Die Gartenlaube (1858)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 22. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Gottesgericht.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)


Mein Mitleiden mit dem armen, verlassenen jungen Wesen, die Lebhaftigkeit, mit der sie vorhin erzählt hatte, die einfache Wahrhaftigkeit, die sich in jedem ihrer Worte ausgesprochen hatte, das Alles hielt mich unwillkürlich jetzt noch in einem Zauber gefangen, der mir auch ihre letzten Worte als wahr erscheinen ließ. Allein dieser Zauber konnte nur einen kurzen Augenblick vorhalten.

Der Leser eines Romans hätte einer solchen Entwickelung ferner Glauben schenken können, nicht der Inquirent. Dem geschwungenen Dolche dessen, der den Tod eines Anderen beschlossen hat, kommt nicht aus heiterem Himmel, und wenn es auch in einer hellen Mondnacht wäre, ein fremder Stahl zu Hülfe, um gefällig den Todesstreich auf sich zu nehmen. Und sie hatte, als sie die sonderbare Enthüllung erzählte, mich nicht ansehen, sondern nur verwirrt zu Boden blicken können! Und es war bei aller Tugend und edlen Gesinnung, die sie bis dahin gezeigt hatte, so natürlich, daß sie ihr Leben retten wollte!

Aber dennoch! Wie ich als Inquirent ihren Versicherungen nicht unbedingt glauben konnte, so konnte ich sie auch nicht von vornherein als erlogen betrachten. Ich mußte eben untersuchen, erforschen, ob sie wahr oder unwahr waren. Und konnte ihr nicht auch in der That in jenem entscheidenden Augenblicke eine andere Hand zuvorgekommen sein?

Der Jäger Anton war ihr treuer, ergebener Beschützer. Konnte er nicht, durch Zufall oder von Angst für seine Herrin getrieben, gerade zur rechten Zeit zurückgekehrt sein?

Sie war wieder ruhiger geworden.

„Sie hatten das Bewußtsein verloren?“ fragte ich sie.

„Ich war in eine tiefe Ohnmacht gefallen.“

„Und als Sie erwachten?“

„Lag ich am Boden neben der Leiche. Meine Kleider waren blutig.“

„Weiter.“

„Ich war in einem schrecklichen Zustande. Die Leiche war an meiner Seite. An dem Morde konnte ich nicht zweifeln. Aber daß ich ihn nicht verübt hatte, daß eine fremde Hand der meinigen zuvorgekommen war, das war mir wie ein Traum. Und doch! Mein Dolch lag neben mir. Ich besah ihn. Er war rein, kein Tropfen Blut klebte daran.

„Wer hatte die That verübt?“

„Anton? Aber warum war er nicht bei mir? Wie hatte er mich in dieser entsetzlichen Lage allein lassen, sogar den Schein, den Verdacht, nein, die Gewißheit des Mordes auf mich werfen können? Allein das konnte ja nur einen Augenblick sein. Er konnte sofort die Flucht ergriffen haben, um sein Leben zu retten. Aus dem ersten sicheren Aufenthaltsorte theilte er die Wahrheit mit und befreite mich wieder. Auch das blieb mir freilich, wie ich den braven Menschen kannte, nur wahrscheinlich. Aber es war nicht unmöglich. Meine Lage war durch den Gedanken nicht weniger fürchterlich. Ich war allein bei der Leiche. Ich mußte, wenn auch nur für die erste Zeit, für die Mörderin gehalten werden. Ich ging allen Qualen, aller Schmach der gerichtlichen Untersuchung entgegen! Und immer war ich wieder allein.

„O, welch ein armes, unglückliches Geschöpf ist ein Mädchen, das in fernem, fremdem Lande, unter lauter fremden Menschen allein, verlassen dasteht! Das Gefühl hat mich nie drückender überwältigt.

„Das Fenster stand noch offen und der Mond schien hell hindurch. Sein Licht fiel auf den blutigen Leichnam neben mir, auf die verzerrten Gesichtszüge des Todten. Und ich war allein und als Mörderin bei ihm! Ich war der Verzweiflung nahe. Da hörte ich ein Geräusch; es waren Schritte im Garten; sie naheten sich dem Hause, dem Zimmer, in dem ich mich befand, dem offenen Fenster. Es waren eilige Schritte. Ich erbebte in meiner Todesangst und sprang an das Fenster. Es war Anton. Ich stieß einen lauten Schrei aus.

„Habe ich Sie erschreckt, Fräulein?“

„Er mußte mich so nennen, wenn wir auch allein waren.

„Wo kommen Sie her, Anton?“

„Aus dem Walde.“

„Jetzt erst?“

„In diesem Augenblicke. Ich hatte eine so sonderbare Angst, den ganzen Abend, und wäre gern schon früher zurückgekehrt, aber es ging nicht. Als ich durfte, eilte ich hierher, in geradester Richtung nach diesem Flügel des Schlosses. Da sah ich hier die Jalousien, dann gar das Fenster offen stehen; ich mußte wissen, was es war.“

„Er trug noch Gewehr und Jagdtasche bei sich. Sie bestätigten seine Worte. Er war es also nicht gewesen. Wer dann? Was war geschehen?

„Allmächtiger Gott!“ rief ich.

„Da sah er die Leiche.

„Um Gotteswillen!“ rief er.

„Er sprang in das Zimmer und verschloß das Fenster; dann mußte ich ihm erzählen.

[318] „Aber auch er wußte nicht, wer das gethan, was geschehen war. Wir riethen Beide vergebens.

„Aber wir müssen handeln,“ sagte er. „Der Verdacht des Mordes wird auf Sie fallen; der rechte Mörder wird sich nicht melden oder er wäre schon hier. Aller Schein ist gegen Sie. Die Wahrheit werden Sie nie beweisen können. Die mächtige Familie des Ermordeten wird Sie als Opfer fordern und Sie verurtheilen. Ich könnte Sie retten –“

„Ich errieth ihn.

„Nie, Anton! Sie wollten den Mord auf sich nehmen!“

„Darf ich?“ bat der treue Mensch.

„Nie, nie, Anton, so lange ich noch ein Wort sprechen könnte, würde ich es sagen, daß Sie nicht der Mörder sind!“

„Ich fürchtete es. So bleibt nur ein Mittel. Der Tod des Grafen muß verborgen werden. Aber wie?“

„Er sann nach. Sein erster Gedanke war, daß er die Leiche in den Wald tragen wollte; aber das war gefährlich, kaum ausführbar. Er war mit einem der Bedienten zusammen auf dem Anstande gewesen; sie hatten die Hunde zurückgebracht, diese waren des Nachts frei und das geringste Geräusch hätte sie herbeigerufen. Sie hätten die Leiche mit Gebell, Geheul verfolgt; sie hätten die Stelle aufgesucht, wohin sie gebracht, und die Grube aufgewühlt, in die sie gelegt worden wäre. Der Leichnam mußte im Hause bleiben; und hier konnte er nur in dem Zimmer verborgen werden, in dem wir uns befanden. Das Getäfel des Fußbodens war leicht auszuheben und wieder einzusetzen. Die Nacht war noch lang genug, um bis Tagesanbruch eine Grube zu graben, denn es war erst elf Uhr. Selbst bei Tage war keine Störung darin zu befürchten. Das Bibliothekzimmer wurde nur von mir besucht, und außerdem manchmal von Fremden, die zum Besuch da waren. Die Gräfin war seit meiner Anwesenheit im Schlosse nie darin gewesen. Domestiken waren gleichfalls niemals hineingekommen, wenn ich ihnen nicht Auftrag dazu gegeben hatte.

„Auch die Blutspuren, so wie die Spuren des Verbergens der Leiche waren daher ohne Gefahr einer Störung zu vertilgen. Wir arbeiteten die ganze Nacht. Als der Tag anbrach, waren wir fertig, Hier unter meinen Füßen liegt die Leiche.

„Die blutige That blieb unentdeckt. Ob die Gräfin nicht eine Ahnung hatte, weiß ich nicht. Sie zeigte keinen Verdacht. Manchmal kam mir der Gedanke, sie wolle keinen zeigen; in ihrem Gewissen mochte Veranlassung genug dafür sein. Wenn sie in der That an einen Mord glaubte, wenn sie dabei mich und Anton für die Thäter hielt, wie großen Antheil trug sie selbst!“

Das war die Erzählung der jungen Dame.

Wie nahe hatte jener eben so feine als frivole russische Diplomat, der Graf Alexander Ruthenberg, die Wahrheit getroffen! Es sollte ihm in der That die Genugthuung werden, Menschen und Verhältnisse richtig taxirt und daraus richtige Folgerungen gezogen zu haben. Nur etwas zu frivol war er noch gewesen. Aber hatte er denn wirklich auch gerade in der Hauptsache die Wahrheit so nahe getroffen? War die unglückliche Dame die Mörderin? War sie nicht die Mörderin?

Der Name mag hier beibehalten werden. Nach strengen criminalistischen Begriffen lag allerdings, wenn die Dame die Thäterin war, kein Mord, sondern nur ein Todtschlag vor. Und auch bei diesem konnte, nach gegenwärtiger Lage der Sache, die Frage aufgeworfen werden, ob nicht gerechte Nothwehr vorhanden gewesen sei. Indessen kam es darauf für jetzt nicht an. Zunächst mußte festgestellt werden, wer der Mörder, wer der Thäter war.

Auch der Jäger Anton sollte es nach der Versicherung des Fräuleins – auch ich nannte sie so – nicht sein. Die Sache wurde dadurch sowohl in ihren Thatumständen, wie psychologisch, dunkler, verwickelter. War sie, das Fräulein, die Mörderin, und sie hatte noch immer die Hoffnung, durch eine Unwahrheit sich frei zu machen? War der Jäger der Thäter, und sie wollte auch ihn durch eine Unwahrheit retten?

Hatte sie in der That die Wahrheit gesprochen und hatte einer jener Zufälle, die auch in Criminalacten zuweilen, wenn freilich selten genug, hervortreten und bewiesen werden, auch hier sein wunderbares Spiel gespielt? Aber konnte er auch hier bewiesen werden? Und was nicht bewiesen wird, was Niemand weiß, das ist gar nicht dagewesen. Bis jetzt aber wies keine Spur, nicht die Ahnung einer Spur auf einen solchen Zufall hin. Nichts, gar nichts sprach dafür, als die bloße, nackte Versicherung einer schwer Verdächtigen, die sich oder einen treuen Diener, gar einen Mitgenossen ihres verdächtigen Thuns, retten wollte.

Das Inquiriren selbst ist ein Beweisverfahren. Ich mußte mit meinem Inquiriren fortfahren.

Zunächst mußte ich Gewißheit darüber haben, mit wem ich es überhaupt zu thun hatte. War sie eine Abenteurerin, die mir einen Roman erzählt hatte, oder hatte sie über ihr früheres Leben mir die Wahrheit gesagt? Ihr Aeußeres, ihre Worte, ihre Sprache, das Alles redete für sie, stellte sie gar als ein ungewöhnliches, als ein edles Wesen dar. Aber wie oft hat das Aeußere eines Menschen schon betrogen, auch schon Inquirenten!

„Sie sind verheirathet?“ fragte ich sie. „Sind Sie im Besitze eines Trauscheines?“

„Ja, mein Herr; der Geistliche, der uns traute, stellte auf Harry’s Verlangen uns jedem einen Schein darüber aus.“

„Haben Sie auch Briefe Ihres Gemahls?“

„Ich kann Ihnen seine ganze Correspondenz vorlegen.“

Wir begaben uns in ihr Wohnzimmer. Sie schloß in diesem eine Commode, dann ein in dieser befindliches Mahagonikästchen auf. Sie übergab mir Trauschein und Briefe. Die Briefe sprachen die zärtlichste, die innigste Liebe aus.

Ich hatte es mit keiner Abenteurerin zu thun; ich athmete in der That für sie auf.

Jetzt kam es zunächst auf den Jäger Anton an. War er der Thäter und bekannte er sich als solchen, so war sie ganz gerettet. Und wenn er der Thäter war, so zweifelte ich keinen Augenblick daran, ohne große Mühe das Bekenntniß von ihm zu erhalten. War er nicht der Thäter, so kam Alles darauf an, was die Dame, als er sie zuerst nach der That getroffen, zu ihm über diese gesagt hatte. Hatte sie ihm das Nämliche gesagt, wie mir, so war das gleichfalls ein erheblicher Beweis für ihre Unschuld und es war Hoffnung da, daß weitere Ermittelungen diese ganz herausstellen würden.

Vor allen Dingen mußte ich indeß nunmehr, da ein Verbrechen und ein Verdacht gegen einen bestimmten Thäter vorhanden war, den Formen des Gesetzes in Betreff des Untersuchungsverfahrens Genüge leisten. Ich schrieb ein Billet an die Kreisärzte in Tilsit, in dem ich sie aufforderte, zur gerichtlichen Obduction einer Leiche sofort nach Turellen zu kommen; ich rief dann meinen Kutscher und befahl ihm, nach Tilsit zu fahren und die Aerzte in meinem Wagen abzuholen, auf dem Hinwege aber in dem nächsten Dorfe vor Turellen die dort wartenden Criminalbeamten schleunigst zu mir zu bescheiden. Darauf ließ ich mir von dem Fräulein ihren Dolch vorzeigen. Sie übergab ihn mir. Es war eine feine und starke englische Arbeit. Nicht die leiseste Spur von Blut war daran zu finden. Aber auch in dem Bibliothekzimmer, in das ich mich wieder begab, konnte ich durch das sorgfältigste, aufmerksamste Suchen keine Spur entdecken, daß hier jemals nur ein einziger Blutstropfen verspritzt sei. Und doch war noch vor wenigen Wochen das Blut hier geflossen.

