Die Gartenlaube (1853)/Heft 50
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No. 50. | 1853. |
Aus dem Müglitzthale.
„Beim heiligen Bartholomäus! das nenne ich Glück, in dieser Wildniß noch eine menschliche Wohnung gefunden zu haben,“ begann jetzt ein junger Mann in schwarzem Sammetwamms, einen breitkrämpigen Hut mit einer Birkhahnfeder geschmückt auf dem Kopfe, einen Eichstock mit stählernem Haken als Griff und eisenbeschlagener Spitze in der Hand und ein starkgefülltes Ränzel auf dem Rücken tragend, als die alte Magd die Thüre argwöhnisch halb öffnete und ihm mit aufgehobener Leuchte in's Gesicht schaute.
„Nun, gefalle ich Euch nicht?“ rief der junge Mann scherzend, als er sah, wie die Magd weit eher Lust zu haben schien, ihm die Thür wieder vor der Nase zuzuschlagen, als ihn eintreten zu lassen. „O, Ihr dürft mir schon trauen!“ fuhr er lachend fort, „gönnt mir nur für heute ein Nachtlager, was ich Euch gern vergüten will, denn ich wüßte wahrlich nicht, wohin ich mich, ohne den Hals in diesem Höllenwinkel zu brechen, bei stockfinsterer Nacht noch wenden sollte.“
„Ich will es wagen,“ entgegnete die alte Magd und öffnete die Thüre ganz, nachdem sie den Fremden einen Augenblick von Kopf bis zu Fuß gemustert und das kecke zutrauliche Wesen desselben ihren Beifall gefunden zu haben schien. „Tretet näher; ein Lager von Stroh wird sich für Euch wohl noch finden, aber auf viel mehr dürft Ihr Euch nicht Hoffnung machen.“
Sie trat in’s Haus zurück, indeß der junge Gesell ihr folgte, und führte diesen nach der Wohnstube, an dessen Thüre der Müller den inzwischen herheigeholten Hund an der Kette haltend stand, welcher mit grimmigem Gebell dem Fremden entgegen fuhr, während Agathe neugierig hinter des Vaters Rücken hervorschaute.
„Zurück, Packan!“ rief der Müller, und nöthigte den Fremden, näher zu treten, die alte Magd aber führte den knurrenden Hund wieder nach dem Hofe zurück und verriegelte sorgfältig die Hausthüre.
„Der Himmel danke es Euch, daß Ihr mich nicht unerhört in die dunkle Nacht hinauswandern ließet,“ [546] begann jetzt der junge hübsche Mann, dem ein kleiner schwarzer Schnurrbart und Knebelbart zu seinem wettergebräunten und jugendlich frischen Antlitz gar trefflich stand. „Ich muß wohl auf diesem weglosen Pfade weit ab von der Straße nach Altenberg gekommen sein,“ fuhr er fort, indeß er sein Ränzel abschnürte und auf einem leeren Schemel Platz nahm.
„Da seid Ihr eine gute Stunde seitwärts gerathen; aber wo kommt Ihr denn eigentlich her, denn Eurer Tracht und Sprache nach seid Ihr nicht aus hiesiger Gegend?“ entgegnete der Müller, den Fremden aufmerksam musternd und neugierig das gefüllte Ränzel desselben betrachtend, in welchem, als der junge Mann dies sorglos auf den Erdboden geworfen, ein Ton erklungen war, als rüttele man Gold- und Silberstücke untereinander.
„Ich bin aus der welschen Schweiz und komme vom Zinnewald her,“ antwortete der Fremde, jetzt erst des Müllers Tochter genauer betrachtend, die vor den feurigen Blicken, welche aus des jungen Mannes schwarzen Augen ihr entgegen blitzten, erröthend sich hinter ihr Spinnrad flüchtete.
