Die Gartenlaube (1858)/Heft 21
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No. 21. | 1858. |
(Fortsetzung.)
Ich setzte mein Verhör fort und machte zuerst noch einige schwächere Versuche zur Ermittelung der Wahrheit.
„Hatte der junge Graf Ruthenberg hier Verbindungen angeknüpft?“
„Meines Wissens nicht.“
„Wie war seine Lebensweise?“
„Er verbrachte seine Zeit im Schlosse, in der Gesellschaft seiner Tante.“
„Auch Sie waren in der Gesellschaft der Frau Gräfin?“
„Es war mein Beruf hier.“
„Sah der junge Graf Sie oft allein, mein Fräulein?“
„Selten.“
„War er bei Ihnen hier in diesem Zimmer?“
„Nie, mein Herr.“
Sie sprach die Worte mit Stolz, aber doch ungewiß, zum ersten Male ungewiß, seitdem sie sich wieder gefaßt hatte.
„Mein Fräulein, er hat Sie auch nicht mit Liebesanträgen verfolgt?“
Sie hatte wieder ihre volle Sicherheit.
„Mein Herr, wozu diese Frage?“
Ich mußte zu stärkeren Mitteln schreiten. Vorher hatte ich noch ein paar Fragen nach einer andern Richtung hin.
„Ging der Graf hier auf die Jagd?“
„Nein.“
„Machte er allein Spaziergänge?“
„Ich habe nie davon gehört.“
„Kennen Sie die Tochter des Försters der Gräfin?“
„Sie kommt oft zum Schlosse.“
„Hat der junge Graf Ruthenberg sie gesehen?“
„Ich weiß das nicht.“
„Sie haben auch nie davon gehört?“
„Nie!“
Sie hatte rasch geantwortet, wie vorher. Aber auf einmal sah ich, wie sie nachdenkend wurde. Dann schüttelte sie leise den Kopf, für sich, in einer fast schmerzlichen Weise.
Ich hatte noch eine Frage an sie.
„Im Dienste der Gräfin ist ein Jäger?“
„Ja, mein Herr.“
„Sie hat ihn ebenfalls im vorigen Jahre von Bad Ems mitgebracht?“
„Ja.“
„Hatten Sie ihn schon früher gekannt?“
Durch ihr Gesicht flog eine augenblickliche, helle Röthe. Sie besann sich ein paar Secunden; dann antwortete sie aber ruhig:
„Er hatte in der Nachbarschaft des Gutes gedient, auf dem ich als Gesellschafterin war.“
Ich mußte jetzt meinen entscheidenden Schlag gegen sie ausführen.
„Fräulein, an Ihre Zimmer stößt unmittelbar ein Bibliothekzimmer?“
Die Frage mußte ihr einen furchtbaren Stich in das Herz gegeben haben; sie zuckte heftig zusammen.
„Ja!“ antwortete sie kaum hörbar.
„Darf ich bitten, mich hinzuführen?“
Sie war wieder blaß geworden, wie eine Leiche, und ihre Hände zitterten.
Ich war aufgestanden. Sie erhob sich gleichfalls, vermochte es aber nur schwer, denn sie mußte ihre Arme zu Hülfe nehmen, indem ihre Kniee zu brechen drohten.
„Ich bitte, mir zu folgen,“ sagte sie, sich etwas zusammennehmend.
Sie führte mich durch ihr Schlafzimmer in das Bibliothekzimmer. Die Lage war so, wie der Graf Ruthenberg sie beschrieben hatte.
Ich sah mich in dem Zimmer um. Es war ein geräumiges, regelmäßig viereckiges Gemach. Die Wände waren mit hohen, alten Repositorien bedeckt, in denen überall Bücher, meist mit alten Einbänden, standen. Der Boden war parketirt. Das Parket war altmodisch, aber gut erhalten. In der Mitte standen mehrere längliche Tische mit Schreibmaterial. Das Zimmer war ein Eckzimmer und hatte zwei Thüren und drei Fenster.
Durch die eine Thür waren wir aus der Schlafstube der Gesellschafterin eingetreten. Die zweite war links davon in der innern Seitenwand; sie führte in den Corridor, an dem auch die Zimmer der Gesellschafterin lagen. Die drei Fenster führten sämmtlich in den Garten; eins der Thür des Corridors und zwei der Thür des Schlafzimmers gegenüber. Vor diesen beiden letzten zog sich draußen in geringer Entfernung das Spalier eines Apfelbaumes vorüber. Die Zweige, mit Blättern bedeckt, bildeten jetzt eine dichte Hecke; vor sechs bis acht Wochen waren sie noch kahl gewesen. Das Alles übersah ich leicht beim ersten Eintritt in die Stube; es stimmte gleichfalls überall zu der Beschreibung des Grafen Ruthenberg.
[306] Was Alles sollte ich in diesem Räume noch mehr entdecken? War hier wirklich ein Mord begangen? Lag der Leichnam des Ermordeten wirklich unter diesem Parket? War die Mörderin mir zur Seite? Stand sie auf der Stelle, wo sie ihr Verbrechen verübt hatte? Ueber der Gruft, die ihre Unthat verbarg? Wie lange sollte sie diese noch verbergen? Mußten nicht alle Nerven, alle Muskeln, alle Glieder an dem Körper der Unglücklichen zittern, mußte nicht Todesangst, die Todesangst der Entdeckung, ihren Körper durchrieseln, lähmen, wenn sie wirklich auf dem Schauplatze ihrer That, auf der Gruft des Ermordeten stand, an ihrer Seite der Criminalrichter, der Vorläufer des Nachrichters? Des Richters Vetter heißt der Scharfrichter in den alten deutschen Urkunden.
Ein einziges Bret dieses dünnen Parketbodens aufgehoben und der Mord war entdeckt und der Criminalrichter hatte die Verbrecherin erfaßt, um sie dem Nachrichter zu überliefern.
Und sie wußte das!
Sie hatte sich von ihrem Schreck erholt. Aber zu etwas Anderem, als desto klarer ihrer fürchterlichen Lage sich bewußt zu werden? Konnte sie noch einen Zweifel darüber haben, daß ich, wenn auch nicht Kenntniß, doch dringenden Verdacht ihres Verbrechens habe, und daß ich hergekommen sei, die volle Kenntniß mir zu verschaffen?
Und so war es. Sie verfolgte jeden meiner Blicke, jede meiner Bewegungen mit einer Spannung, welche zeigte, wie wohl sie wußte, daß ihr Leben, ihr Tod in meiner Hand liege.
Ich war mitten in dem Zimmer stehen geblieben. Sie stand mit jener meine leisesten Bewegungen verfolgenden Spannung neben mir. Noch ängstlicher schien sie zu erwarten, was ich ihr sagen werde.
„Fräulein,“ begann ich, „ich will Sie hier nicht ferner mit meinen Fragen quälen und werde Ihnen nur noch eine Geschichte erzählen, aber eine traurige, eine schreckliche. Ob auch eine wahre? Sie werden, wenn ich sie Ihnen erzählt habe, sich überzeugen, daß ich jeden Augenblick ihre Wahrheit feststellen kann, daß ich nach meiner unerläßlichen Amtspflicht es aber auch muß.“
Ein Zittern flog bei diesen einleitenden Worten wieder durch ihren Körper. Sie antwortete nichts, sondern hatte den Blick zu Boden geheftet.
Ich fuhr fort:
„Die Geschichte hat sich hier zugetragen, in diesem Schlosse, theilweise in diesem Zimmer.“
Sie zuckte zusammen. Ihr Auge erhob sich unwillkürlich mit einem Blicke der Angst zu mir empor; aber nur den zehnten Theil einer Secunde lang.
„Ja, mein Fräulein, in diesem Zimmer. Hier war die Katastrophe.“
Sie zitterte heftiger.
„Ein junger Mann war in dieses Schloß gekommen; ein herzloser, roher Wüstling.“
Ihre Augen, die ich nicht von meinen: Blicke befreite, irrten unsicher umher.
„Er verfolgte mit schlechten, ehrlosen Anträgen eine junge Dame, die auf Tugend und Ehre hielt.“
Auf ihrer schönen, schneeweißen Stirn glänzten Schweißtropfen.
„Er drang bis in ihr Zimmer.“
Sie zitterte so heftig, daß sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Ich führte sie zu einem Stuhle, der in der Nähe stand, ließ sie darauf nieder und blieb selbst vor ihr stehen. Ich handelte grausam gegen das arme Geschöpf; das Herz that mir weh, daß ich so handelte; aber ich mußte es. Hätte ich sie in gewöhnlicher Weise ausfragen wollen, ich hätte sie noch weit länger, weit mehr martern müssen; der furchtbare Kampf zwischen beharrlichem Leugnen und endlichem Geständniß wäre für sie ein weit anhaltenderer, ein weit ergreifenderer gewesen. Aber so kam ich ihrer besonderen Natur entgegen und nach heftigem, aber kurzem Kampfe mußte mit einem Male das Geständniß aus ihr voll hervorbrechen, ihre Brust erleichternd und – ihren Kopf unter das Beil des Henkers legend. Und gestehen mußte sie; die Gerechtigkeit forderte es.
Und, glaubt mir, liebe Leser, nicht blos die menschliche, auch die ewige, göttliche Gerechtigkeit, ja, die göttliche Barmherzigkeit, die göttliche Gnade fordern es.
Der Mensch, der ein wirkliches Vierbrechen in seiner Brust, allein in seiner Brust zu verschließen weiß, ohne einer Mittheilung an Andere, ohne des Trostes, der Erhebung durch Andere, ohne der Sühne durch die Strafe zu bedürfen, er hat in seiner Brust keine Reue, und wenn er sie auch sich und Gott heuchelt, sein Herz bleibt verstockt, hart, er kann keinen Antheil an – doch nein, wie kann der Mensch sich unterfangen, bestimmen zu wollen, wem die unerschöpfliche göttliche Barmherzigkeit nicht zu Theil werden könne?
„Er drang bis in ihre Zimmer,“ wiederholte ich. „Sie suchte vergeblich, sich seiner zu erwehren. Sie bat, sie flehete, sie drohte. Umsonst!“
Ihr Gesicht glich kaltem, nassem Marmor.
„Da ergriff sie den Dolch –“
„Halten Sie ein,“ rief sie plötzlich.
War der Moment schon da, ich welchem ihr Geständniß hervorbrechen mußte? Noch nicht; noch kämpfte sie mit der starken Liebe für das Leben.
Ich sah sie fragend an. Sie senkte die Augen nieder. Ihr ganzer Körper bebte fast convulsivisch; ihre Brust wogte; aber sie schwieg. Noch konnte sie nicht sprechen. Ich mußte fortfahren.
„Da wurde hier ein schweres Verbrechen verübt; hier an dieser Stelle. Dann ergriff die Verbrecherin Todesangst. Aber sie mußte die Spuren ihres Verbrechens vertilgen. Auch das geschah hier.“
Ihre Blicke waren wild, wie in einem wilden Wahnsinne, durch das Zimmer geflogen. In der dunkleren Ecke hinter der Thür, die aus ihrer Schlafstube führte, schienen sie auf einmal wie durch einen Zauber festgebannt zu sein. Ich schritt zu der Ecke hin.
„Hier,“ sagte ich, „an dieser Stelle, unter diesen Bretern.“
Sie war aufgesprungen, stürzte auf mich zu und ergriff krampfhaft meine Arme, um mich festzuhalten, daß ich jene Stelle nicht betreten solle.
„Nein, nein!“ rief sie. „Ich beschwöre Sie!“
Es war ein furchtbarer Schrei; es war der Schrei der Todesangst. Sie fiel vor meinen Füßen nieder. Ich wollte sie aufheben, aber sie umklammerte fest meine Kniee.
„Lassen Sie mich sterben; ich kann nicht mehr leben. Tödten Sie mich. Seien Sie barmherzig! Hier! Hier, an derselben Stelle!“
„Stehen Sie auf,“ sagte ich zu ihr. „Fassen Sie sich, denken Sie jetzt nicht an Ihren Tod; denken Sie an Ihr Gewissen, an die Gerechtigkeit, an den Gott der Gerechtigkeit, vor den der Mensch, wenn er Barmherzigkeit von ihm will, nur mit Reue, nur versöhnt treten darf.“
Meine Worte erhoben sie. Sie war in ihrer fürchterlichen Todesangst einer Erhebung fähig. Ihr Herz mußte zugleich muthig und edel sein.
Sie stand auf. Ich führte sie zu dem Stuhle zurück, auf den ich sie vorhin niedergelassen hatte. Ich setzte mich neben sie; sie faßte um so leichter Vertrauen zu mir.
„Theilen Sie mir Alles mit, denn einmal muß es geschehen. Sie müssen Ihr Herz von der entsetzlichen Last befreien, die es erdrückt.“
Sie hatte sich gefaßt; sie wollte mir antworten. Sie warf schon jenen Blick des besseren, freieren Gefühls auf mich, mit dem der Inquisit, nachdem aller Trotz und alle eitle Menschenfurcht in ihm gebrochen ist, nur der erhabenen Stimme des Gewissens folgt und sein offenes, freies Bekenntniß ablegt.
Aber noch einmal konnte sie nicht. Ein Strom von Thränen stürzte aus ihren Augen.
„Lassen Sie mich erst ausweinen,“ bat sie.
Die Vergangenheit war wohl plötzlich vor sie getreten. Ich ließ sie ausweinen. Die Thränen konnten ja nach allen Seiten nur wohlthätig auf sie einwirken. Sie weinte lange; über ihr Leben, über ihr vergangenes, über ihr verlorenes Leben.
