Die Gartenlaube (1858)/Heft 23

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[329]

No. 23. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Vorgesichte.
Strandnovelle von Ernst Willkomm.


I.
Die heimkehrenden Schiffer.

Es war um die Zeit der Herbst-Tag- und Nachtgleiche. Das Wetter begann schon unbeständig zu werden und wiederholt stellten sich sogenannte fliegende Stürme ein, die indeß nur von kurzer Dauer waren. In großen Schwärmen verließen die Zugvögel ihre Sommersitze, um wärmere Himmelsstriche aufzusuchen. Freunden der Natur gewährte es Zerstreuung und Genuß, namentlich die Geschwader der fortziehenden Störche zu beobachten. In den fetten Marschen der Westküste Schleswigs, wo diese Vögel in großer Menge während der guten Jahreszeit nisten, halten sie regelmägig vor ihrem Auszuge förmliche Berathungen. Die Bewohner dieser Landstriche wissen es immer einige Zeit vorher, wenn sich ein neues Storchgeschwader zum Zuge nach Süden rüstet. Dann kommen die seltsam klugen Vögel von allen Seiten unter lautem Geklapper hervorgerauscht, lassen sich in einer Binnendeichswiese nieder und beginnen in regelmäßigen Kreisen, meistens nur auf einem Beine stehend, die Reiseroute zu besprechen, d. h. zu beklappern. Haben sie sich geeinigt, so gibt ein noch lauteres Geklapper das Signal zum Abzuge. Wie ein Sturmwind rauscht der Schwarm hoch in die Luft, zertheilt sich hier in breite Geschwader, ordnet sich auf- und niedersteigend und fliegt dann, ein langschenkliges Dreieck bildend, dessen Spitze nach vorn gekehrt ist, über die Watten hinaus nach der brandenden See.

Nach dem Wegzuge der Störche berechnen die Küsten- und Inselbewohner den früheren oder späteren Eintritt des Winters. Wie alle derartigen Berechnungen trügt auch bisweilen der Abzug der Störche, in einer Beziehung aber können sie für die zuverlässigsten Propheten gelten. Man darf annehmen, daß es viele Stürme im Herbste geben wird, wenn die Störche sich zeitig zum Aufbruch rüsten. Und da Küstenbewohner weit mehr von Sturm und Fluth abhängen, als andere Menschen, so ist es für sie immer von Wichtigkeit, auf die Zeichen Acht zu haben, welche stürmische Witterung als nahe bevorstehend verkündigen.

Zwischen Heverknobs Westbrandung und Seesand in der breiten Reutertiefe flog bei guter Bries ein schlank gebautes Fahrzeug, das drei Segel führte, von der hohen See herein. Vor der schon niedrig stehenden Sonne stand ein Wall dunkeln Gewölkes, der indeß das sanft wogende Meer nicht berührte, sondern einen breiten Saum flimmernder Goldfransen in die langsam auf- und absteigende Fluth niederhängen ließ. Süd- und nordwärts brach das Sonnenfeuer in blendender Helle hinter der Wolkenmauer hervor und goß über weite Meeresstrecken, über hohe Sande und über die wunderbar-phantastische Inselgruppe der Halligen, die so zauberhaft poetisch und so düster melancholisch die Küsten Schleswigs umgürten, ihre kühle Purpurgluth aus. Der Anblick war eigenthümlich schön, das Bild, das sich vor dem Auge entrollte, von seltener Großartigkeit. Nur das Leben fehlte ihm. Man hätte sich in die Nähe des Nordpoles versetzt wähnen können, wenn man diese endlose Meeresöde im Westen betrachtete, wo nur die graziösen Schwingen streichender Möven jetzt wie Silberpfeile, jetzt wie gekrümmte Feuerflammen den rollenden Saum einer grauen Welle berührten. Nirgends war ein Segel zu sehen, nirgends ein Laut zu hören, außer der springenden Brandung am Heverknob und dem Geschrei der Seevögel, die auf dem weißen Sandrücken des Junge-Jap im Süden Atzung suchten.

Am Bord des Fahrzeuges befanden sich zwei Männer und ein junges Mädchen. Einer der Männer saß am Steuer, der andere richtete die Segel, je nachdem Fahrwasser und Wind dies forderten. Das junge Mädchen hatte auf der schmalen Treppe Platz genommen, die zur kleinen, niedrigen Cajüte hinabführte. Seeleute sprechen selten viel, wenn sie genöthigt sind, auf Wind und Wetter zu achten. Das Fahrwasser, auf welchem das Fahrzeug segelte, gehört nicht zu den gefahrlosen. Es hat Untiefen, die jeder Schiffer genau kennen muß, um sie beim Segeln geschickt zu vermeiden, und namentlich, wenn das Wasser auf- und abläuft, d. h. wenn die Zeit der Ebbe oder Fluth eintritt, bedarf es doppelter Aufmerksamkeit.

Als die Schiffer Seesand-Steert erreicht hatten, zog der Mann am Steuer dieses fest an sich, der Andere riß die Schooten herum, braßte die Segel scharf, und heftig schaukelnd, von ein paar springenden Wellen mit salzigem Gischt übersprüht, drehte sich der Ewer, um mehr südwärts zu segeln. Die Schiffer bogen in die Süder-Aue ein, wie dieser Arm der zwischen den Inseln in zahlreiche Tiefen, Piepen und Ströme sich spaltenden Nordsee genannt wird. Ein windartiges dumpfes Brausen machte das Mädchen auf der Cajütentreppe aufblicken. Gerade über das Schiff nach den im Abendglanz der Sonne goldglühenden Dünenspitzen von Amrom hin strich ein Storchgeschwader. Es war vorüber, wie eine zerflatternde Wolke und war gleich darauf verschwunden.

„Das ist schon der dritte Schwarm seit einer Stunde,“ sagte Taken Mannis, den verschwindenden Vögeln gleichgültig nachblickend. „Es wird bald ein heftiges Wehen geben.“

Der mit dem Stellen der Segel Beschäftigte antwortete anfangs nicht; er blickte zuerst seewärts, wandte sich dann nach Osten [330] und hierauf mit gekreuzten Armen neben dem Bugspriet sich niedersetzend, sagte er:

„Da leuchtet Knudshorn; wir können noch einen halben Strich zu Ost halten.“

„Geht an,“ erwiderte Taken Mannis, „in einer Stunde ist Hochwasser, und so laufen wir gerade mit der Fluth auf’s Hooger Schlütt[1] zu.“

Die Schiffer kehrten vom Fischfange zurück. Es waren Bewohner von Hooge, jener Hallig, die schon längst durch ihre Kirche und ihre hoch ragenden Gebäude über dem Meere und den weißen Sanden, die daraus hervorschimmerten, sichtbar war. Von dem Lande selbst konnte man nichts sehen. Die Flügel der Windmühle schlugen, so schien es, bald in die fahlblaue Luft, bald tauchten sie nieder in die grauen kargen Wogen.[2]

Jetzt versank die Sonne im Meere. Die Wellen gingen höher und brachten auf den überflutheten Sandwatten jenes sausende Geräusch hervor, das für Seefahrer ein steter Warnungsruf ist. Das Jap war beinahe ganz mit weißem Brandungsschaume bedeckt. Es schien, als koche die See, so sprühte und brodelte auf dem unübersehbaren Sande die Fluthwelle.

Da der Wind gleichzeitig lebhafter ward, sahen die Segelnden außer dem hohen Dünenzuge von Amrom und den steilen, kegelartig gestalteten Wohnungen auf Hooge, Nordmarsch und Langeneß oft nichts, als ein graues, wallendes Meer. Nur zuweilen, wenn der Ewer von einer breiteren Welle emporgehoben ward, entdeckten sie den braunrothen Stumpf der alten Kirchenruine auf der Insel Pellworm.

Die Sterne funkelten bereits durch leichte Haufenwolken, als der Ewer in das Schlütt einlief. Hier war das Wasser ruhiger, die Wellen wurden kürzer und bald lag das Fahrzeug fest vor Anker. Nah und fern glänzten Lichter, die in der Luft zu schweben schienen. Ueberall blökten Schafe, dazwischen hörte man das Gebrüll von Kühen. Menschen sah man nirgends am flachen Rand des Schlütt, in dessen schlammiger Einfassung Sumpfgevögel Geschrei ausstieß und unruhig hin und wieder flatterte.

Nachdem die beiden Männer ihre Netze und andern Geräthschaften an’s Land geschafft hatten, wobei das Mädchen ihnen hülfreiche Hand leistete, schlugen sie einen kaum sichtbaren Fußpfad ein. Er führte durch äußerst kümmerlichen Graswuchs und über sehr holprigen Boden nach einer Warft, die in der nächtlichen Dämmerung einem breiten Berge glich, dessen Gipfel eine vielgethürmte Ritterburg mit seltsam geformten Zinnen und Spitzen trug. Am Fuße der Warft verlor sich das Phantastische dieses Anblicks. Es zeigte sich nichts mehr und nichts weniger, als ein nach friesischer Art gebautes Haus mit sehr steilem und hohem Dach. Daneben eine Scheuer oder Vorrathshaus von gleicher Construction, und mehrere konisch geformte Heuschober, aus denen das Ende noch höherer Stangen emporragte. Am Abhange der breiten Warft sprangen angepflöckte Schafe, fortwährend melancholisches Geschrei ausstoßend, an ihren Ketten und Stricken.

„Seid Ihr’s, Jens und Taken?“ rief jetzt von der Höhe der Warft eine etwas heisere Stimme herab, und ein hoher, breitschultriger Mann ward sichtbar auf den Stufen, die zu dem Hügel hinaufführten. „Habt sicher wenig gefangen.“

„Wenn Du willst, nichts, Vater,“ erwiderte Jens, der Jüngere, „umsonst aber war unsere Fahrt doch nicht, ’s ist uns ’was Merkwürdiges passirt.“

Nicol Mannis, ein alter Halligmann, war inzwischen die Warft schon die Hälfte hinabgestiegen und begrüßte zuerst das junge Mädchen, das ihm mit schnellen Schritten entgegen lief. Sie hatte die Brüder begleitet, nicht weil es nöthig war, sondern aus Neugierde. Lange war es ihr Wille gewesen, einmal mit auf den Fischfang zu gehen.

„Friert Dich, Karen?“ redete der Vater sein Kind an, als er die kalten Hände der leicht Zitternden ergriff, die ihn herzlich umarmte.

„Es mag wohl sein, Vater,“ versetzte Karen, „obwohl ich nichts merke von Kälte.“

„Aber Du zitterst.“

„Das macht die Angst,“ warf Taken, der ältere Bruder ein,

„Angst?“ wiederholte mißbilligend Nicol Mannis, „Eine Halligtochter kennt keine Angst, ’s müßt’ nicht mein Kind und Euere Schwester sein, wenn sie Angst hätte. Nicht wahr, lütt[3] Karen?“

„Ich hab’ mich auch nur verfehrt,“[4] sagte das Mädchen, an der Hand des Vaters, der seinen linken Arm schützend um sie schlang, die Warft vollends hinaufschreitend.

„Verfehrt?“ wiederholte Nicol Mannis in noch verwunderterem Tone. „Habt Ihr fest gesessen auf einem der Gründe?“

„Dann würde unser Ewerschiff jetzt schwerlich geborgen im Schlütt liegen,“ erwiderte Taken. „In der Außensee wehte es frisch den ganzen Tag und hätten wir uns festgesegelt, so wär’ jetzt gewiß keine Planke mehr ganz an unserm Fahrzeuge. Ich sagt’s ja schon, ’s ist uns ’was passirt.“

„Was?“ fragte Nicol Mannis gebieterisch, auf der obersten Stufe des Warft stehen bleibend und sich umkehrend zu seinen Söhnen. Er hielt die schlanke, hoch gewachsene Tochter fest umschlungen und seine mehr harten als milden Züge blickten streng auf die Söhne.

„Du sollst es gleich erfahren,“ sagte Jens, „bring’ nur lütt Karen erst unter Dach.“

Nicol Mannis verharrte noch einige Augenblicke in seiner Stellung, das Antlitz dem Meere zugekehrt, auf das jetzt die Schatten der Nacht immer dichter herabsanken.

„Die Fluth leuchtet,“ sagte er dann, die Hand nach Westen ausstreckend. „Seht dort! Es sprüht über dem Watt gegen Norderoog, als spielten die Nixen und Meerweiber mit ihrem Geschmeide. ’s wird eine steife Kühlte geben die Nacht.“

Ein scharfer Windstoß fuhr über den Kopf des alten Mannes und zerzauste seine grauen Haare. Lauter schlug die Brandung an das flache Gestade der Hallig und ein dumpfes Rollen verklang über dem dunkeln, nur hier und da von mattem Schimmer durchleuchteten Meere.

Alle traten in die gegen Südost sich öffnende Thür des geräumigen Wohnhauses, auf dessen Flur jetzt, eine Lampe in der Hand, die Mutter erschien und den heimkehrenden Kindern freundlich zunickte.




II.
Auf der Warft.

Nicol Mannis war früher Seemann gewesen. Auf seinen jahrelangen Reisen hatte er sich ein artiges Vermögen verdient, das er nun, wie dies uraltes Herkommen bei allen Uthlandsfriesen ist – so nennt man gewöhnlich sämmtliche Bewohner des Archipelagus der Westsee – auf seiner heimathlichen Hallig in Ruhe verzehren wollte. Der wetterharte Seemann entschloß sich indeß erst zu diesem Schritte, als er das Schiff, das unter seinem Commando stand, in einem fürchterlichen Sturme auf dem atlantischen Meere verloren hatte und bei dieser entsetzlichen Katastrophe wie durch ein Wunder gerettet worden war. Dies letzte Erlebniß während seiner Seereisen, von dem er selten sprach, mußte von grauenvollen Vorgängen begleitet gewesen sein. Wenigstens war Nicol Mannis, ein Mann von kaltem Blut und unerschrockenen Herzens, seit jenem traurigen Erlebniß auffallend alt geworden. Glücklich auf Hooge gelandet, verließ er die Hallig nicht mehr. Er lebte in jener geschäftigen Unthätigkeit, die man häufig bei alten Seeleuten findet und die meistentheils nur in einem Betrachten des Meeres, einem Beobachten von Wind und Wolken, in rastlosem Auslugen nach jedem Stückchen Leinwand, das am fernen Horizonte sichtbar wird, besteht.

[331] Ruhe freilich und die friedliche Stille einer in jeder Beziehung gesicherten Häuslichkeit, wie der Binnenländer sie für die späteren Jahre seines Lebens begehrt, fand der alte Mannis nicht auf seiner Warft. Wahrscheinlich wäre ihm damit auch nicht gedient gewesen. Der Halligbewohner schwebt nämlich immer in Gefahr, plötzlich von der Tücke der wilden See überrascht zu werden und ihrem Grimme zu erliegen. Er kann gegen die unbezwingliche Fluth, wenn der West sie aufwühlt, nicht kämpfen. Nur ein passiver Widerstand, furchtloses Aushalten können ihn im glücklichsten Falle retten. Gerade diese Gefahr aber, die er stets vor Augen sieht, läßt ihn wohl die Unthätigkeit leichter ertragen, weil sie seinen Geist und seine Phantasie beschäftigt.

Es war ein gar freundlicher Raum, den jetzt der alte grauköpfige Mann mit seinen drei Kindern betrat. Alles sah sauber, blank und glänzend aus. Das Mobiliar des nicht sehr hohen, oblongen Zimmers hätte einen städtischen Salon nicht verunziert. An den mit weißen, sehr zierlichen Kacheln gleichsam tapezierten Wänden hingen Abbildungen segelnder Schiffe. Auch der Untergang eines Dreimasters auf stürmischem Meere befand sich darunter. Es stellte dies Bild den Schiffbruch der Fregatte dar, welche Nicol Mannis das Seemannsleben verleidet hatte. Es war von nicht ungeschickter Hand nach seinen eigenen Angaben gemalt. In dem weißen, niedrigen Kachelofen, dessen Obertheil mit einer glänzenden Messingplatte geschlossen war, brannte ein stilles Torffeuer. Die Nordseite des Zimmers war von blüthenweißen Gardinen umfaltet, hinter denen nach altfriesischer Sitte die Lagerstätten des Hausherrn und seiner Gattin, in die Wand hineingebaut, sich befanden.

Die mittelgroßen, beinahe viereckigen Fenster, in hellgrün gemalte Rahmen eingefaßt, waren noch nicht durch Wetterläden geschlossen. Man überblickte daher die ganze Hallig nach Süd und West und bemerkte eine Anzahl gelbrother Lichtpunkte, die wie stille Irrlichter auf der mageren Erdscheibe standen. Sie zeigten die Wohnungen anderer auf hohen Warften liegender Halligleute an.

Frau Ellen, die Gattin des alten Capitains, hatte schon den abendlichen Theetisch gedeckt. Jetzt setzte sie weißes Feinbrod auf, nebst Butter und Zucker in einer werthvollen Dose aus getriebenem Silber.

Jeder der Bewohner nahm seinen Platz ein. Dann sagte Nicol, an alle drei Kinder sich gleichzeitig wendend:

„Nun laßt hören, was Euch passirt ist!“

Diese Frage ward kühl und durchaus nicht in einem Tone gethan, welcher Neugierde durchblicken ließ. Nicol Mannis fragte wie Jemand, der nur den Grund einer geschehenen oder unterlassenen Handlung erfahren will und ein Recht dazu hat.