„Nun, zu viel wird Euch bei uns nicht im Wege stehen,“ bemerkte trocken der Müller, „aber eine Streu auf dem Fußboden, ein Krug Wasser und ein Stück Brot soll Euch nicht fehlen. Wer weiß“ – grollte er bitter für sich – „wo wir vielleicht morgen schon dies erbetteln müssen.“
„Ich bin vollkommen zufrieden damit,“ entgegnete der Fremde und legte seinen Hut bei Seite, worauf nun fessellos lange glänzend schwarze Locken auf Nacken und Hals desselben herabfielen. „Ruhe ist es nur, die ich bedarf,“ fuhr er fort; „denn an Entbehrung hin ich gewöhnt, aber seit heute früh fünf Uhr bin ich auf den Beinen, und obgleich ich manch eisbedeckten Berg erstiegen und auf Gletschern mich tagelang herum getrieben auf halsbrechenden Pfaden, so bin ich doch noch nie so todmüde geworden, wie heute in diesen Schluchten und Thalgegenden.“
„Nun, die Magd wird Euch sogleich Euer Lager bereiten und auch wir wollen uns zur Ruhe begeben,“ bemerkte der Müller und winkte Agathen, den Spinnrocken bei Seite zu stellen.
„Aber Ihr zürnt mir doch nicht, daß ich Euch so spät am Abend zur Last falle,“ bat der Fremde und bot dem Müller die Hand, welcher mit seiner Tochter sich entfernen wollte. „Und auch Ihr nicht, holde Jungfrau!“ rief er, zu Agathen sich wendend. „Ihr, die Ihr so herrlich hier aufblühet in stiller Einsamkeit, wie das Alpenröslein in unwegsamer Wildniß.“
„Wollte der Himmel, wir könnten Euch besser aufnehmen,“ entgegnete der Müller, ihm zum Nachtgruß die dargebotene Hand schüttelnd. „Da aber dies nicht der Fall ist, so müßt Ihr mit dieser armseligen Bewirthung vorlieb nehmen. Gute Nacht!“
„Schlaft wohl, und verzeiht, daß wir nichts Besseres Euch bieten können als dies Strohlager,“ fügte Agathe schüchtern hinzu, indeß der Fremde der Jungfrau Hand hastig ergriff und zärtlich drückte, worauf diese hocherröthend sich eilig entfernte und dem Vater folgte, welcher die kleine in das obere Stockwerk führende Treppe hinaufstieg, während die Magd das Lager des Gastes bereitete, ein Stück Brot und einen Krug Wasser auf den Tisch setzte, und ihm gute Nacht wünschend bat, den frisch angezündeten Kienspan sorgfältig auszulöschen.
Als der Fremde sich allein sah, warf er seine Blicke forschend umher in der reinlichen aber ärmlich ausgestatteten Wohnstube, streckte sich, die Leuchte auslöschend, auf sein Lager und sprach still für sich: „In diesem Hause scheint das Glück auch nicht heimisch zu sein, aber ein lieblicheres Frauenbild ist mir doch nimmer vorgekommen als hier in dieser Hütte der Armuth,“ und während er bemüht war, das blasse aber von sanfter Duldung mit mildem Lächeln geschmückte Antlitz Agathen's sich recht lebhaft vor den Blick zu zaubern, kam der Schlaf über ihn, und bald schlummerte der junge Mann auf dem harten Lager so süß und ruhig, als liege er auf schwellendem Lotterbettlein in der Wohnung des üppig prunkenden Reichthums.
Dem Müller und seiner Tochter aber blieb der Schlaf fern, und während der müde Wanderer in der Unterstube der Mühle schon mehrere Stunden im Schutze jugendlicher Sorglosigkeit schlief und der neckende Traumgott ihm die liebliche Müllerstochter zuführte, da lag der Müller auf seinem Lager schlaflos und zählte die Stunden bis zu Anbruch des Tages, an welchem er dem Erscheinen der Gerichte entgegen sehen mußte, die ihn von Haus und Hof vertreiben würden; denn auf den nächsten Tag fiel der letzte Termin, bis zu welchem er entweder die rückständigen Zinsen schaffen oder seiner Mühle den Rücken kehren mußte mit Agathen, die durch des Vaters Schuld der Fluch der Armuth und des Elendes so frühzeitig traf.