In diesem Augenblicke mußte Alles vor sie treten. Ihre fröhlichen Kindertage, ihre glückliche Jugend, oder war auch diese schon unglücklich gewesen? Sie war noch so jung und mußte, fern von der Heimath, fern von allen ihren Lieben bei fremden Menschen, in fremdem Lande dienen. Und in diesem fremden Lande, in dem sie allein, ohne Schutz, ohne irgend einen Bekannten, so ganz allein da stand, war sie zur Verbrecherin geworden. Niemand, Niemand, der ihr nur helfen, der ihr nur rathen konnte, war bei ihr. Und wenn sie auch die fernen Lieben hätte herbeirufen können, hätte sie es gedurft, gemocht? Die arme, vielleicht selbst schon unglückliche Mutter, die unschuldigen Geschwister, sie, die sie Alle so liebten, [307] sollte sie sie herbeirufen, als Zeugen ihres Verbrechens, ihrer Schmach, ihres Todes auf dem Blutgerüste? Und nur Tod und Blutgerüst standen noch vor ihr.
O, sie war in ihrer Verlassenheit, in ihrem Jammer so sehr, so über alle Maßen der Liebe und des Trostes bedürftig, aber sollte sie Mutter und Geschwister und was sie sonst liebte, in dieser Lage wiedersehen?
Nein, nein, eher sterben; eher sofort sterben!
Schon indem sie an sie dachte, wollte ihr das Herz brechen. Und doch mußte sie an sie denken, und immer und immer wieder. Aber sie hatte sich ausgeweint und die Thränen hatten wirklich wohlthätig auf sie eingewirkt. Sie war in dem Zustande jener stillen, ergebenen Ruhe, die der klare, bewußte, vollständig abgeschlossene Muth gibt. Sie begann ihre schreckliche Erzählung von selbst.
„Ich bin bereit. Muß ich Ihnen Alles sagen? Auch über mein früheres Leben?“
„Ich muß Sie auch über die geringfügigsten Umstände, selbst aus Ihrer Kindheit, befragen.“
„So sei denn auch das.
„Mein Vater war Beamter am Rhein. Er starb vor vier Jahren, als ich fünfzehn Jahre alt war. Er hatte mir eine sorgfältige Erziehung geben lassen. Er starb ohne Vermögen und hinterließ außer mir meine Mutter und eine ältere, kränkliche Schwester, meiner Mutter zugleich eine geringe Wittwenpension. Sie lebt davon mit der kranken Schwester in Coblenz. Ich mußte den Beruf einer Erzieherin oder Gesellschafterin wählen. Noch anderthalb Jahre bereitete ich mich darauf vor, dann trat ich den neuen Lebenslauf zuerst in einer befreundeten Familie in der Nähe meiner Heimath an. Ich blieb dort bis zum vorigen Sommer, wo ich meine gegenwärtige Stelle annahm.“
Sie machte eine Pause. Sie schien mit sich zu kämpfen, ob sie etwas hierher Gehöriges sagen oder verschweigen sollte. Ich kam ihr zu Hülfe.
„Warum verließen Sie Ihre frühere Stellung?“
Sie hatte sich entschlossen.
„Sie müssen auch das wissen. Ich lernte einen jungen Engländer kennen, der sich mit seiner Familie in unserer Nachbarschaft aufhielt. Er heißt Harry Wrigley. Wir liebten uns, aber seine Eltern wollten eine Verbindung des einzigen Erben ihres Vermögens mit einem armen deutschen Mädchen nicht zugeben. Ich ließ mich von ihm zu einer, heimlichen Trauung bereden. Ein englischer Geistlicher, mit dem er befreundet, und der eine Zeit lang in der schönen Rheingegend verweilte, traute uns. Aber er hatte sich nur unter der ausdrücklichen Bedingung dazu entschlossen, daß wir uns sofort nach der Trauung trennten, und uns nicht eher wiedersähen, als bis es Harry gelungen sei, die Einwilligung seiner Eltern zu unserer Vereinigung zu erhalten. Harry konnte seine Eltern nicht verlassen, und so entschloß ich mich zu einer Entfernung aus der Gegend. Ich nahm meine jetzige Stellung an. Aber ganz allein wollte ich in die ferne Fremde nicht gehen. Harry’s Vater hatte einen deutschen Bedienten, einen uns ergebenen treuen Menschen, Anton Nieder. Er sollte mich begleiten, wenigstens um mich sein, zu meinem Schutze, zu irgend einer Vermittlung, die sich als nothwendig herausstellen könne. Es gelang, daß er fast gleichzeitig mit mir bei der Gräfin Ruthenberg als Jäger eintrat.
„Bis jetzt hat Harry die Einwilligung seines Vaters nicht erlangen können. Aber seine Eltern lieben ihn. Wir sind Beide noch jung, und verzweifeln nicht.
„O Gott,“ unterbrach sie sich schmerzvoll. „Wir verzweifelten nicht, bis jenes unglückliche Ereigniß eintrat. Gibt es denn jetzt noch eine Hoffnung für mich? Auch für ihn nicht!“
Nach einer Pause konnte sie wieder ruhiger fortfahren.
„Ich lebte hier glücklich in meiner Hoffnung. Auf einmal sollte mein Glück zerstört werden. Der Neffe der Gräfin kam hier an. Er wollte nur einige Tage zum Besuch bleiben, und blieb länger.
„Schon nach wenigen Tagen überzeugte ich mich, daß ich die unglückliche Ursache seines Bleibens war. Er sagte es mir offen. Er war ein verworfener Mensch, und machte kein Hehl daraus, daß er es war. Er prahlte mit seiner Schlechtigkeit gegen mich, gegen seine Tante. Er sagte lachend, daß jedes Weib zu verführen sei. Er erklärte mir mit Frechheit, daß er auch mich verführen werde. Seine Tante lachte dazu. Sie lachte mit ihm. Ich setzte ihm ruhige Verachtung entgegen. Ich wußte mich sicher gegen etwaige Gewalt durch den Jäger Anton. Freilich auf Eins hatte ich nicht gerechnet, daß er gar in Gegenwart seiner Tante sich Unanständigkeiten gegen mich erlauben werde. Ich zog mich indeß auch aus ihrer Gesellschaft zurück. Sie befahl mir, zu kommen. Ich forderte meinen Abschied. Sie verweigerte ihn mir, mein Contract laufe noch. Ich wollte ihn brechen, aber ich hatte kein Geld zur Reise, und auch Anton nicht.
„Unsere rückständige Gage von der Gräfin zu fordern, wäre vergeblich gewesen; sie hätte die Absicht gemerkt, und dieselbe verweigert, wie meinen Abschied.
„Das war am zehnten Tage, seitdem der junge Graf da war. Wenige Tage darauf trat das entsetzliche Ereigniß ein.
„Ich hatte des Abends zum Thee kommen müssen. Auch der Graf war da, wie gewöhnlich. Er war den Abend etwas still, gegen mich beinahe kalt. Aber er grübelte über etwas, und seine Blicke, die oft plötzlich und verstohlen auf mich fielen, ließen mir keinen Zweifel, daß sein Grübeln mich betraf. Seine Blicke waren glühend, unheimlich, als wenn er über einen schlechten, unheimlichen Plan nachsänne. Ich konnte ihn ohne Schaudern nicht ansehen, und begab mich zeitig in mein Zimmer zurück. Ich wurde nicht aufgehalten, auch von der Gräfin nicht. Sie pflegte es sonst seit den Verfolgungen ihres Neffen gegen mich zu thun. Daß sie es nicht that, erfüllte mich mit neuer Angst. Man hatte etwas gegen mich vor.
„In meinem Zimmer angekommen, klingelte ich nach dem zu meinem Dienste bestimmten Kammermädchen, und fragte sie nach dem Jäger Anton. Ich wollte ihm meine Angst mittheilen, ihn für diese Nacht um besondere Wachsamkeit bitten.
„Das Mädchen sagte mir, der Jäger sei um neun Uhr ausgezogen, um in dem Mondscheine auf den Anstand nach Füchsen zu stellen. Er werde vor Mitternacht wohl nicht zurückkehren.
„Es war erst zehn Uhr. Meine Angst verdoppelte sich. Gerade heute, gerade jetzt war Anton abwesend, ich ohne allen Schutz. Wollte man diese Abwesenheit benutzen? Wozu? Hatte man den Jäger gar absichtlich entfernt?
„Ich schloß mich fest in meinem Zimmer ein. Eben so sorgfältig verschloß ich die Läden an den Fenstern meiner beiden Zimmer. Sie waren sehr stark; durch sie konnte von außen Niemand zu mir eindringen. So weit war ich gesichert. Aber desto mehr Sorge mußte ein Anderes mir machen. Dieses Bibliothekzimmer ist an seinen Fenstern nur mit Jalousieen versehen. Diese aber sind alt, von dünnen, schon morschen Bretern. Sie gewähren keinen Schutz gegen ein gewaltsames Eindringen von außen. Die Thür, die aus diesem Zimmer in meine Schlafstube führt, ist zwar verschließbar, auch auf der Seite meiner Stube, allein Thür und Schloß sind schwach. Ich wußte es, ich hatte sie in den letzten Tagen oft untersucht. Die Thür ist mit Leichtigkeit einzustoßen. Das Geräusch, das dadurch entstehen würde, kann kaum ein großes sein. Innerhalb der dicken Mauern, der mit den Läden und Jalousieen verschlossenen Fenster würde es zum größten Theile verhallen. Was davon draußen noch gehört werden könnte, würde ohne einen besondern Zufall an diesem entlegenen, am späten Abend selten besuchten Ende des Schlosses Niemand, vernehmen. So war ich in meinen Zimmern gegen einen Ueberfall von hier aus nichts weniger als gesichert.
„Ich sah nur ein Mittel zu meinem Schutze. Ich beschloß, aufzubleiben, bis ich den Jäger Anton würde zurückkommen hören. Drohete mir bis dahin ein Ueberfall, so konnte ich immer um Hülfe rufen. Der Graf konnte nur aus dem Bibliothekzimmer kommen; es mußte dann zuerst die Thür meiner Schlafstube zersprengt werden. Während dieses geschah, hatte ich Zeit genug, in den Corridor zu flüchten, zu den weiblichen Domestiken, die dort in der Nähe schliefen. Für den schlimmsten Fall versah ich mich mit meinem Dolche. Harry hatte ihn mir geschenkt. Ich verbarg ihn in meinem Busen.
„Ich hätte den Versuch machen können, das Kammermädchen zu mir zu nehmen. Allein einerseits hätte ich dadurch, wenn meine Furcht sich nachher als ungegründet erwies, ein unnöthiges, mich und die Gräfin compromittirendes Aufsehen erregt. Andererseits mußte ich gar auf eine Weigerung gefaßt sein, da die Gräfin strenge darauf hält, daß die Dienstboten, besonders des Abends, an den ihnen angewiesenen Orten sich befinden.
„Es blieb mir nur jener Weg. Ich hatte das Alles sehr reiflich überlegt. Ich hatte ja noch Zeit. Im Schlosse waren ja [308] noch sämmtliche Leute auf. Noch konnte er nichts gegen mich wagen. So meinte ich. Ich ging in das Bibliothekzimmer, um in den Garten hineinzuhorchen. Durch die fest verschlossenen Läden meiner Stuben konnte ich es nicht. Vom Garten her aber mußte er sich nahen. Jene auf den Corridor führende Thür des Bibliothekzimmers hatte ich schon vorher, ehe ich in das Theezimmer ging, wie jeden Abend, von innen verriegelt. Er mußte das wissen. Ich sah nach, ob der Riegel noch vorlag. Es war der Fall. Ich untersuchte die drei Fenster des Zimmers. Sie waren verschlossen. An zweien waren auch die Jalousieen noch eingehakt. Am dritten nicht; sie hing offen. Ich selber öffnete jeden Morgen die Jalousieen dieses Zimmers, und verschloß sie jeden Abend wieder. Außer mir kam selten Jemand in das Zimmer. Ich sann nach, ob ich auch die offene Jalousie vorhin eingehakt hätte. Es war leicht möglich, daß es unterblieben. Ich hatte vorher an einen Ueberfall nicht denken können. Ich wollte sie einhaken. War sie auch morsch und gebrechlich, sie gewährte immer einen Schutz mehr. Vorher lauschte ich an den beiden andern, dann an diesem. Auch mit den Augen konnte ich nichts entdecken, nicht die geringste Bewegung. Es war eine klare Mondnacht. Ich konnte durch die aufgeschobenen Jalousieen weit in den Garten hineinblicken. Aber Alles lag in tiefster Ruhe regungslos vor mir. Ich hatte mein Licht in meinem Wohnzimmer zurückgelassen. Die Thüre zwischen diesem und dem Bibliothekzimmer hatte ich angelehnt. In dem letzteren war es daher dunkel, und ich konnte von außen her nicht darin gesehen werden. Ich öffnete das Fenster, dessen Jalousie ich befestigen wollte. Es war jenes Eckfenster. Ich öffnete es langsam, leise. Durch das offene Fenster horchte ich noch einmal schärfer in den Garten und in die Nacht hinein. Ich vernahm nicht den leisesten Laut. Sehen konnte ich hier fast gar nichts.
„Fast unmittelbar vor dem Fenster steht ein hoher, breiter Spalierbaum. Er war damals noch nicht belaubt, aber seine Zweige waren dicht und verschränkt genug, um, trotz des Mondlichtes, mir zu verbergen, was auf seiner andern Seite war. Der Zwischenraum zwischen dem Fenster und dem Baume beträgt etwa zwei Fuß. Ich wollte auch in ihn hineinsehen. Es konnte sich dort unten Jemand verborgen halten. Es konnte eine Vorrichtung zum Einsteigen dort angebracht sein. Ich hatte dann sofort Veranlassung, Hülfe herbeizurufen. Um bis ganz Hinuntersehen zu können, mußte ich mich aus dem Fenster vorbeugen. Ich legte mich nur wenig vor, und blickte hinunter. Der Mond schien in den schmalen Winkel nicht hinein, es war dunkel darin.