„Wir hatten uns auf der Landtiefe vor Anker gelegt,“ nahm der älteste Sohn Taken das Wort. „Die See rollte leichte Wogen, die Sonne brach ab und zu durch das niedrig ziehende Gewölk. Im Ost waren uns die Dünen von Amrom gerade in Sicht, nordwärts schimmerte wie ein weißlicher Nebel die Sandeinöde der Sylter Südspitze. Schon hatten wir uns ein paar Stunden lang vergeblich abgemüht, ohne einen erträglichen Fang zu thun. Jens meinte, wir thäten besser, weiter landwärts zu segeln und bei Capitains Knob[5] unser Netz auszuwerfen. Ich stimmte bei, wir holten den Anker ein und drehten ab. Kaum waren wir abermals mit unserer Arbeit beschäftigt, als es dunkler und immer dunkler ward. Eine Bö aus Südwest zu Süd machte das Meer schäumen, wir mußten die Segel einnehmen; die Luft sah aus, als werde ein Sturzregen sich über uns entladen. Es fiel aber kein Tropfen. Die Wolken verzogen sich bald wieder, brachen sich an den Amromer Dünen und der blaue Himmel blickte alsbald wieder auf uns herab. Recht hell wollte es jedoch nicht werden. Als dämmere der Abend, gerade so sah das Meer aus, und die Luft blieb undurchsichtig, obgleich es nicht nebelte.

„Karen fiel diese Dämmerung früher auf, als uns Brüdern, die wir hart arbeiteten. Sie sprach darüber und meinte, es könne uns doch wohl noch ein schweres Wetter überfallen. Ob es nicht besser sei, weiter in See zu gehen?

„Beinahe hätten wir uns bestimmen lassen, da blieben wir alle Drei wie versteinert stehen und unser Netz spülten die Wogen fort.“

„Was versteinerte Euch?“ fragte der Vater.

„Ich kann’s nicht sagen, was es war, und doch sah ich’s, so deutlich wie Dich und die Mutter.“

„Und wir sahen es auch,“ bekräftigten Jens und Karen zugleich.

„Es war ein Ding, wie ein rollender Nebel,“ fuhr Taken fort, nachdem der Vater den andern Beiden durch einen Wink Schweigen geboten hatte. „Das Ding strich gegen den Wind gerade von Hörnum auf uns zu. Es konnte eine Wolke sein, wie die Sonne sie in den Dünenthälern ausbrütet. Solche Wetterwolken haben ihren eigenen Wind bei sich und können steuern, wie sie wollen. Auf einmal aber sahen wir, daß es ein Schiff war, ein Dreimaster, just so groß, wie der hinter Dir an der Wand. In’s Vormarssegel waren zwei Reefe geschlagen, das große Bramsegel aber blähte sich in seinen Nockbindseln voll im Winde. Alles war steif back gebraßt und das Fahrzeug rauschte auf uns zu, daß die Wogen schäumend am Buge hinaufliefen. An der Gaffel drehte die dänische Flagge und unter der Gallion erkannten wir deutlich den Namen „Der indische Nabob“.“

„Mein Fregattschiff, das ich verloren?“ unterbrach hier Nicol Mannis seinen Sohn, sich die Haare aus der runzligen Stirn streichend und ernst den Erzählenden anblickend.

„Das Schiff hieß gerade so,“ fiel Jens, der jüngere Sohn ein, „auch war’s genau so getakelt, wie das verunglückte.“

„Ich hielt unsern Ewer scharf leewärts, die Fregatte glitt vorüber, kaum aber sahen wir ihren Hintersteven, da zerrann auch das Ding, und die Luft klärte sich wieder auf. Karen fror, daß ihr die Zähne klapperten. Das bedeutet auch nichts Gutes, meinte sie, und trieb zur Heimkehr. Uns war auch wunderlich dabei zu Muthe, und da wir doch kein Glück hatten, drehten wir ab, und liefen mit halbem Winde südwärts.“

Nicol Mannis sah nachdenklich vor sich hin. Ellen störte ihn auf aus diesem Grübeln.

„Ich begreife nicht,“ sagte die einfache, klar verständige Frau, „wie Du über ein Wolkenspiel, deren es alljährlich in unserer Gegend so viele gibt, Dir Gedanken machen kannst. Haben wir nicht schon mehrmals um die Zeit der Dämmerung segelnde Schiffe gerade über die Hallig steuern sehen, ohne daß es Meerwasser gab, das sie tragen konnte? Es waren pure luftige Dünste, die gewöhnlich schnell zerrannen. Solch ein Dunst ist’s auch gewesen, der die Kinder getäuscht hat.“

„Will’s gern glauben, Frau,“ erwiderte Nicol, „nur vergiß nicht, daß ich ein Halligmann bin und Du ein Kind der festen Welt. Wir haben zweierlei Augen, mit denen wir die Dinge um uns her in verschiedener Weise betrachten. ’s wär also möglich, daß es mehr auf sich hätte, als Du meinst!“

„Man muß nicht darauf achten,“ bemerkte Ellen.

„Hast gut reden, lieb Weib,“ entgegnete Nicol, „hättest Du aber erlebt, was ich mit angesehen habe in der spanischen See, ein halb Jahr vor meinem Schiffbruche auf dem „indischen Nabob,“ Du würdest bald genug alle Segel einnehmen und Dich gefangen geben einem Glauben, den Keiner wegschwatzen kann.“

„Du hast mir noch nie etwas davon erzählt, Nicol,“ sagte Frau Ellen, mit Hülfe Karens den Theetisch abräumend. „Warum warst Du so zurückhaltend?“

„Weil ich’s gern vergessen hätte. Aber ich werd’ es nimmer los aus dem Gedächtniß. Und da’s nun gerade heute zur Sprache kommt, mögt Ihr es denn Alle erfahren! Zuvor aber schließt die Wetterläden! Die See geht hohl; wenn ein Sturm aufspringt, findet er Alles in Ordnung. Mag heute die Lichter nicht mehr sehen; es könnten Strandlichter sein, deren Leuchten noch Niemand Heil gebracht hat.“

Dem Befehle des plötzlich ernst gewordenen Vaters gehorchend beeilte sich Karen, die Läden zu schließen. Die Wohnung der Halligbewohner ward dadurch um Vieles gemüthlicher. Und wenn es je einen Ort gibt, der sich zur Mittheilung eines geheimnißvollen Ereignisses oder einer furchtbaren Begebenheit eignet, so bietet das windumrauschte, von der anprallenden Salzwoge des Meeres umbrandete Haus eines Halligmannes auf einsamer Warft gewiß einen solchen dar.




III.
Nicol’s Gesicht in der spanischen See.

Frau Ellen stellte drei Gläser heißen und steifen Grogs auf einem aus Canton stammenden Theebret auf den Tisch. Es war dies des alten Seemannes und seiner jungen Söhne gewöhnlichee [332] Trank nach genossenem Abendbrod. Die meisten Männer auf den Westsee-Inseln pflegen sich Abends einen solchen „Slummer“, wie man wohl scherzweise sagt, zu gönnen. Das rauhe, häufig wechselnde Wetter und die nebelfeuchte Luft rechtfertigen diese Gewohnheit.

„Es war Mittsommer,“ hob Nicol Mannis seine Erzählung an, ein Stückchen Kautaback zwischen seine noch völlig gesunden Zähne schiebend. „Der indische Nabob, schon oft mit Schätzen vollgestaut, die mehr wie Einen zum Nabob hätten machen können, lief mit frischer Bries zwölf Knoten in der Stunde. An Bord Alles wohl, an Deck Alles klar. Kein Seemann konnte sich besseres Wetter wünschen. Blieb darum auch, als es Nacht ward, auf Deck. Machte mir immer Vergnügen, wenn See sprühte und funkelte, als pflüge der Kiel unter den blauen Wellen in gelbgrünem Feuer. Ganze Tonnen von Brillanten und Türkisen und andern Edelsteinen flogen vom Bug ab und stürzten in funkelnden Lichtschauern auf die dunkel fluthenden Wellen.

„Die Nachtwache war eben aufgezogen, als ich in Lee ein Segel bemerke. War aber noch ziemlich weit ab und steuerte nicht meinen Cours. Konnte aber doch das Besahnstagsegel und den Flieger über dem großen Stengenstagsegel durch mein Glas erkennen. Fiel mir diese Segelstellung auf, denn sonst war Alles beschlagen; dacht’ aber, ’s wär’ einer von den wilden Schiffern von der afrikanischen Küste. Eine Stunde verging, und ich kam dem Fahrzeuge näher. Es war eine prächtige Schooner-Brigg, die jetzt alle Segel aufgesetzt hatte, was ich wieder nicht begreifen konnte. Wie es nun noch etwa drei Kabellängen von meiner Fregatte entfernt ist, was geschieht? Die Schooner-Brigg schwankt hin und her, die Stengen auf der Steuerbordseite berühren die Wellen, und ehe ich mich noch besinnen kann, kentert das Schiff und versinkt spurlos im schäumenden Meere. Zu begreifen war’s nicht, was wir sahen – ich, der Mann am Steuer und der wachthaltende Mat. Es sagte Keiner von uns ’was, den Mann am Steuer aber hörte ich seufzen und stöhnen, und mir selber wurde das Athmen ebenfalls schwer.

„Cap’tain,“ sagte der Mann – ‘s war ein Ostfriese von Norderoog – „Cap’tain, sollt’s wohl ein wirkliches Schiff gewesen sein, was da die See eingeschluckt hat?“

„Weiß nicht, Mann,“ gab ich zur Antwort, und mein Auge haftete noch immer auf der Stelle, wo ich die Schooner-Brigg versinken sah.

„In der spanischen See ist manchem Schiffer schon ‘was begegnet.“

„Ich stand schweigend auf dem Hinterdeck, und sah hinab in die schäumenden Wogen, da sah ich –“

Ein starker Windstoß, der das Haus gleichsam in fester Umarmung schüttelte, unterbrach hier den Erzähler. Nicol Mannis stand auf und untersuchte die Fenster, ob sie auch fest geschlossen seien. Von außen erklang das ängstliche Geblök der Schafe, die man der im Ganzen milden Witterung wegen noch im Freien ließ.

„Wir thun besser, die Schafe im Schauer unterzubringen,“ sagte Nicol. „Wenn’s Hochwasser gibt und schwere Regenböen, leidet das arme Vieh. Kommt! Sechs Hände schaffen mehr als zwei.“

Diese Worte richtete der alte Seemann an seine beiden Söhne, die schnell ihre Gläser leerten und dem voranschreitenden Vater folgten, um die Schafe mit bergen zu helfen.

„Geschwind, Karen,“ sprach die Mutter zu der hübschen jungen Tochter. „Bereite Vater und Brüdern noch einen recht süßen und heißen Slummer. Vater spinnt seinen Faden dann viel besser zu Ende. Nur fürchte Dich nicht und sieh Dich nicht so ängstlich um, wenn es ’was Schreckliches zu hören gibt. Ich hab’ immer gefunden, daß alte Seeleute Geschichten erzählen, die gar nicht passiren können.“

„Aber Vater lügt nicht, Mutter!“ fiel Karen ein, den blanken Wasserkessel auf die hell polirte Messingplatte des Ofens stellend. „Und daß auf See entsetzliche Dinge geschehen und unerklärliche Bilder aus der Tiefe aufsteigen, hab’ ich doch selber mit angesehen. Du kennst aber die See nicht, Mutter!“

„Kenne sie wohl, mein Kind,“ erwiderte Ellen, „aber ich konnte mich nie entschließen, für lange Zeit ein Schiff zu besteigen. Die Schrecken der See hab’ ich erlebt, wie ich es Dir nicht wünschen mag. Ich sah die brüllenden Sturmwogen unser Haus zerschlagen, und wurde doch nicht ohnmächtig bei diesem Anblicke und bei den treibenden Leichen, die auf den Wellen schaukelten.“

Die Männer kehrten jetzt zurück, und nahmen ihre vorigen Plätze wieder ein.

„Nun, Vater, was sahest Du?“ wandte sich Karen mit neugieriger Frage an diesen, indem sie ein volles Glas vor ihn hinsetzte. Nicol erprobte das heiße Getränk, schob ein neues Priemchen in den Mund und fuhr fort:

„Ja, Kinder, wie ich so in die Wogen starrte, die wie von unterseeischem Feuer strahlten und ganz durchsichtig waren, da sah ich, die Gesichter mir zugekehrt, drei Männer, die Hände über die Brust gefaltet, als ob sie beteten, gerade mit dem Schiffe auf dem Meere treiben. Ueber den Körpern spülten und sprühten die Wellen, die Köpfe aber ragten über das Wasser empor. Die Gesichter waren bleich und farblos, wie die soeben Verstorbener, die Augen aber standen offen und ihre Blicke hielten sie unbeweglich auf mich gerichtet.“

„O Gott, Vater!“ rief Karen aus, ihre Augen mit beiden Händen bedeckend. „Das ist zu furchtbar! Ich sehe die drei Männer mit den Todtengesichtern schon auf unser Haus zutreiben.“

„Auch mir pochte das Herz lauter als sonst, mein Kind,“ fuhr Nicol in seiner Erzählung fort. „Ein Seemann muß indeß auf Alles gefaßt sein und sich jeder Zeit geschwind resolviren können. Der Ausbruch eines bösen Wetters läßt uns nicht Zeit zu langem Nachdenken. Man muß rasch handeln, sonst gehen alle Masten mit einer einzigen Sturzsee über Bord. Hab’s erlebt, daß sechs Mann meiner Equipage auf einmal über Bord gespült wurden, und daß die nachstürzende große Raa zwei mit ihren Nocken die Schädel mitten auseinander schlug. Es war ein furchtbarer Augenblick für mich, ich mußte aber das Schiff und seine noch übrige Bemannung zu retten suchen, und darum blinzte ich nicht mit den Augen, und rief meine Befehle durch’s Sprachrohr in das Wettergeheul hinein, als sei nichts passirt.“

„Du setztest das Boot aus, um sie wo möglich zu retten, wenn sie noch am Leben waren?“ fragte Jens.

Nicol that einen kräftigen Zug aus seinem Glase.

„Bei Sanct Patrick, wie die Irländer sagen, das that ich nicht,“ versetzte der Alte. „Und hätt’ ich’s gewollt, es wäre verlorne Müh’ gewesen! Die Todten, die mit dem Schiffe trieben, waren keine Todten, sie sollten erst später sterben. – Ich kannte sie, ich hatte eben erst mit ihnen gesprochen! – Freilich, wollt’ ich meinen eigenen Augen nicht trauen, aber ich mußt’s zuletzt doch! – – Cap’tain – flüsterte der Mann am Steuer mir zu, und seine Hand fiel schwer auf meine Schulter – Cap’tain, kennt Ihr das Blaßgesicht da unten? Ich denk’, so werd’ ich aussehen. ehe das Jahr zu Ende geht.“

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmanns-Bilder.
Von Guido Hammer.
4.   Aus dem Fuchsleben.


Thaufrisch dämmert ein Septemberfrühmorgen herauf. Nur im Osten deutet ein lichter Schein am wolkenlosen Himmel an, daß die Sonne bereits im Kommen ist. Schon wird es heller und heller und von fern hört man es in den Wipfeln des Waldes rauschen, bis uns der leicht beschwingte Morgenwind wohlthätig Augen und Schläfe umspielt. Weiter gen Westen eilt der frische, luftige Vorbote der aufgehenden Sonne, im Fluge all’ die Gräser, Eriken und die blauen Glockenblümchen auf duftender Waldblöße anflüsternd, um sie aus nächtlichem Schlummer zu erwecken; aber neigend und nickend begrüßen ihn die bereits Erwachten. Auch die alten Tannen am Saume des Gehaues werden durchrauscht und wie ein Halleluja tönt’s durch die ehrwürdigen Häupter weithin in die blaue Ferne des Waldes. Es verhallt, lautlose Stille herrscht wieder. Die Nebel ziehen über die blüthengeschmückten Blößen [333] dahin und hängen sich, Perle um Perle, an Halm und Zweig, wie an das kunstvolle Zirkelnetz verschiedener Spinnen oder an das ausgebreitete Gespinnst, das im Herbste weite Strecken überzieht, um später, von der Sonne gelöst und emporgezogen in langen Fäden, wie geheimnißvolle Zauber wirkend, dahinzuschweben. Um Halm und Nadel und leichtes Gewebe funkeln und blitzen in wunderbarer Farbenpracht die reinen Tropfen, die von der nun im reinsten Aether glänzenden Sonne geküßt werden. Doch fast mit wehmüthigem, wenn auch nicht minderem Genuß schweift das Auge über das sonnendurchglühte, blühende, honigduftende Haidekraut und über das in kosender Morgenluft wehende, fahle Riedgras hindurch

Der geprellte Fuchs.

das man im perlenden Thau lange Streifen – die Fährte von mancherlei Gewild – verfolgen kann. Ueber Anflug und Dickichte hinweg bleibt der Blick am Saume des Hochwaldes haften, dessen Rand bereits in goldigem Scheine erglüht, während tief drinnen noch mystisches Dunkel herrscht. Außen ist überall schon Leben geworden. Vögel aller Gattungen, meist nach ihren Arten zusammengeschaart, durchziehen in schnellem Fluge die Luft, oder flattern und hüpfen durch die Dickichte und lassen all’ ihre verschiedenen Stimmchen ertönen. Da lockt es und pfeift es und flötet es so lieblich und heimisch und doch wieder so verlockend, mit den kleinen Pilgern hinwegzuziehen in jene schönen, fernen Länder, wo sie den Winter über weilen werden. Den gellenden und klagend verhallenden Ton des Spechtes trachtet kreischend der Nußheher zu überbieten. Summende Bienchen und einzelne brummende Hummeln durchstreifen ebenfalls bereits die blühende Haide und der unermüdliche Gesang der zirpenden Grille umspinnt gleichsam, so weit das Ohr reicht, die Natur mit seinem Einerlei. Dies ist der Schauplatz, auf dem wir unsere Beobachtungen beginnen, und siehe, wir haben nicht lange zu warten.