Nirgend zeigte sich dem Unglücklichen eine Hoffnung auf Rettung, überall hatte man ihn abgewiesen, wo er um Hülfe gebeten, als nach jener Nacht er für immer dem Spiel entsagt; – zurückgezogen hatten sich von ihm all’ die reichen Freunde der Umgegend, mit denen er so oft gezecht und gespielt, seit er leider nur zu spät inne gehalten in blinder Verschwendung seines Eigenthums, und wenn es in unsern Zeiten auch nicht viel besser ist, so war es doch vor 150 Jahren um einen bis auf die Auspfändung heruntergekommenen, früher reichen Manne auf dem Lande ein gar schlimmes Ding, von dem sich Alles abwendete, als sei er verpestet, und besonders wenn er selbst dazu beigetragen durch Schlemmen und Spielen. Nur einer seiner Spielgesellen wollte ihm helfen, und dies war der Mattheus aus dem Oelsengrunde, der aber für blankes Gold die liebliche Agathe als Opfer verlangte, aber dies war ein Handel, auf welchen selbst der so tiefgesunkene Vater nicht einging, und dem ein Pact mit dem Teufel um Leib und Seele, wie das Gerücht in jener abergläubischen Zeit es oft von Diesem oder Jenem aussprengte, nicht entsetzlicher schien, als sein einziges Kind jenem verrufenen Wollüstling in die Arme zu werfen. –
Aber während Kummer um Agathen, Groll gegen seine Peiniger und falschen Freunde, Verzweiflung bei [547] dem Gedanken an die nächste Zukunft des Müllers Lager zur Folterbank umschufen, drängte sich plötzlich das Bild des fremden Wanderers in seine Seele. Das Ränzel desselben, was so reichlich angefüllt war und beim Herabwerfen auf den Fußboden einen so seltsamen Klang von sich gegeben, was konnte wohl anderes darin sein als Gold? – und doch schien der junge Gesell nicht im Besitz großer Reichthümer zu sein, sonst wäre er gewiß nicht so sorglos durch diese einsame und unsichere Gegend allein umhergewandert, und hätte wohl nimmer sein Bündel so achtlos von sich geworfen, – – und dennoch, je länger er bei diesem Gedanken stehen blieb, je lebhafter zeigte ihm seine Phantasie die Möglichkeit, daß der junge Mann doch wohl Gold und Goldeswerth bei sich führe und daß er, im Besitz desselben gelangt, sich noch retten könne. –
„Der Wanderer da unten schläft fest,“ flüsterte es in ihm; „den weckt dein Schritt nicht aus ruhig stärkendem Schlummer. Geh hinab, untersuche sein Bündel, und hat er Gold bei sich –“ hu! – ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte ihn. Kein Mensch hatte den Fremden kommen sehen, als seine Tochter und die Magd, kein Mensch würde denselben vermissen als diese Beiden, und wenn diese nach ihm fragen sollten, konnte er nicht vor Tagesanbruch wieder abgereist sein, ehe Beide erwacht? Keine Behörde würde hier nach ihm fragen, der ja in der Nacht nach jeder andern Richtung hin sich verirrt haben oder in irgend einen Abgrund hinabgestürzt sein konnte. – Oder – sollte er dem fremden Manne sich entdecken, sollte er ihn bitten um ein Darlehn, denn Gold, Gold, das wurde ihm von Sekunde zu Sekunde immer wahrscheinlicher, Gold mußte der Fremde bei sich führen! –
Nicht länger ließ es den Gefolterten ruhen, immer mehr gewannen diese aus wilder Fiebergluth der Verzweiflung auftauchenden Bilder Leben und Wirklichkeit, und langsam, um seiner Tochter Schlaf nicht zu stören, schlich er sich von seinem Lager weg und tappte im Finstern nach der zur Unterstube führenden Treppe. –
Aber auch Agathen war der Schlaf geflohen, und seit der ihr Herz so gewaltsam erschütternden Nachricht, daß nichts den Vater mehr retten könne vor Vertreibung aus Haus und Hof, daß nur ein Weg zur schmachvollen Vermeidung dieser Austreibung offen sei, durch des schwarzen Mattheus Gold, wenn sie demselben sich opfere, hatte Agathe mit unsäglichem Schmerz und stiller Verzweiflung zu kämpfen, und nur die Ankunft des jungen Mannes, dessen Bild sich so wunderbar schnell in ihr Herz eingeprägt, hatte die peinigenden Sorgen für die nächste Zukunft und die Bilder der bevorstehenden Schmach des Abzugs als Bettler von Haus und Hof auf kurze Zeit