Die Unglückliche hatte das Zimmer ja für ihr Leben gereinigt. Unter welcher immerwährenden Todesangst!

Die Criminalbeamten trafen ein. Ich nahm kurz die Geständnisse der Dame zu Protokoll und forderte sie dann auf, in ihrer Wohnstube zu bleiben; ich selbst aber wollte mich in das Bibliothekzimmer begeben, um dort die weiteren Verhandlungen vorzunehmen. Zuerst die Vernehmung des Jägers Anton. Ich befahl einem Criminalbeamten, mir den Jäger vorzuführen. Auf einmal wurde die Dame unruhig.

„Den Jäger Anton wollen Sie vernehmen?“ fragte sie.

„Gewiß. Auf seine Aussage kommt Alles an.“

„Aber er ist nicht hier.“

„Und wo ist er?“

„Ich habe ihn fortgeschickt.“

„Sie?“

„Ich hatte vorhin in meiner Angst nicht daran gedacht, es Ihnen zu sagen.“

„Erzählen Sie.“

„Hier konnte ich nicht länger mehr bleiben. Daß die Gräfin vor Ende der Contractszeit mich entlassen werde, war zweifelhaft. Es fehlte mir also an Reisegeld. Ich konnte, bei der Armuth meiner Mutter, mir es nur von Harry verschaffen. Ich mußte ihm den Grund meiner Bitte wenigstens andeuten, und das konnte ich nicht schriftlich. So mußte denn nun Anton zu ihm reisen.“

„Und er ist noch nicht zurück?“

[319] „Ich kann ihn auch in den ersten acht Tagen noch nicht zurückerwarten. Er hatte nur sehr wenig Geld; er mußte daher die Hinreise fast ganz zu Fuße machen.“

„Er ist nicht hier? Das ist freilich ein sehr schlimmer Umstand.“

Hatte sie mir doch nicht die Wahrheit gesagt? War dennoch der Jäger der Mörder? War er ihr Gehülfe? Jedenfalls gewann der Verdacht gegen sie an neuer, an außerordentlicher Stärke. Ich sann schweigend über diese plötzliche Veränderung der Lage der Sache nach. Sie konnte meine Gedanken errathen.

„Aber er kommt bestimmt zurück,“ sagte sie.

„Erwarten Sie es?“

„Ich bin überzeugt davon; ich schwöre darauf.“

Sie sprach mit festester Zuversicht und konnte nicht gelogen haben. Dennoch mußte ich sie jetzt nach dem Gesetze als verdächtige Mörderin betrachten und behandeln. Sie hatte sich zu Situationen und Handlungen bekannt, auf deren Grund ein französisches Geschwornengericht sie gar schuldig erklärt haben würde. Der einzige Zeuge, der für ihre Unschuld sprechen konnte, war nicht da. Ich erklärte ihr das.

Sie war wieder ruhig geworden. Oder war nach all’ den Stürmen der letzten Stunden eine Erschlaffung, ein erklärlicher Zustand der Unempfindlichkeit bei ihr eingetreten?

„Wie oft, wie lange habe ich mit diesem Gedanken mich vertraut machen müssen!“

Weiter sagte sie nichts. Ein schwerer Seufzer begleitete die Worte. Dann legte sie das blasse, schöne Gesicht in ihre beiden Hände.

Die Unglückliche! Als Verbrecherin in den Händen des Gerichts! So verlassen, fern von Allen, die sie liebte, von denen sie geliebt wurde! So ganz allein, so völlig verlassen.

Aber muß ich sie denn als Verbrecherin behandeln? Soll sie acht Tage lang als solche gelten, bis jener treue Diener wiederkommt, auf dessen Rückkehr sie baut, wie nur je ein frommer Mensch auf seinen Gott?

Wieder trat ein Bild vor meine Seele, das heute schon mehrere Male, immer ohne daß ich eine Veranlassung gehabt hatte, daran zu denken, wie ein dunkler Schatten an mir vorübergezogen war. Es trat Heller, in bestimmteren Umrissen vor mich. Es waren die schöne, leichtfertige Försterstochter und ihr strenger, jähzorniger Vater. Ich mußte es festhalten. Es entschwand mir nicht wieder.

Ich wandte mich wieder an die Unglückliche.

„Sie stutzten vorhin, als ich Ihnen von der Tochter des Försters sprach!“

Aber sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, das war nur ein flüchtiger Gedanke.“

„Sie wissen nichts von ihr?“

„Gar nichts.“

„Sie haben auch keine Vermuthung?“

„Nicht die geringste.“

Ich sandte dennoch zwei Criminalboten fort, um den Förster und seine Tochter – er war Wittwer und wohnte mit ihr allein – herbeizuholen; getrennt zwar, aber als Zeugen und mit aller Rücksicht, die man einem Zeugen schuldig sei.

Unterdeß waren die beiden Kreisärzte aus Tilsit angekommen. Ich ließ das Täfelwerk in dem Bibliothekzimmer aufheben, an der Stelle, wo der Leichnam vergraben sein sollte. Die frisch ausgegrabene Erde lag unmittelbar unter den Bietern. Ich ließ sie aufgraben. Da lag die Leiche in voller Bekleidung; sie war schon ziemlich verweset, aber noch kenntlich.

Die Unglückliche, der That Verdächtige hatte bei dem Aufgraben zugegen sein müssen; ich konnte sie nicht davon befreien. Es war eine fürchterliche halbe Stunde für sie. Aber als endlich der Leichnam offen zu Tage kam, da war es doch, als wenn eine wunderbare Kraft sie wieder erhoben hätte.

Einen andern Eindruck machte der Anblick auf die Gräfin Ruthenberg. Auch ihr mußte ich nach Vorschrift des Gesetzes die Leiche vorzeigen. Ich hatte ihr vorher mitgetheilt, daß ihr Neffe wirklich getödtet sei, daß die That in dem Bibliothekzimmer verübt worden wäre und dort auch die Leiche verscharrt liege. Ueber den näheren Umständen der That und über dem Thäter ruhe noch ein Dunkel. Die Mittheilung hatte sie doch ergriffen. Die Stimme ihres Gewissens mochte laut genug in ihr sprechen; aber sie gewann bald Gewalt über sich, um ihr Inneres zu verbergen. Da führte ich sie zu dem Leichnam. In dem ersten Augenblicke konnte sie noch einen Blick der Wuth auf ihre Gesellschafterin werfen, die sie für die Thäterin hielt; aber als sie den in Gott ergebenen und auf Gott vertrauenden Blick der Reinheit und Unschuld in den Augen des Mädchens sah, da brach sie zusammen; ein fürchterlicher, der menschlichen Stimme fast nicht ähnlicher Schrei entfuhr ihrer Brust. Sie konnte den Anblick, nur die Nähe des Todten nicht mehr ertragen. Sie stürzte aus dem Zimmer.

Es ist doch etwas um Unschuld und Recht, um Schuld und Gewissen und Strafe des Gewissens.

Jene Unglückliche hielt ich immer mehr für unschuldig. In diesem Gegensatze fand ich volle Bestätigung. Aber das war nur für meine alleinige innere Ueberzeugung, und, diese galt vor dem Gesetze gar nichts. Sollte ich auch den Beweis des Gesetzes erhalten? Eine günstige, freilich nur schwache Vermuthung ergab die nähere Besichtigung der Leiche; sie zeigte unmittelbar über dem Herzen eine breite Stichwunde. Wie sich nachher bei der Section auswies, war das Herz fast vollständig in der Mitte durchbohrt, so daß der Tod auf der Stelle hatte erfolgen müssen. Die Wunde aber hatte eine Länge und Breite, die nicht dem feinen Dolche zu entsprechen schien, den die Verdächtige mir übergeben hatte; ein stärkeres und breiteres Instrument schien sie hervorgebracht zu haben.

„Ein Hirschfänger etwa?“ fragte ich die Aerzte.

„Es wäre möglich.“

Aber mit Gewißheit, nur mit einem höheren Grade von Wahrscheinlichkeit konnten sie nichts sagen; die Verwesung war gerade an jener Stelle des Körpers zu weit vorgeschritten. Mit welcher Spannung sah ich dem Verhöre des Försters und seiner Tochter entgegen! Die Criminalboten, die ich zu dem Försterhause abgeschickt hatte, waren zurückgekehrt und hatten nur die Tochter mitgebracht. Der Förster war nicht zu Hause gewesen; er war seit Mittag im Walde. Im Försterhause war die Anweisung an ihn zurückgelassen, gleich nach seiner Rückkehr zum Schlosse zu kommen. Ich ließ das Mädchen zum Verhör vorkommen. Ich vernahm sie ohne die Gegenwart Dritter; nur mein Actuar war, wie das Gesetz es forderte, bei mir, um das Protokoll zu führen. Die Nachricht von dem Tode, von der Ermordung des jungen Grafen, von der Auffindung der Leiche, von der Anwesenheit des Criminalgerichts, um die Sache zu untersuchen, hatte sich schnell verbreitet; weiter war aber nichts bekannt geworden.

Das Mädchen trat befangen herein. Sie war hübsch, frisch; sie hatte den Blick jener leichtfertigen, aber allerdings einfachen Koketterie, die den Männern gefallen will, weil sie die Männer liebt. Sie ist leicht zu berücken, weil sie eben um jeden Preis geliebt sein will. Dem hübschen, gewandten, vornehmen jungen Grafen mochte sie um jeden Preis haben gefallen wollen. Der ausschweifende junge Mensch konnte mit ihr vorlieb genommen haben. Das machte ihre Befangenheit erklärlich; an irgend etwas Anderes konnte man dabei nicht denken. Auch ihr ferneres Benehmen gab keinem weiteren Verdachte Raum.

„Haben Sie den Grafen Paul Ruthenberg, den Neffen der Frau Gräfin, gekannt?“

Sie erröthete, sie mußte die Augen niederschlagen.

„Er war ja ein paar Wochen hier auf dem Schlosse,“ entgegnete sie.

„Sie haben ihn also gekannt?“

„Ich habe ihn wohl gesehen.“

„Auch gesprochen?“

Sie erröthete von Neuem.

„Er hat mich ein paar Mal angeredet.“

„Wo war das?“

„Am Schlosse, im Garten.“

„War er nicht bei Ihnen, in Ihrer Wohnung?“

Sie zögerte mit der Antwort.

„Nun?“

„Nur einmal.“

„Waren Sie allein mit ihm da?“

„Ja.“

„Wo war Ihr Vater?“

„In dem Forst.“

„War es bei Tage oder bei Abend?“

„Es war noch bei Tage.“

„Also gegen Abend?“

[320] „Gegen Abend.“

„Waren Sie nicht noch mehrere Male allein mit ihm?“

„Wo sollte das gewesen sein?“

„Ich frage Sie.“

Sie fing an zu zittern und konnte die Augen gar nicht mehr erheben; ihr schuldhaftes Verhältnis; war mir nicht mehr zweifelhaft. Ich mußte weiter gehen.

„Hat Ihr Vater erfahren, daß er Sie allein gesehen und gesprochen hat?“

„Er hat mir nichts darüber gesagt.“

„Hat er nie mit Ihnen von dem Grafen gesprochen?“

„Ich wüßte nicht.“

„Sie weichen mir aus.“

„Fragen Sie meinen Vater.“

Sie hatte ihren vollen Muth wieder erhalten; selbst ihre Befangenheit hatte sich verloren. Entweder standen sie und ihr Vater in der That außer Beziehung zu dem Verbrechen und sie wußte auch nichts von diesem, oder sie hatte mit ihrem Vater eine genaue, feste Abrede getroffen, so daß sie sich getrost auf ihn berufen konnte, durch diese Berufung sogar an eigener Sicherheit gewann.

Ihre weitere Befragung erschien mir daher wenigstens vor der Hand zwecklos, zumal da ich keinen thatsächlichen Anhalt hatte, um ihr Vorhaltungen über einen unerlaubten Umgang mit dem Grafen machen zu können. Jedenfalls mußte ich vorher hierüber nähere Erkundigungen einziehen. Durch eine Vernehmung ihres Vaters konnte ich übrigens voraussichtlich eben so wenig etwas erreichen. War das Mädchen schon so fest und sicher, so war er es gewiß.

Das war eine traurige Aussicht für die arme Verdächtige, die ich so gern für schuldlos hielt. Nichts als meine tatsächlich völlig unbegründete, von ihr selbst nicht einmal getheilte Vermuthung sprach für sie. Wie schwierig, wie ungewiß war es, irgend eine festere Begründung dafür herbeizuschaffen! Gelang dies auch, es konnte nur erst nach einiger, vielleicht längerer Zeit geschehen. Bis dahin war die Arme eine Verdächtige, eine des Mordes Beschuldigte, eine in Untersuchung und in Untersuchungshaft befindliche Mörderin.