„In dem Dunkel, gerade unter dem Fenster, hart an der Mauer, glaubte ich, sich etwas bewegen zu sehen. Ich erschrak. Ich dachte noch an Schutz durch die Jalousie, und wollte sie rasch befestigen. In dem Schreck hatte ich die Besinnung verloren. Ich streckte den Arm aus, die Jalousie zu fassen und zu mir hinzuziehen.
„In demselben Augenblicke fühlte ich meinen Arm ergriffen, festgehalten. Ich wollte ihn zurückreißen. Eine Gewalt hielt ihn, der meine Kräfte nicht gewachsen waren.
„Hülfe!“ rief ich.
„Aber der Schreck über den plötzlichen, völlig unerwarteten Angriff hatte mich überwältigt. Anstatt nach dem Garten hin zu rufen, rief ich in das Zimmer hinein.
„Nach dem Garten gingen bewohnte Zimmer des Schlosses. Man hätte mich hören können, beinahe hören müssen. In dem Zimmer hörte mich Niemand.
„Hülfe!“ wollte ich noch einmal rufen. Ich konnte es nicht mehr. Ein Mensch hatte sich rasch in das Fenster geschwungen. Ich erkannte ihn, es war der Graf Ruthenberg. Er schien eine fast übernatürliche Gewalt und Gewandtheit zu besitzen. Mit seiner Hand hatte er, während er sich in das Fenster schwang, noch immer meinen Arm festgehalten. Die andere Hand legte er mir auf den Mund, daß ich nicht schreien konnte. So wollte er zu mir in das Zimmer springen. Zu meinem Schreck gesellte sich die fürchterlichste Angst. Ich war so allein, so verlassen! Verlassen von aller menschlichen Hülfe, in dem fremden Lande; in der Gewalt eines rohen, gemeinen, zu dem Aeußersten fähigen und bereiten Wüstlings; preisgegeben von meiner Gebieterin, die mich hätte beschützen sollen. Zurückgewiesen, verhöhnt, wenn ich nur wagte, Schutz zu suchen. Der Einzige, der mich hätte retten können, war entfernt. Ich sollte die Beute eines höllischen Complots werden, unglücklich für mein Leben lang, vernichtet an meiner Tugend, an meiner Ehre. Ich durfte meinen Mann nicht wiedersehen; ich konnte meiner Mutter und meiner Schwester nicht wieder unter die Augen treten. Ich wußte nicht mehr, was ich that, was ich thun sollte. Ich hatte mit der linken Hand nach der Jalousie gefaßt; meinen linken Arm hielt der Graf fest; mein rechter Arm war frei. Ich griff mit der Hand in meinen Busen. Dort hatte ich meinen Dolch verborgen. Ich faßte den Dolch. Der Graf war noch in dein offnen Fenster. Er machte eine Bewegung, sich in das Zimmer hinunter zu lassen. Ich schwang meinen Dolch nach seiner Brust. Da –“
Die Unglückliche konnte nicht weiter sprechen. Ihr Gesicht hatte sich wieder mit einer furchtbaren Blässe überzogen. Ihre Augen starrten wie aus einem Grabe. Die Stimme versagte ihr. Die Erinnerung an das entsetzliche Ereigniß hatte sie mit neuem Schrecken ergriffen.
„Da?“ fragte ich sie. „Was geschah?“
Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Ein neuer Strom von Thränen stürzte aus ihren Augen. Dann rang sie verzweiflungsvoll die Hände.
Die Arme! Sie stand so dicht vor der Schwelle des letzten, fürchterlichsten, des für ihr Schicksal entscheidenden Moments ihrer Geständnisse. Sie sollte diese Schwelle überschreiten. Noch ein Wort, und sie überlieferte sich dem Schaffot.
Sie hatte rein und treu in die Arme ihres Mannes zurückkehren, sie hatte mit freiem Blick wieder unter die Augen der Mutter treten wollen! Sie sollte sie nie wiedersehen, nicht den Einen, nicht die Andere. Sie sollte weit, weit von ihnen ihren Nacken unter das Beil des Scharfrichters legen.
„Was geschah?“ fragte ich und die Worte schnitten mir selbst wie ein scharfes Messer in das Herz. Ich konnte nicht anders, ich mußte meiner Pflicht folgen.
Sie hatte ihre Thränen wieder getrocknet und war wieder ruhiger geworden.
„Da,“ sagte sie langsam, fast leise, und indem sie den Blick nicht zu mir erheben konnte, „in demselben Augenblicke sah ich eine andere Hand, die sich nach seiner Brust bewegte, und in der Hand sah ich im Mondschein eine scharfe Waffe blitzen. Und in dem Augenblicke darauf lag der Graf im Zimmer, vor meinen Füßen, eine Leiche. Ich verlor das Bewußtsein.“
Der Schrecken der Erinnerung ergriff sie von Neuem. Sie mußte wieder eine Pause machen.
Und ich, der ich jetzt diese Geschichte erzähle und damals als Inquirent der jungen Dame gegenübersaß? Im ersten Augenblicke athmete ich leicht auf, als wenn die Unglückliche plötzlich vom Tode errettet sei.
Nr. 11. Die Mistelgauer, vulgo Hummeln, in Oberfranken.
Von Ludwig Storch.
(Schluß.)
Die Anstalten zu einer öffentlichen und großen Hochzeit nach altem Zuschnitt sind wahrhaft großartig und von vornherein geht Alles mit einer gewissen Feierlichkeit zu. Die Männer brauen und schlachten, die Frauen backen und braten; Jedermann ist mit Würde geschäftig. Mehrere Tage vor der Hochzeit macht der prächtig aufgedonnerte Hochzeitsbitter den Verwandten und Freunden im lieben Hummellande die Aufwartung. Ganz wie die Hochzeitsbitter der altenburger Bauern trägt er einen großen mächtigen, mit rothen und blauen Seidenbändern und einem bunten Tüchlein ausstaffirten Blumenstrauß in der Hand und ladet mit zierlich gesetzter Anrede zur Hochzeit auf zwei Tage volle Bewirthung und auf ein Frühstück für den dritten Tag ein. Die alte, immer noch gebräuchliche Formel ist:
„Ich bin ein ausgesandter Bote, von wegen Braut und Bräutigam, nämlich des ehr- und arbeitsamen Junggesellen Johann
[309]Friedrich Neuner zu Glashütten, der sich ehelich verlobt und versprochen hat mit der untadelhaften Jungfer Anna Barbara Weigel, Tochter des löblichen Mitnachbars und Müllermeisters Johann Andreas Weigel in der Thalmühle. Und weil wir nun ein solches Freuden- und Hochzeitsfest werden erhalten, so hab’ ich Befehl von Braut und Bräutigam, den ehrbaren Mitnachbar Johann Christoph Bayersdörfer auf dieses Fest einzuladen, um nach eingenommenem Frühstück ihren Kirchgang schmücken und zieren zu helfen. Und was uns der liebe Gott in Küche und Keller bescheert hat, das haben wir in zwei [310] Tagen und einem Frühstück zu verzehren. Also bitt’ ich Euch, Ihr wollet meine vorgebrachten Worte nicht verachten, sondern mich als einen guten Boten gelten lassen.“
Für die „vorgebrachten Worte“ erhält denn „der gute Bote“ sofort ein Geschenk an Eiern, Butter, Speck etc. und er hat für diesen Fall schon Nebenboten bei sich, die selbst schwere Lasten fortzubringen sich nicht scheuen. Jedermann sieht nun mit freudiger Erwartung dem Morgen des Trauungstages entgegen und Alt und Jung eilt in das Geburtsdorf des Bräutigams.
Dabei deutete der Erzähler auf die geputzten Häuflein, die mit uns gleichem Ziele zustrebten. Wir langten mit ihnen an; es hatte sich schon eine hübsche Menschenmasse vor dem Vaterhause des Bräutigams versammelt. Alles war in feierlicher Aufregung, alle Gesichter trugen den Stempel einer stolzen, selbstzufriedenen Würde, die da weiß, was sie zu thun und zu erwarten hat. Es war ein geschäftiges Hin- und Herrennen, ein erstaunliches Wichtigthun und eine so liebenswürdige, possirliche Umständlichkeit, als handele es sich um die wichtigste Sache von der Welt. Die jungen Bursche wußten sich was Rechts in ihren prächtigen Bruststücken und Hosenträgern; sie hatten die grünsammetnen Bramen schief gesetzt, klatschten mit Geißeln, rauchten martialisch Tabak aus Ulmer Pfeifenköpfen und ließen sich’s abmerken, daß sie den heldenmüthigen Entschluß gefaßt hatten, ein Uebriges zu thun. Die nicht minder geputzten Mädchen steckten die Köpfe zusammen, kicherten, machten ihre Randglossen zu dem unausstehlichen Benehmen der Burschen und schienen nicht minder entschlossen, es auf’s Aeußerste ankommen zu lassen. Man sah es an der steigenden Spannung der Gesichter, daß nun bald irgend ein wichtiges Ereigniß in’s Leben treten werden. Und es kam als ein mit stolzen, schönen und stattlich geschmückten Pferden bespannter, mit Kranzgewinden gezierter, mit einer Musikantenbande, mit Weibern, Brautjungfern und Brautführern besetzter Leiterwagen, der unter Halloh aus dem weitgeöffneten Hofthore herausfuhr und seinen Weg unter zahlreicher Begleitung der lieben Dorfjugend, worunter auch stattlich aufgewachsene Gestalten, nach dem nahen Geburtsdorfe der Braut nahm. Alle Gesichter lachten, und wahrscheinlich, um sie in dieser angenehmen und einer Hochzeitsfeier so angemessenen Thätigkeit nicht ermüden und zu trockenem Ernste erstarren zu lassen, bemerkte ich ein stattliches Gefäß, aus dem eine, wie es schien, unversiechbare Bierquelle strömte und jeden lachenden Mund anfeuchtete, labte, stärkte und zu noch größerer Freudigkeit anspornte. Wir standen gar nicht an, uns ebenfalls der muntern Dorfjugend anzuschließen und ebenfalls leiblich und geistig gestärkt – man trank uns mit höchst lobenswerther Gastfreundlichkeit zu und das Bier war classisch, ein Nektar, wie er nur in Oberfranken bereitet wird – dem Nachbardorf zuzuwandern. Dort kamen wir an, als der Wagen von geschäftigen Händen mit der stattlichen Mitgift der Braut beladen wurde. Da gab’s denn neuen Hausrath und bäuerische Kostbarkeiten aller Art.
„Sehen Sie dort oben den ungleichlichen Spinnrocken mit dem zartesten Flachse, umwickelt von rothen und blauen Bändern und daneben das große, ausstaffirte Bettkissen?“ sagte mein Begleiter auf den hochaufgethürmten Wagen deutend.
„Was ist’s damit?“
„Sie sind die beiden charakteristischen und symbolisch wichtigsten Effecten der ganzen Herrlichkeit und stehen in mystisch enger Beziehung zu einander.“
„Wie so?“
„Sie sind die Symbole der Tugend und ihrer Belohnung. Der Spinnrocken ist der Stolz der Braut, denn er bedeutet, daß sie als reine Jungfrau das ihr von ihrer Taufpathin geschenkte werthvolle Kissen in das Ehebett lege, für welches es bestimmt ist. Eine notorisch unkeusche Braut würde nimmermehr wagen dürfen, geschmückten Spinnrocken mit solchen Ehren in das Haus ihres Zukünftigen zu führen.“
„Allerliebst!“ rief ich. „Es ist auch Poesie in den Hummelbauern.“
Die Pferde am Wagen wurden mit noch mehr Bändern geschmückt, ebenso der Fuhrmann, ein stämmiger Bursche mit großem Durst; sein Hut und seine Peitsche konnten zuletzt unmöglich noch schöner geputzt werden, er selbst erhielt aber noch ein buntes flatterndes Tuch an das Hummelröcklein gebunden. Jetzt kam der große Moment! Die Braut erschien. Von Brautführern aus dem Vaterhause geführt und auf den Wagen gehoben, nahm sie mit schüchterner Gravität zwischen ihren Begleiterinnen Platz. Sie war eine kräftige stämmige Dirne im Volksbrautstaate mit der rothen Bandhaube und dem Kranze, und ihre jugendliche Erscheinung kam unserm hoffnungsreichen Wunsche, daß das Hummelland nicht aussterben möge, viel versprechend entgegen.
Die Pfeifer ließen ihre Fanfaren ertönen, der Kutscher hieb jauchzend auf die Pferde, die Braut warf aus einem großen Korbe Hefenküchlein und Hochzeitsbrod unter die jubelnde Menge; der Zug setzte sich in Bewegung. Und was für ein Zug! Das war ein kräftiges, munteres Stück deutschen Volkslebens! So großartig und imponirend hatte ich es mir nicht gedacht. Ich fing an, bedeutenden Respect vor den Hummelbauern zu bekommen. Aus dem Hofe sprengten mit Hurrahruf mehrere vermummte Reiter und umschwärmten den Wagen, jagten das herandrängende Volk auseinander und wurden dafür auf alte Weise von ihm geneckt und gedrangsalt.
Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß die Stimmung eine abermals erhöhte war, denn der Nektar des Königs Gambrinus war auch in und vor dem Brauthause mit unbegrenzter Freigebigkeit jeder durstigen Kehle gespendet worden und es wollte mich bedünken, daß die erhöhte Temperatur der Hochzeitsfreude auch den Durst der Menge vermehre und daß Beide in einer natürlichen Wechselbeziehung ständen. Die Braut fuhr fort, durch Kuchenauswerfen die Menge heranzulocken, die berittenen Masken – Stutzelreiter genannt – sie zu verjagen und dafür geneckt und verhöhnt zu werden; die Musik fuhr fort, zu schmettern, das Volk zu jauchzen und zu schreien; der Wagen fuhr auch fort und so langten wir denn unter heillosem Lärm endlich wieder am Vaterhause des Bräutigams an.