verdrängt. Aber eben jetzt in schlaflos stiller Nacht waren dieselben noch greller und fürchterlicher ihr wieder vor die Seele getreten. Sie batte des Vaters banges Seufzen und Stöhnen vernommen und sich gestellt, als ob sie schlafe; als aber dieser von seinem Lager sich schlich und zur Unterstube hinabstieg, da erfaßte sie der gräßliche Gedanke, der Vater wolle hinaus in die finstere Nacht, um in Verzweiflung sein Leben zu enden im kühlen Wasserschooße, wie er es schon mehrmals frevelnd verkündet, als Alles ihn verlassen. – Auch sie litt es nicht länger in der Kammer und rasch sich ankleidend, schlich sie behutsam wie der Vater geräuschlos die Treppe hinab. Plötzlich blieb sie hinter dem Vorsprunge der Wand am Ende der Treppe stehen. In der Unterstube wurde es hell, der Fremde schlief, o, er schlief so arglos und süß, aber der Vater, was trieb diesen zu dem Fremden? – Sie drückte sich mit laut klopfendem Herzen dicht hinter die halb offene Thür und sah, wie der Vater leise eine im Winkel des Zimmers stehende Axt zur Hand nahm, wie er dem Lager des Fremden näher trat, wie er zitternd dessen Ränzel vom Boden aufhob und wild verstört dabei auf den Schlafenden blickte, und als dieser im Schlafe unruhig sich auf die andere Seite warf, da – ha, das Blut starrte in ihren Adern, da sah sie, wie der Vater die Axt ergriff, und den Blick auf den Schlafenden gerichtet, diese zum Schlag bereit erhob. – Sie wollte aufschreien, aber das Entsetzen fesselte ihre Stimme; sie wollte hinstürzen zu dem Fremden, aber der Schreck lähmte ihre Füße. – Allmächtiger Gott! es war ihr Vater, ihr Vater, den sie im Verdacht hatte, sich das Leben zu nehmen, er war im Begriff, an dem fremden Gaste, der so arglos unter ihrem Dache schlief, zum Räuber und Mörder zu werden. – Sie mußte sich festhalten an dem Treppengeländer, denn sie fühlte, wie ihre Sinne schwanden und ihr Blick sich umflorte.
Jetzt öffnete der Vater das Ränzel - aber es entfiel seiner zitternden Hand und mit lautem Gepolter stürzte statt Gold eine Masse zerschlagenes Gestein auf den Erdboden. Mit einem Sprunge war der Fremde vom Lager auf und stand, rasch nach seinem Stock greifend, zum Kampfe bereit dem Müller gegenüber, diesem aber sank die Axt kraftlos aus den Händen und mit einem Blicke starren wilden Stumpfsinns schaute er auf die um ihn liegenden Steine, während der Fremde sich die letzten Spuren des Schlafs aus den Augen reibend, verwundert auf den jetzt nach einem Sessel taumelnden Müller blickte, auf welchen er mit tiefaufkeuchenden Athemzügen hinsank.
„Nun wahrlich! Ihr seid ein sauberer Gastfreund,“ rief jetzt der junge Mann und warf einen finster drohenden Blick auf den starr zu Boden blickenden Müller. – „Was habt Ihr denn in meinem Ränzel zu suchen gebabt?“
„Ich suchte Gold, um mich zu retten, und glaubte den Muth zu haben, Euch zu tödten, wenn ich es gefunden!“ stöhnte der Müller, auf dessen Stirn ein kalter Angstschweiß trat und dem ein fröstelndes Zittern den Körper durchschütterte. –
„Armer Mann! so tief also seid Ihr schon gesunken!“ sprach mitleidig der junge Mann. „Dann freilich muß es schlimm mit Euch gestanden haben, und obgleich ich vor Schlafengehen schon gewahr wurde. daß hier kein Glück und Segen heimisch sei, so glaubte ich mich doch bei zwar armen aber ehrlichen Menschen sicher, und nicht in eine Mörderhöhle gerathen zu sein. Darum ist es besser, ich scheide sofort von hier, und wenn ich nicht zum Verräther an Euch werde, so dankt dies der lieblichen Jungfrau, Eurer Tochter, deren Herz Ihr [548] brecht durch Euer wahnsinnig verbrecherisches Treiben, und die wahrlich eines bessern Looses werth wäre.“ –
„Das war ich, Herr! arm und ehrlich; aber die Verzweiflung trieb mich zu Mordgedanken!“ rief der Müller mit gedämpfter Stimme, dann aber bei dem Gedanken an seine Tochter in wilden Schmerz ausbrechend, schrie er heftig, sich vor die Stirn schlagend: „O, mein Kind! mein Kind! sie darf mich nimmer wieder sehen!“ und stürzte der Thüre zu.