Und wenn ich auch zuletzt jenen Anhalt fand, wie leicht konnte er, kaum gefunden, unter den Händen mir wieder zerrinnen! Er zerrann in nichts, wenn es mir nicht ferner gelang, mit seiner Hülfe ein Geständniß des Försters und seiner Tochter zu erlangen. Und konnte ich auf dieses rechnen, wenn die Beiden bis dahin immer und immer wieder Zeit hatten, sich zu verabreden und sich gegenseitig in ihrer Sicherheit zu befestigen?

Ich wollte zur Vernehmung des Försters schreiten. Er war noch nicht da. Ich hatte mich in Gegenwart der Tochter nach ihm erkundigt. Das Mädchen wurde unruhig, als sie hörte, daß er noch immer nicht da sei. Es fiel mir auf, aber ich konnte keinen Grund dafür ersinnen; sie hätte denn, selbst schuldbewußt, fürchten müssen, daß er in seinem Schuldbewußtsein auf irgend eine Weise dem Gerichte sich entziehen wollte, entzogen habe. Aber dann wäre sie vorhin wohl nicht so sicher gewesen. Und doch!

Der Criminalbote, bei dem ich mich nach dem Förster erkundigt hatte, kam nach einigen Augenblicken mit der Nachricht zurück, daß man ihn vor Kurzem in der Nähe des Schlosses mit einigen Personen habe sprechen sehen, und daß er dann eilig in den Wald, in der Richtung seiner Wohnung gegangen sei.

Das Mädchen erbebte sichtlich, als sie dies hörte.

Ich sann nach, ob ich ein weiteres Verhör mit ihr daran knüpfen, und unterdeß ihren Vater herbei holen lassen sollte.

Ein furchtbares Ereigniß machte mein Nachsinnen überflüssig. Ein Criminalbote führte einen Burschen herein, der mir einen Zettel abzugeben habe. Es war ein Tagelöhnerbursch vom Gute. Er war leichenblaß, und zitterte am ganzen Leibe. Er trug einen zusammengefalteten Zettel in der Hand. Als er ihn mir überreichen wollte, sah er die Tochter des Försters im Zimmer. Er zitterte heftiger. Das Mädchen sprang ihm entgegen.

„Kommst Du von meinem Vater?“ rief sie ihm zu.

Der Bursch konnte kaum Ja antworten.

„Er ist todt?“ schrie sie auf.

„Er ist todt!“ sagte der Bursch.

Er erzählte: Der Förster hatte ihn vorn im Walde getroffen. Er hatte ihm den Zettel gegeben, mit dem Auftrage, ihn zu mir auf das Schloß zu tragen. Er war dann wieder tiefer in den Wald zurückgekehrt. Der Bursch hatte sich auf den Weg zum Schlosse gemacht. Aber kaum war er zwanzig Schritte weit gegangen, so hörte er hinter sich einen Schuß fallen. Der Förster war ihm so sonderbar vorgekommen. Er läuft zurück nach der Stelle, wo er den Schuß hat fallen hören. Der Förster liegt todt da, mit zerschmettertem Gehirn. Er hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Der Bursch war in Todesangst zum Schlosse gelaufen, um mir den Zettel zu übergeben und das furchtbare Ereigniß zu berichten.

Ich wußte Alles! Meine Ahnung hatte mich nicht betrogen!

Die Unglückliche – die Tochter des Försters war jetzt die Unglückliche. Sie war fast leblos zurückgesunken. In Ohnmacht war sie nicht gefallen, aber ihr Zustand war desto fürchterlicher.

Ich las den Zettel. Nachdem ich ihn für mich gelesen hatte, las ich ihn laut. Der Förster hatte geschrieben:

„Er höre, daß der Tod des Grafen Ruthenberg entdeckt sei. Er erfahre, daß das Fräulein Braun deshalb in Verdacht stehe. Das Fräulein sei unschuldig, er sei der Thäter. Er müsse es jetzt entdecken. Sein Gewissen habe ihm ohnehin schon keine Ruhe gelassen. Seine Tochter werde das Nähere angeben. Er könne die Schande, als ein Mörder in der Welt gesehen zu werden, nicht überleben.“ Noch einmal sprang das Mädchen auf.

„Ja,“ rief sie, „er hat den schlechten Menschen erstochen. Aber ich bin die Mörderin, ich bin die Vatermörderin!“

Sie war zu aufgeregt, als daß ich sie sofort hätte verhören können. Ich hatte auch noch eine dringende andere Pflicht zu erfüllen. Ottilie Braun mußte wissen, daß ihre Unschuld anerkannt war. Sie mußte aus ihrem entsetzlichen Zustande gerissen, dem Leben, der Ehre wiedergegeben werden. Ich theilte ihr den Zettel, den Tod des Försters mit.

Nie werde ich den Anblick des schönen Mädchens, der edlen Frau in jenem Augenblicke vergessen. Die Gottergebenheit, das Gottvertrauen in dem feinen, blassen, angegriffenen Gesichte hatte einen erhabenen Glanz, wie in einem Engelsgesichte, erhalten. Sie reichte mir stumm die Hand und drückte die meinige herzlich. Dann bat sie, sich entfernen zu dürfen, um in der Einsamkeit Gott für die unendliche Gnade zu danken, die er ihr erwiesen habe.

Es ist doch auch etwas um den Glauben an einen Gott, an eine höhere, ewige Gerechtigkeit.

Ich vernahm die Tochter des Försters. Das Mädchen gestand Alles, offen, aufrichtig, reuig. Sie konnte es, denn sie selbst war vor dem Gesetze – unschuldig; ihr Vater war todt.

Sie war die leichte Beute des jungen Grafen geworden. Ihr Vater hatte eine Ahnung davon gehabt, aber keine Gewißheit. Er hatte ihr Vorwürfe gemacht, sie hatte geleugnet, aber ihm seinen Verdacht nicht nehmen können.

An jenem Abende, an welchem das Unglück geschehen war, hatte sie wieder eine Zusammenkunft in einem Bosquet des prächtigen Parks mit dem Grafen verabredet. Sie hatte sich eingefunden. Er war ausgeblieben. Sie hatte, ihm entgegen zu gehen oder nach ihm auszusehen, sich dem Schlosse genahet. Da hatte sie ihn gesehen, in der Gegend des Bibliothekzimmers. Neugierig, was er dort mache, war sie hinter Hecken und Spalieren näher zu ihm herangeschlichen. Auf einmal sieht sie von einer andern Seite ihren Vater. Sie erkennt ihn im Mondscheine deutlich. Er mußte ihr nachgeschlichen sein. Er verfolgte sie. Sie verbarg sich hinter einer dichten Hecke vor ihm. Er verlor ihre Spur. Aber gleich darauf hört er Geräusch am Schlosse, an dem Bibliothekzimmer. Er glaubt, seine Tochter sei dorthin geflohen. Er eilt hin. Er sieht das Fenster des Zimmers offen, und in dem Fenster einen Mann. Er erkennt den Grafen. Der Graf will durch das Fenster in das Innere des Zimmers dringen. Er ringt mit einem Frauenzimmer, das ihm den Eingang verwehrt. Der Förster meint, es sei seine Tochter, die aus Furcht vor dem verfolgenden Vater den Grafen zurückstoße. Aber die Schande seiner Tochter ist ihm dennoch klar. Der heftige, jähzornige Mann geräth außer sich vor Wuth. Er stürzt herbei. Die Ringenden gewahren ihn nicht. In dem Augenblicke, als der Graf in das Zimmer springen will, stößt er ihm sein Waidmesser in die Brust. Der Getroffene fällt in das Zimmer hinein. Als der Förster aufblickt, sieht er seine Tochter neben sich. Sie hatte ihr Versteck in der Nähe gehabt; sie war ihm angstvoll gefolgt. Sie war zu spät gekommen. Sie hatte den Unglücklichen, den Mörder, nach Hause geleitet. Er hatte sich den Gerichten überliefern wollen. Aber die That war verborgen geblieben; da hatte auch er, um der Ehre der Tochter willen, geschwiegen.

Für den Arm der weltlichen Gerechtigkeit war das leichtfertige [321] Geschöpf nicht erreichbar. Was die göttliche Gerechtigkeit aus ihr hat werden lassen, weiß ich nicht; ich hatte keine Gelegenheit, ihr späteres Schicksal zu erfahren.

Was Ottilie Braun, oder eigentlich die Frau Wrigley betrifft, so kam, wie sie fest erwartet hatte, der Jäger Anton nach acht Tagen zurück, aber nicht allein, der Gemahl der jungen Dame, Harry Wrigley, kam mit ihm. Das furchtbare Ereigniß, das seine Gattin betroffen, hatte ihn veranlaßt, seinen Eltern seine Verbindung mit ihr zu entdecken. Es hatte aber auch seine Eltern bewogen, ihm ihre Einwilligung zu geben.

Ich hätte Euch meine Erzählung vielfach romantisch ausschmücken können. Ich hätte zum Beispiel den Gemahl der jungen Dame gerade in dem Momente können erscheinen lassen, als aller Verdacht der schwersten Schuld auf ihr lag. Ich hätte diesen Verdacht durch mancherlei Zuthaten steigern können. Wie viel Jammer, Elend, Thränen und so weiter waren dabei anzubringen!

Ich wollte Euch nur eine wirkliche Criminalgeschichte erzählen, einfach, wie sie sich zugetragen hat. Ach, diese wirklichen Criminalgeschichten haben wahrhaftig des Elends, des Jammers, der Thränen, der Verzweiflung genug. Aber auch das Gericht Gottes zeigen sie oft.




Die Stammschlösser und Ahnengrüfte des Hauses Wettin.
I.
Der Petersberg bei Halle an der Saale.

Der Petersberg.

Es war in einer lauen Sommernacht des Jahres 184., als wir, vom fröhlichen Gelage aufbrechend, dem nahen Petersberge zuschritten, um im Glanze der aufgehenden Sonne eine Rundschau auf die an Abwechselung so reiche Umgegend des Mons Serenus (Lauterberges – so wurde der Petersberg früher genannt) zu halten. An der lustigen Tafelrunde war eben Alles abgehandelt worden, was nur gegen den Schluß der vierziger Jahre eine frische, aufstrebende Jugend begeistern konnte. Hegel und Ruge, Feuerbach und Stirner, Bauer und Strauß, Geschwornengerichte und Parlamente, Alles, was die Zeit an neuen Gedanken hervorgebracht hatte, fand da sein Für und Wider, und der wehmüthige Klang deutscher Volkslieder sänftigte die oft gar zu grellen Dissonanzen. Da war für die ruhige, historische Betrachtung gar wenig Raum, und unsere Blicke folgten unwillkürlich dem Höhenzuge, auf dem sich der Berg erhebt, in dem der Stammherr des sächsischen Königshauses ruht, bis nach dem Kiffhäuser; die ehrwürdige Ruine vermochte es nicht, unsere Gedanken rückwärts auf die Vergangenheit zu wenden. – Und in der That war uns das Glück hold, der Mons Serenus gewährte uns eine so mannichfaltige, die nächtliche Fahrt reichlich belohnende Aussicht. Fünfundvierzig Städte, hatten wir gehört, sollte man von diesem einsamen Bergkegel, der aus dem Mittelgebirgslande Deutschlands in die norddeutsche Tiefebene vorgeschoben [322] ist, erblicken können. Und wenn wir auch nicht so genau nachzählen wollen, so kann doch der aufmerksame und kundige Beobachter durch ein gutes Fernrohr in der That wahrnehmen: das Mannsfelder und das Wettiner Schloß, die Thürme des Doms zu Magdeburg, Leitzkau, Zerbst, Schönebeck, Kalbe, Bernburg, Könnern, Barby, Aken, Dessau, Coswig, Wörlitz, selbst Wittenberg, Köthen, den Löbejüner Thurm, Bitterfeld, Delitzsch, Eilenburg, Zörbig, Brehna, Landsberg, Würzen, Leipzig, Lützen, Merseburg, Halle, Weißenfels, Freiburg, Lauchstädt, Querfurt. Die Dörfer schlossen sich in Kreise zusammen, die nur hie und da durch schmale grüne Streifen unterbrochen schienen. – Eine lohnendere, in kleinem Umkreise so viele und mannichfaltige Culturstätten der menschlichen Gesellschaft umschließende Aussicht mochte nicht leicht ein Berg gewähren, dessen relative Höhe über der Ebene ungefähr 640 Fuß, dessen absolute über dem Meeresspiegel aber nur 1125 Fuß beträgt. Wie kräftig erscholl da der Morgengruß in die reiche Flur! Wie hob sich das Herz in ungestümer Jugendsehnsucht:

O Lust, vom Berg zu schauen, weit über Berg und Strom,
Hoch über sich den blauen, tiefklaren Himmelsdom!