Mein Begleiter erzählte mir unterwegs:
„Sonst ist’s noch weit toller zugegangen, aber der wilde Volksgeist ist zahm geworden und das einst helllodernde Feuer glimmt jetzt nur noch in der Asche. Jetzt sitzt der Bräutigam still beim Bierkruge und wartet, seine Pfeife rauchend, geduldig die Ankunft der Braut ab. Solche Passivität wäre sonst unmöglich gewesen. Er holte, in Begleitung seiner Gespielen und Freunde, beritten die Braut selbst aus ihrem Vaterhause ab. War die Cavalcade diesem bis auf ungefähr eine Viertelstunden nahe gekommen, so sprengten auf ein vom Bräutigam gegebenes Zeichen acht bis zwölf junge Männer im Wettrennen dem Hause der Braut zu und der erste dort Anlangende erhielt von ihr als Danke eine Henne. Mit diesem schreienden Preis und Siegeszeichen in hochgehobener Hand jagte er dann dem Bäutigam entgegen. Die Scene wiederholte sich bei der Annäherung an das Haus des Bräutigams, und wer an diesem Ziele zuerst ankam, erhielt aus der Hand der Braut einen Hahn. Es kam Alles darauf an, daß kein Unglück bei diesem tollen Wettreiten vorkam, was als böse Vorbedeutung galt. Hahn und Henne, die, wie sich von selbst versteht, hier ebenfalls von symbolischer Bedeutung waren, mußten für eine fröhliche Hochzeit ebenfalls unverletzt bleiben. Diese für Roß und Reiter gefährliche Volkssitte des sogenannten „Hennen-Erreitens“ ist zu Ende des vorigen Jahrhunderts abgeschafft worden.“
Die Heimfahrt der Braut war rasch und ohne Hinderniß von statten gegangen; beim Einfahren in den Hof des Bräutigams stand aber der Wagen plötzlich still und war trotz alles Schreiens nicht von der Stelle zu bringen. Der Fuhrmann gebehrdete sich wie toll, die Menge lachte ganz unmäßig, der Wagen war wie eingemauert. Der Bräutigam stürzte mit erschrockenen Zügen aus dem Hause, um zuzusehen, von welcher Art das plötzliche Hinderniß sei. Bald nickte er, als sei ihm ein Licht aufgegangen, eilte wieder in’s Haus, um sogleich zurückzukehren, in der Rechten einen schäumenden Bierkrug, in der Linken einen harten Kronthaler hochhaltend. Den Krug spannte er an den Mund des Fuhrmanns, den Silberthaler an das flatternde Tuch am Rocke desselben, und als die Krone im Tuche festgebunden und die Kanne geleert war, zog diese gutgewählte Vorspanne den Wagen schnell bis vor die Hausthür. Hier brachte der Bräutigam einen Stuhl herbei, den er sein Eigenthum nennt, denn er hat ihn zu diesem Behufe kurz vorher von seinen Eltern geschenkt erhalten. Die Braut setzt den Fuß darauf; er bietet ihr die Hand und hilft ihr und ihren Begleiterinnen vom Wagen. Niemand darf ihn dabei unterstützen. Es ist allein eine Sache, seine Braut in sein Haus einzuführen. Dort wird sie mit herzlichen Segenswünschen und Händedrücken willkommen geheißen. Die Gäste strömen nach; die bunt wechselnde Scene [311] füllt sich. Allen wird Imbiß und Trunk geboten, jeder langt herzhaft zu. Draußen laden Gesinde und Nachbarn den Wagen ab. Rocken und Brautbett mit dem symbolischen Kissen werden allein vom Bräutigam im Triumph in’s Haus getragen; außer ihm darf Niemand diese Heiligthümer berühren.
Unverzüglich wurde nun der Kirchgang gelüftet, denn es war hoch am Vormittage und es ist gesetzliche Vorschrift, daß alle Trauungen Vormittags und im noch nüchternen Zustande der Brautleute und Zeugen vollzogen werden sollen, eine Anordnung, die nur sehr am Platze schien, wenn ihre weise Absicht auch nicht vollständig erreicht werden dürfte. Der Hochzeitsbitter wurde an die Geistlichkeit geschickt, um sie zu benachrichtigen, daß der Zug sich ordne, und ihr die üblichen Geschenke, ein weißes Taschentuch, einen Rosmarinstengel und eine Citrone, zu überreichen. Die beiden Prediger und die Schullehrer schritten gleich darauf dem Hochzeitshause zu, vor welchem der Zug sich aufstellte, und die Glocken begannen ihr feierliches Geläute. Der Geistlichkeit an der Spitze folgte ein Bursche als Brautführer mit einem hochgetragenen, bändergeschmückten bloßen Degen in der Hand, die Braut im Brautkranze am Arme der beiden Brautjungfern, ein zweiter Brautführer mit dem Degen, der Bräutigam, von seinen nächsten Anverwandten begleitet, die männlichen, zuletzt die weiblichen Gäste paarweise, das Volk in großer Anzahl zu beiden Seiten, aber Alle in feierlicher Stille und löblicher Ordnung. Der alten Sitte wurde in ihren guten Einrichtungen noch pünktlich genügt, die gefährlichen hatte die vorgeschrittene Bildung verdrängt. So wurde am Eingange des Hofthores eine alte arme Frau aufgestellt, an welcher die Braut beim ersten Schritt aus dem Hause ein Liebeswerk vollbringe, indem sie derselben ein großes Stück Hochzeitskuchen überreicht.
In der Kirche wurde erst eine dem Gegenstande angemessene und – was mit Dank anzuerkennen war – kurze Hochzeitspredigt gehalten, dann die Trauung vollzogen. An der Kirchthüre empfing das Musikcorps den Zug mit hellen Tönen und spielte ihn nach Hause, wo die Braut sofort als junge Frau dem Bräutigam als jungem Eheherrn feierlich übergeben und ausgeantwortet wurde.
„Auf dem Wege zur Kirche und zurück,“ erzählte mein kundiger Begleiter, „ging es sonst lauter und umständlicher, wenn auch nicht anständiger zu. Die Bursche schossen aus Pistolen, warfen Schwärmer unter das Volk und trieben noch andern Unfug, welcher schlecht zu der heiligen Handlung paßte. Namentlich suchten sie auf dem Heimwege die Braut ihrer Begleitung zu entreißen; diese widersetzte sich. Die Brautjungfern schrieen aus vollem Halse und fuhren mit den Nägeln den Burschen in Gesicht und Haare. Diese wendeten alle erdenklichen Listen an, um sich des begehrten Gegenstandes zu bemächtigen, und wenn diese nicht fruchteten, Gewalt. Gelang es, die Schöne zu erkämpfen und abzuführen, so wurde sie nur gegen ein ansehnliches Lösegeld wieder freigegeben. Dabei konnte es nicht fehlen, daß der Scherz leicht in Ernst umschlug, die Braut hin- und hergezerrt wurde, Stöße und Schläge erhielt und ihr die Kleider in Fetzen vom Leibe gerissen wurden, daß es zu mißlichen Balgereien kam, die Brautführer mit den Degen darein hieben und Blut floß. Das waren so die lieben Sitten und Gebräuche unserer guten Altvordern.“
Daß man im Hochzeitshause nun aß und trank, versteht sich von selbst. Das war das sogenannte kleine Essen. Die Zeit bis zum großen Essen gegen Abend wird mit Schießen, Lärmen, Späße machen (an die man freilich keine hohen Anforderungen stellen darf) verbracht. Das Bestreben, die Braut zu rauben, ist eigentlich die Folie von allen; deshalb erhält sie bei der Mahlzeit die hinterste Ecke am Tische, und die Brautjungfern und Brautführer sitzen zu ihrem Schutze um sie herum. Die Gäste, deren wohl ein halbes Hundert sein mochten, wurden am Tage von den Brautführern, beim Hauptmahle aber vom Hochzeitbitter und vom Metzger bedient. Das Hochzeithaus gleicht einem Bienenstocke, der sich zum Schwärmen anschickt; drinnen braus’t es immer stärker, und an den Löchern, Thüren und Fenstern hockt es dick und voll. Diesem verehrungswürdigen Publicum wird ebenfalls Speis und Trank zugereicht, und im Hofe macht sich die lustige Jugend ein Privatvergnügen. Nach Tische gehen hölzerne Teller, in deren Mitte ein Messer als Wahrzeichen steckt, zum Einsammeln eines Trinkgeldes für Hochzeitbitter, Metzger und Musikanten um. Auch die Aufspülerin des Geschirrs sammelt Gelder in ein mit Wasser gefülltes Schüsselchen.
Die Speiseordnung ist eine althergebrachte, festgesetzte. Reisbrei, Sauerkraut mit Würstchen, Schweinsknöchlein, Stockfisch, Klöße spielen die Hauptrollen. Die Abänderung für den zweiten Tag ist unbedeutend. An jedem Tage werden jedem einzeln eingeladenen Gaste noch eine respectable Menge Speisen mit nach Hause gegeben, allein fünf Pfund gekochtes und gebratenes Fleisch, zwei Siedwürste und eine Bratwurst, Kuchen, Brod etc.
Nach aufgehobner Tafel am ersten Hochzeittage bleibt die Braut mit ihrer Bedeckung in der Ecke sitzen. Auf den Tisch wird eine große, leere zinnerne Schüssel gestellt. Die mit Bändern und Tüchern verzierten Degen der Brautführer werden in die Stubenecke über der Schüssel gesteckt, so daß der wehende Schmuck derselben in diese herabhängt. Neben der Schüssel sitzt der Hochzeitbitter mit rusticaler Grandezza, Papier, Feder und Tintenfaß vor sich, um die Hochzeitgeschenke zu Protokoll zu nehmen. Die Gäste treten einzeln vor seinen Richterstuhl und legen das Geldgeschenk, drei bis sieben Gulden, in die Schüssel, das Effectengeschenk auf den Tisch. Dabei wird wieder allerhand Scherz getrieben. So stellen sich diejenigen, welche recht hohe Geschenke in der Tasche haben, als wollten sie gar nichts schenken; aufgefordert, an die Schüssel zu treten, schieben sie Andere vor, lassen sich mehrmals mahnen, herbeizerren, schelten etc., bis sie endlich herausplatzen und sich triumphirend zurückziehen. Zuerst schenken die Eltern und nächsten Verwandten, dann die übrigen Gäste. Für jedes Geschenk bedanken sich die jungen Eheleute, und die Musik spielt einen Tusch, bei denen, welche die eben beschriebene kleine Komödie spielen, wird’s eine rauschende Fanfare.
Am dritten Tag endet die Hochzeit mit einem Frühstück, als dessen letztes symbolisches Gericht saure Kuttelflecke aufgetragen werden. Denn es heißt: „Kuttelfleck, scheer Dich weg!“ Damit ist’s aus, und die Gäste erhalten nur die Hälfte der Speisen der vorherigen Tage mit nach Hause.
Uebrigens kommen Bier, Schnaps, Butter, Käse und Brod während der drei Tage nicht vom Tisch: weg, und Jeder thut, was in seinen Kräften steht, um so viel als möglich Comsumtibilien zu vertilgen.
Bei Kindtaufen und Begräbnissen sind ähnliche Gebräuche herrschend; dort ist der Kindtaufschmaus, hier der Leichentrunk und die Trauermahlzeit die Hauptsache. Da sie diese mit den übrigen Oberfranken ziemlich gemein haben, und wir nicht zu viel Raum der Gartenlaube in Anspruch nehmen dürfen, so übergehen wir sie, ebenso die Sichel- und Drischellege, d. i. der Schnittern, Gesinde und Freunden gegebene Ernteschmaus; die Schlachtschüssel mit dem sogenannten Würstfahren, einem Mummenschanz mit Musik, der zur Belohnung ebenfalls eß- und trinkbare Geschenke erhält, um uns noch der Kirmeß, als dem eigentlichen Volksfest, zuwenden zu können, weil gerade an diesem die slavische Abstammung der Hummeln recht klar und überzeugend hervortritt.
Ich hatte das hübsche Hummelland lieb gewonnen, und ging deshalb in Begleitung von Freunden im Herbste auf einige ihrer Kirmessen hinauf. Mit Essen und Trinken geht’s zu, wie auf andern Dorfkirmessen im großen deutschen Vaterlande auch. Es kommt Besuch aus der Stadt und aus andern Dörfern. Dabei ist nichts Besonderes. Dieses besteht in der Nationalkleidung, die an den beiden Festtagen noch in möglichst alter Reinheit hergestellt wird; sodann im Tanze. Der Tanz der Hummelbauern ist sehr eigenthümlich; er kennt kein rasches Tempo, wie der andrer deutscher Länder, sondern bewegt sich langsam, fast schläfrig, man möchte sagen, traurig. Tänzer und Tänzerin umfassen sich gegenseitig mit beiden Armen und drücken sich so aneinander. Nun drehen sie sich langsam nach dem langsamen Takt der Musik fast immer auf derselben Stelle, so daß sie kaum merklich vorwärts kommen. Dann und wann packt aber der Tänzer die Tänzerin plötzlich unter den Armen fest und schleudert gleichsam in die Luft, fängt sie wie einen Ball wieder auf, um dieses seltsame Experiment zu wiederholen, und nun tanzt sie allein um den Tänzer herum, wobei sich dieser passiv verhält. Dabei jauchzen beide, und diese ganze extraordinäre Tanzkunst sieht aus, als wollten die Betheiligten sich für die Langsamkeit des übrigen Tanzes entschädigen. Auf den fremden Zuschauer macht diese Tanzweise mit ihren schroffen Contrasten einen eigenthümlichen Eindruck. Nichts aber zeugt mehr für die slavische Abkunft der Hummeln, als diese Tanzweise.