„Bleibt, Vater, bleibt!“ schrie Agathe und stürzte aus ihrem Versteck hervor, sich diesem entgegen werfend, welcher bei dem unerwarteten Erscheinen seiner Tochter, entsetzt zurück taumelte. Aber auch Agathen verließen jetzt die letzten Kräfte, und erschöpft von einer fieberhaften an Wahnsinn grenzenden Aufregung sank sie bleich und bewußtlos zu Boden.“
„Sie stirbt! Mein Kind stirbt, und ich bin ihr Mörder!“ heulte der Müller, sein Haar sich in wilder Verzweiflung zerraufend, während der Fremde rasch herbeisprang, mit dem im Kruge befindlichen Wasser die Stirn der Ohnmächtigen benetzte und diese auf sein Lager brachte.
„Kommt zu Euch, Mann des Elends!“ rief er jetzt, den Müller heftig rüttelnd, welcher mit weit aus ihren Höhlen hervortretenden Augen starr auf das bleiche Antlitz seiner Tochter schaute. – „Kommt zu Euch!“ fuhr er mit ernster Stimme fort. „Es ist nur eine Ohnmacht, aus welcher sie bald wieder erwachen wird; Ihr aber sucht Euren Schmerz zu bewältigen, und macht sie und Euch nicht noch unglücklicher, als Ihr ohnedem schon seid. Vielleicht ist Euch noch zu helfen!“
„Vater!“ seufzte jetzt Agathe, und schlug, sich von ihrem Lager aufrichtend, die Augen auf.
„Gott sei gelobt, sie lebt!“ wimmerte der Müller, und bedeckte mit Küssen die bleichen kalten Lippen der Tochter, während zum ersten Male seit langen, langen Jahren Thränen tiefen bittern Schmerzes den Augen des Unglücklichen entrollten.
„Geht wieder in Euer Kämmerlein, Jungfrau!“ bat jetzt der Fremde mit zärtlich mitleidigem Blick das blasse leidende Antlitz betrachtend und ihr den Arm reichend, auf welchen diese sich stützte. „Betrachtet, was hier jetzt vorgefallen, wie einen bösen Traum,“ fuhr der junge Mann, ihr Muth und Vertrauen einflößend, fort. „Ich habe jetzt noch mit Euerm Vater zu sprechen, und kann vielleicht, wenn irgend möglich, ihm doch noch Hülfe und Rettung verschaffen.“
„O, Euch sendet Gott als unsern Engel,“ hauchte Agathe und blickte mit innigem Danke zu dem Fremden empor, dann ihren Vater weinend umarmend rief sie mit flehender Stimme nach dem jungen Manne sich wendend, „verzeiht, o verzeiht dem unglücklichen armen Manne, der nicht gewußt hat, was er thun wollte. Gott wird es Euch reichlich lohnen, zu dem ich beten will für Euch und den Vater.“
Und aus dessen Armen sich windend, verließ sie mit wankenden Schritten die Wohnstube. Der Müller aber sank vernichtet, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckend, auf seinen Stuhl zurück.
„Nun sagt einmal,“ begann jetzt der junge Fremde, als er mit dem Müller allein war und sorgsam die aus seinem Ränzel herausgefallenen Steine wieder aufgelesen und dasselbe fest zugeschnürt hatte, „was hat Euch denn zu so dämonischem Entschluß treiben können, mich zu bestehlen und wohl gar aus der Welt zu schaffen?“
„Sagt das Letztere nicht,“ entgegnete wehmüthig bittend der Müller und reichte, wie um Verzeihung flehend, dem Fremden die Hand, welche dieser, ihn ermuthigend, lächelnd schüttelte. „Ich hätte nicht den Muth gehabt, Euch zu tödten, auch wenn Ihr nicht erwacht wäret. Aber das Entsetzliche meiner Lage, welche mich zwingt, schon heute mit meinem Kinde als Bettler Haus und Hof zu verlassen, ließ mich irre werden an Gott und den Menschen.“
„Und warum müßt Ihr von hier fort?“ frug theilnehmend der Fremde.