Aus einem Graben, der auf das Gehau mündet, kommt jetzt der Schlaukopf gezogen, den wir suchen – ein alter Fuchs. Er macht Halt, um den Wind einzuholen,[6] und äugt überall herum ob’s auch geheuer, eh’ er es wagen darf, über die vor ihm liegende Fläche zu wandeln. Der Sprung eines Grashüpfers, den er mit scharfem Lauscher gehört, läßt ihn sich blitzschnell im Graben niederducken, denn nie läßt er die äußerste Vorsicht außer Acht, wäre sie auch einmal unnöthig. Langsam sich wieder erhebend, scheint er nun so weit sicher, daß nichts Verdächtiges in der Nähe sei. Mit einer gewissen Sorglosigkeit gibt er sich dem Genusse hin, im schönen warmen Sonnenschein, der ihm nach der Morgenfrische doppelt wohl thut, dahin zu schlendern. Bald nimmt er eine Wildfährte an, der er mit seiner Spitzbubennase eine Weile folgt; dann springt er plötzlich ab, um ein unkluges Mäuslein zu haschen, das er als Nachfrühstück zu sich nimmt, [334] da er, bereits vom Felde heimkehrend, dort einen halbwüchsigen Hasen verspeist hat. Er ist deshalb auch in bester Laune. Hätte er Arme, um sie auf den Rücken zu legen, er würde es jetzt thun, mit solcher Behaglichkeit bewegt er sich vorwärts. Kein Mausloch entgeht ihm dabei; in jedes steckt er seine raffinirte Nase hinein, um es dann aufzuscharren, daß das Erdreich hinter ihm herumstiebt. Kein Vogel fliegt dahin, dem er nicht einen giftigen, verlangenden Blick nachsendete. Jetzt hüpft er wie im Muthwillen auf einem alten Stock, der im Gehau steht, und bleibt ein Weilchen sitzen, um nach Allem, was sich um ihn regt, sei es ein Bienchen, ein Käfer oder Schmetterling, zu schnappen. Nachdem er sich in dieser Weise hinlänglich vergnügt, geht’s wieder fort. Bald trabt er, bald schleicht er ein Stück dahin, sichert und duckt sich und geht dann spielend weiter. Rasch aber fährt er plötzlich herum, und hinter einem Büschchen verschwindend, braucht er dasselbe als Deckung, um dem nahen Dickicht zuzueilen. Wohlbehalten erreicht er es auch, obgleich zwei schnell auf einander folgende Schüsse beweisen, daß er diesmal keiner eingebildeten Gefahr entronnen. Ein leider nicht ganz ruhiger Schütze hatte am nahen Holzrande mit pochendem Herzen all die Manöver vom Graben her bis fünfzig Schritt an sich heran mit angesehen und, seines Zieles nun schon ganz gewiß, durch eine unglückliche Bewegung des Fuchses Vorsicht erregt, um das leere Nachsehen zu haben.

Aber „heute mir, morgen dir,“ sagt das Sprüchwort. Ein andermal muß der Schelm selbst als Jäger ein getäuschtes Gesicht machen, was ihm nicht selten bei der Jagd und namentlich mit Federwild, besonders aber mit Wassergeflügel, begegnet, obwohl er einen solchen Jagdzug nicht ohne verdoppelten Aufwand von Schlauheit unternimmt. Die Gelegenheit, ihn zu belächeln, findet sich, wenn wir uns dort nach dem im Morgenscheine spiegelblank ausgebreiteten stillen Waldteiche begeben.

Ein Bild der Verschmitztheit tritt unser lüsterner Patron aus dem Waldesdunkel hervor und schleicht nach dem Wurzelstocke einer vom Sturme umgeworfenen alten Tanne, die sich mit ihrem mächtigen Gezweig halb in den Teich versenkt hat, heran, um diesen vorerst von hier aus recognosciren zu können. An den Stamm geschmiegt, hebt er den Kopf nur eben so weit empor, als sein Auge im Stande ist, zuvörderst die entferntest liegenden Ränder des schilfbewachsenen Wassers zu überstreichen und sich für den weitern Gang zu orientiren. Dann läßt er unmerklich sein edles Haupt höher und höher auftauchen, um die ihm zur Seite liegenden Ufer zu durchspähen, bis endlich sein Blick unmittelbar unter seinem Versteck das Terrain zu sondiren vermag. Nichts hat sich für den augenblicklichen Fang gezeigt; nur ein Paar Bläßenten rudern, mit ihrem melancholischen Tone die Stille unterbrechend, in der Mitte des Teiches dem Schilfrande zu, lange silberne Furchen durch die spiegelglatte Blänke[7] ziehend. Aber außerdem hat der Schelm hinter einem bemoosten Steine in der Nähe etwas plätschern gehört und gleichzeitig davon Wind bekommen, und da ihm das Terrain zum Anschleichen günstig erscheint, richtet er sein Augenmerk dorthin.

Leicht und leise verschwindet er rückwärts hinter der Wurzelwand und schnürt sich am Holzrande seitwärts nach gedachtem Steine zu. Leise, Lauft um Lauft setzend, schleicht er heran und je näher er kommt, je mehr schmiegt er sich, so daß er zuletzt völlig kriechend am Ziele anlangt. Wieder schiebt er sich gleich einer Schlange vorwärts, bis er das Wasser übersehen kann. Seine vor Verlangen glitzernden Seher entdecken immer noch nichts, als unmittelbar unter dem Steine die plätschernden, kreisenden Schwingungen des Wassers, die so eben der Sprung eines Frosches verursacht hat. Ein paar Federchen aber, die sich auf den immer größer werdenden Wasserringen schaukeln, scheinen ihm zu mancherlei Reflexionen Anlaß zu geben, die sich in einem höchst verdrießlichen „Zu spät!“ concentriren. In scharfen Zügen steht es auf seinem Gesicht geschrieben, während dicht neben ihm aus dem Geröhricht ein Entvogel[8] aufsteigt und vor ihm dahin fliegt, so daß der Geprellte unwillkürlich noch mit halbem Oberkörper emporfährt, ohne jedoch den Sprung nach dem ersehnten Ziele zu wagen; denn er hat nicht Lust, noch dazu ohne Aussicht auf Erfolg in’s Wasser zu plumpen, gleich dem Frosch, dessen Leidenschaft für das feuchte Element er keineswegs theilt. Er übersieht wohl einmal einen nassen Fuß, wenn es gilt, aber sich bis über den Kopf in’s Wasser zu stürzen, das würde der wasserscheue Patron nicht um zehntausend Enten thun. Ein Blick, in dem sich Sehnsucht, Aerger und Beschämung, einen so nahe gehabten guten Bissen sich an der Nase vorüberfliegen zu sehen, mischen, verräth des Gauners innere Stimmung, deren er jedoch sehr bald Herr zu werden versteht.

Nachdem er noch so lange der ihm entgangenen Ente nachgeschaut, bis sie am jenseitigen Teichrande auf der Blänke eingefallen und schwimmend im Schilfgras, das dicht am Ufer zwischen Kaupen steht, verschwunden ist, trabt er am Holzrande des Teiches hin, als habe er niemals in seinem Leben an Enten gedacht. Mit ganz absonderlicher Laune, wie es scheint, geht er hier so dicht an einem Stamme vorüber, als wäre dies der einzige Weg, sein Leben zu retten; bis zum Umfallen schmiegt er sich daran hie; dort klemmt er sich zwischen zwei eng nebeneinander stehenden Stämmen durch, als beabsichtigte er, sich zu einer Silhouette zu pressen; oder er geht so stracks auf einen Gegenstand los, sei es Baum, Strauch, Stein, oder sonst etwas, als wolle er mitten hindurch; aber in der unmittelbaren Nähe biegt er auf einmal mit einer Nonchalance herum, als wäre der Gegenstand für ihn gar nicht da. Auf diese Weise umkreist er ziemlich schnell den Teich bis ungefähr zu der Stelle, wo vorhin die entwischte Ente wieder einfiel. Nun fängt er jedoch wieder an zu kriechen. Jeden Büschel Gras und Kaupe benützt er, sich an das Wasser heran zu pirschen, und dabei scheut er auch ein nasses Haar nicht. Mit ungeahnter Behutsamkeit im Gras und Schilf kriechend, hat er bereits das Wasser erreicht, das vom Teich hereingetreten. Jetzt ist er mit kaum bemerkbarer Bewegung bis an eine Kaupe herangerückt, um die herum er die spitze Nase steckt – plötzlich springt er vorwärts. Der quakende Laut, sowie der heftige Flügelschlag in’s Wasser beweisen, daß er diesmal nicht fehl speculirt und seine Beute erfaßt hat. Ob das Opfer die nämliche Ente ist, die ihm am jenseitigen Ufer entgangen war? Immerhin darf man’s glauben und annehmen, daß der Erzgauch zugleich eine kleine Privatrache ausgeübt. Seine Physiognomie wenigstens hat einen so dämonisch hämischen und dabei so grinsend freundlichen Ausdruck bekommen, wie er nur jemals einem rachsüchtigen Schurkengesichte aufgeprägt war.

Behend eilt er nun an das sonnige, warme Ufer, wo er den nassen, triefenden Balg abschüttelt und die bereits gewürgte Ente niederlegt, um sie aber alsbald auf’s Neue zu packen und nach einem nahen sonnigen Haidehange, der ringsum von Dickicht eingeschlossen ist, in Sicherheit zu bringen. Hier verzehrt er auf Haide und trockenem Moos, von der Herbstmorgensonne behaglich umschmeichelt, in aller Ruhe sein delicates Mahl. Oftmals arbeitet ihm zu einem solchen – und nach Wassergeflügel leckert es ihm immer mit ganz vorzüglichem Appetit – der Mensch selbst in die Hände oder vielmehr in den Rachen, indem eine Ente, die dem Jäger bekannt ist, leichter zu schießen, als ohne guten Hund aus dem Wasser zu bekommen ist, solche aber nach dem Verenden vom Winde an’s Ufer getrieben wird, wo sie Meister Reinecke bei seinem Pirschgange als bequeme Beute findet. Das sind denn so kleine gelegentliche Glücksfälle, die er sich zur Entschädigung für manche Täuschung zu nutze macht.

Unser Lungerer versteht sich auf alle Vortheile und Fertigkeiten des edlen Waidwerks, das er als der gewandteste von allen Wilddieben ausübt, und bei seinem lebhaften Naturell besitzt er zugleich die größte Besonnenheit und Ruhe. Er weiß zur rechten Zeit seine Leidenschaften zu beherrschen, um ihrer Befriedigung desto sicherer zu sein. Das zeigt sich insbesondere auch, wenn er auf dem Anstand steht oder, richtiger gesagt, kauert. Er ist z. B. an einem Feldrande, wo er geduckt, fast an den Boden geschmiegt, in dürren Schmielen verborgen, mit gespitzten Lauschern und funkelnden Sehern[9] dem harmlosen Lampe aufpaßt. Wohl hat der Schelm sich einen sichern Wechsel[10] ausgesucht und auch den Wind gut observirt;[11] denn nicht lange hat er gelauert, da kommt das Opfer daher gehöppelt. Wär’s möglich, so schmiegte sich der Rothpelz noch tiefer an den Boden, und doppelt feurig werden die grünen Seher, trotzdem daß er sie zusammenzwinkert, um sie nicht zu Verräthern werden zu lassen. Leise zuckt er mit den Lefzen und seiner unvergleichlichen Spürnase, wie im Vorgefühl des gewissen Genusses. Inzwischen [335] nähert sich, hier ein Kleeblättchen, dort ein anderes saftiges Kräutlein naschend, der unglückliche Lampe. Ein leises Heben der weißen Spitze an der Standarte[12] Reinecke’s läßt erkennen, daß er sich fertig zu machen anfängt. Das Hintertheil kaum merklich emporrichtend, rüstet er sich zum Sprunge, und genau hat er es abgepaßt, bis der Hase für ihn erreichbar ist; – ein einziger langer Satz, und er hat sein Schlachtopfer gefaßt, das er jetzt unbarmherzig niederwürgt. Nach echter Wilddiebsart verschwindet er augenblicklich mit seiner Beute vom Orte seiner That, um unberufener Neugier, die den Klageruf des Unbescholtenen etwa gehört, aus dem Wege zu gehen, und seinen Braten zu verschmausen, der nach Reinecke’s Kochbuch durchaus keiner Zuthat bedarf. Vorkommenden Falles überhebt er sich auch wohl der Mühwaltung, irgend ein schmackhaftes Thier erst todt zu beißen, und zieht vor, es bei lebendigem Leibe „anzuschneiden.“[13]

Glaube man jedoch nicht, daß er sich mit der kleinen Jagd begnügt, obwohl er dieselbe gern betreibt; o nein, – sein Sinn steht höher! Auch die mittle und selbst hohe Jagd übt er aus, indem er nicht nur Rehkälbchen – im Winter sogar alte Rehe – sondern auch Wildkälbchen und Frischlinge erlegt, und gerade hierin der Wildbahn am gefährlichsten wird. Ebenso verhält es sich mit dem ihm vorzugsweise schmackhaften Federwildpret, dem er gleichfalls von Klein- bis Hochwild hinan nachjagt, wobei manche Birk- und Auerhenne in der Brutzeit ihm anheim fällt. Uebrigens hält er, wie bei einem so durchtriebenen Pfifficus vorauszusetzen, eine alte Klugheitsregel: „wer das Kleine verachtet, erhält das Große nicht,“ in Ehren, namentlich, wenn das Kleine werth ist, den Gaumen zu reizen. Darum sieht man den Gourmand, wenn der Morgen graut, öfter den Dohnensteg passiren und die Krammetsvögel, die sich etwa gefangen haben, aus den Schlingen nehmen, notabene, wenn sie nicht zu hoch hängen, und er sie noch im Sprunge erreichen kann.

Nichts ist, wie man sieht, seinem Cavaliermagen zu gut, wie er sich denn vollkommen für berechtigt hält, auch mitunter einen Fasan zu verzehren. Mit Recht sagt daher der französische Jagdschriftsteller Valmont de Bomare: „was der Wolf für den Bauer, ist der Fuchs für den Edelmann.“

Auf diese Weise treibt es der fahrende Ritter, so lange es geht. Bald lebt er im Wald, bald auf der Flur; heute bleibt er im Dickicht sitzen, morgen fährt er in einen Bau oder in eine Fluchtröhre ein, oder – liegt wohl auch im schützenden Kraut eines Kartoffelfeldes hinter den Furchen, wo freilich zuweilen für ihn die Gefahr eintritt, daß ihm auf der Hühnersuche[14] die Jäger und die Hunde auf den Pelz kommen und, falls ihm nicht, was oft genug geschieht, die Ueberraschung der Schützen durchhilft, sein improvisirtes Quartier das Leben kostet.

Je weiter die Jahreszeit vorrückt, desto schlimmer wird’s nun für den Musje, da sein Balg sich mit jedem Tage bessert; denn der logische Satz: „Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg“ läßt die Grünröcke allerdings Alles aufwenden, um dem zwar das ganze Jahr Vogelfreien jetzt ganz besonders Abbruch[15] zu thun. Kommt vollends der erste Schnee, wo Füchsleins Pfiffigkeit nicht mehr die gewohnte Wirkung hat, da die Fährte ihn auf Schritt und Tritt verräth, so fängt gar seine schlimme Zeit an. Denn abgesehen davon, daß Schmalhans Küchenmeister bei ihm wird, ist er auch noch ein unermüdlich verfolgter Märtyrer. Da wird er gekläppert,[16] wenn er im Dickicht steckt; mit seinem Erzfeind, dem Dachshund, aus dem Baue getrieben, wenn er eingefahren, oder, wenn’s nur eine Fluchtröhre ist, ausgeräuchert[17] oder sogar gekrätzert,[18] was die grausamste und menschenunwürdigste aller Arten ist, seiner sich zu bemächtigen. Auch kirrt man den durch Noth Verlockten an Aas, um ihn dann um so gewisser aus dem sichern Versteck zu tödten. Was gibt’s da nicht Alles für den Schlaukopf zu beobachten! Da gilt’s, den verführerischsten Brocken[19] von einer Katze oder einer andern Lieblingsspeise trotz heftigstem Hunger nicht eher anzurühren, bis die vollste Gewißheit erlangt ist, daß nicht Gefährliches dabei sei; und selbst dann noch nimmt der jetzt arme Proletarier seinen Fund mit äußerster Vorsicht auf. Doch diesmal war sie unnöthig, ebenso bei einem andern Brocken, der sich ihm darbietet – bei einem dritten, vierten u. s. w. Gefahrlos hat er sie alle verzehrt, da findet er noch einen letzten; auch ihn nimmt er – und hängt am Eisen! Mancher hat sich so gefangen, und ist vom Jäger durch einen Schlag auf sein spitzfindiges Organ, die Nase, getödtet worden, wenn er nicht den Muth gehabt, das gefangene Glied abzubeißen und, war’s ein Lauft, wie einen ausgezogenen Stiefel hängen zu lassen, zum Wahrzeichen, daß sich ein alter Fuchs wohl einmal ertappen, aber nicht festhalten läßt. Ja, die Sage geht, der Stoicismus dieser Teufelsbestien sei bisweilen so weit gegangen, daß sie entweder vor dem ersten aufgefundenen Brocken oder wenigstens vor dem Stellbrocken, wenn das Eisen nicht gut verwittert gewesen, aus Mißtrauen verhungert seien.

Tritt bei Schnee Thauwetter ein, und friert es schnell darauf, so ist für unsern nichtsachtenden Räuber Festtag; denn wenn das Wild und namentlich die Rehe durch die Eiskruste brechen, und sich dabei die Läufte verwunden, wodurch sie an schneller Flucht gehindert werden, so jagt er als Cavalier par force und zwar dann oft in Gemeinschaft seines Gleichen.