Das Schicksal verschlug mich unmittelbar von der Grenze des Mistelgaues mitten unter die Slovaken in Oberungarn. Hier fand ich nicht nur dieselbe Bauart der Häuser, dieselbe wirthschaftliche [312] Einrichtung, denselben großen Hut (im Trentschiner Comitat und bei den Horniaken, den Bewohnern der kleinen Karpathen) der Männer, dieselbe weiße Tücherkopfbedeckung der Frauen, dasselbe Regentuch, nur ohne rothen Streif, ähnliche Sitten und Gebräuche, ähnliche Bekleidung, aber vorzüglich denselben wunderlichen Tanz, das träumerische Drehen des Paares auf einer Stelle, und dasselbe wilde Emporschleudern der Tänzerin, und das darauf folgende tanzende Umkreisen des Tänzers durch die Tänzerin. Wenn nur noch ein Zweifel an dem slavischen Ursprünge der Hummeln geblieben wäre, in Ungarn wär’ er gehoben worden.
Der Hauptmoment der Kirmeß ist der sogenannte „Platz“. Es wird eine Maie gesetzt, wie in Thüringen; der Baum, welcher diesen alten deutschen Namen überall führt, ist auch hier eine bis zum Gipfel geschälte Tanne, welche in den Gipfelzweigen mit Tüchern, Bändern und allerhand Nürnberger Spielkram behangen ist. Ein ziemlich großer Kreis um diesen „Maienbaum“ ist zum Tanzplatz geebnet. Gegen Abend ziehen die jungen Bursche und Mädchen paarweise mit Musik unter Anführung des „Platzmeisters“ mit weißem Vortuche, die alte Bierstützel in der einen, einen Teller mit Bierglas in der andern Hand, auf und schließen einen Kreis um den Baum. Diese heißen nun Platzbursche und Platzmädchen. Sie müssen durchaus alle von untadelhaftem Lebenswandel sein; wer öffentlich Aergerniß gegeben hat, ist ausgeschlossen, und muß auf dem Tanzboden im Wirthshause tanzen. Noch jetzt wird streng auf dieses Sittengericht gehalten, und ich selbst war Zeuge einer wilden Prügelei, die daraus entstand, daß ein Bursche, der unerlaubten Umgang mit einem Mädchen gehabt, sich unterstand, am Platze zu tanzen.
Der Ortsvorsteher hat das Vorrecht, den Platz zu eröffnen und drei Reihen mit einem Platzmädchen allein zu tanzen. Dann tanzen sämmtliche Platzleute drei Reihen um den Baum, zuletzt ist der Platz allen anständigen jungen Leuten von gutem Rufe geöffnet. Die Anrüchigen dürfen auch nicht den Strauß mit rothen Bändern auf dem Hute und den mit Bändern gezierten Flitterkranz, das sogenannte Geflecht, im Haar tragen, welcher Putz das ausschließliche Vorrecht der Platzleute ist. Das Schwenken der Hüte, das Stampfen, Jauchzen und Emporwerfen der Tänzerinnen macht das Bild sehr lebendig. Dabei wird eine unglaubliche Menge Bier verschlungen, und mancher Bursch thut in diesen beiden Tagen mehr, als sich mit menschlicher Gesundheit verträgt. Die jungen Leute haben auch fast durchgehend ein krankhaftes Aussehen. Nach von Kraft und Gesundheit strotzenden, jugendlich blühenden Gestalten wird man vergebens suchen.
Die Tanzböden in den Wirthshäusern sind für feiner organisirte Naturen ein peinlicher Aufenthalt. Es darf nicht verschwiegen werden, daß sie zur Kirmeß gedrängt voll sind, und die vorgeschrittene Cultur die meisten ihrer nicht eben preiswürdigen Elemente durcheinander gewürfelt hat. Welch’ ein Staub und Dunst! Wie viel Schweiß-, Tabaks- und Bierexhalationen! Ein Gedränge und Gestoße, so daß einem eine pralle Dirne auf der Brust liegt, wenn man eben einen schreienden, berauschten Burschen abgeschüttelt hat.
Meist ist eine Kegelbahn in der Nähe, wo ein Platzbursche den Wirth und Aufseher macht, und zinnerne, mit Bändern geschmückte Gefäße, Tücher und andere für den Bauernstand werthvolle Raritäten ausgekegelt werden. Zuweilen ist auch ein mit Bändern und Tüchern prächtig herausstaffirter fetter Hammel der Siegespreis.
Der hervorstechende Charakterzug der Hummelbauern ist strenges, ja zähes Festhalten an Sitte und Gebrauch der Väter. Ihr Tanz ist bezeichnend für ihr Wesen: sie drehen sich immer auf der selben Stelle, und kommen nicht vorwärts. Doch finden wir diese Eigenheit bei allen Völkern: wie sie tanzen, so sind sie. – Inzwischen dringt der mächtige Geist der Neuzeit, der von der Befangenheit und dem Vorurtheil der Väter erlösende, dem auf die Dauer nichts widerstehen kann, auch in diesen Erdenwinkel. Auch unter den Hummeln hat er sein zersetzendes, nivellirendes Werk begonnen.
Von ihrer Abstammung wissen die Hummeln selbst nichts; auch hat sich kein historisches Document, ja nicht einmal Andeutung erhalten, wann sie ihren jetzigen Wohnsitz eingenommen haben. Sie sind eben einer jener abgerissenen Völkerfetzen, deren eine Menge in Europa durcheinander flattern, und die nach Jahrhunderte langem Bewahren ihrer Farbe endlich abbleichen und in der Allgemeinheit aufgehen, welcher die europäische Völkerfamilie entgegenschreitet.
Den Frauen und Müttern.
So lange als die Frauen für ihren Beruf nicht anders als jetzt vorgebildet werden, so lange wird es in der Welt auch nicht besser, so lange wird es nur wenige glückliche Ehen geben und so lange wird sich die Menschheit in körperlicher und geistiger Hinsicht schwach und erbärmlich zeigen. Oder meint man etwa, die Berufsstellung einer Frau, als Lebensgefährtin des Mannes, als Erzieherin der Kinder und Leiterin eines Haushaltes, sei eine so niedere, daß sie sich ohne entsprechende Vorbildung ganz ohne Weiteres einnehmen und gehörig ausfüllen lasse? Fast scheint man dies zu glauben, denn mit was für Begriffen Mädchen, oft noch ganz unreif und noch halbe Kinder, in die Ehe treten, das ist erbarmenswerth. Durch das Bischen englisch und französisch Plappern, Singen und Clavierspielen, Tanzen, Nähen und Stricken, Kochen und Braten wird ein Mädchen, dessen Verstandesorgan (das Gehirn) leider Gottes ja außerdem auch noch 8 Loth leichter als das des Mannes ist, wahrlich nicht befähigt, eine naturgemäße leibliche und geistige Erziehung der Kinder zu leiten und eine beglückende Gefährtin des Mannes sein zu können. Dadurch wird sie höchstens Das, was so viele unserer jetzigen Frauen sind, nämlich putz-, vergnügungs-, zank- und herrschsüchtige, den Mann auf diese oder jene Weise tyrannisirende und maltraitirende, dünkelhafte, engherzige und selbstsüchtige, dick- und trotzköpfige, manchmal recht gelehrte und pfiffige, aber doch ungebildete, meist herzlose und doch sentimentale (nervöse, hysterische) Wesen mit gewissen äußeren Formen und conventionellen Redensarten, aber ohne selbstthätiges inneres Geistes- und Gemüthsleben. Daher kommt es denn aber auch, daß die allermeisten Männer bittere Reue über ihre Verehelichung empfinden und durch die Frau nach und nach aus dem Hause hinweggetrieben werden, um anderswo irgendwie die nöthige Erholung oder doch Linderung ihrer Eheleiden zu suchen. Natürlich trägt dann bei den einsichtslosen Frauen, die ja, wie bekannt, trotz aller beweisenden Gründe doch stets bei ihrer einmal gefaßten falschen Ansicht beharren und nie eines Bessern belehrt werden können, nur der Mann die Schuld, sich selbst sprechen sie immer frei davon.
Doch was hilft alles Klagen über die Frauen, damit ändern wir ja doch nichts, suchen wir lieber zum Vortheile unserer Nachkommen eine solche Erziehung des weiblichen Geschlechtes anzubahnen, durch welche die Frau gehörig befähigt wird, die ihr von Gott angewiesene Stellung ordentlich ausfüllen zu können. Zu diesem Zwecke trägt aber ohne Zweifel das Meiste eine richtige Kenntniß und Behandlung der Kindheit des Menschen bei und sind nur einmal Jungfrauen und Mütter von der Wichtigkeit einer naturgemäßen leiblichen und geistigen Erziehung des Menschen in dem ersten Lebensalter überzeugt, dann werden sie sicherlich dahin streben, den Kindern eine solche Erziehung angedeihen zu lassen, und dabei werden sie zugleich sich selbst besser erziehen. Jetzt freilich weiß man wirklich oft nicht, wer ungezogener ist, ob Mutter oder Kind. Jetzt sind fast die meisten Mütter als subtile, allerdings absichtslose Mörderinnen ihrer gestorbenen und als Gesundheitsverderberinnen ihrer noch lebenden Kinder anzuklagen. Jetzt sollten Mütter die Thränen, die sie über kranke oder ungerathene, verdorbene und undankbare Kinder weinen, lieber über ihre eigenen Fehler, die sie bei deren Erziehung gemacht haben, vergießen. Das klingt allerdings erschrecklich, ist aber die reinste Wahrheit, die freilich nicht gern gehört wird, am wenigsten gern von Frauen, die lieber jedem Anderen (wie der Amme, Kindermuhme, Schule, dem unglücklichen Schicksale, den Anlagen und dem Temperamente des Kindes, der Erbsünde u. s. w.) die Schuld des körperlichen oder geistigen Mißrathens eines Kindes zuschieben, als sich selbst.
Die große Sterblichkeit unter den kleinen Kindern hat [313] ihre Ursache fast nur in der falschen Behandlung der Kinder von Seiten der Mütter. Die Bewohnerinnen von Westmann-Oe, einer Insel an der Südküste Islands, geben ihre Kinder gleich nach der Geburt den Kinderweibern mit zur Pflege; 80 Procent dieser Kinder sterben vor dem 9. Tage ihres Lebens an Kinnbackenkrampf. Von 26 in der Ehe Gebornen kommt nur ein Kind todt zur Welt, während unter 17 außerehelichen Geburten schon eine Todtgeburt ist. Und von den unehelichen, in die Ziehe gegebenen Kindern sterben wenigstens zwei Drittel im Säuglingsalter. Ja manchen Ziehmüttern kommt nicht mit Unrecht der Name „Engelchens-Macherinnen“ zu, weil sie fast alle ihre Ziehkinder durch unzweckmäßige Kost in den Himmel spediren. Die meisten Sterblichkeitstafeln zeigen, daß von den Neugebornen fast 25 vom Hundert wieder hinwegsterben, und daß später bis gegen den dritten Monat hin nach der Geburt noch etwa der zehnte Theil der Gebornen untergeht. Auf Grund der Statistik des preußischen Staates ergibt sich, daß 35,5 Procente aller Kinder bereits vor Vollendung des 5. Lebensjahres wieder sterben. Dieses Mähen der Todessichel unter den Kindern geschieht aber nicht etwa nach einem bestimmten unabänderlichen Naturgesetze (nach dem Willen Gottes), sondern ist, wie oben gesagt wurde, nur die Folge einer unzweckmäßigen Behandlung der Kinder. Man braucht ja nur die Krankheiten zu betrachten, durch welche kleine Kinder hingerafft werden, und man wird finden, daß jene tödtlichen Krankheiten fast alle durch eine einsichtsvolle Mutter verhütet werden konnten (s. Gartenlaube 1854. Nr. 17.). In keinem Lebensalter ist es so leicht, Krankheiten zu verhüten, und in keinem so schwierig, sie zu curiren, als im ersten Kindesalter.