In uralter, heidnischer Zeit war dieser Berg eine Stätte des heidnischen Cultus, und vielleicht eine recht berühmte. Weithin mögen da die Feuer geleuchtet haben bis nach Thüringen hinein und über die Elbe hinüber. – Gegen das Ende des elften Jahrhunderts gehörte er zu den Besitzungen der Grafen von Wettin. Lange vor dieser Zeit stand schon auf dem Petersberge eine kleine christliche Capelle von geringem Umfange. Sie bildete einen Kreis von ungefähr 29 Fuß Durchmesser, an den sich nach Osten der Altarraum im Halbkreise anschloß. Mit dem kreisrunden Kirchenraume stand der Thurm nach Westen hin durch einen Zwischenbau in Verbindung. An das Ganze wurde später im Süden noch eine Vorhalle angefügt. Diese kleine Kirche bildete die eigentliche Pfarrkirche, und bestand als solche selbst dann noch, als schon die größere Basilika neben ihr errichtet war, ursprünglich mochte sie aber als Taufcapelle gedient haben. Noch heut zu Tage sehen wir die Fundamente dieses Kreisbaues, der im Munde des Volkes die Heiden- oder Annencapelle heißt, aber auch dem heiligen Petrus gewidmet war. –

Graf von Wettin war um das Ende des elften Jahrhunderts Thiemo, dessen Geschlecht bis auf die Zeit Otto’s des Großen zurückgeführt werden kann. Dieses Geschlecht war in Thüringen besonders begütert, seine späteren Glieder legten den Grund zum Naumburger Dome, und erhielten die Markgrafschaft Meißen. Einer Seitenlinie dieses Geschlechtes gehört nun auch jener Thiemo von Wettin an, der gewöhnlich, aber mit Unrecht, als der erste Markgraf von Meißen aus dem Hause Wettin bezeichnet wird, was ja vielmehr sein Sohn Konrad der Große war. Dieser Thiemo hatte zwei Söhne, Dedo und Konrad. Als nun Dedo seine Gemahlin Bertha, die Tochter Wiprechts von Groitsch, verstoßen hatte, legten ihm die Bischöfe als Buße eine Wallfahrt zum heiligen Grabe auf, nachdem er sich noch überdies mit derselben hatte versöhnen müssen. Ob ihm die Bischöfe auch die Gründung eines Klosters als Sühne auferlegten, wird nicht erwähnt. Genug, er trug noch vor seiner Abreise Sorge, eine Klosterstiftung zu gründen, für die er keinen geeigneteren Platz finden mochte, als den Lauterberg, der so recht den Mittelpunkt in dem Ländercomplexe des Wettinischen Hauses bildete. Zum ersten Propst der neuen Stiftung ward von ihm Herminold, bisher Propst an der Gerbstädter Kirche, über welche das Wettinische Haus die Schutzgerechtigkeit hatte, bestellt, und überdies die junge Pflanzung dem Grafen Konrad, Dedo’s Bruder, auf das Angelegentlichste empfohlen. Dieser Anfang der ganzen Stiftung wird von dem Chronisten in das Jahr 1124 gesetzt. Dedo aber sah den Lauterberg nicht wieder, er starb auf der Rückreise, und gab sein lebhaftes Interesse für das Kloster sterbend noch dadurch zu erkennen, daß er ihr einen Theil des Kreuzes Christi überschickte, welches den Ort vor dem alten Erbfeinde, der bereits durch die Bekehrung zum Christenthum vertrieben war, vollständig sichern sollte.

Dedo’s Erbe ward sein Bruder, der Graf Konrad von Wettin. Dieser hatte einen heftigen Kampf mit dem Markgrafen von Meißen, Heinrich von Eilenburg, geführt, den er nicht als ehelichen Sohn anerkannte, und somit für unberechtigt, die Markgrafschaft zu führen, halten mochte, war aber von diesem, seinem Vetter, gefangen genommen und auf dem Schlosse Kirchberg bei Jena in harter Haft gehalten worden. Nach Heinrich’s Tode, 1123, wurde er frei, und erhielt nun auch die Markgrafschaft Meißen, die er indeß mit dem Schwert in der Hand gegen andere Ansprüche vertheidigen mußte.

Im ersten Schenkungsbriefe, den Konrad der Stiftung seines Bruders zukommen ließ, verlieh er ihr das Kirchlein zu Löbejün mit 26 Hufen, das zu Ostrau mit 4 Hufen, überdies noch 120 Hufen aus seinem Eigenthume. Auch seine Gemahlin, Lukardis, eine Schwäbin, war gegen dieselbe nicht weniger freigebig; 44 Hufen, unmittelbar in der Nähe des Petersberges, wies sie ihm zu, darunter 13 in Salzmünde, 5 in Pfützenthal. –

Die Stiftung ward vom Papste bestätigt und festgestellt, das Stift solle das Recht haben, seine Pröpste selbst zu wählen, der Erzbischof von Magdeburg aber solle die heiligen Weihen der Kirchen, Altäre und Priester unentgeltlich verrichten und jedesmal das älteste Glied aus dem Hause Wettin Schirmvogt über die Kirche sein, ohne übrigens irgendwelchen Lohn oder Dienste dafür in Anspruch nehmen zu dürfen; niemals sollte der Lauterberg befestigt werden. Die Stiftung war dem heiligen Petrus gewidmet. Im Jahre 1156 aber legte der Markgraf Konrad, der ein hochgebietender Herr geworden war, seitdem er namentlich auch die Markgrafschaft Lausitz vom Kaiser erhalten hatte, in der Kirche feierlich die Waffen ab zum Zeichen, daß er mit weltlichen Dingen nichts mehr zu schaffen haben wollte, und trat selbst, den seiner Zeit so mächtigen Wiprecht von Groitsch nachahmend, am Andreastage (1156 den 30. Nov.) als Mönch in das Kloster ein. Es war eine glänzende Versammlung, in deren Mitte der hohe Herr das Kleid des alten Menschen ablegte und aus den Händen seines eigenen Neffen, des Erzbischofs Wichmann von Magdeburg, das Ordensgewand entgegennahm. Da waren versammelt Erzbischof Wichmann, Markgraf Albrecht von Brandenburg, die Söhne des Markgrafen Konrad: Markgraf Otto von Meißen, Markgraf Dietrich von der Lausitz, Graf Heinrich von Wettin, Dedo, Graf Rochlitz und Friedrich, Graf von Brene, und eine große Anzahl hoher geistlicher und weltlicher Herren und ritterlicher Dienstmannen. Niemand aus der zahlreichen Versammlung konnte sich der Thränen enthalten, daß ein so hoher Fürst die Armuth eines Mönches fürstlichen Ehren vorzog. Als die feierliche Einkleidung des neuen Mönches vollendet war, rief derselbe nochmals die Söhne zu sich, und empfahl ihnen die Kirche, deren Glied er nun selbst geworden war. Alle Schenkungen, welche er oder seine Gemahlin an die Kirche gemacht hatten, waren schon vorher durch seine Söhne ausdrücklich bestätigt worden: er fügte zuletzt noch den Wald an der Ostseite des Berges hinzu. – Allein der neue Mönch überlebte seinen Eintritt nicht lange. Nach zwei Monaten und fünf Tagen starb er am 5. Febr. 1157, und ward kurz darauf feierlich wiederum von seinem Neffen in der Mitte des Langschiffes vor dem Altare des heiligen Kreuzes neben seiner vor ihm verstorbenen Gemahlin und seiner Schwester begraben. Nach den reichen Schenkungen des Fürstenhauses mochte nun auch die Zahl der Mönche zugenommen haben, so daß der kleine Chor allmählich für die Zahl derselben zu klein wurde; und so brach der vierte Propst Eckehard 1174 den Chor der Kirche ab in der Absicht, denselben in neuem vergrößerten Maßstabe wieder aufzubauen. An das Langschiff, das er unverändert ließ, wurde ein Kreuzschiff geschlossen, dem sich dann der hohe Chor in größern Dimensionen nebst einigen Capellen anschloß. Im Jahre 1184 war der ganze Bau beendet und am 1. August – Petri Kettenfeier – wurde die Kirche zum zweiten Male, diesmal vom Bischof Eberhard von Merseburg, geweiht. Dieser selbe Propst Eckehard fing im Jahre 1154 auch den Bau des neuen Klosters an, da die Mönche bis dahin an der Westseite der alten Taufcapelle gewohnt hatten, und baute auch das Hospitium oder das Fremdenhaus südöstlich in einiger Entfernung von der Kirche, wo noch heutzutage die Umfassungsmauern und einige Gewölbe erhalten sind. Allein noch in demselben Jahrhundert erging über die Stiftung eine schwere Prüfung. Durch die Unvorsichtigkeit eines Soldaten nämlich, der im Kloster bewirthet wurde und sich bei Nachtzeit am Feuer wärmte, geschah es, daß im westlichen Ende des Klosters in einem hölzernen Gebäude Feuer ausbrach, welches bei heftigem Winde so schnell um sich griff, daß bald Alles, was von der Flamme verzehrt werden konnte, niederbrannte. Nur die alte Capelle, der Thurm und die Umfassungsmauern der neuen Kirche und das Hospitium blieben verschont; das Beschädigte wurde jedoch binnen kurzer Zeit von dem Propste Walther wieder hergestellt. Im dreizehnten Jahrhundert sind dann an der Kirche wesentliche Veränderungen nicht mehr vorgenommen worden.

[323] Mit dem Tode des eben erwähnten Propstes Walther erreichte aber auch die Blüthezeit der ganzen Stiftung ihren Höhepunkt; nach seinem Tode sinkt sie ganz rasch herunter. Das Hausgesetz Konrad’s, daß jedes Mal das älteste Glied des Wettinischen Hauses die Vogteigerechtigkeit haben sollte, trug dazu nicht wenig bei. Denn aus diesem Grunde wohl hauptsächlich gründete die markgräflich’ meißnische Linie eine neue Stiftung Alt-Zelle zwischen Leipzig und Dresden, dem sie ihre volle Gunst und Liebe zuwandte; und selbst, als die Vogteigerechtigkeit zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts wieder an den Markgrafen Dietrich von Meißen, den hochherzigen Gönner Walthers von der Vogelweide, übergegangen war, blieb das Kloster der Verwilderung und Zuchtlosigkeit preisgegeben. Wir besitzen über diese Vorgänge die genauesten, wenn auch wohl nicht ganz unparteiisch gehaltenen Berichte in der Chronik des Petersberges selbst, die ein Mönch aus dem Kloster, wahrscheinlich im Anfange der dreißiger Jahre des dreizehnten Jahrhunderts, geschrieben hat. Leider aber bricht dieselbe mit dem Jahre 1225 ab, so daß wir über den Schluß der Verwirrung im Unklaren sind. Das, was er erzählt, ist recht geeignet, uns Detailbilder über die Zustände der Geistlichkeit im dreizehnten Jahrhunderte zu geben, die der größte deutsche Lyriker, Walther von der Vogelweide, in so grellem Lichte schildert. Ja, es dürfte vielleicht nicht ohne Grund angenommen werden, daß Walther seine berühmten Strafgedichte gerade im Hinblick auf die zerrütteten Zustände dieses Klosters gesungen habe, da er sich in Thüringen und Meißen aufgehalten hat und mit den Verhältnissen anderer Klöster in diesen Gegenden nicht unbekannt war:

Eh’ ich noch länger so den Schuh
Mich drücken ließe, wie ich thu’,
Eh’ würd’ ich Mönch in Toberlu (Dobrilugk).

Vom Anfange des dreizehnten Jahrhunderts an blieben die Kirche und die Klosterräume so ziemlich in demselben Zustande, bis die Aufhebung des Klosters unter Herzog Heinrich im Jahre 1540 erfolgte. In diesem Jahre wurde die erste evangelische Kirchenvisitation auf dem Petersberge gehalten, die Klosterstiftung wurde aufgehoben, die Güter zog der Landesherr ein und ein Amtsschösser ward für das Amt Petersberg bestellt. Die Klostergebäude wurden von demselben als Wirtschaftsgebäude benutzt und selbst ein Theil der großen Kirche mußte als Scheune dienen. Noch in demselben Jahrhunderte, im Jahre 1565, schlug endlich der Blitz in den Thurm, so daß die Kirche mit dem größten Theile der Klostergebäude abbrannte, während nur die alte Capelle vom Feuer nicht berührt wurde. An eine Wiederherstellung der Kirche in ihrem ursprünglichen Style wurde natürlich nicht gedacht, sondern man baute vielmehr in die Reste derselben eine Kirche hinein, deren Seiten die äußersten Mauern der Seitenschiffe, die das Querschiff vom Lang schiff trennende Mauer und dieser entsprechend eine vierte mitten durch das Mittelschiff und die Seitenschiffe bildeten. Durch diesen Bau zerstörte man noch Vieles, was die Elemente übrig gelassen hatten, und in diesem Zustande blieb denn die Ruine mit der in sie hineingezwängten Kirche bis in das Jahr 1854.

Dennoch aber zog sie auch in dieser Gestalt zahlreiche Freunde der Kunst an, vor Allen den König von Preußen und den jetzigen König Johann von Sachsen. Beide besuchten am 3. Juni des Jahres 1831 den Ort, wo die Grabstätten des ersten Markgrafen von Meißen und so mancher anderer Glieder aus dem Hause Wettin sich befinden. König Friedrich Wilhelm IV. dachte gar bald nach seiner Thronbesteigung an eine Wiederherstellung derselben, und schon 1842 wurde ein Beamter auf den Petersberg gesandt, um einen Ueberschlag über die Kosten der Restauration aufzunehmen. Seit dieser Zeit nahm man Bedacht, das, was noch zu retten war, zu erhalten, und nur die alte Capelle mußte im Jahre 1843 ab getragen werden. Im Sommer 1853 wurde Befehl gegeben, das Kreuzschiff und den hohen Chor auszubauen, die Bogen des Kreuzschiffes zu öffnen und den hohen Chor mit der bisherigen Kirche wieder zu verbinden. Dieser Plan aber zeigte sich bald unausführbar, die bisherige Kirche ward ganz abgetragen und nun die alte Kirche in der ursprünglichen Gestalt, so weit man ihr aus den Ueberresten und aus den historischen Nachrichten nachkommen konnte, wieder hergestellt. Am 8. Septbr. 1857 wurde sie vom Könige von Preußen vor einer glänzenden Fürstenversammlung dem gottesdienstlichen Gebrauche feierlichst übergeben.