Im Februar regt sich in ihm die Liebesgluth; da sagt man: „der Fuchs fängt an zu ranzen.“ Doch auch in dieser Periode bewahrt sich der Alles berechnende Schlaukopf seine volle Besinnung, ohne sich der Leidenschaft blind zu überlassen, wie mehr oder weniger alles Wild, und namentlich der Auerhahn, zu thun pflegt. Um Erhörung seiner heißesten Wünsche mit leisem Kekkern flehend, muß er sich dabei nach Hundeart gegen die Mitbewerber wehren, bis er sie abgebissen hat oder durch eine andere liebenswürdige Füchsin von den Unberufenen befreit wird, die ihr nun den Hof machen. Dann sieht man sie Nachts im Mondenschein, zu vier bis sechs, heiser bellend über die Blößen traben. Einsame Liebespaare treten schlau einander in die Fährten, so daß, wenn Schnee liegt, man weite Strecken nur einen Fuchs abspüren kann, bis plötzlich zwei Fährten sichtbar werden, sich wieder vereinigen und so in einem Dickicht oder Geröhricht, in einer Fuchsröhre oder einem Baue verschwinden. An solchen Orten werden die bräutlichen Feste gefeiert, die allerdings nach einem Spurschnee oft auf das Verderblichste enden, wenn Mensch und Hund als ungeladene Gäste vor dem Hochzeitshause erscheinen. Wie wird da die kurze Flitterzeit einer Nacht durch den krummbeinigen Dachshund so verhängnißvoll gestört! Mit tollem Ingrimm dringt er auf das neuvermählte Paar ein, und keift und beißt so lange, bis die poetisch Gestimmten der rohen Macht weichen, und durch die einzige ihnen offen gelassene Röhre zu entschlüpfen trachten, aber ach, aus dem Regen in die Traufe kommen. Denn kaum langt die junge Frau Reinecke im Freien an, als schon das tödtliche Blei des Jägers sie trifft. Gedrängt vom unverwüstlichen Dachs, folgt der verzweifelte Gatte, um dem gleichen Schicksal zu verfallen.

Erst wenn das Frühjahr kommt, hebt Fuchsens gute Zeit wieder an. Nicht nur, daß es allerhand zu leben gibt, wie verschiedenes junges, leicht zu fangendes Wild, ingleichen brütende Birk- und Auerhühner; auch das Selbstinteresse der Jäger läßt ihn ungeschorner, da der Balg nichts mehr gilt, was freilich, beiläufig gesagt, einen Jäger, der nicht in jedem Fuchs einen Speciesthaler herumlaufen sieht, gerade jetzt am wenigsten hindert, dem gefährlichen Räuber nachzustellen, dem in dieser Zeit der Raub am jungen Wild viel leichter wird, als sonst. Dazu kommt, daß Madame ihr Wochenbett bereitet, und was ein solcher Hausstand bedeutet, haben wir schon früher kennen gelernt.

So sind wir denn wieder beim Ausgang angelangt. Indem wir Reinecke’s Treiben ein Jahr hindurch verfolgten, haben wir uns vor Allem vor der Versuchung gehütet, märchenhafte Uebertreibungen aufzuschreiben, im Gegentheil nur das gewissenhaft erzählt, was wir selbst beobachtet. So viel auch schon Interessantes über den merkwürdigen Egoist geschrieben ist, so könnte man doch noch Bände [336] voll schreiben, um alle die seltsamen Sagen, die über ihn im Umlauf sind, zu entkräften. Das Eine beweisen jedoch die vielen abenteuerlichen Berichte: den allgemeinen Glauben, man könne diesem Erzschelm nicht genug nachsagen, sei es an Schelmerei oder verschmitzter Schlechtigkeit, und an diesem Ruf ist er ohne Zweifel selbst schuld.

„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,
Und wenn er auch die Wahrheit spricht!“

Auch dieses ist oft genug auf ihn angewendet worden, doch mit Unrecht – nicht deshalb, weil der arglistige Schleicher nicht reden kann, sondern weil, wenn er es könnte, jedenfalls kein einziges wahres Wort aus seinem Munde ginge.




Selbstbeherrschung des Dampfes.


Das viele Maschinenwesen macht uns Menschen und unsere Zustände nüchtern und prosaisch, einförmig, herzlos und was nicht Alles außerdem. So sagt man und so sagen’s Andere nach. Aber ’s wird wohl nicht ganz richtig sein damit, halt’ ich. Wie man seine Sünden gern andern Leuten oder Verhältnissen außerhalb (Richard III. in Shakespeare sogar den Sternen) aufbürdet, benutzen wir auch wohl die Gelegenheit, die sich uns in Tausenden von Maschinen und Dampfschlotten bietet, etwas von der Verantwortlichkeit für unsere Rechnungsfehler, Herzkrankheiten, Langweiligkeit und moralische Kurzathmigkeit los zu werden. Gewiß ist, daß uns die Maschinen mit den vielen unermüdlichen, keinen Hafer fressenden Dampfpferden ungeheuer viel grobe Arbeit sparen, so daß wir Zeit für feinere und Selbstpolitur bekommen. Andererseits sind diese Maschinen selbst nicht so geistlos, wenigstens nicht so geisttödtend, als sie dem durch Gewohnheit Abgestumpften erscheinen. Der Müller wacht auf, wenn die Mühle nicht mehr klappert. Es mag sein, daß die Allgegenwart, Unermüdlichkeit und das Einerlei der schnaubenden und donnernden Dampfmaschine uns einschläfert, und wir vielleicht mit allen Sinnen und Talenten aufwachen und alle Hände voll zu thun bekommen würden, wenn diese Maschinen alle auf einmal still ständen, sehr wahrscheinlich auch, um unter dieser Arbeit wie überbürdete Lastthiere zusammenzubrechen. Diese Dampfpferderücken brechen aber nicht; ihre Kraft, Unermüdlichkeit und Zuverlässigkeit, womit sie die Arbeiten von Millionen gebrechlicher Menschen verrichten, berechtigt uns aber nicht, ihnen die Fehler und Gebrechen unserer eigenen Scrophulosität aufzubinden. Wenn wir uns neben der Maschine langweilen, sind wir just um so mehr Schuld, da wir – ich wette zehn gegen eins – ohne dieselbe wahrscheinlich nie in den Fall kommen würden, Zeit und Weile zu haben, Zeit zum Nachdenken, Gelegenheit zum Lernen und Leben, Mittel und Geschmack, die tausenderlei wohlfeilen Arbeiten der Maschinen zu kaufen und so unser Leben interessanter, schöner, inhaltvoller und kurzweiliger zu machen.

Also kommt am Ende das Gegentheil heraus: die Maschinen spielen stets mit einem Reichthume von angewandter Mathematik und Naturwissenschaft und sind weder langweilig, noch verbreiten sie Langeweile, indem sie uns Zeit sparen, also Zeit geben, d. h. Muße und auch Muse, abgesehen davon, daß sie Lebens- und Genußmittel gleichsam spielend aus den Aermeln schütteln. Welch ein stolzer Anblick, wenn die Dampfmaschine mit Hunderten von Pferdekräften und gehorsam wie ein Kind, ihre eisernen Glieder schwingt, und ihre geölten Zapfengelenke geschmeidiger gymnasticirt, als der bewundertste Jongleur! Seitdem ich nun auch eine Art von Selbstcontrole in einem solchen Ungeheuer kennen gelernt habe, kommt mir dieser Dampfriese nicht blos göttermächtig, sondern auch übermenschlich weise vor.

Ich lernte den ersten sich selbst controlirenden Dampftitan indem langweiligen Norwich als Garnspinner kennen. Der Herr, für den Hercules mit hundert Pferdekräften spinnt, heißt Mr. Blake, dem ich größtentheils verdanke, was ich hier über den interessanten Selbst-Controlir-Apparat mitzutheilen habe.

Ich sah ihn arbeiten am Tage, spät in der Nacht, immer noch am folgenden Morgen, stets unverdrossen, heiter, leicht, ohne Spuren von Erschlaffung und jedes zu Wenig oder zu Viel von Dampfkraft selbst ausgleichend, damit keine veränderte Geschwindigkeit der Drehungen ungleichmäßig gesponnenes Garn liefere oder es in einem Momente zu großer Hitze zerreiße. Welch’ ein Wunder, daß der geistlose eiserne Riese seine hundert Pferde immer selbst auf das Genaueste im Zaume und in gleichmäßiger Geschwindigkeit hält, ohne nach Futter, Lohn, Feierabenden, Feiertagen zu fragen! Gibt man ihm alle Tage nur die nöthige Kost von [8]0 Centnern Kohlen zu verzehren, besorgt er alles Andere mit der größten Pünktlichkeit und Ausdauer und spart dem Ernährer 100 Pferde und Tausende von Menschen, oder 10,000 Spinnen, Raupen und sonstige Seiler von Natur, die dabei aber keinen einzigen solchen wollenen Faden zu Stande bringen.

Er dreht zunächst mit seinen unermüdlichen Eisenarmen ein eisernes Rad von 25 Fuß Durchmesser, dessen Peripherie jede Stunde 20 Meilen Raum in Kreisform zurücklegt. Das Rad greift halb aus dem Maschinenraume durch die Wand in andere Localitäten hinein, und bewegt dort einen verticalen Schaft, welcher einen ungeheuern Lederriemen um sich herumreißt. Dieser Lederriemen vertheilt nun, über andere Schafte rasend, die aus den Kohlen gefeuerte Hundertpferdekraft durch verschiedene Säle und Räume, wo er unzählige Schafte und Achsen und Spindeln und Rollen in ewiger, sicherer, kaltblütiger, aber reißender Geschwindigkeit spinnend um sich selber herumschwirrt. Diese rohe, riesige, blinde Hundertpferdekraft dreht nun, so vertheilt, 10,000 Spindeln, die jede mehr und besser arbeiten, als die fleißigsten Bauermädchen in den Zeiten, „wo Bertha spann.“

Ist das nichts, hundert Pferdekräfte, die Millionen Jahre unter der Erde schliefen, in 10,000 meisterhafte, nie ermüdende Spinnerinnen zu verwandeln? Und dazu noch die Selbst-Controle! Um diese gehörig zu würdigen, müssen wir bedenken, daß es keine Möglichkeit gibt, Kraft zu schaffen. Alle mechanischen Bewegungen sind blos verschiedene Formen vorhandener Kräfte. Dieses können zusammengepreßt, zurückgehalten und in Explosionen u. s. w. entladen oder in gleichmäßigem Strome fortgepflanzt, aber niemals durch irgend eine mechanische Einrichtung selbst erzeugt oder nur vermehrt werden. Die hundert Pferdekräfte waren in die Kohlen verpackt und vor Millionen Jahren aus Luft, Wasser und sonstigen Bestandtheilen, aus denen sich die später zu Kohlen zusammengepreßten Wälder bildeten, hineinbegraben worden. Das Feuer macht die hundert Pferdekräfte zu Dampf. Dieser dreht 10,000 Spindeln. Vielleicht kann er noch mehr drehen, aber zuletzt würde ein Stäbchen kommen, federleicht an sich, jedoch stark genug, die ganzen 100 Pferdekräfte zu brechen, wie man vom beladen Kameele sagt, daß eine Feder mehr auf seinem Rücken es niederdrücken würde.

Die thätigen 100 Pferdekräfte sind unter 10,000 Spindeln vertheilt. Von diesen müssen zuweilen mehrere auf einmal außer Thätigkeit gesetzt werden, um volle abzunehmen und neue einzustellen. Die so gesparte Kraft geht sofort auf die anderen über, und dreht diese schneller, so daß die Fäden reißen oder zu stark gedreht werden. Auch wird zuweilen zu viel Futter auf einmal in den Rachen des Riesen geschüttet, so daß der erhöhte Verdauungs- oder Verbrennungs-Proceß zu viel Hitze, zu schnelle Bewegung der Spindeln überhaupt, d. h. zu starke Fäden und „reißendes Abgehen“ derselben bewirkt.

Deshalb ist Regulirung und Regelmäßigkeit der Bewegung just in solchen Spinnmaschinen von größerer Wichtigkeit, als in andern. Der gewöhnliche rotirende Regulator, der, wenn’s zu arg wird, seine centrifugalen Kugeln ausbreitet und so, wenn’s schon zu arg geworden, den Schuß der Bewegungen etwas hemmt, ist nicht zuverlässig und fein genug für die feinen Wollenfäden. Die Controle muß eine so feine und empfindliche sein, daß jede nur erst drohende Unregelmäßigkeit gleich im Keime erstickt und der gewaltigsten Ueberkraft durch eine aus dieser selbst erwachsende Gegenkraft ein solcher Hemmschuh angelegt wird, daß Kraft und Gegenkraft sich ausgleichen und die Maschine gleichmäßig fortwirkt, als wenn gar nichts vorgefallen wäre. Einen solchen Gouverneur über den Dampfriesen haben die Herren Child und Wilson erfunden und ihm den patentirten Namen „Differential-action Governor“ gegeben.

Was ist dieser „Differential-Actions-Gouverneur“ für ein Kerl? Wie ich ihn bei Mr. Blake wirken sah, kam er mir vor, wie der vollkommenste und feinfühlendste Weise. Er besteht aus einem gezahnten Triebel mit einem gezahnten Rack auf jeder Seite. Die Zähne jedes Racks greifen in den Kamm oder die Zähne des Triebels [337] ein. Der eine Rack den wir A nennen wollen, steht so mit dem bekannten Centrifugal-Regulator in Verbindung, daß er, je nach dessen Schnelligkeit der Drehungen, den Triebel auf einem Central-Zapfen dreht. Zugleich wirkt er so auf ein Ventil unterhalb, daß er Wasser in einen Druck-Cylinder unterhalb einströmen läßt und letzteren entweder über oder unter eine Kolbenplatte (einen breiten Stempel) bewegt. Das Wasser strömt aus einer oberhalb angebrachten Cisterne und wirkt auf die Kolbenplatte mit hydrostatischem Druck, dessen Gradationen ein immerwährendes Fallen und Steigen dieses Kolben bewirken. Dieser endet oben unter dem zweiten Rack, den wir B nennen wollen und der ebenfalls auf den gezahnten Triebel wirkt. Letzterer befindet sich auf dem Hebelgriff der Dampfklappe, die man an Locomotiven, wie ich glaube, Schnarchventil zu nennen pflegt, und schließt oder öffnet dieses Ventil und läßt Dampf ein oder schließt ihn ab von dem großen Dampf-Cylinder, je nachdem er steigt oder niedergedrückt wird.

Die Differential-Action dieses Gouverneurs besteht nun im Wesentlichen darin, daß, wenn Rack A sich niederbewegt, ohne B zu stören, sich der Triebel auf Rack B wirft und das Schnarchventil verengt, oder daß, wenn Rack B aufsteigt, ohne A zu bewegen, sich B auf Rack A wirft und das Schnarchventil schwächt, oder daß A und B gleichmäßig auf- und absteigend den Triebel auf dem Zapfen drehen und das Schnarchventil weder öffnen noch schließen. Der Druck abwärts des Regulators wirkt auf Rack A, der Druck aufwärts des Wassers auf Rack B. Dies bewirkt die eigentliche Differential-Action. Sobald die Geschwindigkeit der Bewegung des großen Triebrades nur im Geringsten einen Ansatz zur Beschleunigung nimmt, bewirkt dieser Apparat sofort die nöthige Ausgleichung durch Abschließung des Ueberschusses von Dampfkraft. Die beiden Racks wirken auf das Ventil einzeln oder zugleich in entgegengesetzten Richtungen, so daß die Bewegungen des Ventils sich in der That nach dem Unterschiede, der „Differenz“, zwischen hydraulischem Druck und der (Zentrifugalkraft der Regulirungs-Kolben (oder Flügel) richten, d. h. also durch „Differential-Action.“

Dies ist, so weit es mit Worten für eine allgemeine Vorstellung gesagt werden kann, die Einrichtung, wodurch die Herren Child und Wilson den gigantischen, unbeugsamen Dampf-Titan nöthigen, sich auf das Feinste und Gleichmäßigste selbst zu controliren.

In meiner Gegenwart wurde auf einmal 24 Pferdekraft in den Spindeln außer Thätigkeit gesetzt, ohne daß das große Triebrad seine 25 Drehungen per Minute nur um eine Secunde beschleunigte. Die 24 für den Augenblick ausgespannten Pferdekräfte fanden einstweilen hinreichende Beschäftigung, den hydraulischen Druck zu der entsprechenden Verengerung des Schnarchventils zu nöthigen.

So viel über einen der feinsten und zugleich mächtigsten Apparate an der Dampfmaschine. Männer von Fach werden sich aus der allgemeinen Skizzirung desselben ein bestimmtes Bild, eine Zeichnung machen können. Für uns Laien reicht die interessante Thatsache als solche hin. Der Differential-Actions-Gouverneur hat die 100 Pferdekräfte mit feinster Hand so in der Gewalt, daß sie nicht nur das Triebrad und die 10,000 Spindeln in stets gleicher Bewegungsgeschwindigkeit erhalten, sondern auch den Zeiger einer Uhr so drehen, daß man dieser mehr glaubt, als den expreß zur Zeitangabe gehaltenen Taschenuhren. Gewissenhaftere Selbstbeherrschung kann man von einem so gewaltigen Burschen kaum erwarten.





Sclavenhandel in Amerika.
Nr. 1.
Die Strafe auf Negerhandel und deren Folgen. – Wer handelt mit Sklaven? – Palmöl und Elfenbein. – Capitalumsatz. – Kosten und Ertrag einer Sclavenschmuggelfahrt. – Die Perle der Antillen und wie dort Sclaven hereingepascht werden.


Es ist eine durch statistische Nachrichten erhärtete Thatsache, daß in den Gegenden, wo blos Zucker, Kaffee, Reis und Baumwolle erzeugt wird, die mit dieser Arbeit beschäftigten Neger ein verhältnißmäßig nur kurzes Dasein genießen, denn die Arbeit ist sehr hart und anstrengend und das Klima außerordentlich ungesund. So sterben in jenen Himmelsstrichen immer mehr Nigger, als geboren werden. Dies ist besonders auf der Insel Cuba der Fall, wo die Sclaven übermäßig zur Arbeit angehalten werden. Allein auch in den zu den nordamerikanischen Freistaaten gehörigen Staaten Louisiana, Mississippi, Georgia, Florida und Alabama ist die Sterblichkeit außerordentlich groß und daher überwiegt auch hier die Zahl der Gestorbenen die Zahl der Geborenen bei weitem. Wenn deshalb diese Staaten in ihrer Zucker- und Baumwollenproduction nicht gehemmt sein wollen, wenn am Ende die ganze Negerbevölkerung nicht auf ein Minimum beschränkt werden oder gar aussterben soll, so müssen Sclaven importirt, es müssen frische Truppen in’s Feld gestellt werden, welche die abgegangenen ersetzen. Woher soll man nun aber diese Ergänzungsarmee bekommen?

