fort! fort!“ Und die Lauscher eilen davon, jetzt rascher, fester in ihren dicken Holzschuhen auftretend, eins an das andere sich anklammernd.
„Allmählich festet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimathlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief athmet er aus, zum Moore zurück,
Noch immer wirft er den scheuen Blick.
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich!
Ach! schaurig war’s auf der Haide.“
So lebte und schaffte die Dichterin. Und wer hätte dieselbe nicht schon längst aus ihren Versen erkannt? Es ist Annette Freiin von Droste-Hülshoff, die am 12. Januar 1798 bei Münster geboren, im Mai 1848 auf Schloß Meersburg am Bodensee starb, Westphalens bedeutendste und genialste Dichterin.
Es liegt etwas Männliches in ihrer Poesie, wie man denn auch darin mehr Schilderung als tiefinnerliches Gefühl wahrnimmt. Es ist, als habe der Brust der Dichterin wohl ein männlicher eigenthümlicher Geist innegewohnt, doch die Liebe sei derselben nur im Vorüberrauschen zu Theil geworden. Oder hat sie dies Gefühl mit Gewalt zurückgedrängt, um nicht Schmerzen zu verrathen, von denen die Welt nichts wissen sollte? oder hat sie all ihre Liebe hineingetragen, gleich einem keuschen Herzen, das, von innerem Drange getrieben, sich dem Himmel zuwendet, in jene Lieder, die unter dem Titel „Das geistliche Jahr“ nach ihrem Tode erschienen? Ihr „geistliches Jahr“ ist ein Tagebuch, das ihr Herz für das Herz geführt.
Ihre Schwester war an den Freiherrn v. Laßberg, den Besitzer von Schloß Meersburg, verheirathet. Dorthin reiste die Dichterin gern, um ihre Gedanken über die hohen Alpenfirnen des andern Ufers schweifen zu lassen, um ihre kranke Brust zu stärken an den Gewässern des Bodensees. Hier sind viele ihrer schönsten Gedichte entstanden; hier ließ sie ihre unnachahmliche Gabe, die Natur in ihrer düsteren, dämonischen Seite aufzufassen, in ganzer Kraft walten. Für das Honorar, das sie für ihre Poesieen erhielt, kaufte sie einen kleinen, hübschen Weingarten in der Nähe der Meersburg. Dorthin lenkte sie täglich ihre matten Schritte, bis diese Schritte nach wenigen Jahren matter und matter wurden. Der Lenz des Jahres 1848 kam, ein Herzschlag machte ihrem Leben am 24. Mai gedachten Jahres ein Ende. Ihr Nachlaß ist unter dem Titel „Letzte Gaben“ 1860 veröffentlicht worden.
Wie schön erklingt ihr Lied: „Der Weiher“! Es heißt:
„Er liegt so still im Morgenlicht,
So friedlich, wie ein fromm Gewissen;
Wenn Weste seinen Spiegel küssen,
Des Ufers Blume fühlt es nicht;
Libellen zittern über ihn,
Blaugold’ne Stäbchen und Carmin,
Und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;
Schwertlilienkranz am Ufer steht
Und horcht des Schilfes Schlummerliede;
Ein lindes Säuseln kommt und geht,
Als flüstr’ es: Friede! Friede! Friede!“