Die Herstellung hatte einen Kostenaufwand von mehr als 46,000 Thalern erfordert.

Von den Ahnen des jetzigen sächsischen Königshauses liegen auf dem Petersberge begraben: Konrad, Graf von Wettin, der Gründer des Klosters und erster Markgraf von Meißen aus dem Hause Wettin, gest. am 5. Februar 1157, seine Gemahlin, seine Schwester und sein Sohn Heinrich, gest. 1182, Friedrich, Graf von Brene, Heinrich’s Bruder, Dietrich, Markgraf von Osterland, Heinrich der Jüngere, Enkel Konrad’s, gest. 1187, Ulrich, Graf von Wettin, gest. 1206 und ein erst 12 Jahre alter Knabe Heinrich, Sohn Ulrichs, gest. 1217. Die irdischen Ueberreste dieser Vorahnen ruhten sämmtlich in der oben erwähnten Capelle und waren mit Steinbildern gedeckt, die aber in Folge der Restauration der Capelle jetzt einen andern Platz erhalten haben.




Interessante Zahlen- und Größen-Verhältnisse.
Die Zusammensetzungen des Alphabets. – Was und wie viel man mit 25 Buchstaben füllen kann. – Die menschlichen Laute. – Die Tonverbindungen. – Scat- und Whistspiel.


Interessantes aus der Mathematik? werden die meisten Leser ausrufen und ungläubig den Artikel bei Seite legen oder mißtrauisch einen zaghaften Blick hineinwerfen. Interessantes aus der trockensten und, wie Viele glauben, schwierigsten Wissenschaft, – das gehört zu den unmöglichen Dingen. Und doch sind viele Partien der Mathematik besonders geeignet, unser Interesse zu wecken, da sie uns eher wie jede andere Wissenschaft an sicherer Hand auf die Grenzen des vernünftigen, menschlichen Denkens führt und von hier aus eine Rundschau über ferne unbekannte Gebiete gestattet, die, in Nebeldunst gehüllt, sich bis in’s Unendliche erstrecken. Denn das Unendliche und sein Gegensatz, das Nichts, beide für den Menschen unbegreifbar, in denen jede Speculation, jedes Denken sich verliert, und die doch eben wegen ihrer Unnahbarkeit immer von Neuem uns reizen, ihrem Wesen nachzugrübeln; diese läßt uns die Mathematik wenigstens ahnen, wenn auch nicht verstehen. Die Zahlenreihen, die so Mancher als das Trockenste, Geistloseste mit verächtlichem Blick übersieht, oder die Formeln, von den Meisten für todt gehalten, sie bergen in sich die interessantesten Geheimnisse in Ursprungs Umfang und Bedeutung. Nirgends ist eine größere Harmonie zwischen den einzelnen Theilen, nirgends eine größere Gesetzmäßigkeit zu entdecken, und selbst das scheinbar Widersprechende steht in genauer Beziehung zu seinem Gegensatze. Vielleicht gelingt es mir in nachstehenden Artikeln, einige interessante Seiten der Mathematik darzustellen und Manchen von dem Vorurtheile zu befreien, das er gegen diese Wissenschaft hegt.

I.
Vielfältigkeit der Zusammensetzungen.

Wenn ich von den fünfundzwanzig Buchstaben unseres Alphabets je zwei, drei u. s. w. bis zu fünfzehn zusammenstelle, so daß ich nicht nur auf die Anzahl der einzelnen Elemente, sondern auch auf ihre gegenseitige Stellung sehe und dieselben beliebig oft in einer Zusammensetzung wiederholen darf, so bekomme ich bei Berücksichtigung aller möglichen Fälle und Versetzungen die ungeheuere Menge von circa 970 Trillionen solcher Zusammenstellungen. Ist nämlich eine Reihe von Gegenständen gegeben, so kann mir die doppelte Aufgabe werden, entweder diese Gegenstände in alle nur möglichen Stellungen zueinander zu bringen, oder alle die verschiedenen Verbindungen aufzusuchen, welche sich mit je zwei, drei oder mehreren vornehmen lassen. Natürlich kann auch Beides zugleich verlangt werden. So lassen sich z. B. die vier Buchstaben e, i, l, s vierundzwanzig Mal[1] versetzen, permutiren, und die sechs Buchstaben e, i, l, n, s, t geben fünfzehn[2] verschiedene Combinationsformen, wenn jedes Mal vier dieser Zeichen, aber nie dieselben wieder, verbunden werden. Soll nun jede dieser Combinationsformen [324] auch wieder permutirt werden, so gibt es für jede einzelne wieder vierundzwanzig mögliche Versetzungsformen und man erhält mithin 360 Verbindungen von je vier Buchstaben aus den sechs gegebenen Elementen e, i, l, n, s, t. Ist es außerdem gestattet, die einzelnen Buchstaben beliebig oft zu wiederholen, so findet man sogar 1296 verschiedene Formen zu je vier Elementen. Hierdurch ist jedoch die Zahl der Zusammensetzungen noch keineswegs erschöpft, denn so gut ich von jenen sechs Elementen je vier zusammenstellte, kann ich es auch mit je zwei, drei, fünf oder sechs thun, so daß sich die Anzahl der Verbindungen aus diesen sechs Buchstaben auf die Hohe von 55 980 steigert. Man erkennt aus dem angeführten Beispiele leicht, daß mit der Vermehrung der gegebenen Elemente die Anzahl der möglichen Verbindungen wachsen muß, und es wird uns nun nicht mehr wundern, daß sich aus den fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets jene ungeheuere Menge von circa 970 Trillionen [3] Zusammensetzungen ergibt, wenn auch nur je zwei, drei bis fünfzehn Buchstaben eine Zusammensetzung bilden.

Doch untersuchen wir, was diese Zahl zu sagen hat. So wie sie da vor uns steht, erscheint sie eben als große Zahl, als weiter Nichts. Bei genauerer Betrachtung lernen wir sie erst verstehen. Sie wird gebildet aus circa 14,512 Trillionen[4] Buchstaben. Wenn wir alle diese Buchstaben hinter einander in eine Reihe schreiben wollten, so würde dies, 141/2 Buchstaben auf einen Zoll, 12 Zoll auf einen Fuß und 25 000 Fuß auf eine geographische Meile gerechnet, eine Zeile geben von circa 3333 Billionen geographischen Meilen, also die Entfernung der Erde von der Sonne, welche circa 21 Millionen Meilen beträgt, ungefähr 160 Millionen Mal an Lange übertreffen. Nehmen wir ferner an, daß auf die Fläche eines Quadratzolles 20 Buchstaben geschrieben werden können, so sind zur Aufnahme aller jener Buchstabenverbindungen (144 Quadratzoll auf einen Quadratfuß, 625’000 000 Quadratfuß auf eine Quadratmeile gerechnet) nicht weniger als 928 Millionen Quadratmeilen erforderlich, oder, mit andern Worten, 100 Kugeln von der Größe der Erdkugel würden eben ausreichen, wollte man alle jene Worte aufzeichnen. Wäre das Material, auf welches man schreibt, Papier von 32 Zoll Länge und 18 Zoll Breite der Bogen und betrüge die Dicke von 50 übereinander liegenden Bogen, deren 600 zu einem Foliobande vereinigt sind, einen Zoll, so würde man doch, obwohl jedes Blatt von oben bis unten, von rechts nach links dergestalt mit Buchstaben überdeckt ist, daß nicht der geringste freie Raum übrig gelassen wäre, die artige Bibliothek von 104 Billionen Folianten bekommen. Um diese unterzubringen, sind circa 80 Millionen großer Säle nothwendig, deren jeder 512 Fuß lang, 216 Fuß breit und 48 Fuß hoch und so voller Folianten gepfropft ist, daß kein Messerrücken Raum zwischen den einzelnen Bänden sich befindet. Denken wir uns diese Bibliotheksäle alle in einer Reihe gebaut, so würden sie eine Länge von 1´600 000 deutschen Meilen erreichen oder ziemlich 300 Mal einen Gürtel um die Erde bilden, da, wo deren Durchmesser am größten ist. – Und in diesen Sälen nichts als Bücher, und in den Büchern nichts als Buchstaben, und – alle diese Buchstaben nur die verschiedenen Zusammensetzungsformen bildend der fünfundzwanzig Zeichen des Alphabets.

Noch größer ist die Anzahl aller Zusammensetzungen der Laute, deren die menschliche Stimme fähig ist und die sich zur Wortbildung eignen. Alle Sprachen, seien sie auch noch so verschiedenen Stammes und Reichthums, haben doch gewisse primitive Laute des menschlichen Sprachorgans zum Ausgangspunkt. Das „A“ und das „O“ klingt uns eben so gut aus der Arie der deutschen Opernsängerinnen, als aus den wilden Schlachtgesängen der Irokesen oder den einförmigen Gebeten der Mandarinen entgegen. Und doch, welcher Unterschied zwischen diesen und den hundert andern Sprachen! Kaum ließe es sich begreifen, wie die Menschen, doch so weniger Stimmlaute fähig, so verschiedene Sprachen und Dialekte erfinden konnten, wenn uns nicht die Betrachtungen über die Mannichfaltigkeit der Combinationen Aufschluß darüber ertheilten. Nehmen wir nur 70 verschiedene Stimmlaute an und suchen die Summe der Combinationen und deren Versetzungen von je zwei, drei bis zwanzig Lauten, so resultirt doch schon eine Riesenzahl von 37 Ziffern oder circa 8 Sextillionen.[5]

Gewiß wird die Voraussetzung, daß davon nur etwa der billionte Theil von der Beschaffenheit ist, daß ihn eine menschliche Zunge aussprechen kann, nicht zu hoch gegriffen erscheinen, und dennoch erhält man dadurch einen solchen Wörterschatz, daß jeder der Tausend Millionen auf Erden lebenden Menschen seine eigene Sprache mit einem Vorrath von 8 Tausend Billionen Wörtern haben könnte. Welch´ eine Aussicht für Sprachforscher! Wenn nur alle diese Lautverbindungen aufgezeichnet wären! Da würde neben einem gälischen Worte eins aus dem Sanskrit stehen, neben dem französischen ein Wort aus der Sprache der Buschmänner. Da könnte man Stammverwandtschaften und Etymologie studiren, denn von Allem läge die gemeinsame Wurzel klar und wahr vor Augen. Leider muß es indeß beim frommen Wunsche bleiben, da wir mit Hinblick auf die Betrachtungen, welche wir über die Größe der Zahlen vorhin anstellten, nicht in Zweifel sein können, daß diese Aufzeichnung zu den unmöglichen Dingen gehört. Was dort die Einheit war, sind hier 500 Billionen, so daß z.B. die Masse des Papiers, auf welches alle diese Lautcombinationen geschrieben werden könnten, 31/2 Millionen solcher Kugeln ausmachen würde, wie unsere Mutter Erde ist.

Auf der ungeheuren Menge der Combinationen und deren Versetzungen, welche mit einer bestimmten Menge von Zeichen möglich sind, beruht ferner die Mannichfaltigkeit der Tonverbindungen. Schon beim Pianoforte allein (dasselbe zu 6 Octaven, die Octave zu 12 halben [6] Tönen angenommen) findet man über eine halbe Billion[7] zwei- bis zehnstimmige Accorde, wobei man jedoch von den Regeln des Generalbasses und den Gesetzen der Harmonielehre absehen muß. Vielleicht wird der millionte Theil wirkliche Consonanzen geben. Diese nun, als einzelne Elemente betrachtet, lassen sich auf dieselbe Weise combiniren und variiren, wie wir es mit den Buchstaben vorhin gethan haben. Diese Zusammenstellungen geben aber die eigentlichen Musikstücke. Wollte Jemand sich an’s Werk machen, alle diese Zusammensetzungen oder Versetzungen aller consonirender Accorde auf Noten zu bringen, so würde er ohne alle musikalische Schöpfergabe die schönsten Opern, Kirchenmusiken und Oratorien componiren können. Es würde dann nicht mehr die Rede sein von guten Componisten, sondern nur von guten musikalischen Combinatoren; ebenso wie die geistreichste Autorschaft eine illusorische werden müßte, sobald die sämmtlichen Worte einer Sprache zu Millionen combinirt würden. Doch deshalb brauchen weder Componisten noch Autoren irgend eine Besorgniß zu hegen, daß ihnen ihr Ruhm werde wegcombinirt werden. Wenn schon die paar Buchstaben des Alphabets oder die 70 Stimmlaute des menschlichen Sprachorgans, zu fünfzehn oder zwanzig verbunden, Zahlen ergaben, die erst zergliedert werden mußten, um einen Maßstab an sie legen zu können, so fehlt uns ein solcher Maßstab hier schon aus der untersten Verbindungsstufe völlig. Vergebens sehen wir uns nach einer Vergleichungszahl um, welche unser Geist in seiner Größe und Ausdehnung zu umfassen vermag, wir glauben an den Pforten der Unendlichkeit zu stehen, obwohl wir uns fortwährend im Endlichen bewegen. Höchstens kann die Geschwindigkeit des Lichtes, das doch in der Secunde circa 40,000 Meilen zurücklegt, wenn es Hunderte von Jahren braucht, um von einem der größten Fixsterne zu uns zu gelangen, uns ahnen lassen, was ein paar hundert Billionen Meilen für eine Entfernung ist. Weiter hinaus hilft auch dieser Maßstab nichts mehr, denn selbst eine solche Fixsternenweite als Einheit gesetzt, kommen wir auf die unbegreiflichsten Zahlen, wenn wir versuchen wollten, eine einzige Walzerclausel zu combiniren. Wir finden, daß die Anzahl der Fälle durch eine Zahl von 121 Ziffern dargestellt wird. Keine Raum- oder Zeitgröße ist hier im Stande, unserm staunenden Geist zu Hülfe zu kommen, der schon bei 13 Ziffern an der Ungeheuerlichkeit der dargestellten Größe erbebt, [325] und doch ist selbst diese Größe etwas Verschwindendes gegen das Unendliche.