Der natürlichste Weg ist der, sie von da zu holen, wo man die ersten Neger geholt hat, nämlich von Afrika. Allein England hat es nach vielen Unterhandlungen und Mühen dahin gebracht, daß alle sclavenhaltenden Staaten (Amerika, Spanien und Brasilien) einen Vertrag mit ihm abschlossen, nach welchem der Sklavenhandel mit Afrika gänzlich sistirt sein soll. Es hat es so weit gebracht, daß verschiedene Staaten – worunter auch Amerika – übereinkamen, Kriegsschiffe an der Küste von Afrika kreuzen zu lassen, um den Sklavenhandel mit Gewalt zu verhindern und denselben für die Zukunft zur Unmöglichkeit zu machen. Es hat es sogar so weit gebracht, daß der Sklavenhandel, der Export von Schwarzen aus Afrika, eben so gestraft werden soll, wie Seeraub und Piraterie, d. h. mit dem Tode durch den Strang. Sollte man nun nicht meinen, das System der Sclaverei müßte, wenn diese Verträge richtig eingehalten werden, nach und nach einen Stoß erleiden, von dem es sich nicht mehr erholen könne? Sollte man nicht überzeugt sein, daß das Sclaveninstitut nach und nach ganz aufhören müsse, wenn die vorhandenen Sclaven aussterben und keine neuen an ihre Stelle gebracht werden können? Gewiß sollte man so denken und gewiß war es auch die Absicht Englands, durch jene Verträge diesen Zweck im Laufe der Jahre zu verwirklichen. Es wollte offenbar die Sclaverei ganz aufhören machen, ohne daß diese deshalb in den sclavenhaltenden Staaten durch ein besonderes Gesetz aufgehoben zu werden brauchte. Allein die Absicht ist nicht erreicht worden und die Sklavenhalter auf Cuba und in der Union haben sich trotz dieser Verträge zu helfen gewußt.

Es geschah dies und geschieht dies noch auf zweierlei Weise. Einmal durch Umgehung jener Verträge, dadurch, daß man mit Sclavenzufuhren aus Afrika Schleichhandel treibt, das andere Mal dadurch, daß man im Lande selbst eine Art künstlicher Ueberproduction erzeugt, indem man sogenannte Niggerzüchtereien anlegt, gerade so, wie man an anderen Orten Schweine- und Pferdezüchtereien angelegt hat.

Betrachten wir uns zuerst den Niggerschmuggelhandel mit Afrika.

In früheren Zeiten, am Ende des vorigen Jahrhunderts, als der Negerhandel noch offen betrieben wurde, war er fast ganz in den Händen der Engländer. Allerdings betheiligten sich auch Franzosen und Spanier dabei, allein die Engländer überflügelten Alle sowohl durch ihren größeren Unternehmungsgeist, als auch durch die Schnelligkeit ihrer Schiffe. Seit dieser Handel als Seeraub mit dem Tode bestraft wird, läuft kein Sclavenschiff mehr aus einem europäischen Hafen aus. Wohl würde es in der alten Welt vielleicht auch jetzt noch manchen Schiffscapitain geben, der sich nichts daraus machte, einmal auf den Schwarzwildpretfang auszufahren, und noch weniger würde sich vielleicht ein reicher Kaufherr in Hamburg oder London geniren, seine Gelder im Niggerhandel anzulegen, wenn’s nur irgend anginge. Allein in den europäischen Häfen ist die Aufsicht über die Schiffe, die Controle derselben so groß und genau, daß eine Täuschung der Behörden fast zur Unmöglichkeit geworden ist. So hat sich dieser Handel ganz nach Amerika und hier wiederum hauptsächlich auf die nordamerikanischen Freistaaten zurückgezogen, von wo aus er aber immer noch ziemlich schwunghaft betrieben wird. [338] Zwecke erfunden haben, nämlich sogenannte Clipper. Diese Schiffe sind allerdings nicht so sicher, als die andern Segelschiffe, aber sie segeln um so schneller, und auf die letztere Eigenschaft kommt bei einem Sclavenschiffe das Meiste an. Das Geld zu ihrer Erbauung oder zu ihrem Ankauf liefern ohne alle Ausnahme Amerikaner, – Kaufleute von Newyork und Boston oder sonstigen Seestädten, nicht selten auch Großhändler, die ein Haus in Havanna haben. Diese Kaufleute haben durchweg eine angesehene, Credit genießende, in ehrenwerthem Klange stehende Firma, die Chefs der Firmen gehören vielleicht, sogar sehr wahrscheinlich, der frömmsten puritanischen Methodistensecte an, sie sind ohne allen Zweifel Mitglieder derjenigen politischen Partei, welche nach der Emancipation aller Schwarzen strebt und Gut und Blut für die Aufhebung der Sclaverei zu opfern schwört, sie haben vielleicht erst vor Kurzem bei einer großen öffentlichen Versammlung eine donnernde Abolitionistenrede gehalten; aber – mit Vergnügen geben sie ihr Geld her zum Ankauf und zur Ausrüstung eines Sclavenschiffes; denn im Handel kennt der Amerikaner weder Religion noch Politik und gegen einen guten Profit riskirt er immer eine doppelte Portion Frömmigkeit.

Natürlich ganz offen wird der Handel nicht getrieben, die Kaufmannsfirma wird nicht genannt, das Schiff wird in einem Hafen clarirt, der mit dem Sklavenhandel nichts zu thun haben kann, die Ladung, welche das Schiff eingenommen, ist eine ganz unschuldige; denn die zum Niggerhandel brauchbaren Waaren, die zum Transport von so viel hundert Sclaven nöthigen Wasserfässer, die für die kleine Mannschaft unverhältnißmäßig große Menge von Mundvorräthen, die Handschellen, Ketten und dergleichen sind im untersten Schiffsräume verborgen und mit anderen Waaren überdeckt, bis man sie auf hoher See ohne Gefahr auf’s Deck schaffen kann. Allein trotz dieser Heimlichkeit ist der ganze Handel das, was man ein öffentliches Geheimniß nennt, und jedes auch nur wenig mit den Verhältnissen vertraute Haus weiß, wohin es sich zu wenden hat, wenn es über ein Sklavenschiff Auskunft haben oder ein dazu taugliches Schiff selbst ankaufen will. Die Makler, die in diesem Artikel Geschäfte machen, sind Jedermann bekannt; die Handlungshäuser, welche zu solchen Geschäften Geld hergeben, sind ohne alle Schwierigkeiten zu finden, und die Capitaine, Supercargos und Matrosen, die man nöthig hat, haben ihre eigenen Abstandsquartiere, wo man sie zu jeder Zeit auftreiben kann. Das Geschäft ist ein ganz so regelmäßiges, wie jedes andere Rhedergeschäft, nur ist das Aushängeschild kein offenes. Man gesteht vielleicht ohne Scheu, daß man nach und von der Küste von Afrika Handel treibe, aber man gibt sich den Anschein, als ob man „in Palmöl und Elfenbein mache.“ Elfenbein und Palmöl werden auch von der afrikanischen Küste geholt; deswegen sind diese zwei Artikel die beste Bemäntelung des Sklavenhandels.

Man hat berechnet, daß im Durchschnitt jährlich 45 bis 50 Schiffe aus den Häfen des östlichen Amerika auf den Sklavenhandel auslaufen; eben so viel vielleicht aus dem Hafen von Havanna, aber auch hier blos amerikanische, keine spanischen Schiffe. Jedes Schiff hat eine Mannschaft von 15 bis 30 Matrosen, und die Bemannung der ganzen Sclavenflotte besteht aus etwa zweitausend Mann, ohne die Officiere. Die Schiffe sind von verschiedener Größe, meist von 100 bis 500 Tonnen Gehalt und ohne Unterschied schnelle Segler. Sie fassen 150 bis 600 Neger, da man auf eine Tonne Gehalt etwa 1 1/3 Neger rechnet. In neuester Zeit hat man sogar Dampfschiffe zum Sklavenhandel angekauft, welche allerdings den Vorzug haben, daß sie schneller fahren, als die Segelschiffe, und deswegen den Kreuzern an der afrikanischen Küste leichter zu entgehen vermögen. Können sie doch vermöge ihrer Dampfkraft auch bei contrairem Winde ihre Richtung beibehalten und ihre zwölf Meilen in der Stunde zurücklegen. Allein sie sind dennoch nicht so beliebt, als die Clipperschiffe, weil sie wegen ihres Tiefganges nicht in jede Bucht der afrikanischen Küste einlaufen können und weil ihre Ausrüstung und ihr Ankauf mehr Geld kostet. Auch ist die Abfahrt eines Dampfers immer von größerem Aufsehen begleitet und der Zweck seiner Fahrt, sowie die Zeit des Abganges können nicht eben so leicht bemäntelt werden, als bei einem Segelschiffe. Dieser letztere Punkt ist noch entscheidender, als der Geldpunkt, denn an Capitalien fehlt es nicht. Beträgt doch das Geld, das alljährlich im Sclavenhandel angelegt wird, über vier Millionen Dollars, mehr als zehn Millionen Gulden, nicht ganz sechs Millionen preußische Thaler! – Alles dies sind statistische Notizen, die öffentlich in den Zeitungen nachgewiesen werden, ohne daß irgend Jemand besonders daran Anstoß nimmt. Im Gegentheil, Viele finden den ganzen Handel natürlich und in der Ordnung, weil sie die Sclaverei für naturgemäß halten. Man hat also größtentheils von Seiten der öffentlichen Meinung gegen den Handel an sich nichts einzuwenden, sondern schüttelt blos mit dem Kopfe, wo sich einer über dem verbotenen Schmuggel hat ertappen lassen.

Und doch hat es nie einen schmählicheren Handel gegeben, als diesen, vielleicht aber auch nie einen profitableren! Die Neger werden an der Küste Afrika’s entweder von Zwischenhändlern, oder auch von den ersten Inhabern erworben. Es gibt nämlich eine Menge Staaten und Stätchen an dieser Küste, in welchen Sclaven zu haben sind, da dieser Verkauf fast das einzige Einkommen der dortigen Fürsten ist. Früher in alten Zeiten wurden die Kriegsgefangenen aufgefressen, nunmehr werden sie verkauft! Der Ankaufspreis schwankt zwischen 15 und 20 Dollars, besteht aber meist nicht in baarem Gelde, sondern in Flinten, die keinen Werth haben, in Spiegeln und sonstigem Flitterkram, der immer unsinnig hoch über seinen wahren Werth angesetzt ist. Der Unterhalt der Neger auf dem Schiff ist ein sehr kärglicher und besteht meist nur aus Bohnensuppe mit etwas Pökelfleisch. Die neu erworbenen Sclaven werden gefesselt und so nah auf einander aufgestapelt, daß sie sich kaum rühren können, Ohnehin ist das Zwischendeck, in welches sie gesperrt werden, so niedrig, daß dieselben nicht nur nicht stehen, sondern kaum sitzen und liegen können. Einem Neger wird nur der Raum von sechs Fuß Länge und drei Fuß Breite gestattet. Diese entsetzliche Zusammenspeicherung einiger hundert Menschen in einem niederen dumpfigen Raume, in welchem kaum der vierte Theil mit Anspruch auf Gesundheit existiren könnte, erzeugt nothwendig Krankheiten aller Art, und man darf daher als sichere Norm annehmen, daß ein Dritttheil der zu importirenden Sclaven auf der Fahrt zu Grunde geht. Oft beträgt der Verlust die Hälfte; ist er aber nur ein Viertheil oder gar noch weniger, so ist die Fahrt eine außerordentlich günstige. Allein trotz dieser großen Verluste ist der Profit immer noch ein ungeheurer, – ein solcher, daß es uns nicht mehr wundern kann, wenn die frommen und scheinheiligen Puritaner Neuenglands demselben nicht zu widerstehen vermochten!

Berechnen wir einmal die Kosten einer solchen Sclaveneinfuhr- Schmuggelfahrt, Nehmen wir dazu das Dampfboot Pajano del Oceano, das vor noch nicht langer Zeit von einer Gesellschaft von Kaufleuten, die sich zum Sclavenhandel associirt haben, angekauft wurde. Das Schiff ist in Boston gebaut. Es hieß früher Oceanbird, der „Seevogel,“ und machte seiner Zeit manche Fahrt nach Havanna. Die frommen Kaufherrn, die es um die Summe von 150,000 Dollars ankauften, tauften es ins Spanische um, weil sie in Havanna eine Commandite hatten. Rechnen wir nun weiter. Der Capitän, der natürlich nicht blos ein erfahrener Seemann, sondern auch insbesondere ein mit der Küste Afrika’s vertrauter Seefahrer sein muß, ein Mann, von dem vorauszusetzen ist, daß er Kopf und Auge auf dem rechten Flecke hat und mit toller Verwegenheit eine totale Verachtung aller bestehenden Gesetze verbindet, – denn wenn er gefangen wird, so steht Todesstrafe auf seinem Gewerbe, – der Capitän rechnet für seinen Antheil 20,000 Dollars, die ihm unter allen Umständen ausbezahlt werden müssen. Das Schiffsvolk mit den Unterofficieren kostet 30,000 Dollars, denn Matrosen, die sich zu einem solchen Unternehmen hergeben, müssen gut bezahlt werden, und selten bekommt der Geringste unter 500 Dollars für die Fahrt. Der „Seevogel“ ist übrigens so groß, daß er 2500 Sclaven fassen kann, denn es hatten ja früher fünfhundert Passagiere auf ihm Platz, und in den Raum, welchen ein gewöhnlicher Passagier einnimmt, bringt man bequem fünf Neger. Der Ankauf dieser Schwarzen mit ihrer Verproviantirung sammt den übrigen Kosten der Ausrüstung, als Kohlen, Wasserfässer, Rum u. s. w. soll 40,000 Dollars betragen, was ziemlich hoch gerechnet ist. Dazu kommen dann noch die Gratifikationen, die man an die Beamten der Küste zu zahlen hat, an welchen die Neger gelandet werden sollen, denn nur ums Geld ist die Gerechtigkeit blind. Diese sollen 50,000 Dollars betragen, zwanzig Dollars für den Kopf, was der gewöhnliche Preis ist. Für unvorhergesehene Ausgaben rechnen wir weitere 10,000 Dollars. Dies macht summa summarum: 300,000 Dollars. Diese 300,000 Dollars waren also nöthig, um den Seevogel auszurüsten, und dafür 2500 Stück Sclaven in Empfang zu nehmen. Von diesen 2500 Schwarzen werden fünfhundert während der Fahrt zu Grunde gegangen [339] sein. Wir werden wohl nicht mehr rechnen dürfen, weil das Schiff als Dampfer die Reise in ungewöhnlich kurzer Zeit zurücklegen konnte. Es bleiben also 2000 Neger zum Verkaufe. Der Preis für das Stück ist im Durchschnitt zum Mindesten 750 Dollars, eher mehr als weniger. Die ganze Erlössumme beträgt also 1,500,000 Dollars. Ziehen wir nun hiervon das Anlagecapital ab, so blieben als Reinprofit immerhin noch 1,200,000 Dollars, wenn (woran nicht zu zweifeln Alles glücklich ablief. Ist um solchen Preis nicht schon Etwas zu wagen? Im Durchschnitt berechnet man, daß die 4 Millionen Dollars, welche jährlich von Nordamerikanern im Sclavenhandel angelegt werden, die hübsche Summe von 11 Millionen eintragen, und schon mancher Kaufmann ist, nachdem er ein paar Jahre Sklavenhandel getrieben, so immens reich geworden, daß er das Geschäft als Millionär aufgeben konnte. Hat Einer aber einmal in Amerika des Geldes genug erworben, so fragt kein Mensch danach, wie er es erworben hat; der Mann steht im Gegentheil im höchsten Ansehen, weil er so viel erworben hat! Läßt er sich sodann etwa noch herbei, einen Theil dieses Blutgeldes, nur wenige tausend Thaler, davon, zu einer milden Stiftung, oder noch besser zu einem Kirchenbau oder dergleichen zu verwenden, so steigt sein Ansehen so sehr, daß er ohne allen Zweifel unter die Heiligen versetzt würde, wenn er nicht zufälligerweise Akatholik wäre.

Wegen des Absatzes der Waare darf ein Sclavenhändler nie in Verlegenheit sein. Dieser Artikel ist immer gesucht und sogar so gesucht, daß man die Nachfrage darnach nie ganz befriedigen kann. Man darf nie wie bei andern Waaren in Furcht sein, die Concurrenz möchte die Preise herabdrücken; im Gegentheil, die Preise steigern sich mit jedem Jahr, je mehr die Zuckerplantagen sich ausdehnen. Die Hauptabsatzquelle ist Cuba, die Perle der Antillen, wie sie gewöhnlich genannt wird. Sie steht allerdings unter spanischer Herrschaft (nicht unter nordamerikanischer); aber nur um so leichter ist es eben deswegen, die Sclavenwaare dort zu landen. Denn die Generalcapitäne, d. i. die Gouverneure von Cuba, nebst der sämmtlichen übrigen Beamtenwelt, drücken gegen eine bestimmte Summe Geldes recht gern ein Auge, oder vielmehr beide Augen zu. Der Generalcapitän besitzt vielleicht so viel Schicklichkeitssinn, die Bestechungssumme nicht selbst in eigener Person in Empfang zu nehmen, um so sicherer aber thut’s sein Secretär, sein geheimes Factotum, und dem Handel wird demnach keinerlei wirkliches Hinderniß in den Weg gelegt. Alles, was dagegen geschieht, ist nur zum Schein, nur um die Wachsamkeit der Engländer zu täuschen. Darin liegt auch der Grund, warum noch jeder Generalcapitän von Cuba nach wenigen Jahren ein reicher Mann geworden ist! Die Hauptlandungsplätze auf Cuba sind übrigens nicht Havanna, die Hauptstadt der Insel und deren erster Seehafen, denn hier liegen immer fremde (englische und französische) Kriegs-Schiffe, – sondern ein Paar entferntere Buchten: Sierra Morena und Sagua la Grande. Hier können Kriegsschiffe, die immer einen ziemlichen Tiefgang haben, nicht landen. – Das Handlungshaus, dem das Sklavenschiff gehört, hat natürlich seinen Agenten am Lande. Dieser steht mit den hauptsächlichsten Landsclavenhändlern der Insel in genauester Verbindung, Dem sich nähernden Schiffe wird durch Feuer und Raketen ein Zeichen gegeben, wann es sich ungefährdet in die Bucht wagen darf. Die Neger werden im Augenblick der Landung ausgeschifft. Der Händler ist parat und zahlt baar aus, oder in guten Wechseln. Eine Stunde darauf sind die Schwarzen schon ins Innere transportirt und auf ein paar großen Plantagen untergebracht, denn die Plantagen-Besitzer stehen alle mit den Händlern im Bunde, weil ihnen daran liegen muß, immer neue, frische Waare zu bekommen. Er hält dann ein englischer Kreuzer auch Wind davon, daß ein Sklavenschiff gelandet sei, so bleibt ihm nichts, als das Nachsehen, denn die Neger sind verschwunden und können nicht mehr aufgefunden werden. In unglaublich kurzer Zeit haben sich für Alle, junge wie alte, männliche wie weibliche, stabile Herren gefunden. Das Bedürfniß nach kräftigem Menschenfleisch ist auf jeder Plantage groß und die Händler haben immer schon vor der Ankunft eines Schiffes Auftrag zum Ankauf von so und so viel Rekruten.