Wir stimmen ganz und gar mit Dr. Besser[1] überein, wenn er sagt: „Wir klagen als wichtigste und erste Ursache der großen Kindersterblichkeit die Unkenntniß der Mütter mit ihrem Berufe an. Wenn die Pessimisten unserer Tage in dem Leichtsinn, der Untreue, der Vergnügungssucht u. s. w. unserer Mütter den Hauptgrund des Uebels sehen, so entgegnen wir nur, daß eine Mutter, die ganz durchdrungen und erfüllt ist von dem Umfang ihrer Aufgabe, die so ganz mit dem Gebiet der Kindespflege vertraut ist, als wir dies von ihr fordern, eben nicht leichtsinnig werden kann. Mütter, die während ihrer Schwangerschaft sich durch andere Rücksichten bezüglich ihrer Lebensdiät leiten lassen können, als solche von dem Wohle ihres ungebornen Kindes geboten werden, Mütter, die, statt ihr Kind zu beobachten und zu Pflegen, Zerstreuungen nachgehen, Mütter, die, anstatt ihr Kind zu stillen, wenn sie es können, es lieber einer Amme anvertrauen, die sind, mögen sie welchem Stande und welcher Lebensstellung auch angehören, eben nicht jener wahrhaften Bildung theilhaftig geworden, in der das Wissen des Menschen auch sein Denken und Thun bestimmt. Und wir brauchen wohl kaum hinzuzusetzen, daß jene wahre Bildung, jene Cultur des Menschen, durch die er eines bewußten Handelns fähig wird, lediglich wieder davon abhängig ist, daß ihm ein reiches Material von Wissen überhaupt zu Gebote steht. Menschen, die nicht gewöhnt worden sind, gedankenlos durch die Welt zu laufen, sondern nach dem Grunde der Dinge zu fragen, die sich des Lebens, das sie umgibt, bewußt zu werden streben, bei denen Allen regiert das Wissen das Denken und Thun, und in diesem Sinne nennen wir das Nichtwissen der Mütter in ihrem Berufe die Hauptquelle der Kindersterblichkeit.“
Aber nicht nur wegen der großen Sterblichkeit unter den Kindern sind vorzugsweise die Mutter anzuklagen, auch an den vielen Krankheiten nicht blos während des Kindesalters, sondern auch während des ganzen Lebens tragen sie einen Haupttheil der Schuld. Ganz besonders sind es die falsche Ernährung und die groben Verstöße gegen die Hauptorgane des Kindes, welche eine Menge von Uebeln erzeugen, die mit ihren Folgen weit hinaus über das Kindesalter, ja bis zum Tode im späten Leben reichen. Die sogenannten scrophulösen Leiden, die Blutarmuth und Lungenschwindsucht, die englische Krankheit mit ihrer Verkrüppelung des Körpers, die unheilbaren und beschwerlichen Affectionen der Athmungs- und Blutkreislaufs-Organe, sowie viele Leiden der Sinnesorgane und des Gehirns (des Verstandes-, Gemüths- und Willensorgans) rühren fast alle aus der Kindheit her und hatten bei naturgemäßer Pflege verhütet werden können. – Jammern und wehklagen, wachen und sorgen können die Mütter am Krankenbette ihrer Kinder, aber sich zu unterrichten, wie ein Kind von Krankheit verschont bleibt, dazu haben sie keine Zeit und keinen Trieb. Ja manche betrachten es lieber gleich als eine Schickung Gottes, wenn ihre Kinder, und zwar bei der unnatürlichsten Behandlung, krank werden. Als ob Gott dem Menschen den Verstand nicht dazu gegeben hätte, um gut und glücklich, wohl und gesund leben zu können, und als ob der nicht ein Sünder wäre, der die von Gott gegebenen Naturgesetze nicht zu seinem und Anderer Heile verwendet. – Wenn die Kinder, zumal die Töchter erwachsen sind, wie gern brüsten sich da die Mütter mit ihnen, aber wie selten können sie dies; kahle Köpfe, rothe Augen, schwarze Zähne, hohe Schulter, buckeliger Rücken, krumme Beine u. s. w., alles Producte der falschen Erziehung, dämpfen nicht blos den Stolz der Mutter, sondern trüben gar oft auch die Zukunft des Kindes. – Es ist wahrlich traurig und ärgerlich, wenn man fort und fort sehen und hören muß, wie sich sogar sogenannte gebildete Leute gegen die Aufklärung über den menschlichen Körper und eine naturgemäße Pflege desselben stemmen, obschon der Mensch nur durch diese besser, kluger, gesünder, älter und schöner werden kann, als er jetzt ist.
Nicht genug, daß die Mütter an dem zeitigen Sterben und häufigen Kranksein der Kinder und Erwachsenen die meiste Schuld tragen, auch auf die geistige und moralische Entwickelung des Menschen üben sie in der Regel einen nachtheiligen Einfluß und zwar insofern aus, als sie gerade die ersten Lebensjahre des Kindes, wo der richtige Grund und Boden für das spätere geistige Wachsen und Gedeihen gelegt werden muß, nicht blos unbenutzt vorübergehen lassen, sondern hier sogar schon die Keime zum Bösen legen und den Anstoß zu geistiger Verkrüppelung geben. Mißrathene Kinder, überhaupt böse Menschen sind nur als Unglückliche anzusehen, die ihr Unglück in der Regel blos der falschen Erziehung von Seiten der Eltern und meistens der Mütter zuzuschreiben haben. – So lange die unglückselige Idee bei den meisten Müttern, daß, „wenn nur erst beim Kinde der Verstand kommt,“ dieses sich schon noch bessern werde, fortbesteht, bleibt auch die moralische und geistige Erziehung im Argen, und keine Schule wird das wieder am Kinde gut machen können, was das elterliche Haus verdorben hat. Nur dann wird es besser, wenn die Mütter einsehen gelernt haben, daß der Mensch vom Tage seiner Geburt an einer richtigen körperlichen und geistigen Behandlung bedarf, um ein richtiger Mensch zu werden, und daß die Frauen eine solche Behandlung zu leiten lernen müssen, wenn sie richtige Mütter und Erzieherinnen sein wollen. Doch das wird wohl noch lange dauern! Versuchen wir’s im Folgenden die Frauen etwas aus ihrer Apathie aufzurütteln!
„Das ist Luxus“, ruft sowohl der Reiche wie der Arme, ruft Hoch und Niedrig, und welch’ verschiedenen Begriff verbindet nicht nur jeder Einzelne mit diesem Wort, sondern jeder Stand, jedes Volk, jedes Zeitalter. – Was das eine für entbehrlich hält, das erhebt schon das folgende zum nothwendigen Bedürfniß, sobald der Gebrauch, der Genuß desselben längere Zeit sich bis auf die weitesten Kreise der Bevölkerung erstreckt hat.
Mit dem Fortschreiten der Cultur erwacht überall und zu jeder Zeit auch der Luxus, mit ihm die Streitfrage, ob er verderblich oder nützlich sei. Diese Frage ist also so alt, wie die Cultur selbst, und so finden wir sie denn bereits bei den alten Griechen, bei denen das „Für“ und „Wider“ förmliche Secten hatte: die kyrenaische und kynische, die Epikuräer und Stoiker, jene in froher Lebensauffassung sich den Genüssen und Freuden des Daseins zuneigend, diese mit Strenge gegen sich selbst der Enthaltsamkeit und Mäßigkeit folgend.
[314] Wer kennt nicht den Diogenes in seiner Tonne, der, als er von dem ihn besuchenden Alexander sich eine Gunst erbitten sollte, nichts anderes wünschte, als daß er ihm aus der Sonne gehen möge; der, als er einst ein Kind aus hohler Hand Wasser trinken sah, auch noch seinen Trinkbecher wegwarf, als ein entbehrliches Luxusgeräth, über dessen Ueberflüssigkeit ihn erst ein Kind habe belehren müssen. Herakleides dagegen, der Aristoteliker, erklärte den Luxus als die Quelle alles Edelmuthes, der Tapferkeit, als die Ursache des Sieges der Athener bei Marathon, denn vom Luxus begeistert hätten sie den Feind niedergeworfen.
Theologen und zelotische Staatsmänner haben dem Luxus meist geflucht, und ihn als von der strafenden Hand des Schicksals verfolgt dargestellt. So erzählt Dandolus in seiner Chronik Venedigs, daß eines Dogen Frau einstmals so übermüthig gewesen, daß sie, anstatt mit den Fingern, mit goldenen Zweizacken – Gabeln – gegessen habe, dafür aber auch später noch bei Leibesleben stinkend geworden sei. – Ein englischer Geschichtsschreiber klagt in seiner Chronik von 1577 über den Luxus Englands, wo man seit Kurzem so viele Kamine errichte, und statt hölzerner Schüsseln irdene und zinnerne einführe.
In späterer Zeit treten Filangieri, Voltaire, Hume als Lobredner des Luxus auf, schreiben ihm die Blüthe einer ausgedehnten Industrie nach innen und außen, die Beschäftigung eines großen Theils der arbeitenden Classe, die Verschönerung des Lebens und Milderung der Sitten, die mit Wärme und immer neuem Leben erfüllende treibende Kraft im Staatskörper zu; als Gegner Warburton und Rousseau, die ihn einen verderblichen Gebrauch der den Menschen von der Vorsehung verliehenen Güter nennen, durch ihn die Macht und Stärke des Staates, die Vaterlandsliebe und Tugenden seiner Bürger gefährdet sehen, und die Ausschweifung der Reichen, das Elend der Armen, den endlichen Verfall der Gesellschaft von ihm verursacht glauben. – Und so geht die große Streitfrage durch alle Zeiten und Völker, durch alle Stände bis in die niedersten Schichten, in denen auf dem abgelegensten Dörfchen wohl ein altes Mütterchen über den Verfall der Sitten, über das Verschwinden der „alten guten Zeit“ klagt, wenn sie Sonntags auf dem Kirchwege vielleicht ein schmuckes junges Mädchen in neuerer Tracht, mit vielfachem Tand geputzt vor sich hergehen sieht. Sie klagt, denkt aber nicht, daß sie auf ihrem alten Haupte eine theure Fehmütze mit goldgesticktem Deckel, oder eine mit reichen Fältelungen gezierte Radhaube von wohl drei Ellen des äußern Umfanges trägt, welche von dem ihr vorangegangenen Geschlecht mit derselben Klage begrüßt worden ist. Der Luxus der Gegenwart ist nach vielen Seiten billiger. Das Frisiren, Pudern der Männer, das Tragen von kostbaren Spitzen und Schuhschnallen, Degen, goldgestickten Kleidern ist abgekommen. Die Industrie ist im Erfinden wohlfeiler Ersatzmittel für kostbarere Gegenstände sehr weit, wie z. B. in Baumwollensammet, Battistmusselin, plattirten Waaren, Argentan etc.
So ist denn der Begriff „Luxus“ ein ganz relativer, ein nach den verschiedenen Zeit-, Lebens- und Standesverhältnissen verschiedener. Es ist irrig und falsch, den Luxus schlechtweg zu loben oder zu verdammen. Denn er kann statthaft, ja er kann sittlich, aber auch unstatthaft, unsittlich und verderblich sein. Es ist irrig, ihm allein den Untergang Roms oder früher Athens Schuld zu geben, da sich durch die Geschichte nachweisen läßt, daß der ungeheure und zuletzt verderbliche Luxus in vieler Hinsicht erst wieder Ursache zu manch’ anderer Verschlechterung wurde. Diese Wechselwirkung ist natürlich eine nothwendige. – Bei einem gesunden Volke ist auch der Luxus gesund, bei einem sinkenden krank und verderblich. Er ist statthaft, wenn er auf die Behaglichkeit, den Comfort innerhalb der Grenzen der Ersparnisse des Volkes, gerichtet ist, und gerade der heutige Luxus ist dadurch charakterisirt, daß er auch in den Haushalt des gemeinen Mannes dringt, und dieser jetzt so Manches genießen kann, was vor einem Jahrhundert selbst dem Reichen nicht vergönnt oder wohl gänzlich unbekannt war. Er kann sittlich sein und von veredelndem Einfluß auf das ganze Volksleben, wenn er die schönen Künste zum Ziel hat, Musik, Bildhauerei, Malerei, Poesie; aber auch unstatthaft da, wo das Unentbehrliche um des Entbehrlichen willen leidet, wie einst in Athen, wo die jährlichen öffentlichen Feste mehr kosteten, als die Unterhaltung der Flotte kosten durfte, wo die Aufführung der Euripideischen Trauerspiele höher zu stehen kam, als der Krieg gegen die Perser; unsittlich endlich, wenn nur den Begierden des Körpers gestöhnt, wenn das Vergnügen Weniger durch das Elend Vieler erkauft wird, oder die Befriedigung von Genüssen wohl geradezu der Moral entgegentritt. Die Römer aßen zu Verres’ Zeit Singvögel oder nur ihre Zungen, die Rennpferde mußten aus Spanien, die Hunde aus Phrygien, die Pfauen aus Samos, die Kraniche aus Melos, die Thunfische aus Chalcedon, die Hechte aus Pessinus, die Austern aus Tarent, die Datteln aus Egypten, die Nüsse aus Thasos, die Kastanien aus Bätica sein, und so durch die Kostspieligkeit des Transports oder große Schwierigkeit der Erlangung ungeheure Summen kosten, um noch Werth zu haben, oder beziehentlich den Gaumen des durch den Ueberfluß und die Genüsse übersättigten Volkes bei großen Gastmählern zu reizen. – Bei dem enormen Aufschwung unserer heutigen Industrie, bei der Annäherung der entferntesten Erdtheile durch Locomotive und Dampfschiff ist es jetzt für den Mann selbst des Mittelstandes kein verschwenderischer Luxus, Kaffee aus Arabien, Thee aus China, Caviar aus Rußland, Zucker aus Ostindien, Rum aus Westindien, Wein aus Ungarn, Frankreich oder Spanien, Tabak aus der Türkei, Cigarren aus Havannah auf einem Tische zu haben.
Der Luxus ist eine unvermeidliche Folge des Fortschreitens in den Gewerbekünsten und der Ansammlung von Vermögen, somit eine Frucht der höheren Entwickelung, eine der stärksten Triebfedern zur Erwerbung sachlicher Güter, ohne welche der Mensch weit weniger arbeiten würde.
Und bei dieser heutigen Entwickelung ist er deshalb so freudig zu begrüßen, weil auch der bessere Luxus, weil Erzeugnisse der Kunst und Wissenschaften vermöge der tausendfachen Vervielfältigung derselben selbst dem unbemittelteren Bürger zugänglich sind, der sich ihrem versittlichenden Einfluß nicht entziehen kann und wird.
Hier entsteht Angesichts der geschichtlichen Beispiele des Unterganges der Griechen und Römer die große Frage, ob einst auch unserem Volk im Weiterschreiten seiner Handels- und gewerblichen Entwickelung, im zu erwartenden Umsichgreifen des immer mehr sich erweiternden, immer leichter zugänglichen Luxus ein solches Ende bevorstehe? Die Antwort kann beruhigend lauten. Bei jenen Völkern würde der Luxus allein den Sittenverfall nicht haben bewirken können, wenn nicht andere Ursachen dagewesen wären, von denen der ungezügelte Luxus selbst wieder Wirkung und Symptom war. – Es gelten hier also keine Folgerungen. Wir können die ermuthigende Hoffnung hegen, daß bei der neueren Organisation der Gesellschaft, unter dem Einflüsse einer erhabeneren Religion für unsere Staaten, deren Wohlstand auf dem eigenen Fleiße ihrer Bürger ruht, ein solches Ende nicht zu befürchten steht!