Das Kartenspiel verdankt seine Abwechselung und deshalb sein Interesse ebenfalls der Mannichfaltigkeit der möglichen Verbindungen und Versetzungen, die sich mit den Karten eben so gut vornehmen lassen, wie mit den Buchstaben oder Tönen. Wir erfahren bei der Berechnung der Summe der Variationen, denen ein bestimmtes Spiel unterliegt, nicht nur, wie viel verschiedene Spiele überhaupt in der Karte enthalten sind, sondern auch, wie oft ein und dasselbe Spiel der Wahrscheinlichkeit nach wiederkehren wird. Der Scat wird mit der deutschen Karte, also mit 32 Blättern, unter 3 Betheiligten gespielt, so daß jeder Mitspielende 10 Karten erhält, die übrig bleibenden 2 für den Spieler in Reserve in den Scat gelegt werden. Die Verbindungen je zweier Elemente von 32 gegebenen ist eine 496 fache, es kann also 496 Mal ein anderer Scat liegen, und nach 496 Spielen werden der Wahrscheinlichkeit nach wieder einmal dieselben zwei Blätter liegen. Von den übrigen 30 Blättern kann nun der erste der Mitspielenden bei einem und demselben Scate 30´045 015 Mal verschiedene Karte bekommen, während sich die letzten zwanzig Karten auf den zweiten und dritten Mitspielenden dergestalt vertheilen, daß sie unter sich wieder die Karte 184 756 Mal umwechseln können. Auf jede zwei Blätter des Scates kommen also 30´045 015 mögliche Spiele der Vorhand und auf jedes dieser Spiele wieder 184 756 verschiedene Spiele in der zweiten und dritten Hand. Hieraus ergibt sich, daß die Zahl der möglichen Fälle überhaupt 1 376´´645 204 252 320 beträgt. Soviel Spiele werden gemacht werden müssen, wenn alle überhaupt denkbaren Spiele durchgespielt werden sollen. Es ist daher auch die Wahrscheinlichkeit, daß erst nach jener Anzahl von Spielen jeder Mitspielende bei denselben zwei Blättern des Scates dieselbe Karte erhält. Was wäre das aber für ein Stückchen Arbeit, alle diese Spiele durchzuspielen! Gesetzt, drei echte Scatbrüder machten sich daran mit dem Vorsätze, nicht eher wieder aufzuhören, bevor das große Werk geschehen, wie lange müßten sie wohl sitzen? Als tüchtige Spieler sind sie wohl im Stande, in der Stunde zwanzig Spiele zu absolviren, sie spielen Tag und Nacht und müssen sitzen – über 7850 Millionen Jahre. Wenn seit Christi Geburt vier Millionen Spieltische unaufhörlich Tag und Nacht fortgespielt hätten, sie würden noch nicht mit allen diesen Spielen fertig sein.

Eine noch größere Abwechselung in Folge der größeren Kartenzahl bietet das Whistspiel dar. Bei diesem wird der einzelne Spieler erst nach 635 013´559 600 Spielen wieder einmal dieselbe Karte bekommen und es sind im Ganzen circa 178 815 Quadrillion Spiele möglich, eine Anzahl, welche so groß ist, daß keck behauptet werden kann, daß die ganze Whist spielende Gesellschaft von Erfindung dieses Spieles ab bis jetzt noch nicht den Billiontentheil aller im Whist überhaupt möglichen Touren durchgespielt hat. Denn wollten auch alle tausend Millionen Erdbewohner Tag und Nacht fortspielen und jede Stunde zwanzig Partien machen, sie würden demungeachtet vierzig Billionen Jahre brauchen, einen Zeitraum, während dessen eine Schnecke, die stündlich zwei Fuß zurücklegt, 1½ Millionen Mal den Weg von der Erde nach der Sonne durchkriechen könnte, obwohl sie zu dem einmaligen Wege schon achtundzwanzig Millionen Jahre brauchen würde.




Das Insecten-Vivarium.

„Der Ocean auf dem Tische“ oder das Marine-Aquarium, das in der Gartenlaube mehrmals zur Sprache kam, hat viele Freunde in Deutschland gefunden. Es liefen ganze Dutzende von Briefen theils an die Redaction, theils an den Verfasser ein, in welchen der Wunsch ausgesprochen ward, sich solche englische Marine-Aquarien anzuschaffen. Aber alle diese frommen Vorsätze scheiterten an der Schwierigkeit und Kostspieligkeit der Anschaffung und Uebersendung. Aus dieser Verlegenheit rettete der in der Gartenlaube gemachte Vorschlag, Süßwasser-Aquarien aus heimischen Wässern und Mitteln anzulegen. Jedem ist leicht ein Fluß, Teich oder Graben zugänglich, und wer Glück und einen Glaser hat, wird wenig Schwierigkeiten finden, sich einen kleinen Krystallpalast mit einem Stückchen Fluß oder Teich unten anzuschaffen. Das nöthige entomologische Gekrieche und Gewimmel hinein kann an einem einzigen schönen Junimorgen zusammengekrebst werden. Zwar ersetzt ein solches Süßwasser-Aquarium die zoophytischen, thierpflanzlichen Wunder der Meerestiefe nicht, aber wo man die Natur auch packe, überall ist sie interessant und gibt dem Menschen etwas zu rathen, sich zu wundern und alle Margen über irgend eine neue Offenbarung, List oder Laune zu freuen.

Das Insecten-Vivarium.

Und wer mit diesem süßen Surrogate des salzig-englischen nicht zufrieden ist, dem können wir jetzt ein anderes, ganz funkelnagelneues von England her bieten, das vielleicht noch interessanter und leichter anzuschaffen und zu halten sein wird, das „Butter-fliegen-Vivarium“, wie’s die Engländer nennen. Unter Butterfliege – Butterfly – verstehen sie nämlich den Schmetterling. Es handelt sich also um einen Schmetterlings-Krystall- Palast in der Stube mit allerhand fliegendem und kriechendem, buntem und goldenem Leben. So ein Krystall-Palast voller Raupen, Chrysaliden und daraus hervorplatzender, entomologischer persischer Prinzen oder geflügelter Psychen – Sinnbildern der Unsterblichkeit – ist ein ganz anderer Genuß und eine viel reichere Zimmerdecoration, als die an Stecknadeln gespießten, unter Glas und Rahmen aufgehangenen Schmetterlingsleichen. Wie wir aus der Abbildung eines Humphreys’schen Schmetterlings-Vivariums ersehen, zerfällt es in zwei Theile, eine wässerige Unter- und Wurzel-, und eine luftige Ober- und Blumenwelt voll bunten Lebens. Es ist also eine höhere Auflage des Süßwasser-Aquariums. Unten mögen die kleinen Wesen wohnen, denen das Wasser die Luft ersetzt, auch eine Menge kleine amphibische Curiositäten. Den oberen Theil richtet man für Raupen, Chrysaliden und Schmetterlinge ein, die bekanntlich oft als Chrysaliden im Wasser wohnen und sich erst in die Oberwelt begeben, wenn sie sich reif fühlen, in den Himmel zu fahren und einen neuen Adam anzuziehen. Wer denkt nicht gern an die graziöse Wasser-Libelle, diesen lustigen, beschwingten entomologischen Leichtsinn? Sie war kurz vorher eine ekelhafte, unersättlich gefräßige Made des Wassersumpfes. Solche Wandelungen und Auferstehungen tatsächlich in allen ihren Stadien zu beobachten, ist [326] ein Naturstudium, das vor lauter Freuden, die es bietet, aufhört, eine Anstrengung zu sein.

Im Allgemeinen weiß zwar Jeder, daß Gewürm, Raupen und Schmetterlinge nicht mehr gehext und gezaubert werden, sondern ganz natürlich aus ordentlich gelegten und ausgebrüteten Eiern auskriechen, furchtbar fressen, dann den Appetit verlieren, sich in Selbstvergessenheit zurückziehen, erstarren und scheintodt hängen bleiben, bis ihnen die Sonne den Pelz sprengt und bunte Schmetterlinge daraus hervorflattern. Aber wie hängen Larven, Raupen und Schmetterlinge zusammen? Wie sah dieser und jener Tages-, Nacht- und Dämmerungsfalter als Raupe aus? Wie wird die Chrysalide als Schmetterling aussehen? Zur Beobachtung und Sicherung der Identitäten der verschiedenen Gattungen und Arten in ihren verschiedenen Wandelungen gibt es nichts Besseres und Anmuthigeres als ein solches Insecten-Vivarium im Zimmer. Daß man es außerdem mit den schönsten Wasser- und Sumpfpflanzen, Käfern und unzähligen kleinen Geschöpfchen, die in, auf und an dem Wasser leben, bevölkern kann, versteht sich von selbst. Ueberhaupt liegt hier die Combination eines Treibhauses für Sumpf- und Wasserpflanzen, die viel schöner sind, als man im Allgemeinen glaubt, eines Süßwasser- und Insecten-Aquariums und Vivariums sehr nahe. Es gibt Engländer, die oben noch Aviarien oder Vögel-Asyle angebracht haben, so daß man Alles, was die Natur im Kleinen Schönes, Interessantes und Wunderbares bietet, in einem solchen lebendigen Naturalien-Cabinet-Krystall-Palaste am Fenster vereinigen kann.

Was das Glashaus für die Insecten betrifft, so kann man natürlich damit den größten Luxus treiben und es aus großen Spiegelscheiben kostbar und prächtig formen und fügen lassen. Aber auch kleine gewöhnliche Fensterscheiben, wenn nur unten gehörig wasserdicht gefügt und mit Löchern für Abzapfung abgestandenen Wassers versehen und oben für gute Ventilation eingerichtet, thun ihre Dienste, so daß man im Wesentlichen für ein paar Thaler dieselben Freuden und Genüsse ermöglichen kann, wofür ein Anderer doppelt so viel Fünfthalerscheine oder Louisd’or ausgegeben haben mag. Die Humphreys’schen Insecten-Vivarien sind bis jetzt in drei Größen vorräthig: drei Fuß lang, zwei Fuß sechs Zoll hoch und ein Fuß sechs Zoll breit – von Spiegelglasscheiben à vier Pfund; zwei Fuß sechs Zoll lang, zwei Fuß hoch und ein Fuß vier Zoll breit à drei Pfund zehn Schillinge, und zwei Fuß zwei Zoll lang, zwei Fuß hoch und ein Fuß vier Zoll breit à drei Pfund. Dies sollen die passendsten Größen sein. Kleinere Räume beengen die Bewohner und gewähren nicht genug Luft und Bewegungs-Terrain. Gewöhnliche und aus kleineren Scheiben zusammengesetzte Glaswände erlauben natürlich schon für einige Thaler ein Haus für die kriechende und fliegende Entomologie und die dazu gehörige Vegetation.

Was für Pflanzen und Käfer und Raupen und Schmetterlinge u. s. w. am Besten zusammenpassen, was hier nöthig, nützlich, schädllch ist oder im Interesse der Schönheit erlaubt oder wünschenswerth sein mag, über diese Einzelnheiten des Insecten-Vivariums sprechen wir wohl später und geben noch einige erläuternde Illustrationen. Einstweilen bemerken wir nur, daß der berühmte englische Entomolog Noel Humphreys ein prächtig illustrirtes Werk über das Insecten-Vivarium erscheinen ließ,[8] das von William Lay in King-Williamstreet, London, für sieben Schillinge sechs Pence bezogen werden kann.




Fulminanti.[9]
Aus der Mappe eines österreichischen Officiers.

„Fulminanti! Fulminanti! Wer will kaufen?!“ hörte ich mit einem markdurchdringenden Tone rufen.

Ich wandte mich sogleich nach der Gegend, aus welcher der Ruf kam, konnte aber den Rufer selbst nicht entdecken, eine dichte Menschenmenge, vor dem Palais des Grafen L. zusammengedrängt, versperrte mir die Aussicht in der Straße.