Uebrigens ist nicht blos Cuba der Zielpunkt des Sclavenschmugglers. In die Union oder vielmehr die südlichen Staaten derselben werden ebenso gut afrikanische Neger importirt, und man berechnet die jährliche Einfuhr dahin von Afrika aus auf mehr denn 15,000 Stück. Die Hauptstapelplätze sind Florida, das wegen der Nähe der gegenüber liegenden Insel Cuba besonders gut geeignet ist (denn es gehört nur eine Fahrt von wenigen Tagen dazu, um Sclaven aus einem Hafen von Cuba herüberzubringen), und Louisiana, d. i. jener Theil der Küste, welcher westlich von Neworleans an dem Ausfluß der Sabina sich hindehnt. Auch die Mündung des Pearlflusses im Staate Mississippi wird von Sclavenschiffen oft besucht, und nicht selten zeigen dies die Zeitungen ganz offen und ungenirt an. Früher, vor 1845, als Texas noch nicht zu den Vereinigten Staaten gehörte, wurde der Handel noch viel schwunghafter betrieben, da die Bucht an der Grenzscheide von Texas und Louisiana besonders einladend zur Einfahrt für Sclavenschiffe lag. Damals brachte der Import fast gar keine Gefahr, da die Schmuggler in dem unabhängigen Texas stets eine sichere Zuflucht fanden. Aber auch jetzt noch sieht die Sache ernster und gefährlicher aus, als sie wirklich ist; denn wenn anders die Plantagenbesitzer mit den Händlern einverstanden sind und daran ist fast nie zu zweifeln, weil die „frische" Waare wohlfeiler gegeben werden kann, als die im Lande gezogene), so ist an eine Abfassung, eine Einfangung eines Sclavenschiffes mit seinem Inhalt kaum zu denken. Dem Auslande gegenüber behaupten allerdings die Nordamerikaner, daß der Handel mit importirten Sclaven gänzlich aufgehört habe, allein es bedarf blos einer kurzen Reise in die südlichen Staaten und nur einiger Beobachtungsgabe, um die Unwahrheit dieser Behauptung sogleich einzusehen; denn man heißt im Süden ganz allgemein die frisch importirte Waare: „Guineanigger“ zum Unterschied von der im Inlande gezogenen, und in Mississippi, Alabama, Louisiana u. s. w. ist fast keine Plantage, wo nicht wenigstens einige Guineanigger anzutreffen wären. Die Bewohner des „rothen Flusses" wissen vielleicht hiervon noch mehr zu erzählen!

Die Berliner Charité.

Am 1. Januar 1727 wurde von Friedrich Wilhelm I. ein Lazareth eröffnet, welches „als ein öffentliches Werk der christlichen Liebe, Gutthat und Mildthätigkeit“, wie es in der alten Urkunde heißt, den Namen Charité bekam, und seitdem auch beibehielt. Der damalige erste Arzt, Professor Dr. Eller, faßte bereits die höhere, wissenschaftliche Aufgabe der Anstalt folgendermaßen auf: „daß nach dem Beispiele von Paris, London und Amsterdam auch in der Charité allen Medicis und Chirurgis hinlängliche Gelegenheit gegeben werde, sowohl die innerlichen als äußerlichen Curen zu sehen und zu begreifen.“ Dieser doppelten, segensreichen Bestimmung ist das Institut bis zum heutigen Tage treu geblieben, indem es als Heil- und Lehranstalt seinen vorzüglichen Rang behauptet hat.

Die Charité nimmt mit den dazu gehörigen Gebäuden, Gärten und Höfen den vierten Theil einer Quadratmeile ein und ist in der Nähe des Louisenthores gelegen. Wir treten, nachdem wir uns bei dem Portier gemeldet und legitimirt haben, durch das große Hauptthor in die sogenannte alte Charité ein. Was uns zunächst auffällt, ist die fast holländische Reinlichkeit der Gänge und Treppen, welche mit Oelfarbe gestrichen, gebohnt und in der Mitte mit Strohmatten belegt sind. Im Parterre befinden sich die Wohnungen der Beamten und die Büreau’s für die Verwaltung. Im ersten Stockwerk liegen die sogenannten äußeren oder chirurgischen Kranken, welche an Wunden, Knochenbrüchen u. s. w. leiden. Die rechte Seite des Hauses ist für die männlichen, die linke für die weiblichen Patienten bestimmt. Jeder Kranke erhält, wenn es irgend zulässig, bei seiner Aufnahme ein warmes Bad und eine angemessene Kleidung, welche in einem Anzuge von blau- und weißgestreifter Leinwand besteht. Mit jenem Gefühle, das uns beim Anblick der leidenden Menschheit unwillkürlich zu beschleichen pflegt, gelangen wir in einen der großen Säle, welche ungefähr dreißig bis vierzig Betten fassen können. Das Lager besteht aus einer eisernen Bettstelle, einer Roßhaarmatratze nebst Keilkissen und einer warmen Wollendecke. Ueber dem Kopfende befindet sich eine schwarze Tafel, auf welcher mit Kreide der Name des Kranken und seine [340] Krankheit geschrieben steht. Ein Nachttisch dient zur Aufbewahrung der nöthigen Geschirre, ein Bettschirm, um die schweren Patienten von den Uebrigen abzusondern. Zwischen je zwei Sälen liegt die Wärterstube, wo Tag und Nacht die Heildiener sich aufhalten; sie sorgen für die Bedürfnisse der Kranken und zeichnen sich meist durch ihre Erfahrung und Menschenfreundlichkeit aus. Es gibt darunter alte Praktiker, die sich durch eine Reihe von Jahren einen wirklichen diagnostischen Scharfblick angeeignet haben.

Werfen wir einen Blick auf die anwesenden Kranken, so finden wir die verschiedensten Leiden vertreten, von der leichten Wunde bis zum brandigen Geschwür, vom einfachen Knochenbruch bis zur Zermalmung eines oder beider Füsse. Dort der kräftige Mann ist so eben erst amputirt worden; er arbeitete in einer Maschinenanstalt, wo ein Rad ihn am Arme ergriffen. Nur eine Operation konnte ihn vom sichern Tode retten. Einige Schritte von ihm liegt ein Maurer, der beim Bau einen Hauses verunglückt ist. Sein Schädel zeigt bedeutende Verletzungen; er hat daß Bewußtsein verloren, weil ein Knochensplitter oder daß ausgetretene Blut auf die weiche Gehirnmasse drückt, und daß Seelenleben stört. Nur die Trepanation, welche in wenigen Minuten bei ihm angewendet werden soll, kann ihn vielleicht noch retten, und seiner Familie den Ernährer erhalten. Jener bleiche junge Mann, der um den Hals einen Verband trägt, ist ein Selbstmörder, der durch einen Schnitt seinem Leben ein Ende machen wollte. Er hat die Kehle verletzt, und die Nahrungsmittel werden ihm durch eine Gummiröhre eingeflößt, um die Wunde nicht von Neuem aufzureißen. Dazwischen stehen und sitzen Reconvalescenten und Wiedergenesene, die sich unterhalten oder durch Lesen die Zeit zu vertreiben suchen.

Wir steigen noch eine Treppe höher und kommen so in die Station für innere Krankheiten, wo der dirigirende Arzt den Patienten eben seinen Besuch abstattet. Wir schließen uns der Visite an, und haben so die beste Gelegenheit, die Behandlungsweise der Kranken kennen zu lernen. Der Geheimrath tritt in Begleitung eines sogenannten Charitéchirurgen und der versammelten Kliniker an das Bett, und stellt ein genaues Examen an, worauf er das Wesen der Krankheit, die Diagnose festsetzt, und die nöthigen medicinischen und diätetischen Anordnungen trifft, welche von dem Assistenten aufgeschrieben werden. Hierauf wird der Patient einem der anwesenden Studirenden, die wenigstens schon das vierte Semester zurückgelegt haben müssen, zur ferneren Behandlung übergeben, so daß es diesen nicht an praktischer Ausbildung fehlen kann. – Mit allen der Wissenschaft zu Gebote stehenden Hülfsmitteln wird dabei verfahren, kein noch so geringes und unscheinbares Symptom übergangen, das Höhrrohr und die chemischen Reagentien fleißig angewendet, und oft mit bewunderungswürdigem Scharfsinn das verborgene Leiden erforscht und richtig erkannt. Die große Anzahl der Kranken gestattet dem Lernenden, sich eine genaue Kenntniß der verschiedenartigsten Fälle zu verschaffen. Hier sieht er alle möglichen Formen und Stadien, eine Gallerie menschlicher Gebrechen und Qualen.

Wir verlassen die alte Charité, welche ungefähr 800 Betten enthält, um uns nach der neuen zu begeben, welche ein wahrer Prachtbau genannt zu werden verdient. Dieselbe ist von allen Seiten von einer Mauer umgeben und abgeschlossen, außerdem wird sie sorgfältig bewacht, da sie außer den Wahnsinnigen auch noch die kranken Gefangenen enthält. Wer jedoch den heiteren, mit Blumen und Palmen besetzten Flur und die in gleicher Weise verzierten Treppen sieht, der dürfte am wenigsten glauben, daß dies der Aufenthalt des Wahnsinns und der Verbrechen sei. Alles zeigt hier die größte Sauberkeit, welche fast an Eleganz grenzt. Die unteren Stockwerke sind für die Irren und Nervenkranken bestimmt, die oberen für die an ansteckenden Krankheiten Leidenden und für die kranken Gefangenen. Es ist hier viel selbstverschuldetes Elend aufgehäuft, und der Sittenmaler findet ein reiches Material in diesen Sälen. Unter den Wahnsinnigen macht sich in neuester Zeit der religiöse Wahnsinn in seinen mannichfachsten Formen besonders bemerkbar.

Die Irrenanstalt steht unter der Leitung des Geheimraths Ideler, eines der ausgezeichnetsten Aerzte auf diesem Gebiete. Die Seelenheilkunde hat ihm viel zu verdanken, am meisten durch die consequente Anwendung des Turnens und der Heilgymnastik bei Geisteskranken, womit er wahrhaft überraschende Resultate erzielt hat.

In dem sogenannten Pavillon halten sich die angesteckten Männer und Dirnen auf. Wer das Laster in allen seinen Formen und schrecklichen Verheerungen kennen lernen will, der braucht nur eine Wanderung durch diese Räume mit uns zu machen. Hier findet er ein Material, wie es ihm nur selten geboten wird, verlorene Männer und Frauen in allen Stadien, vom ersten Fehltritt an bis zur vollendeten Verderbtheit. Leichtsinn und Verzweiflung, Reue und Verstocktheit wohnen hier dicht beisammen, näher, als es wohl gut sein möchte, aber der Arzt hat es nur mit den leiblichen Gebrechen der Menschheit zu thun. Wer aber heilt die moralischen?

Den traurigsten Eindruck machen die kranken Gefangenen, welche nach ihrer Heilung der Criminaljustiz verfallen sind, und das Krankenhaus nur verlassen, um in den Kerker zurückzukehren. Zu den Leiden des Körpers gesellen sich die der Seele, Gewissensbisse und Furcht vor der Strafe steigern oft ihre Qualen auf das Höchste. Mancher Mörder, der schwer darniederliegt, mag den Tod mit Innbrunst herbei wünschen, und in seinen Fieberträumen ängstigt ihn die Vision des schrecklichen Blutgerüstes, das seiner wartet.

Dicht an die neue Charité grenzen das Pockenhaus und das Choleraspital, zwischen denen die Capelle liegt, wo die Leichen der Gestorbenen ausgestellt und vom Prediger der Anstalt eingesegnet werden.

Ueber einen großen Hof gelangen wir zu dem „Gebärhause“, wo die armen Wöchnerinnen der schweren Stunde ihrer Entbindung entgegensehen. Die innere Einrichtung zeigt von allem möglichen Comfort. Zwei Hebammen und mehrere Geburtshelfer versehen Tag und Nacht den Dienst. Die meisten Schwangeren finden schon vier Wochen vorher Aufnahme und Pflege; so wie sie auch die Sechswochen hier abhalten dürfen. Sie werden mit all der Rücksicht und Schonung behandelt, welche ihr Zustand erheischt. Trotzdem herrscht Jahr aus Jahr ein in diesen Räumen das schreckliche „Wochenfieber,“ welches täglich neue Opfer fordert. Zuweilen greift die Epidemie so stark um sich, daß das Gebärhaus geräumt und sämmtliche Wöchnerinnen entfernt werden müssen. Die Zwischenzeit wird dazu genutzt, durch Lüften der Säle und Weißen der Wände das Contagium zu zerstören, was jedoch nur immer auf kurze Zeit gelingt, da es sich stets von Neuem zu erzeugen scheint. Außer den Studirenden gewährt die Anstalt auch einer Anzahl von Frauen die Gelegenheit, sich zum Hebammendienste auszubilden, und sich hier die nöthigen Kenntnisse zu erwerben.

Vorzugsweise für die Wöchnerinnen, wenn eine Umquartierung derselben erforderlich ist, aber auch für andere Patienten dient das neue Sommerlazareth, welches durch den leichten, luftigen Bau seiner Bestimmung vollkommen entspricht und einen Theil der Kranken während der heißen Monate aufnimmt. Durch diese Einrichtung wird nicht nur ein wohltätiger Wechsel erzielt, sondern auch die Möglichkeit gegeben, die nöthigen Reparaturen in den verlassen Zimmern vorzunehmen. Die Zahl der Betten, welche das Sommerlazareth enthält, beläuft sich auf fünfhundert. Mit diesen Anstalten, welche ausschließlich zur Aufnahme der Kranken dienen, und worin noch einige Beamte wohnen, ist eine Reihe von Wirthschaftsgebäuden verbunden, in denen für die Bedürfnisse der Charité gesorgt wird. Man kann sich ungefähr eine Vorstellung machen, welch’ einen Kostenaufwand die Unterstützung und Verpflegung von mehr als zweitausend Personen täglich verursacht. Diesen Verhältnissen angemessen ist die „Küche“ angelegt, worin ein Koch mit mehreren Gehülfen die Speisen für sämmtliche Patienten und für die Unterbeamten, Wärter u. s. w. bereitet. Unter vier großen Heerden brennt ein mächtiges Feuer. In riesigen Kesseln, von denen jeder ungefähr 1500 Quart faßt, dampft die Suppe und das Fleisch. Auch an Braten fehlt es nicht für die Reconvalescenten, so wie an dem zugehörigen Compot. Die Verpflegung läßt nichts zu wünschen übrig und kein Kranker hat Ursache, sich zu beklagen. Es wird dabei höchst sorgfältig auf die angeordnete Diät Rücksicht genommen, wobei drei verschiedene Grade im Gebrauch sind. Den Fieberkranken wird eine schwächere, den übrigen eine nahrhaftere Kost verabreicht, oft noch durch ein kräftiges Bier oder ein Glas Wein bei Reconvalescenten gewürzt.

Auch das „Waschhaus“ mit seiner Einrichtung verdient unsere Beachtung. Den Kranken fehlt es nicht an frischer Wäsche, da Reinlichkeit häufig die Cur unterstützen muß. Die jährlichen Ausgaben für diesen Verwaltungszweig belaufen sich allein jährlich auf 10,540 Thaler; trotzdem die Wäsche so billig als möglich betrieben wird, so daß 100 Pfund derselben nicht höher als 29 Sgr. und 5 Pfennige zu stehen kommen. Das Waschhaus ist mit einer Dampfmaschine versehen, welche das nöthige warme Wasser und [341] heiße Dämpfe liefert. Außerdem sind noch drei Hausknechte und siebzehn Mägde dabei beschäftigt. Das Auswinden geschieht vermittelst eines eigenen Drehwerkes, welches jeden Tropfen Wasser auspreßt. Die Dampfmaschine wird zugleich zum Spalten und zum Sägen des Holzbedarfes benutzt und zerschneidet in wenigen Minuten eine ganze Klafter desselben. Überall begegnen wir einer anerkennenswerthen Ordnung und Sparsamkeit.

Wenden wir uns von dem Waschhause nach der rechten Seite, so gelangen wir zu einem neuen, eleganten Gebäude, dessen Bestimmung der Leser nur schwer errathen dürfte. Es ist dies das vor kurzer Zeit erst erbaute „Leichenhaus“ mit einer musterhaften inneren Einrichtung. Zum Nutzen der Lebenden werden hier die meisten Todten hergebracht und secirt, um den Grund ihrer Krankheit, die geheimen Ursachen und die organischen Veränderungen zu entdecken.

Die Berliner Charité.