Der Luxus roher Zeiten ist durch den Hang zu grobsinnlichen Reizen charakterisirt. Die Wirtschaft, der Haushalt eines Volkes entwickelt sich wie der des Individuums im Einzelnen. Die Preise haben das Eigenthümliche, daß die der Ackerbauerzeugnisse bei wachsender Cultur steigen, die der Gewerbs- und Industrie-Erzeugnisse herabgehen. Der Handel eines Volkes auf noch niedriger Culturstufe ist gering und auch räumlich engbegrenzt, daher fehlen ihm die Producte ferner Länder, die Gewerbe haben geringe Ausbildung und so sind auch deren Erzeugnisse von geringer Bedeutung und beschränkter Menge. Aus diesem Grunde wirft sich der Luxus auf massenhafte Consumtion der Speisen und Getränken bei Fest- und Speisegelagen, auf überzahlreiches Gefolge, Kriegs- und Jagdtroß, während das ganze Schmuckgeräth in Nichts mehr als glänzenden Waffen und kostbarem Trinkgeschirr besteht. Die eine Domäne Karl’s des Großen hatte an Leinenzeug nicht mehr als zwei Betttücher, ein Hand- und ein Tischtuch aufzuweisen. Bei dem Silbergeschirr ist es auch bei weitem die Schwere, welche ihnen den größten Werth verleiht, nicht die Kunst der Arbeit, sowie auch die Wohnungen weit mehr massen- und dauerhaft sind, als bequem und elegant. Die alten, noch erhaltenen Burgen haben durchgängig Mauern von gewaltigem Durchmesser, aber keine wohnlich-behaglichen Zimmer, die gewöhnlich dunkel und winkelig sind. Im Palast Alfreds des Großen mußte man wegen des durchziehenden Windes die Wände mit Decken behängen und die Lichter in Laternen tragen. – Dagegen gehört der Dienertroß zum Standesaufwande. Der Herzog Alba hatte in seinem Palast in Madrid keinen angemessenen Saal, wohl aber 400 Bedientenkammern, die zugleich die Frauen und Kinder der Dienerschaft beherbergten. Er bezahlte monatlich 1000 Pfd. Sterling Lohn, der Herzog von Medina-Celi 4000 Pfd. Sterling. – In Rußland hielt vor 1812 noch mancher Adelige 1000 Diener, von denen vielleicht Mancher nur eine Verrichtung [315] des Tages hatte. Gelage, Hochzeiten brachten meist einen ungeheueren Aufwand mit sich, vornehmlich was die enormen Massen von Speisen und Getränken betrifft. Auf der Hochzeit Wilhelms von Oranien wurden 4000 Scheffel Weizen, 8000 Scheffel Roggen, 13,000 Scheffel Hafer, 3600 Eimer Wein, 1600 Fässer Bier verzehrt. Die Hochzeitsgäste hatten allein 5647 Pferde mit. Der Sultan Bajazeth hielt sich 7000 Falkoniere. Unter Jakob I. von England gab es noch Gesandte, welche 500 Diener hatten, und doch besaß er selbst nur ein Paar seidene Strümpfe, die er seinem Minister lieh, um die Audienz des französischen Gesandten annehmen zu können. – Bei der Hochzeit Eberhard’s von Würtemberg im Jahre 1474 erschienen 14,000 Gäste. Bei der Hochzeit Ulrich’s von Würtemberg 1511 wurden 136 Ochsen, 1800 Kälber, 2759 Krammetsvögel verzehrt. Das merkwürdigste Beispiel ist die Hochzeit Wilhelm von Rosenberg’s mit Anna Maria von Baden vom 26. Januar bis 1. Februar 1576. Consumirt wurden 1100 Eimer ungarischen und deutschen Weins, 40 Pipen spanischen Weins, 903 Fässer Bier, 40 Hirsche, 50 Gemsen, 20 wilde Schweine, 50 Fässer gesalzenes Wildpret, 2130 Hasen, 250 Fasanen, 30 Auerhähne, 2050 Rebhühner, 150 Mastochsen, 20,688 kleine Vögel, 561 Kälber, 2308 Würste, 654 Schweine, 450 Hammel, 395 Lämmer, 20 geräucherte Ochsen, 40 geräucherte Hammel, 330 Pfauen, 5235 Gänse, 18,120 Karpfen, 13,029 Hechte, eine Unzahl Fische, 30,943 Eier, 490 Scheffel feines Korn, 42 Ctr. Butter, 29 Ctr. Schmalz.
Neben dieser Massenconsumtion und hierbei gewöhnlichen Unmäßigkeit, welche, wie dies eben Merkmal der untern Culturstufe ist, nur bei einzelnen Gelegenheiten ausbricht, geht in den Zwischenzeiten die größte Einfachheit nebenher. – Die Entwickelung nimmt, wie wir schon bemerkten, im Haushalte des Einzelnen denselben Gang, wie beim ganzen Volke. Daher stehen häufig einzelne Stände in der Gegenwart noch im Mittelalter, während die allgemeine Culturstufe des ganzen Volkes schon eine höher entwickelte ist. Solche Zustände finden sich unter Anderen noch heute auf Bauerdörfern der Lausitz. Noch im vorigen Jahre wurden zur Hochzeit der Tochter eines Bauers 2 Rinder, 6 Kälber, 3 Schweine und 15 gemästete Gänse geschlachtet. Die Art der Bewirthung ist eine dieser massenhaften Zurüstung entsprechende. – Ein jeder Gast erhält bei jedem Gericht seine Portion von nicht knapper Quantität gleich von vornherein auf dem Teller abgetheilt vorgesetzt. Mehrere derselben zu bewältigen würde unmöglich sein. Es hat daher der Gast sich vorsorglich mit einem größeren Topfe versehen, in den er sämmtliche Portionen der nach einander folgenden Gänge hineinschüttet, unbesorgt darüber, daß die verschiedensten Speisen, die keine Küche der Erde sonst zusammenmischt, in dieser Olla potrida eigentlichen Sinnes ein merkwürdiges Ragout werden.
Die nicht geladene nahe und fernere Nachbarschaft hat sich übrigens nicht umsonst in der Kirche zur Trauung am Tage eingefunden, denn Abends geht sie fein „Fenstergucken“, d. h. an die Fenster des Hochzeitshauses und weiß hier durch Bekannte oder Gönner ihrer Scherze einen Theil des Tafelüberflusses sich herauszulocken. – Mit dem Vorübergehen eines solchen Festes tritt die alte Einfachheit wieder ein, ein noch ganz patriarchalisches Verhältniß zwischen Herrn und Knecht, und ich selbst war es in meiner Kindheit nie anders gewöhnt, als neben meinen Eltern mit dem Gesinde an einem und demselben Tische aus einer und derselben Schüssel zu essen.
Diese Einfachheit in der Lebensweise hat ihren Grund theils in einer gewissen Schlichtheit der Sitte, in der Anspruchslosigkeit und Mäßigkeit, theils aber auch in der Unkenntniß höherer, feinerer Genüsse und in der mangelhaften, erst in ihren Anfängen begriffenen Entwickelung der Gewerbe und des Handels. Wenn daher Lobredner des Mittelalters die große Selbstbeherrschung der Völker auf unentwickelterer Stufe hoch erheben, so ist dies wie mit der Apologie mancherlei anderer Zustände dieser Culturstufe, es ist durchaus falsch. – Die alten Deutschen hatten ungeheuere Gefolge. Die Völkerwanderung ergoß ihre Horden – zum Theile aus derartigem Troß bestehend – über das blühende Italien bis hinüber nach Afrika. Sie warfen Alles vor sich her nieder, aber der Ueberfluß nie gekannter Genüsse, denen sie sich maßlos ergaben, warf sie wiederum nieder und sie gingen unter. – Die Homerischen Könige speisen immer nur Fleisch, Brod und Wein; in den isländischen Heldensagen kommen als Tafelgerichte nur Hafermus, Milch, Butter, Käse, Fische, Hausthierfleisch und Bier vor. Anna von Boleyn, die Gemahlin Heinrich VIII., pflegte, wie wir noch wissen, nur Speck und Bier zu frühstücken. Die Gemahlin Karl’s VII. soll ihrer Zeit die einzige Französin gewesen sein, die zwei leinene Hemden besaß. Es ist bekannt, daß der Mittelstand noch im Zeitalter der Reformation nackt zu Bette ging.
Allmählich aber geht dieses Zeitalter im Fortschreiten der naturgesetzlichen Entwickelung vorüber, der Gewerbfleiß hebt sich, die Handelsverbindung mit fremden Völkern erweitert sich, die Städte blühen auf und werden die Stapelplätze für einheimische und fremde Natur- und Kunsterzeugnisse, die Kirche schreitet voran und sucht zuerst die Heiligkeit der gottgeweihten Stätten durch Prunk, durch Musik, Gemälde, Sculpturen, ausländischen Weihrauch, bunte Gewänder und kostbare Geräthe zu erhöhen, die Vergnügungen, Genüsse legen den tobenden oder grobsinnlichen Charakter ab und verfeinern sich, der ungeheuere Dienertroß verschwindet, aus ihm werden wohl allmählich eine Anzahl selbstständiger Handwerker, der Luxus wird billiger, wird besser, dringt in immer weitere Kreise der Bevölkerung, auf’s platte Land, und erst jetzt beginnt der Mensch die schöne Wahrheit des englischen Sprüchworts: The man’s house is his castle: „mein Haus meine Burg“ zu fühlen und nach seiner Verwirklichung zu streben; er baut eine, baut seine kleine Welt um sich aus, es gilt, ihr die Behaglichkeit, den Comfort zu verleihen, welchen Handel und Gewerbekünste eines blühenden Volkes ermöglichen. Ueber diese Periode nächstens.
Die Adlerfeder. Fort Snelling, am Zusammenfluß des Minnesota und Mississippi gelegen, ist eine ziemlich stattliche kleine Feste. Sie bildet eine viereckige Redoute, deren Wälle mit solider Steinbekleidung versehen sind, und ist auf eine Besatzung von circa tausend Mann Infanterie mit vier Feldgeschützen berechnet, und wurde erbaut, um den damals spärlich angesiedelten Bewohnern der Umgegend nöthigen Falles Raum und Schutz gegen die unruhigen Indianerstämme zu gewähren. Jetzt findet man bereits 100 englische Meilen darüber hinaus Städte von 12–1500 Einwohnern, zwischen denen sich die legitimen Besitzer des Bodens nur noch in einzelnen Banden, wie Zigeuner, herumtreiben, um bald den weiten Weg nach dem Felsengebirge einzuschlagen. Ihre Grabhügel am Minnesota und an den Ufern der zahlreichen Landseen im Innern des Territoriums sind mit Pfeilen und Adlerfedern, den Emblemen des Krieges, geschmückt. Die Winnebagoes waren Krieger!
An einem milden Abend jenes wunderbaren Spätherbstes, der die amerikanischen Wälder in ihren schönsten Schmuck kleidet – der indianische Sommer genannt, etwa zwölf Jahre zurück – meldete sich ein junges Mädchen vom Stamme der Winnebagoes beim Wachtposten des Forts an, und begehrte dringend, sogleich eingelassen zu werden, da sie mit dem Commandanten sprechen müsse. Die Indianerin war schon einige Male im Fort gewesen, und die Schildwache kannte dieselbe persönlich. Aber die Einlaßstunde war für heute vorbei, und die Schildwache wies sie daher ab. Sie wiederholte ihr Anliegen jedoch so ungestüm und mit so dringendem Ernste, dabei bald in Thränen, bald in dunkle Drohungen ausbrechend, daß der Mann sich endlich entschloß, den Vorfall seinem Officiere zu melden. Dieser – glücklicherweise vernünftig genug erstattete sogleich dem Commandanten davon Anzeige, der – obgleich fieberkrank und schon zu Bette liegend – dennoch befahl, das Mädchen augenblicklich zu ihm zu bringen. Er kleidete sich hastig an, und als das junge Mädchen einige Minuten später bei ihm eintrat, fand sie ihn auf seinem Feldstuhl sitzend, den von Fieberhitze glühenden Kopf in die Hand gestützt, bereit, sie aufmerksam anzuhören. Aber sei es, daß die Indianerin plötzlich anderen Sinnes geworden, oder daß ihr die Aufregung den Gebrauch der Sprache geraubt, der Officier wartete wohl eine Viertelstunde lang vergeblich auf ihre Mittheilung; – das Mädchen weinte nur leise, blieb aber sonst völlig stumm.
Major Dean hatte lange mit Indianern verkehrt, und kannte ihre Eigenheiten. Er sah sogleich, daß es sich hier um etwas sehr Wichtiges handele, und war deshalb doppelt auf der Hut. Die kleinste Uebereilung von seiner Seite konnte Alles verderben.
„Die weiße Lilie vom Okano-See ist müde und traurig,“ sagte er endlich aufstehend im gütigen Tone zu dem weinenden Mädchen, ihre Hand ergreifend und sie sanft in das anstoßende Zimmer seiner Frau führend, fuhr er zu dieser gewendet fort: „Hier, Mary, unsere junge Freundin hat Dir etwas zu sagen.“
Die Indianerin schien die verlorene Sprache allmählich wieder zu erlangen, und obgleich anfänglich nur dunkel und zweideutig, waren ihre Mittheilungen doch zuletzt hinreichend, um dem Officier ein klares Bild zu verschaffen.