Es war in Padua im Jahre 1849 in einer der Hauptpassagen. Ich vermuthete eine Arretirung, die damals nicht zu den Seltenheiten gehörte, oder einen Unglücksfall und trat näher. Nochmals hörte ich dieselbe Stimme rufen:

„Fulminanti, Fulminanti, Herr Graf!“

Ich brach mir Bahn durch die Menge, was mir nicht sehr schwer ward, da ich Uniform trug. In der Mitte derselben erkannte ich den Grafen L., der eben seine ohnmächtig gewordene Tochter aufhob und Anstalten machte, sie in das Palais transportiren zu lassen.

„Fulminanti! Fulminanti!“ tönte es wieder.

Der Graf erhob den Kopf und blickte wüthend umher, dabei fiel sein Haß sprühendes Auge auf mich; er erkannte mich sogleich, übergab seine Tochter der herbeigeeilten Dienerschaft und schritt auf mich zu. Ich hatte in einem Café nur oberflächlich seine Bekanntschaft gemacht.

„Herr Lieutenant,“ sprach er mich mit zitternder Stimme an, „Herr Lieutenant, ich ersuche Sie, den Mann, der hier seine Zündhölzchen zum Verkauf ausruft, sogleich zu verhaften. Es ist ein höchst gefährliches Individuum.“

„Herr Graf, wie kann ich –“ wollte ich entgegnen, aber er ließ mich den Satz nicht vollenden und fuhr fort:

„Die Verantwortung fällt auf Sie, Herr Lieutenant. Ich habe Sie aufmerksam gemacht – verhaften Sie ihn; in einer halben Stunde bin ich bei Ihnen und werde Ihnen die Gründe meiner Denunciation bringen.“

Ich wollte noch Einwendungen machen, allein der Graf hatte mich schon verlassen und war in sein Palais geeilt.

„Fulminanti, Fulminanti, Herr Graf!“ rief es wieder. „Fulminanti, Herr Graf!“ wiederholte jetzt die Menge im Chore.

Ich suchte nun zu dem Ausrufer zu gelangen; endlich hatte ich ihn erreicht. Ich faßte ihn am Arme, um ihn wegen Störung der Ruhe zur Rechenschaft zu ziehen, wie groß war meine Ueberraschung, als ich in ihm meinen Schulcameraden Giorgio, den Bruder des Grafen L., erblickte!

Auch er hatte mich sogleich wieder erkannt, wußte aber nicht, wie ich aus seinen Mienen lesen konnte, ob er die Bekanntschaft erneuern sollte.

„Giorgio, Du in Padua?“ sprach ich ihn an.

„Seit Kurzem!“ antwortete er, mit seinem Entschlusse noch nicht einig.

„Und was machst Du hier?“ fragte ich weiter.

„Ich verkaufe Zündhölzchen – mit Schwefel!“ entgegnete er ruhig.

„Wir sind doch nicht im Carneval,“ fuhr ich lächelnd fort, „wozu diese Maskerade?“

„Ich bin nicht maskirt; Du hättest mich, wenn ich es wäre, gewiß nicht erkannt,“ entgegnete er.

Da sich bereits Neugierige um uns versammelt hatten, bat ich ihn, mir in meine Wohnung zu folgen.

„Ist das ein Befehl oder eine Einladung von Dir?“ frug er, setzte aber dann schnell hinzu: „es bleibt sich gleich, ich folge Dir!“

In meiner Wohnung ließ ich eine Flasche Wein bringen und ersuchte ihn um Aufklärung über die Scene in der Straße vor dem Palais seines Bruders und über ihn selbst.

„Das heißt, Du willst Dir eine Geschichte von mir erzählen lassen?“ sagte er, das Glas leerend.

„Und zwar eine sehr interessante, wie ich vermuthe,“ bejahte ich.

„Das Beste an dieser Geschichte wird für Dich jedenfalls deren Kürze sein. Du sollst sie hören; ich wünschte, die ganze Welt wollte sie hören.“

Bei diesen Worten nahmen seine Züge einen unheimlichen Ausdruck an, er stierte mehrere Minuten lang auf den Fußboden, fuhr dann mit der seinen weißen Hand, die seltsam mit seiner Kleidung contrastirte, über seine Augen, wie um ein Bild, das sich in denselben entschleierte, zu verwischen, und begann mit sicherem, aber sarkastischem Tone:

[327] „Mein Bruder und ich konnten uns von Kindheit an nicht mit einander vertragen. Vor zehn Jahren, beiläufig, schieden sich auch unsere politischen Meinungen und ein ferneres Beisammenleben wurde unerträglich. Ich war österreichisch gesinnt aus dem sehr einfachen Grunde, weil ich keinen italienischen Fürsten kannte, unter dessen Regierung wir hätten glücklicher werden können. Mein Bruder hingegen war in seinem Innern ein Mazzinist, der aber, wenn er in Padua lebt, stets die Maske eines loyalen Unterthaus trägt. Ich zog deshalb aus seinem Hause und kümmerte mich weder um ihn, noch um seine Familie.

„Es war eine kurze Zeit, in der mir das Glück lächelte, aber ich glaubte damals an Menschlichkeit, glaubte an ein Paradies! Ich liebte und wurde geliebt, wahr und innig. Ich weiß nicht, ob Du Dir von dem Glücke, das in reiner Liebe lebt, einen Begriff machen kannst. In wenigen Monaten wollte ich meine Rosina heirathen, die nicht aus adeligein Blute stammte. Ich wollte nur meine Versetzung nach Mailand abwarten, um die ich nachgesucht hatte. Ich war damals beim Kriegscommissariate angestellt.

„Eines Abends kam ich zu Rosina und fand bei ihr einen gewissen Broglio, eine Creatur meines Bruders, der ihr eben einen der schimpflichsten Anträge machte. Rosina warf sich laut weinend in meine Arme; Herr Broglio war vernünftig genug, sich ohne Aufsehen entfernen zu wollen, aber er schlich mir zu langsam gegen die Thüre, ich packte ihn deshalb und warf ihn die Treppe hinab. Er verrenkte sich dabei einige Glieder, die aber leider wieder eingerenkt werden konnten.

„Eine Woche später erhielt ich von Herrn Broglio ein Billet, in welchem er mir eine 100 fl.-Note, die ich ihm vor einiger Zeit geliehen, mit Dank zurückerstattete. Ich hatte diesen ihm erwiesenen Dienst im Taumel meines Glückes beinahe vergessen, um so mehr, als ich ihm dieses Geld nicht aus meiner Privatcasse gab. Broglio besuchte mich nämlich eines Tages im Bureau und bat mich, ihm jene Summe, die er augenblicklich brauchte, zu leihen. Ich hatte nicht so viel Geld bei mir und gab ihm dasselbe einstweilen aus der mir anvertrauten Casse des Wittwen- und Waisenfonds; Nachmittags konnte ich die Summe aus meiner Privatcasse ersetzen. Jetzt erst, als mir Broglio die Summe zurückschickte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, die Summe wieder in die Casse zu legen; ich kleidete mich daher schnell an und ging in das Bureau – ich kam zu spät.

„Auf Grund einer Denunciation war nämlich die Casse vor einer Stunde im Geheimen revidirt worden, ich wurde verhaftet, angeklagt und zu sechs Jahren Zuchthausstrafe verurtheilt. Bei dem Verhöre verdächtigte mich mein Bruder auch noch revolutionärer Gesinnungen und benahm sich sonst sehr brüderlich. Bevor ich meine Strafe antrat, sah ich Rosina noch einmal, das arme Kind war in ihrem Schmerz fast wahnsinnig geworden. Sie gelobte mir ewige Treue.

„Ich brachte sechs Jahre im Gefängniß zu. Ich überlasse es Deiner Phantasie, Dir meine sechsjährigen Leiden auszumalen, ich habe eben keine Lust, mein Gehirn mit der Erinnerung daran zu maltraitiren. Aber es kam endlich auch die Stunde meiner Erlösung. In dieser Stunde verurtheilte ich meinen Bruder zu gleicher Qual, wie ich sie erduldet. Ich kehrte nach Padua zurück.

„Vor Allem wollte ich Rosina sehen; sie wohnte nicht mehr in dem mir bekannten Hause. Ich erkundigte mich nach ihrer neuen Adresse. Man gab sie mir: Grube Nr. 5. Souterrain auf dem Friedhofe.

„Ich zuckte nicht mit den Augenwimpern, als ich sie erfuhr, ich ging ruhig hinaus, ich blieb zwei Tage stumm vor ihrer feuchten Wohnung liegen, ich wollte ihre Ruhe nicht stören. Am dritten Tage kehrte ich in die Stadt zurück. Rosina war todt und das war gut, denn dieser Engel hätte die harte Kruste von Haß, Rache und Menschenverachtung, die sich während der sechs Jahre um mein Herz gebildet, erweicht.

„Ich besuchte Freunde und Bekannte, aber ich hatte vergessen, daß mit der überstandenen Strafe das Verbrechen nach menschlicher Barmherzigkeit noch nicht gebüßt ist – man empfing mich demgemäß, das heißt wie einen Verbrecher.

„Ich wunderte mich gar nicht, daß mich mein Bruder, als ich ihn besuchte und um Unterstützung bat, zum Hause hinauswerfen ließ. Ich wußte es sogar vorher, daß es so kommen würde, und mein Besuch war nur eine Beobachtung der Etikette, ich durfte ihn bei meinen Visiten doch nicht übergehen, ich mußte ihm die Ehre zukommen lassen, mich hinausgeworfen zu haben.

„Wenn ich Rosina hätte zum Leben erwecken können, ich hätte es nicht gethan, denn sie würde dann nur gelebt haben, um von mir und meinem Schicksal ermordet zu werden.

„Mit genauer Noth erhielt ich durch Vermittlung eines meiner ehemaligen Diener die Befugniß, Zündhölzchen mit Schwefel verkaufen zu dürfen.

„Da man bei uns in Italien seine Artikel in der Straße laut ausrufen darf, so paßte dieser Erwerbszweig vollkommen zu meinem Plan. Ich faßte Posten vor dem Hause meines Bruders, und so oft er oder Jemand aus seiner Familie aus demselben trat, trug ich ihnen meine Waare an. Seine Frau und Tochter wurden regelmäßig ohnmächtig, er aber hat eine zähe Natur. Das Volk, das nach der ersten derartigen Scene gleich reichen Stoff zur Scandalgeschichte der Stadt ahnte, begann sich für mich zu interessiren, und als es mit dem Zusammenhang bekannt war, verhöhnte es den Grafen. Das wirkte mehr.

„Zuerst versuchte er, mich mit Gewalt der Behörden zu vertreiben, und als ihm dies nicht gelang, machte er mir die glänzendsten Anträge, wenn ich die Stadt verlassen wollte. Aber mir gefiel meine Stellung, ich war populär geworden und machte brillante Geschäfte, auch hatte ich mir einen Kreis von guten Bekannten erworben, freilich nur aus der letzten Classe des Volkes, aber ich fand, daß sie mehr taugten, als meine frühern Bekannten aus der ersten Classe mit Vorzug. – Ich blieb also in Padua und auf meinem Posten.

„Broglio, der Schurke, der auch in dem Hause meines Bruders wohnte, hatte eine solche Angst, daß er von dem Augenblicke an, als ich meinen Posten bezogen, gar nicht mehr ausging. Lätitia, meine Nichte, ein nervenschwaches Kind, erkrankte bedenklich; heute sollte sie ihre erste Promenade nach ihrer Genesung machen, aber wie es mir schien, hat der Doctor ihre Nerven nicht stärken können.

„Hier hast Du meine Geschichte bis auf den heutigen Tag, beim Verschluß warst Du ja zugegen.“

Zu bewegt, um etwas sagen zu können, brachte ich nur den Ausruf hervor: „Armer Giorgio!“

Ihn schien die Erzählung seiner Geschichte in bessere Stimmung gebracht zu haben, er schenkte sich das Glas voll, und trank auf das Wohl Oesterreichs.

Ich wollte mich eben vorbereiten, ihn mittelst warmer Worte zu bewegen, seine Sache aufzugeben, und wie ein echter Christ seinen Feinden zu verzeihen, als man an die Thüre klopfte. Ehe ich noch daran dachte, rief Giorgio schon: „Herein!“

Die Thüre ging auf, und Graf L. stand vor mir und seinem Bruder. Ich erhob mich rasch und bewillkommnete ihn mit der süßen Hoffnung, eine Versöhnung herbeizuführen. Der Graf aber warf wüthende Blicke auf mich und seinen Bruder.

Giorgio blieb ruhig sitzen und fragte den Grafen in einem impertinenten Tone, ob er vielleicht Fulminanti wünsche.

Dieser wandte sich, ohne von Giorgio weiter Notiz zu nehmen, zu mir und sprach mich mit Heftigkeit an.

„Herr Lieutenant, Sie beherbergen einen Hochverräther!“

„Wie so?“ fragte Giorgio statt Meiner.

„Dieser Mensch,“ dabei deutete der Graf auf Giorgio, „verheimlicht Waffen in seinem Quartier!“

„Ah!“ rief Giorgio aus; „weißt Du auch, wo ich wohne?“ fragte er weiter.

Der Graf schwieg.

Ich wiederholte nun Giorgio’s Frage und bat ihn, mir dessen Wohnung zu bezeichnen.