Selbst an diesem Orte begegnen wir einer doppelt merkwürdigen Sauberkeit und Reinlichkeit. Kein unangenehmer Geruch, kein verletzender Anblick beleidigt uns. Es ist Alles aufgeboten, um das Schreckliche zu mildern, das entsetzliche Bild des Todes zu verhüllen. Die Todten liegen in einem kühlen Keller; nur der zur Section bestimmte Leichnam ruht auf einem Tische; durch Zufluß von frischem Wasser werden alle blutigen Spuren sogleich beseitigt. Die zur Untersuchung bestimmten Organe und Materien kommen in das mit dem Leichenhause verbundene Auditorium oder in das physiologische Laboratorium, welches von dem genialen Professor der Pathologie Virchow, geleitet wird. Hier stehen eine Menge von Mikroskopen in einem großen Saale, wo den Studirenden die Gelegenheit geboten wird, sich in derartigen Untersuchungen zu üben und zu vervollkommnen. Damit ist zugleich ein chemisches Cabinet verbunden, wo die organischen Stoffe geprüft und analysirt werden. Auf diese Weise steht selbst der Tod im Dienste des Lebens und der Wissenschaft; die Zerstörung muß zur Wohlthat werden und bereichert den Schatz unserer Erkenntniß. Nur zuweilen wird das Leichenhaus ein Schauplatz des Grauens und der Furcht, da es auch zur Aufbewahrung der Ermordeten und zur Ausstellung unbekannter Selbstmörder und Verunglückter dient. Hier findet die Mutter ihr vermißtes und ertrunkenes Kind wieder und wirft sich jammernd über die kleine Leiche; oder jene arme Frau, der das Elend aus den eingesunkenen Augen und den hohlen Wangen schaut, erkennt unter den Todten nach ängstlichem Suchen den Körper ihres Mannes, der sich vor Verzweiflung, weil er nicht länger die Noth der Seinigen ertragen konnte, mit einem Pistolenschusse das Gehirn zerschmettert hat.

Hier steht der Mörder seinem Opfer gegenüber und zittert, wenn er die blutige Wunde sieht, die ihn laut seines Verbrechen anklagt. Er bricht zusammen bei dem Anblick und gesteht seine That, die ihn auf das Blutgerüst führen wird. – Das sind die Mysterien und Tragödien des Berliner Leichenhauses.

Wir haben nur noch einige Worte über die Verwaltung der Charité hinzuzufügen. Die größere Anzahl der Kranken wird hier unentgeltlich aufgenommen und gepflegt. Andere zahlen monatlich einen festgesetzten Beitrag, der zwischen zehn und dreißig Thalern differirt je nach der Classe, in welche sie eingeschrieben zu werden wünschen. Die großen Kosten werden theils von diesen Beiträgen, theils von den Zuschüssen des Staates und der Stadt Berlin, theils aus den eigenen Einkünften der Charité bestritten, welche diese aus ihren Gütern in Schlesien, der Mark u. s. w. und aus frommen Stiftungen und Vermächtnissen bezieht. Immer mehr hat sich die Nothwendigkeit herausgestellt, die medicinische Leitung des Ganzen von der rein finanziellen zu trennen. Die erstere befindet sich in den Händen des geheimen Medicinalraths Dr. Horn, die letztere wird von dem Geheimrath Esse geführt, einem der ausgezeichnetsten Verwaltungsbeamten, dem die Anstalt ihre musterhafte äußere Einrichtung zum großen Theile zu danken hat. Für ihre wissenschaftliche Bedeutung bürgen die Namen Schönlein, Jüngken, Grimm, Ideler unter den älteren Aerzten; unter den jüngeren Virchow, Traube u. s. w. Kaum dürfte in Rücksicht auf zweckmäßige Anordnung, Einrichtung und Leitung ein besseres Krankenhaus in Deutschland existiren, da es Alles in sich vereint, was zur Behandlung der verschiedensten Kranken und Belehrung der Studirenden Noth thut.

Max Ring.




Eine Erinnerung aus dem Jenenser Studentenleben.

Es ist noch nicht so lange her, so galt Jena als eine derjenigen Universitätsstädte, wo das Lied „Frei ist der Bursch“ nicht nur hell und laut durch die Straßen klang, sondern auch seine uneingeschränkteste Wahrheit hatte; wo die blühende Studentenromantik die unbestrittenste Herrschaft behauptete und die gesammte Jenenser Bürgerschaft mit ihren Civilbehörden und Polizeidienern [342] nur der „gehorsame Diener“ der Musensöhne war. Denn diese bildeten einen wohlorganisirten Staat im Staate mit eigenen Gesetzen und eigener Gerichtsbarkeit und „die Philister waren ihnen gewogen meist, denn sie ahnten im Burschen, was Freiheit heißt.“ So hart die Corps gegenseitig oft auch aneinander geriethen, mit welchem Ernst und Gewicht ihre diplomatischen Differenzen auch verhandelt wurden, so oft von dem einen oder anderen auch „Verschiß“-Erklärungen ausgingen und der blutige Zweikampf mehr als einmal die vermeintlich befleckte Ehre repariren mußte: so schaarten sich doch die Jenenser Studenten, welche Farben sie auch trugen und in welche folgenschwere Kämpfe sie auch verwickelt waren, wie ein Mann um das gemeinsame Banner, wenn die studentische Integrität oder Oberhoheit von da oder dorther bedroht war. Wie damals die deutsche Freiheit nur im deutschen Liede, so war die deutsche Einigkeit auch nur bei der studirenden Jugend zu finden.

Es war im Sommersemester 1842, als die deutsche Einheit der Jenenser Studenten wieder einmal in hellen Flammen aufloderte. An einem heißen Julisonntage, nachdem man gegenseitig etwas über den Durst in Lichtenhain dem Safte des Gambrinus zugesprochen, kam es zwischen den Studenten irgend einer Verbindung und den anwesenden „Knoten“ zu einer grandiosen „Holzerei“, bei welcher die letzteren mit blutigen Köpfen heimgeschickt wurden. Die triumphirenden Sieger vergaßen aber die nöthige Vorsicht; zerstreut kehrten sie in die Musenstadt zurück; bevor er nach Hause ging, erzählte der Eine noch auf der „Rose“, der Andere im „Burgkeller“, der Dritte im „Bären“ u. s. w. das Ereigniß des Tages und zog sich dann, wie gewöhnlich, erst spät in die Einsamkeit seines Zimmers zurück.

Unterdessen kochte in dem Gemüthe der geschlagenen Handwerksburschen, die „trauernd tief“, wie Don Diego, in ihrer Herberge beisammen saßen, die Rache; mit der bewußten vereinten Studentenverbindung konnten sie sich nicht messen, das stand fest; sie beschlossen daher, ihr Glück im Einzelnkampfe zu versuchen, der ja auch im berühmten trojanischen Kriege keine verachtenswerthe Rolle gespielt hat. Ein stämmiger, grobknöchiger Schustergeselle übernahm es, heute Nacht noch einen Feind aufzusuchen. Und nicht lange stand es an, so traf er in einer einsamen Straße Jena's einen harmlosen „Fuchs“, der die Farben der siegreichen Verbindung trug. Ohne Weiteres drang er auf ihn ein, versetzte ihm mit seinem gewundenen Stocke eins auf den Kopf, daß er bewußtlos zu Boden fiel, und walkte den Wehrlosen dann noch überdies dergestalt durch, daß er nach einiger Zeit für todt von der Straße aufgehoben wurde. In der That waren seine Verletzungen sehr erheblich und die Aerzte gaben wenig Hoffnung für die Erhaltung seines Lebens.

Mit telegraphischer Eile gelangte schon am frühen Montagmorgen die Kunde von der barbarischen Mißhandlung eines ihrer Commilitonen zum Ohre eines jeden akademischen Bürgers. Die Theilnahme, die sich dem Mißhandelten zuwandte, war eben so allgemein und aufrichtig, als die Erbitterung gegen den Thäter gründlich und ernst war. Sein Name war bekannt; da aber der Träger desselben augenblicklich nicht ausfindig gemacht werden konnte, so ließ man vorläufig sein Wanderbuch auf der Polizei mit Beschlag belegen, nachdem der Fall bei derselben angezeigt und sie zur Fahndung aufgefordert worden war.

Am Montag Vormittag wurden die Collegien nur mit halber Aufmerksamkeit angehört; die sich Begegnenden wußten von nichts Anderem zu reden, als von dem Verbrechen, das in der letzten Nacht begangen worden war.

Am Nachmittage bildeten sich auf dem Markte einzelne Gruppen Studirender, die sich schnell sichtlich verstärkten. Jede Straße und jedes Gäßchen sandte sein Contingent auf den allbekannten Krystallisationspunkt der Musenstadt. Bald war der ansehnlichste Theil der Studentenschaft hier versammelt. Nachdem ein vielerfahrener, die studentischen Interessen getreulich wahrender Altbursche den Anwesenden eröffnet hatte, daß die „Knoten“ heute ihren „blauen“ in Lichtenhain feiern, wo sich der Maleficant sehr wahrscheinlich auch befinde, ward ohne weitere Debatte ein Zug dorthin beschlossen. Man wollte den Uebelthäter eigenhändig der Polizei überliefern.

Ich war noch nicht drei Monate auf der Universität, als dieses Ereigniß zwischen meine stillen Studien fiel. Da der Nachmittag allgemein „geschwänzt“ wurde, so machte ich mir auch keinen Gewissensscrupel, aus dem Colleg zu bleiben, und mein studentisches Bewußtsein hob sich mächtig bei dem Gedanken, auch einmal eine kühne, ritterliche Thai mit ausführen zu helfen. Mit einem riesigen Ziegenhainer bewaffnet, schloß ich mich dem feindlichen Zuge nach dem stillen Dorfe an.

Dasselbe war bald von allen Seiten umschlossen; immer enger zog sich der Kreis der Belagerer, bis sämmtliche „Knoten“ gefangen waren. Nun allgemeiner, aber würdiger Jubel: denn die Studentenschaft war entschlossen, sich bei dieser Angelegenheit durchaus nobel zu benehmen und den Schuhmacher, der dieses Mal auf das unrechte Leder geklopft, ohne ihm ein Haar zu krümmen, der Gerechtigkeit zu überantworten.

Aber leider befand sich der Gesuchte nicht unter den Blaumontagsgesellen von Lichtenhain; jetzt wollte man zwar wissen, daß er irgendwo in einem Keller oder unter einem Dache versteckt sei, allein auch die sorgfältigste Haussuchung ergab kein Resultat. Ein hoffnungsvoller „Fuchs“ lenkte nun die Aufmerksamkeit nach Ziegenhain hin, wo gewiß auch „blauer“ gemacht werde; wenn irgendwo, so müsse der Uebelthäter dort zu finden sein.

Und nun marschirte das ganze studentische Heer über die Saale, Ziegenhain zu, das im milden Glanze der Abendsonne dalag, ohne zu ahnen, welche Macht heranrücke. Noch war aber die letztere nicht in das Dorf eingerückt, als die dort weilenden Blaumontagsgesellen von deren Absicht unterrichtet wurden; obschon von aller Schuld sich frei wissend, floh, wer fliehen konnte, und wem dies nicht mehr möglich war, der verbarg sich in die tiefsten Tiefen der Keller oder verkroch sich hoch hinauf unter das Dach. Die Furchtsamen gehörten sammt und sonders der ehrbaren Zunft der Schneider an und meinten allen Ernstes, die Studenten hätten es auf die totale Vernichtung der „Knoten“ abgesehen.

Bald gelang es, die Meisten aus ihren Verstecken hervorzuziehen, und so verdächtig sich dieselben durch ihr Benehmen auch gemacht hatten, so zeigte es sich doch bald, daß diese Helden der Nadel durchaus schuldloser Natur waren. Man ließ sie ruhig ihres Weges ziehen und war im Begriff, selber wieder nach Jena zurückzukehren, als ein Schneiderlein, um sich bei den „Herren“ Studenten extra beliebt zu machen, mit verschmitzter Miene auf ein Haus deutete, in welchem noch Einer versteckt sei. Der Jubelruf: „Endlich haben wir ihn!“ rang sich unwillkürlich aus der ungeduldigen Brust des studentischen Heeres –, das Haus wurde genau durchsucht und nicht lange, so brachten die Klügsten und Besten der akademischen Streitmacht einen blondlockigen Jüngling als Gefangenen in’s Freie. Aber auch jetzt war der Jubel wieder zu voreilig gewesen und der Gefangene war so unschuldig, als diejenigen, die man so eben hatte frei abziehen lassen; auch er war ein harmloser Schneidergeselle! Und doch war er nicht ganz ohne Schuld, man fand es wenigstens im höchsten Grade anmaßend, daß er sich studentisch trage und die Haare studentisch wachsen lasse. Um nun dem Unmuthe über das vergebliche Fahnden auf den Schuster, der irgendwo in guter Ruhe saß und sein Pfeifchen Tabak dazu rauchte, Luft zu machen und den Tag doch mit irgend einer That zu beschließen, ward der Schneidergeselle verurtheilt, seines widerrechtlichen Haarschmuckes beraubt zu werden. In dem Dorfe, das für den Schneider einen verwandtschaftlichen Namen hat, wurde dem Vermessenen unter lautem Lachen zwar nicht der Bart, aber doch die Locken abgeschoren, wobei man übrigens den Trost hatte, daß durch diese unschmerzliche Operation ihm aus sehr einfachen Gründen nicht geraubt wurde, was durch eine ähnliche einst Simson verlor. Ohne ihm weitere Unbilden zuzufügen, wurde auch der Geschorene entlassen.

Und so begab sich denn die akademische Heeresmacht, ohne große Heldenthaten verübt zu haben, wieder nach Jena zurück, wo man zum Schlusse noch die Gesellenherbergen vergeblich durchsuchte. Die Hoffnung dieses Tages war zu Wasser geworden.

Indeß wachte mehr als ein Auge über die studentischen Interessen. Drei bemooste Bursche, durch die Erlebung vieler Semester bekannt mit den inneren und äußeren Verhältnissen Jena’s, zu alt, um sich mit dem Besuche der Collegien zu befassen und zu jung, um das Staatsexamen zu machen oder sich für eine Anstellung zu bewerben, hatten sich vorzüglich die Aufgabe gestellt, in der „Kneipe“ und auf dem Fechtboden, sowie gegen auswärtige Feinde die Vorkämpfer der Jenensischen Musensöhne zu sein. Zugleich docirten sie den „Füchsen“ gegen ein Honorar von einigen Tonnen Bier, gegen Freihalten auf Reisen, Suiten und anderen ordentlichen und außerordentlichen Gelegenheiten die Regeln des [343] Studentencomments. Diese ehrwürdigen „Häuser“ nun übernahmen es, die Nacht über in der Nähe der Gesellenherberge Wache zu halten, denn dorthin, dachten sie, müsse der Delinquent doch einmal kommen.

Und richtig, als im Osten schon der Morgen zu grauen begann, nahte der Gegenstand der Jenensischen Anregung still und leise sich der bekannten Herberge, um, von Angst und Müdigkeit ermattet, für einige Stunden der Ruhe zu genießen und den folgenden Tag eben so still und leise Jena „Adios“ zu sagen.

„Haben wir Dich!“ herrschten ihm die Bemoosten zu, als er eben im Begriffe stand, sich vor der Herbergsthüre bemerklich zu machen.

Ohne Gegenwehr ließ sich der Arme festnehmen und folgte ihnen wie ein Opferlamm auf die Polizei, die den Bemoosten in geziemenden Ausdrücken für ihre Vigilanz ihren Dank ausdrückte.

Als am Morgen Jena erwachte, hatte es die sorgenerleichternde Satisfaction, den Missethäter in den Händen der Polizei zu wissen, und die Hoffnung, daß das verübte Verbrechen auf eclatante Weise gesühnt werde.

Allein welche Täuschung! – als jene drei Helden im Verlaufe des Dienstags auf der Polizei sich erkundigten, wie es mit dem Delinquenten stehe, ob er eingestanden u. s. w., da hieß es, er sei nicht mehr da, man hätte ihn in der Besorgniß studentischer Excesse mit Verabreichung des Wanderbuches aus Jena verwiesen, d. h. laufen lassen!

„Also laufen lassen?!“ riefen unsere Drei wie aus einem Munde und ihre Gesichter verzogen sich ordentlich in die Länge. „Also laufen lassen – das ist unerhört – das ist abscheulich – das ist niederträchtig – das ist ein kolossaler Verrath an den heiligsten Interessen der Gerechtigkeit, der Menschheit und der Studentenschaft insbesondere; ja, das ist Verrath, Verrath, Verrath!“

Die Polizei hatte dieses Mal allerdings die Klugheit im Stiche gelassen; sie ließ den Missethäter frei fortziehen, um Excesse von Seiten der Studentenschaft zu verhindern, während es der letzteren mit all’ ihrem Aufwande von List um nichts anderes zu thun war, als ihn der Gerechtigkeit zu überliefern und den ordentlichen Gerichten ihren Lauf zu lassen. Durch jene Maßregel warf die Polizei geradezu den gefährlichsten Zunder in die kaum beschwichtigten Gemüther der Studenten.

Am Dienstag Nachmittag wurde kein Colleg besucht, dagegen war der Marktplatz wieder das große Auditorium und Conversatorium der Jenenser Studenten. Das juristische Prakticum über den obschwebenden Fall führte zur einstimmigen Verurtheilung der Polizei. Die Execution des Urtheils sollte noch an demselben Abend stattfinden.

Es mochte gegen neun Uhr sein, als auch unter meinem Fenster der verhängnißvolle Ruf „Bursch ’raus!“ erscholl und gleichzeitig einige Hausburschen auf mein Zimmer mit der Aufforderung stürzten, ihnen auf den Marktplatz zu folgen. Ich wußte nun zwar sogleich, daß ich jetzt mit dem ersten Schritt aus meinem Zimmer zugleich einen Schritt über die Grenzen des akademischen Gesetzes hinausthue; allein so bereitwillig ich sonst auch war, diesem Gesetze Folge zu leisten, so schämte ich mich jetzt, bei der allgemeinen und nicht grundlosen Aufregung dennoch, die feige Legalität vorzustellen und mischte mich willig unter die aufgeregten Massen des Marktes.