[316] Diese Mittheilungen waren aber in der Kürze folgende: 1200 Krieger vom Stamme der Winnebagoes lagerten wenig Meilen vom Fort entfernt am Minne-ha-ha-Falle. Sie würden noch in der Nacht geräuschlos den Fluß überschreiten und Morgen vor Tagesanbruch in den Wäldern zunächst dem Fort versteckt sein. Der Häuptling – Wiando-te – werde sodann mit 30 auserwählten Kriegern des Stammes Einlaß im Fort begehren, und sich dabei nebst seinen Begleitern ohne Anstand der üblichen Form des Ablegens der Waffen unterwerfen. Dann würde er dem Commandanten anzeigen, daß der ganze Stamm im Begriff sei, einen fernen Kriegszug gegen die Omaha’s zu unternehmen, und daß er deshalb von dem weißen Häuptling Abschied nehmen wollte. Hierauf würde er die schwarze Adlerfeder vom Haupte nehmen, und sie ihm zum Zeichen der Hochachtung überreichen. Dies sei aber das verabredete Signal für seine Begleiter, die unter ihren weiten Decken noch überdies heimlich verborgen gehaltenen Waffen zu ergreifen und den Commandanten, die Officiere und die etwa noch bei der Conferenz Anwesenden plötzlich zu ermorden. Hierauf wollten sie über die also überrumpelte Besatzung herfallen, und mit Hülfe der in der Nähe versteckten und jetzt durch das Kriegsgeschrei des Stammes Herbeigerufenen dieselbe vollends niedermachen. Die Blockhäuser in Brand stecken, die Wälle der Erde gleich machen, alle Ansiedlungen am rechten Ufer des Mississippi bis an den Pepin-See herab, zerstören, und die Bewohner derselben – Weiber und Kinder natürlich mit – ermorden, war dann leichte Arbeit und ein bloßes Nachspiel des blutigen Drama’s.
Soweit die Mittheilung des Indianermädchens.
„Ob ihre Abwesenheit bemerkt worden?“ fragte der Major.
„Nein. – Die zurückgebliebenen Frauen seien mit der Maisernte beschäftigt, und sie habe ihre Zeit danach gewählt; auch wisse außer ihr keine um das eigentliche Ziel der Unternehmung. Sie allein habe die Berathung der Männer belauscht; der große Geist habe sie dabei beschützt, sie und die Weißen, die ihr so freundlich gewesen.“
Das arme Mädchen war ein paar Mal nach dem Fort gekommen, und man hatte ihr daselbst den feilgebotenen Vorrath von Mocassins und ähnlichen selbstgearbeiteten Kleinigkeiten bereitwillig abgekauft. Aber Indianer vergessen und – verzeihen nie!
„Seit wann die Männer des Stammes aufgebrochen seien?“ fragte der Major weiter.
„Sie seien schon seit mehreren Wochen unterwegs. Einzeln und auf großen Umwegen habe man sich nach dem Sammelplatze begeben, um die Ansiedler nicht vor der Zeit zu allarmiren.“ „Wann die Scheibe des Mondes das nächste Mal ganz verdunkelt ist, sind die Krieger der Winnebagoes am Falle des Minne-ha-ha,“ waren Wiando-te’s letzte Worte in jener Berathung gewesen. Und die heutige Nacht war Neumond.
Der ganze teuflische Plan lag jetzt dem Officier klar vor Augen. – Er strich mit der Hand gedankenvoll über die jetzt wieder eiskalte Stirn und kämpfte mit der ganzen Energie, deren er fähig war, gegen das Fieber an, das seinen Körper durchschüttelte. Das Leben seiner Untergebenen, seiner Familie, das von ein Paar Hundert Ansiedlern mit ihren Frauen und Kindern – an sein eigenes dachte er kaum – hing an einem einzigen Haare.
Er öffnete das Fenster und blickte lange in die schweigende Finsterniß hinaus. Die Runde trat eben unter Gewehr. Sie rief die Außenposten an. – „All right!“ lautete die gewöhnliche Antwort. Es war zehn Uhr. – All right! Die 1200 blutgierigen Teufel waren vermuthlich schon auf ihrem Posten.
So gut er sie auch kannte, diesmal hatte er sich völlig von ihnen einschläfern lassen. War das Mädchen nicht – mußte er sich gestehen – so erlebte Niemand zwischen dem Minnesota - Fluß und Pepin-See den kommenden Abend. Aber auch jetzt noch – gewarnt wie er war – war die Lage von furchtbarem Ernste. Den Häuptling mit seinen 30 Genossen bekam er freilich in seine Gewalt, aber vermochte er dann den wüthenden Anfällen von 1200 rachgierigen Dämonen, bewaffnet, wie seine eigenen Leute, mit Aussicht auf Erfolg Widerstand zu leisten? – Thorheit. – Die Blockhäuser waren von Holz mit schwacher Erdverkleidung, die Wälle an vielen Stellen schadhaft, – die Besatzung 180 Mann. Konnte er – sich bis auf den letzten Mann schlagend – die Indianer so lange aufhalten, bis die südlich wohnenden Ansiedler der Gegend – von ihm gewarnt – sich über den Mississippi zurückgezogen hatten? – Er hoffte es. Eine Weile lang schritt er nachdenklich im Zimmer auf und ab, dann ließ er die drei Officiere der Besatzung rufen und es war bereits tief in der Nacht, als diese sich von ihm trennten.
Als die Octobersonne am andern Morgen über den Wipfeln der Bäume aufging, zählte die Schildwache von Fort Snelling 31 indianische Reiter, die, einer hinter dem andern hervorbrechend, langsam den freien Raum bis zum Fort durchritten. Hier sprangen sie von ihren Pferden und der Vornehmste unter ihnen begehrte eine Unterredung mit dem Commandanten. Sie wurde bewilligt. Die Zugbrücke rasselte herab und die Männer traten einzeln in’s Innere, daselbst sogleich ihre Flinten, ihre Tomahawks und ihre langen Messer der Wache übergebend. – Es waren wilde und trotzige Gestalten. Ueber die bis zur Hälfte nackten Oberkörper war die bunte wollene Decke geworfen, die, am Halse befestigt, ihnen bis an die Fersen reichte. Die langen, schwarzen Haare hingen ihnen in einem dicken Zopfe bis über den Nacken herab; da, wo sie am Wirbel zusammengebunden waren, ragte die Adlerfeder empor, die des Häuptlings hoch über die andern heraus. Ihre Gesichter waren roth bemalt, mit schwarzen Rändern um Mund und Augen – die Farben des Krieges. Sie sahen in der That mehr gestreiften Hyänen als Menschen ähnlich. – Ein Officier führte sie in den untern Raum des zur Caserne eingerichteten großen Blockhauses, hieß sie hier Platz nehmen und den Commandanten erwarten,
Als die Thür sich einige Minuten später öffnete, sahen die Indianer eine halbe Compagnie Infanterie in den Raum rücken und ihnen gegenüber mit aufgenommenem Gewehre Posto fassen. – Wenige Augenblicke später trat Major Dean mit seinen Officieren ein. Er sah noch sehr bleich aus und litt augenscheinlich, aber sein Gang war rüstig, seine Haltung aufrecht.
Wiando-te erhob sich bei seinem Eintritte.
Sein Name war vormals der Schrecken aller Ansiedler gewesen; er hatte Jahre lang einen systematischen Vernichtungskrieg gegen sie geführt und zahllos waren die Beispiele wilder Grausamkeit, die man sich von ihm erzählte. – Seit länger als zwei Jahren war er indeß fast vergessen. Die übereinstimmenden Berichte der kanadischen Pelzhändler schilderten ihn als einen völlig veränderten Mann, der nichts mehr wünsche, als freundliche Beziehungen zwischen seinem Stamme und den Weißen. Niemand hatte zeither über ihn zu klagen gehabt. Bereitwillig hatte er den Tauschhandel mit den vom Superior-See herabkommenden Kaufleuten begünstigt. Der Major hatte ihn lange beobachten lassen und wiederholt die beruhigendsten Berichte über seine Bekehrung nach Washington gesendet.
„Die Krieger der Winnebagoes sind nur ihren Feinden auch ohne Waffen furchtbar,“ sagte der Häuptling mit Hohn, während sein dunkeles Auge zornige Blicke schoß. „Mein Bruder gehört nicht unter ihre Feinde. Warum fürchtet er sich?“
„Die Krieger meiner Farbe tragen ihre Waffen offen,“ war die trockene Antwort; „meine Brüder halten die ihrigen unter ihren Decken verborgen.“
Das Gesicht des Indianers verrieth nicht die mindeste Bewegung, auch die Männer seines Gefolges blieben stumm und theilnahmlos, wie die Bildsäulen.
„Mein Bruder sieht die Männer meines Stammes mit den Zeichen des Krieges geschmückt,“ fuhr der Häuptling nach einer Pause fort; „aber sie leben in Frieden mit den bleichen Gesichtern.“
Major Dean war dicht an ihn herangetreten. Mit einem plötzlichen Griffe, der, schnell wie der Gedanke, den Indianer völlig überraschte, riß er ihm die Adlerfeder vom Haupt und warf sie vor ihm auf den Boden,
„Fertig!“ commandirte der Officier an die anwesende Mannschaft. Die Gewehre klirrten, die Hähne knackten fast gleichzeitig zwei Mal kurz hinter einander. Dann hätte man eine Fliege summen gehört, so still war es plötzlich in dem geräumigen Blockhause.
In den wilden Gesichtern der anwesenden Winnebagoes bewegte sich auch nicht eine Muskel; keine Augenwimper zuckte, – und dennoch war unter ihnen allen auch nicht einer, der nur einen Augenblick daran gezweifelt hätte, daß seine letzte Stunde gekommen sei.
„Wiando-te,“ sagte der Major, „ich weiß, weshalb Du gekommen bist. Ich habe Freundschaft und Frieden geübt und Du bringst Verrath und Meuterei. Doch der große Geist ist mit den weißen Männern, die großmüthiger sind, als ihr. Geh und sage Deinen 1200 Kriegern, daß ich gerüstet bin, sie zu empfangen.“
Der Häuptling wandte sich der Thür zu und schritt, ohne ein Wort zu erwidern, von seinen Begleitern gefolgt, langsam durch die Reihen der vor dem Blockhause aufmarschirten Soldaten. Die Wache hatte Befehl, ihnen die Waffen wieder auszuliefern. Dann setzten sie sich zu Pferde und ritten eben so langsam dem nahen Walde zu.
Die nächsten Stunden waren bange Stunden für die Besatzung. Nur Major Dean war seiner Sache gewiß. Er wußte, daß die Indianer, selbst unter sonst günstigen Chancen, nur mit dem größten Widerwillen dann angreifen, wenn sie ihren Feind in Bereitschaft wissen. Auf alle Fälle hatte er Zeit gewonnen und die noch in der Nacht von ihm benachrichtigten Ansiedler südlich des Forts hatten Muße, ihre Frauen und Kinder über den Strom hinüber und in Sicherheit zu bringen. Den nördlich und westlich von ihm Wohnenden konnte er aber ohnedies keine Hülfe mehr gewähren. Er hatte richtig gerechnet. Die Indianer griffen nicht an und die Tags darauf abgeschickten Patrouillen brachten einstimmig Meldung von ihrem Abzüge.
Es gab Viele, die den Major bitter tadelten. Selbst seine eigenen Behörden haben das eine unzeitige Großmuth genannt, was – bei aller Großmuth – nichts als kluge Berechnung war. Der Erfolg rechtfertigte den Mann. Der vereitelte Schlag Wiando-te’s, des Winnebagoe-Häuptling’s, war die letzte, großartig angelegte Bewegung der Indianer in Minnesota. Alle späteren Feindseligkeiten derselben, die neuesten erst recht, die vor zehn Monaten die Runde durch alle Zeitungen machten, sind bloßes Kinderspiel dagegen.
In Lessoueur County liegt ein großer Landsee, mehrere Stunden breit. Die Ansiedler der Gegend haben ihn „Clear Lake“ getauft, wegen der durchsichtigen Klarheit seines Wassers. Am östlichsten Ende des Sees steht noch und stand schon Hunderte von Jahren vor Christoph Columbus ein mächtiger Hickory-Baum, weit die umstehenden Stämme des Urwaldes überragend, die – Riesen, wie sie sind – wie Kinder neben ihm aussehen. Am Fuße des Baumes, von seinen gewaltigen Zweigen beschattet und von den Wellen des Sees bespült, ist ein Indianergrab, nur erst wenige Jahre alt und mit dem Pfeile und der Adlerfeder versehen. An schönen Frühlings- und Herbstmorgen finden die dortigen Hinterwäldler häufig den Hügel mit Blumen geschmückt und wissen dann, daß eine von den einzeln noch herumstreichenden Indianerbanden in der Nähe ist. Das Grab aber ist das Wiando-te’s, des ehemaligen Häuptlings vom Stamme der Winnebagoes, der dort im Lande seiner Väter ruht. – Nur gehört die östliche Ecke des Sees – das Grab also mit – zur Zeit einem deutschen Ansiedler, der früher als k. k. Gensd’arm an der sächsisch-böhmischen Grenze stand und sich seit achtzehn Monaten dort angesiedelt hat.
Die weiße Lilie vom Okano-See kehrte nicht wieder zu ihrem Stamme zurück. Sie blieb in der Familie des Major Dean, bei dem sie augenblicklich noch ist.
- ↑ Den deutschen Müttern und Vätern ein Buch über das Werden und Wachsen ihrer Kinder als Schlüssel zu deren gesünderer Erziehung. Von Dr. Leopold Besser. Frankfurt a. M. Meidinger.