„Ich erfuhr dieses Menschen Hochverrätherische Pläne heute durch einen anonymen Brief, seine Wohnung war nicht angegeben,“ erzählte der Graf, „aber ich habe meine Leute ausgesandt, sich nach derselben zu erkundigen und mir die Adresse hierher zu bringen.“

„So!?“ begann Giorgio. „Ei, wie herrlich ausgedacht! Du hast also Deinem Diener die Waffen gegeben, mit dem Befehl, sie in meiner Wohnung zu placiren, und nach geschehener That die Adresse hierher zu bringen?“

„Das wird sich finden!“ entgegnete der Graf, etwas außer Fassung gebracht.

Ich beobachtete ihn nun genau.

„Nun, ich will Dir die Adresse meiner Sommerwohnung sagen,“ fuhr Giorgio fort, „denn erst im Herbste ziehe ich in die [328] Stadt, jetzt schlafe ich jede Nacht Grube Nr. 5 parterre, auf dem Friedhofe!

Der Graf wurde bleich wie der Tod, und stützte sich mit der Hand auf eine Stuhllehne.

Evviva Austria!“ rief Giorgio, ein frisch gefülltes Glas leerend.

L. nahm seine ganze Geistesgegenwart zusammen, und wandte sich mit einem nach Sicherheit strebenden Tone an mich.

„Da man mich hier nicht verstehen zu wollen scheint, so werde ich anderswo die Anzeige machen!“ Mit diesen Worten schritt er der Thür zu. Ich vertrat ihm den Weg.

„Verehrter Herr Graf,“ sagte ich, „es thut mir leid, Sie verhaften zu müssen!“

„Mich?“ fragte er insolent.

„Ja, Sie,“ entgegnete ich, „da ich sicher bin, in Ihnen eher einen Hochverräther zu verhaften, als in Ihrem Herrn Bruder.“

Giorgio blickte mich ob dieser Wendung erstaunt an, verhielt sich aber ruhig. L. aber machte einen Schritt vorwärts, und als ich ihm noch einmal decidirt bemerkte, daß er hier bleiben müsse, versetzte er mir einen Stoß auf die Brust, daß ich gegen die Wand taumelte. Giorgio blieb ruhig.

L. hatte die Thür in dem Augenblicke erreicht, in welchem mein Diener, ein handfester Bursche, eintrat. Dieser mußte den letzten Theil unseres Gespräches gehört haben, denn er warf den Grafen ohne Umstände und mit Leichtigkeit zu Boden, und band ihm mit einem Riemen die Hände auf den Rücken. Es geschah so schnell, daß der Graf an Gegenwehr gar nicht denken konnte. Ich schickte nach der Wache, und L. wurde abgeführt. Giorgio blieb ruhig. Ich ersuchte ihn, in meiner Wohnung zu bleiben.

„Ich bleibe,“ sagte er, „aber meinst Du, daß ich meinen Bruder denuncirt habe?“

„Nein!“ entgegnete ich, „er hat sich selbst verrathen!“

Meine Vermuthung bestätigte sich.

Man fand in dem Hause des Grafen einen großen Vorrath von Waffen, auch Documente, die mehrere Theilnehmer an einem Complote entlarvten.

Broglio und noch drei andere Bürger theilten das Geschick des Grafen. Die Frau und Tochter des Letzteren, die ebenfalls verhaftet worden waren, erhielten bald ihre Freiheit wieder. Der Graf, Broglio und die andern drei Bürger aber wurden verurtheilt und 48 Stunden später – erschossen.


Giorgio wohnte nach der Verhandlung bei mir, aber er hatte sich sehr verändert. Er sprach oft Tage lang kein Wort und gab mir über sein Benehmen keine Rechenschaft. Als ich ungefähr acht Tage nach dem Tode des Grafen spät in der Nacht nach Hause kam, fand ich ihn unter den heftigsten Schmerzen – sterbend!

Doch sprach er auch jetzt kein Wort bis zu dem Augenblicke des Verscheidens, in welchem er laut ausrief: „Vergib mir, Herr, ich war kein Christ!“ – „Rosina“ war sein Amen!!

So viel ich aus seinem ganzen Wesen entnehmen konnte, hielt er sich für den Mörder seines Bruders.

In einem Stadium von Wahnsinn hatte er von seinen Schwefelhölzern die Köpfe abgeschnitten, sie in rothen Wein geworfen und diesen getrunken. Dieses Gift tödtete ihn wenige Stunden nachher.

Friede und Ruhe seiner Asche, Grube Nr. 5., Souterrain auf dem Friedhofe. –


Blätter und Blüthen.

Die Haselstaude Libussa’s. Jedermann kennt die Geschichte der Königin Libussa von Böhmen, der Tochter Krog’s, die sich den Gatten Premisl vom Pfluge erwählte und so die Stammmutter des großen Herrschergeschlechtes der Premisliden ward. Manche Geschichtsforscher wollen sie ganz in das Reich der Sage verweisen, aber ihnen zum Trotz setzt ihr der Böhme ein herrliches Denkmal und zeigte vor Kurzem noch die tausendjährige Haselstaude als ein lebendes Denkmal jener Begebenheit, welche die Nüchternheit der Gegenwart vielleicht nur darum aus der Geschichte verbannen will, weil sie zugleich poetisch schön ist.

Es ist das Schicksal jenes Haselstrauches, das ich erzählen will, ehe auch dieser selbst zur Mythe wird. – Der Schauplatz ist eine der herrlichsten Gegenden des reich gesegneten Böhmens. Etwa anderthalb Stunde von der an der Elbe malerisch gelegenen industriellen Stadt Aussig befindet sich nahe an der Landstraße, unweit des Dorfes Czochau, ein vor einigen Jahren von Graf Erwin von Nostitz, Herrn der Herrschaft Czochau, errichtetes Denkmal. Mitten im Felde ist ein kleiner freier Platz mit Bäumen umpflanzt, etwas höher als die Straße gelegen, geebnet und mit Sand bestreut, in dessen Mitte sich auf einigen granitnen Stufen das Denkmal in Altarform erhebt. Ein kolossaler, von Eisen gegossener und vergoldeter Pflug ruht darauf. Die deutsche und böhmische Inschrift, wie die in den Stein gehauenen Basreliefs erzählen von Libussa und Premisl und geben als Zeit der Handlung das Jahr 831 an. Wie Libussa dem Drängen ihres Volkes sich zu vermählen, nachzugeben beschloß, sandte sie einen Schimmel aus und gelobte, demjenigen ihre Hand zu reichen, den das Pferd aufsuchen und mit Wiehern begrüßen würde. Das edle Roß eilte unaufhaltsam weit davon aus der alten Königsburg und stand erst hier auf dieser Stelle bei einem jungen Landmanne still, der sein Feld mit dem Pfluge bestellte. Darauf kamen Libussa’s Diener zu diesem Landmanne, Namens Premisl, brachten ihm Krone und Purpur und begrüßten ihn als den Erwählten ihrer Herrin. Diese Scene ist auf der einen Seite des Denkmals dargestellt, die andere zeigt den Empfang Premisls bei Libussa.

Als Premisl, von den Gesandten begrüßt, den Pflug verlassen mußte, erschien ihm ihre Botschaft so unglaublich, daß, als er zuvor in seine Wohnung nach dem nahen Staditz ging, er den alten Haselstecken aus seinem Pfluge zog, in seinen Garten in die Erde steckte und sagte:

„So wenig ich glaube, daß dies dürre Reis Wurzeln und Blätter treiben kann, so wenig glaube ich Euere Mär’.“

Aber der Haselstock wurzelte und ward grün und gedieh, wie das Geschlecht der Premisliden. Ja, er überdauerte es weit. Im Garten der Mühle von Staditz stand der riesenhafte Haselstrauch, der seines Gleichen nicht hat im Lande Böhmen und dessen Früchte Jahrhunderte hindurch, noch bis in dies Jahrhundert hinein, an die kaiserliche Tafel in Wien, wie zuvor an die königliche Tafel in Prag abgeliefert werden mußten. Der alte Haselstrauch war zwar abgestorben, aber der alte Stamm stand noch und war platt abgesägt in Form eines runden Tisches von wohl drei bis vier Ellen Durchmesser. Ringsum hatte er aus den alten Wurzeln neue Schößlinge getrieben. Leider ereignete es sich im vorletzten Winter, daß die Biela, an welcher die Mühle liegt, aus ihrem Bett trat, den Garten überschwemmte und auch das Spalier desselben, wie dasjenige mit wegriß, welches der vorsorgliche Besitzer der Mühle um die ehrwürdigen Haselsträuche gezogen. Ein paar Arbeiter, welche nach der Verwüstung den Auftrag erhalten hatten, wieder Ordnung im Garten herzustellen, verstanden den Auftrag falsch und machten auch mit ungeheuerer Anstrengung den alten Haselklotz mit aus! Was nützt es nun, daß der Besitzer, der zu spät das Geschehene erfuhr, auch wieder Haselsträuche pflanzte – der alte ehrwürdige Haselstrauch ist nicht mehr und mit doppelt ungläubigem Lächeln wird nun der Wanderer hier die Geschichte seiner früheren Existenz vernehmen. Was man von demselben auch denken mag, fabeln oder spötteln, eins ist doch gewiß – nämlich, daß hier wirklich ein solcher Strauch stand, der durch die Thatsache, daß seine Früchte an das Herrscherhaus geliefert werden mußten, einen geheimen Zusammenhang mit demselben bekundet, und daß ein Haselstamm von diesem Durchmesser, wenn man auch sein tausendjähriges Alter bezweifeln mag, doch nur in Jahrhunderten eine solche Größe erreichen konnte. Darum wollt’ ich, ehe man seine Existenz ganz bezweifelt, jetzt noch an dieselbe erinnern, wo Jedermann in der Aussiger Gegend davon zu erzählen weiß, auch wenn die Touristenschaar der Teplitzer Gegend jene sagenreichen und wundervollen Punkte vernachlässigt. Das Letztere ist überhaupt zu verwundern.

Die Umgegend von Aussig ist nach allen Seiten hin ein Paradies, und die böhmische Schweiz verdient den Vorzug vor der sächsischen; gleichwohl wird jene wenig durchstrichen, weil es in ihr an bequemen Wegen fehlt, an Führern und an dem Comfort; selbst die kleinsten wirthschaftlichen Etablissements in Sachsen sind dem Schmutz einer böhmischen Dorfschenke freilich vorzuziehen. Die Teplitzer Badereisenden besuchen bei Aussig höchstens den „Schreckenstein“, die prachtvolle Elbruine, und eilen dann weiter, um nur von Teplitz aus bequeme Partieen zu machen, deren Gipfelpunkt der Milleschauer ist. Unweit von ihm, aber dennoch nicht mit besucht, liegen Czochau und Staditz und zwischen beiden das vorhin beschriebene Denkmal. Majestätisch grüßen der große und kleine Milleschauer zu ihm herüber, und all die andern Kuppen des Mittelgebirges scheinen es einzuschließen. Eine üppige Vegetation ringsum auf den Feldern, nach allen Seiten hin Alleen prachtvoller Nuß- und Kastanienbäume, im Hintergrund düstere Wälder, in denen noch kräftiges Hochwild haust – so scheint diese Stelle, in welcher der goldene Pflug auf erhabenem Piedestal weithin in der Sonne funkelt, recht eigentlich dazu gemacht, an die Vorzeit eines Landes zu mahnen, dessen weise Herrscherin den Gemahl sich nicht aus stolzen Königsgeschlechtern, sondern aus den geringsten Arbeitern des eigenen Volkes wählte. Immerhin ist die Pietät zu ehren, mit welcher der Böhme an den alten Erinnerungen seines Landes hängt.


Nicht zu übersehen!

Alle Einsendungen von Manuscripten, Büchern etc. etc. für die Redaction der Gartenlaube sind stets an die unterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren. – Ernst Keil.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. eils iels leis seil
    eisl iesl lesi seli
    esil iles lies siel
    esli ilse Iise sile
    elis isel lsei slei
    elsi isle Isie slie

  2. eiln elms list
    eils elnt inst
    eilt elst lnst
    eins enst
    eint ilns
    eist ilnt

  3. Genauer: 97´´´127 681´´891 I23’453 0750, und zwar 625 zu zwei, 15625 zu drei, 390625 zu vier, 9’765 625 zu fünf, 244’140 625 zu sechs, 6 103 515 625 zu sieben, 152 587 890 625 zu acht, 3´´814 697 265 625 zu neun, 95´´367 431’640 625 zu zehn, 2 8844´´185 791 015 625 zu elf, 59 604´´644 775’390 625 zu zwölf, 1´´´490 116´´119 384 765 625 zu dreizehn, 37´´´252 902´´984 619 140 625 zu vierzehn u. 931´´´322 574´´615478´515 625 zu fünfzehn Buchstaben.
  4. Genau aus: 14 511´´´583 241´´621 388’129 375.
  5. Genau: 8´´´´´´094 867´´´´´595 409´´´´913 144´´´927 536´´231 884´057 970.
  6. c, cis, d, dis, e, f, fis, g, gis, a, b, h.
  7. Eigentlich 634 938 384 863 und zwar 2556 zwei-, 59 640 drei-, 1´028 790 vier-, 13´991 544 fünf-, 156´238 908 sechs-, 1 473´ 109 704 sieben-, 11 969´016 345 acht-, 85 113´005 120 neun- und 536 211´932.256 zehnstimmige Accorde.
  8. „The Butterfly-Vivarium or Insect Home“ etc.
  9. Zündhölzchen.