„Hast Steine?“ fragte man mich halblaut. Auf meine Verneinung füllte man mir die Taschen mit einigen Händen voll Kieselsteinen.

Noch wußte ich nicht, was dieser Abend bringen sollte, doch fing mir an eine grausige Ahnung aufzugehen und fast wollte es mich reuen, dem revolutionären Rufe gefolgt zu sein. Allein an eine Umkehr war jetzt nicht mehr zu denken; was Student hieß und sich in dieser ereignißschwangeren Stunde noch im Freien befand, das schloß sich, wie ein summender Bienenschwarm um die Königin, so an den Studentenknäuel auf dem Markte und die drei obenerwähnten bemoosten Bursche an. Es wurden nun Befehle ertheilt zum festen Zusammenhalten, und daß ja Keiner den Trupp – in seinem eigenen Interesse – verlassen sollte, – zur Vorsicht, Klugheit u. s. w.

Es war eine mondhelle Julinacht und die einzelnen Teilnehmer des beabsichtigten Attentats waren selbst auf größere Entfernung hin zu erkennen. Man wendete daher die Mützen, die Röcke, verband die Gesichter mit Taschentüchern u. s. w. und war, die Taschen reichlich mit Steinen gefüllt, zum Aufbruch bereit. Da wandelte von den Pedellen der größte im Mondschein daher und rief schon aus der Ferne:

„Im Namen des Prorektors – ich fordere … …“

„Pudel weg!“ riefen die Bemoosten; „Pudel weg!“ hallte der mächtige Chor den Versammelten nach und ein nicht zu verachtender Steinhagel sauste dem würdigen Amtsdiener um den Kopf.

Und jetzt hieß es „Vorwärts!“ Der unwiderstehliche Zug bewegte sich vom Marktplatze gegen das Polizeigebäude. Die Pedells bemühten sich nun in hastiger Eile, dem Schwarm so nahe als möglich zu kommen, ohne gesehen zu werden, um die Namen der Antheilnehmer ausfindig zu machen. Namentlich suchten dieselben bei der Mündung von Seitengäßchen in die Hauptstraße unbemerkt in die Nähe des Zuges zu kommen; denn vor und hinter demselben waren sie nur außerhalb der Tragweite des stärksten Steinwurfs sicher, und konnten natürlich von einer solchen Entfernung aus auch nicht eine einzige Gestalt erkennen. Aber auch die Mündungen der Seitengäßchen wurden durch vorausgesendete Plänkler vermittelst geeigneter Steinwürfe von unberufenen „Aufschnüfflern“ zeitig genug geräumt. Endlich durfte sich in keinem Zimmer der Straße, wo man vorbei kam, ein Licht blicken lassen. Wo es dennoch geschah, hieß es schnell und barsch: „Licht weg!“ und wenn nicht sogleich gehorcht wurde, so fuhr ein unbarmherziges Hagelwetter klingend und klirrend in die Fenster des widerspenstigen Hauses.

Vor dem Polizeigebäude wurde Halt gemacht. Dasselbe zeigte gegen die Straße eine breite, hohe Façade, regelrecht gebaut und, als ob die deutsche Polizei das Licht allein gepachtet hätte, mit vielen hellen Fenstern versehen. Wenn nun der geehrte Leser glaubt, die Studenten würden hier der Polizei wegen des bewußten Falles eine Strafrede halten oder ein Pereat bringen, so irrt er sich; man verfuhr viel summarischer gegen sie: nachdem sich die ganze Schaar auf sicherm Terrain wußte, vernahm man von einem vielbewährten Bierbaß das einzige Wörtchen: „Los!“ und aus hundert und aber hundert Händen flogen hundert und aber hundert Steine wiederholt gegen die polizeilichen Fenster; ein fürchterliches Geschmetter, Geklingel und Geklirre entstand und verschwand sogleich wieder: in der Zeit von kaum einer Minute war das Werk der Zerstörung vollbracht; das Polizeigebäude zeigte nur noch die leeren, nackten Kreuzstäbe.

Das hatte die fürsichtige Jenenser Polizei mit ihrer Maßregel zur Verhütung studentischer Excesse gewonnen!

Da nun dem Faß jugendlichen Uebermuths einmal der Boden ausgegangen war, so wollte man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. „Vorwärts!“ hieß es weiter. Man zog durch die verschiedensten Straßen, um zu den verschiedenen Häusern zu gelangen, auf die es abgesehen war. Da und dort ließ sich ein Licht blicken, das dem bekannten Rufe nicht schnell genug Folge leisten konnte, und da und dort gingen en passant einige Fensterscheiben in Scherben, woran vorher weder Hauseigenthümer noch Studenten gedacht hatten.

Es ist eine alte Geschichte, daß bei allen Völkern, Nationen und Ständen die Amtsdiener, Schuldenboten und Executionsmänner u. s. f. im Allgemeinen in üblem Geruche stehen. Nicht anders ergeht es auch den Pedellen der Universitäten, die den Studenten so manche Freude verkürzen, so manchen lustigen Streich verderben und sie oft mit den allerunangenehmsten Nachrichten und Aufträgen behelligen müssen. Der Mensch ist nun einmal so, daß er selbst dem unschuldigsten Briefboten gram werden kann, wenn der Wechsel später ankommt, als er erwartet hat. Ein gleiches Schicksal hatten auch die Pedelle von Jena. Nachdem der Muth vor dem Polizeigebäude ausgelassen war, wurde noch ihren Wohnungen ein Besuch gemacht. „Los!“ – und wieder traf der furchtbarste Steinhagel die sämmtlichen Fenster des Oberpedells und dann nach kurzen Pausen diejenigen der übrigen Pedelle. Die Wohnungen von zwei in Mißgunst gefallenen Professoren, sowie einige in Verruf befindliche Bierhäuser machten dieselbe Erfahrung. Endlich – Mitternacht war schon vorüber – zog man in festgeschlossenen Reihen vor das Johannisthor, um dort das Weitere zu berathen. Unglücklicher Weise fiel es einem von uns noch bei, daß sich dort ganz in der Nähe das Haus des Universitätssecretairs befinde, eines Mannes, der sich nicht immer in den höflichsten Formen gegen die „Herren Studenten“ benahm. Ihm wurde die letzte Steinsalve gebracht.

Merkwürdig: während des großartigen, furchtbaren nächtlichen Excesses, ausgeübt von etwa dreihundert Studenten, die mit nichts anderm als Steinen bewaffnet waren, hatte sich die ganze Bürgerschaft Jena’s mit all ihren Behörden und Polzeidienern in die tiefste Ruhe gehüllt, ja in die hintersten Winkel verkrochen, und unangefochten [344] verübten die Studenten den nächtlichen Unfug, vor dem sich jede Familie fürchten mußte. Nicht als ob die Bürgerschaft die jugendliche Schaar nicht leicht hätte bewältigen und zur Ruhe verweisen können; allein da in jener Zeit die bürgerliche Existenz Jena’s fast einzig und allein von den Studenten abhängig war, so wollte man auch ihrem übermüthigsten Uebermuthe nicht in den Weg treten, um dadurch nicht etwa die Veranlassung zur Verödung der so blühenden Universität zu werden; man ließ gewähren, weil man wußte, daß Personen doch keinen Schaden nehmen würden; für die Beschädigung des Eigentums hoffte man nicht ohne Grund auf reichlichen Ersatz.

Vor dem Johannisthor wurde unterdessen die wichtige Frage verhandelt, wie nun jeder einzelne Musensohn in seine Wohnung gelangen könne, ohne von dem Pedell abgefaßt zu werden. Die Beantwortung dieser Frage war allerdings höchst schwierig. Während der größten Rathlosigkeit, die sich der kurz zuvor noch so kecken Schaar bemächtigt hatte, machte ein genialer Brandfuchs den trostreichen Vorschlag, in geschlossenen Reihen auf die „Burgkellerkneipe“ zu ziehen, und dort bis zum hellen Morgen zu verharren; von da möge dann Jeder furchtlos nach Hause gehen; wenn er unterwegs auch abgefaßt werde, so bekenne er nichts mehr und nichts weniger, als er hätte sich auf dem „Burgkeller“ über die Polizeistunde hinaus aufgehalten. Dieser Vorschlag beruhte auf dem tiefsinnigen Grundgedanken, daß entweder alle Theilnehmer an den Ereignissen der Nacht haftbar gemacht werden sollten, oder aber keiner. Selbst im schlimmsten Falle war alsdann nicht viel zu befürchten.

Unter Absingung des Liedes: „Wenn wir durch die Straßen ziehen“ etc. begab man sich auf den Burgkeller; ironisch genug klang der Vers:

„Und ich laß die Blicke schweifen durch die Fenster hin und her.“

– Für das Wechseln von Liebesblicken von oben herab und unten hinaus war in der Nacht hinlänglich Raum geschaffen worden! – Im Burgkeller entfaltete sich schon früh ein geräuschvolles Kneipleben, das natürlich den ganzen Tag über auf das Ueppigste blühte. Tische und Bänke wurden nach und nach herausgeschafft, und gegen Nachmittag war der ganze Marktplatz in einen großen Wirthssaal unter freiem Himmel umgewandelt; Studenten aller Farben saßen dort bei Kaffee und Bier in bunter Mischung untereinander, und unterhielten sich darüber, wer den größten Stein in die Fenster des Polizeigebäudes geschmissen, die Pedells am wirksamsten verfolgt habe, sangen Lieder oder bliesen gedankenvoll Rauchwolken in die Luft. Denn nicht nur ich unerfahrener Fuchs allein, sondern auch erfahrenere und ältere Bürger der Universität Jena dachten nicht ohne Sorgen an die Folgen der nächtlichen Fensterkanonade.

Doch ließ sich heute auch nicht ein Pedell sehen. Dagegen stand am schwarzen Bret ein Anschlag des Prorectors angeheftet, worin das Bedauern der Behörden über die Excesse der Nacht ausgedrückt war; man hoffe um so eher – hieß es darin weiter – die Studentenschaft werde sich nun ruhig verhalten, als über die Sache bereits an die großherzogliche Regierung nach Weimar berichtet worden sei, die ihr Militair in Jena einrücken zu lassen nicht ungeneigt wäre.

Vor der Hand blieben die Collegien geschlossen.

Die Nacht von Mittwoch auf den Donnerstag war ein wahres Labsal für die an Geist und Körper ermüdeten Kämpfer; aber am Donnerstag früh schon machten die Pedells die Runde und an diesem Tage wurden bereits etwa fünfzig Studenten vor das Universitätsgericht citirt und verhört. Ich erwartete für meine Person natürlich dasselbe, und mein Freund, der Solothurner Felix, tröstete mich noch schadenfroh mit der Aussicht, daß die Teilnehmer an der Fensterkanonade mit dem Consilium abeundi gestraft würden, was für mich, der erst vor kaum zwölf Wochen mit den besten Vorsätzen und den liebevollsten elterlichen Ermahnungen die akademische Laufbahn begonnen hatte, das Strengste gewesen wäre, was ich mir denken konnte.

Jener Solothurner Felix war nämlich eine der größten Gestalten, die damals unter der Jenenser Studentenschaft herumwandelte, ein fideles Haus, der gern über die Polizeistunde in der Kneipe sitzen blieb und mehr als einmal deßhalb, und wegen anderer unschuldiger Studentenstreiche, die er immer gern mitzumachen suchte, gestraft worden war. Während der Fensterkanonade befand er sich gerade in Dornburg. Mir war noch nie eine Strafe geworden und seiner Freundschaft für mich that der Gedanke ordentlich wohl, daß einst auch mein Abgangszeugniß von der Universität sich mit dem seinen in Bezug auf Aufführung sollte messen können. So sehr es ihn sonst würde gereut haben, während der Ereignisse der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch zufälliger Weise in Dornburg sich aufgehalten zu haben, so war er doch jetzt, als er voraussah, daß es mit der Bestrafung der Theilnehmer Ernst werden wollte, in der Seele froh darüber, daß der Zufall es in jener verhängnißvollen Nacht so gut mit ihm gemeint habe.

Alle Tage kamen neue Citationen vor das Universitätsgericht und alle Abende fragte mich Freund Felix neugierig, ob ich noch nicht vorgeladen worden sei. Man schien mich bis zuletzt aufsparen zu wollen.

Unterdeß wurde Freund Felix, er wußte gar nicht warum, selber vorgeladen. Als er vom Amt zurück kam, erzählte er, daß man auch ihn in Betreff der bewußten Fensterkanonade requirirt hätte. Er hätte aber kurzen Bescheid gegeben und den Beweis des Alibi angeboten.

Endlich hörten die Citationen auf; ich war übergangen oder bei meiner kleinern Gestalt übersehen worden.

Nach ungefähr 14 Tagen wurden sämmtliche Vorgeladene, etwa hundertundfünfzig, darunter auch Freund Felix, zur Anhörung des Urtheils vor Amt beschieden. Die drei oben gedachten Bemoosten, als Anführer des ganzen Scandals, wurden von der Unversität relegirt, etwa zehn erhielten des Consilium abeundi, die übrigen sammt und sonders 14 Tage geschärften Carcerarrest; zu den letztern zählte auch Freund Felix. Ueberdies hatten sämmtliche Verurtheilte die Entschädigungskosten im Betrage von 800 Thlr. unter solidarischer Haftbarkeit zu tragen. (Diese Summe wurde alsobald von sämmtlichen Verbindungen Jena’s gemeinschaftlich übernommen.)

Dieses, insoweit es mich und meinen Freund anbetrifft, durchaus unrichtige Urtheil erklärt sich aus der an Universitäten gebräuchlichen Uebung, nicht nach juristischen Beweisen, sondern nach moralischer Ueberzeugung Recht zu sprechen. Da zwei oder drei ähnliche Größen, wie Felix, an dem Scandal allerdings Theil genommen hatten, so wurde er ohne Zweifel mit ihnen verwechselt; auch ließen seine Antecedentien nicht annehmen, daß er von einem solchen Hauptjux, wie die Fensterkanonade war, fern geblieben sei. Daher kümmerte sich das Universitätsgericht nicht weiter um seinen angetragenen Beweis des Alibi. Meine Wenigkeit dagegen war noch so unbekannt in der Amtsdienerwelt Jena’s, meine Gestalt so unbedeutend, daß ich unmöglich bemerkt worden war und Niemand daran gedacht hatte, mich unter den Steinigenden zu suchen.

So wanderte denn Freund Felix, der sich so herzlich auf meine Strafe gefreut hatte, unschuldig in den Carcer; der schuldige Schreiber dieser Zeilen dagegen kam ungestraft davon.

Zum Danke hierfür sei in diesen Blättern das oben erzählte Ereigniß für die Erinnerung derer wieder aufgefrischt, die thätig, leidend, zuschauend, zuhörend, anzeigend oder richtend dabei betheiligt waren. Schließlich kann ich noch bemerken, daß der von dem Schustergesellen geschlagene Studiosus sich zu Aller Freude bald wieder erholt hatte und jetzt als angesehener Pastor in sächsischen Landen das Wort Gottes verkündet.


  1. Seichte Fahrrinne an den Halligen.
  2. Zu besserem Verständniß binnenländischer Leser sei hier bemerkt, daß die „Halligen“ kleine, nur spärlich bevölkerte Inseln in der sogenannten Westsee sind, wie von den Seefahrern der Theil der Nordsee genannt wird, welcher von der Mündung der Eider nordwärts bis an die Grenzen Jütlands die Küsten Schleswigs bespült. Die „Halligen“, gegenwärtig noch 15 an der Zahl, sind Ueberreste der im Jahre 1634 durch eine furchtbare Sturmfluth zertrümmerten Insel Nordstrand. Sie erheben sich nur wenige Fuß über die Meeresfläche und sind durch keine Deiche gegen die Wuth der Stürme und des Wogendranges geschützt. Daher werden sie bei jeder Sturmfluth von dem Meere überfluthet. Um gegen diese immer wiederkehrenden Fluthbedrängnisse sich zu vertheidigen, führen die Halligbewohner künstliche Hügel, „Warften“, auf und bauen auf diese ihre in der Regel sehr stattlichen Häuser.
    Der Verfasser. 
  3. Lütt: klein, häufig gebrauchtes Schmeichelwort.
  4. Erschreckt.
  5. Ein hoher Sand im Westen von Amrom.
  6. Wind einholen heißt: durch die Geruchsorgane, die ein Wild der entgegenströmenden Luft aussetzt, prüfen, ob nichts Verdächtiges wahrzunehmen sei.
  7. Blänken heißen diejenigen Stellen auf Teichen und Seen, die frei von Schilf sind.
  8. Entvogel wird bei wilden Enten der Enterich, das Männchen, genannt.
  9. Seher: Augen.
  10. Wechsel, die Stelle, wo das Wild regelmäßig erscheint.
  11. Wind gut observirt: so daß der Wind vom zu erwartenden Wild nach ihm selbst zu steht, und der Hase ihn nicht durch den Geruch wahrnehmen kann.
  12. Standarte: Schwanz des Fuchses.
  13. Ich selbst habe einmal einem Fuchs ein noch lebendiges Birkhuhn abgejagt, das er schon angeschnitten, d. h. angefressen hatte. D. V.
  14. Hühnersuche: Hühnerjagd.
  15. Abbruch thun: das Wild überlisten und erlegen.
  16. gekläppert: beim Treiben durch Dickichte mit Klappern, die die Treiber haben, das Wild herausjagen.
  17. ausräuchern: durch angemachtes Feuer vor den Röhren den Rauch in das Versteck ziehen lassen, und so den Fuchs veranlassen, Reißaus zu nehmen.
  18. Das Krätzern geschieht, indem man mit einem Instrument, das einem colossalen Korkzieher gleicht, den lebendigen Fuchs anbohrt, um ihn so heraus zu ziehen.
  19. Brocken: hingeworfener Bissen einer Lockspeise. Stellbrocken derjenige Bissen, der auf dem Eisen liegt.