„Ich schulde dem Besitzer des Kratzhammers bei Lauenstein 500 meißnische Gülden und 50 Gülden rückständige Zinsen,“ begann der Müller, „und habe ihm dafür Haus und Hof verschrieben auf Wandelpön. Der Termin der Zinszahlung ist heute, ohne daß ich einen einzigen Gülden aufzutreiben vermochte, und daher vertreiben mich bis Mittag 12 Uhr die Gerichte zu Lauenstein auf Antrieb meines Gläubigers und des Oelsengrundmüllers mit Kind und Magd aus der Mühle.“
„Schuldet Ihr denn dem Oelsengrundmüller auch etwas? und ist dies derselbe, den man in hiesiger Gegend den schwarzen Mattheus nennt?“ frug aufmerksam der junge Mann.
„Nein, diesem schulde ich nichts, und es ist derselbe,“ entgegnete der Müller. „Aber er wirbt um meine Tochter, und will für mich zahlen, wenn ich ihm Agathen überliefere, und drängt daher meine Gläubiger, mir nicht länger Gestundung zu geben und mich auf's Aeußerste zu treiben, um mich zu zwingen, sein Begehr zu erfüllen. Doch“ – fuhr er mit wildem Grimme fort – „ehe ich diesem Unhold mein armes Kind überlasse, eher suche ich und Agathe Rettung im kühlen Wassergrabe.“
„Ei was! schämt Euch und verbannt solche sündige Gedanken,“ sprach mit strafendem Ernst der Fremde. „Die 500 Gülden kann ich Euch leider nicht schaffen, aber was die Zinsen betrifft, so will ich um Eurer Tochter willen es wagen, Euch diese zu leihen.“ – Nach diesen Worten zog der junge Mann aus seiner Brusttasche einen ledernen Beutel hervor und zählte die 50 Gülden in Gold auf den Tisch.
„Ist es denn möglich? Dies wollet Ihr mir als Darlehn anvertrauen?“ frug, kaum glaubend, daß ihm Hülfe noch werde, der Müller staunend.
„Gewiß,“ entgegnete lachend der Fremde. „Es ist ja eben so gut, als vertrauete ich Euch diese Summe an, um sie mir aufzuheben, bis ich wieder hierher zurückkehre.“
„Und wann kehret Ihr wieder?“ frug der Müller, tief gerührt von dem Edelmuth des Fremden, dessen Eigenthum und Leben er bedroht.
„Wenn die Schwalben wiederkehren und es auf Euren rauhen Höhen Frühling wird,“ entgegnete dieser.
„Aber!“ fuhr der Müller fort und stützte sein [549] Haupt auf die Hand, als müsse er all’ seine Gedanken zusammenfassen, um sich zu überzeugen, daß kein täuschend Traumbild ihm diese Hülfe vorspiegele und Wirklichkeit es sei, was sich ihm hier zeige. „Womit soll ich beweisen, daß dieses Gold mein Eigenthum ist, da meine Peiniger wohl wissen, daß ich über keinen Groschen mehr gebieten kann und ich gestern noch vergebens um Aufschub gebeten habe?“
„Hm! das ist allerdings zu berücksichtigen,“ sprach der Fremde und sann einen Augenblick nach. „Doch, auch das wird sich machen,“ fuhr er dann fort und riß aus einem kleinen Büchlein, welches er ebenfalls aus seiner Seitentasche zog, ein Blatt weißes Papier und schrieb mit Rothstift einige lateinische Worte auf, brach dann das Blatt zusammen und gab es dem Müller.
Am Vorabend der Eröffnung des Congresses.
In den letzten Tagen des Jahres tritt jedes Mal der Congreß der Vereinigen Staaten zu seiner ordentlichen Sitzung als höchste gesetzgebende Behörde des Landes zusammen, vor welcher die ersten Beamten hinwiederum Rechenschaft ablegend erscheinen. Der Präsident der Union thut dies in einer an den Congreß gerichteten „Botschaft“, in der er sich über alle inneren und auswärtigen Angelegenheiten ausführlich ergeht. Die Eröffnung der diesjährigen Sitzungsperiode des Congresses steht eben jetzt bevor, und bereits sieht Alles voller Spannung der Botschaft entgegen, mit welcher Präsident Pierce vor die Erwählten des Volks treten wird. Man kennt die Interventionslust der gegenwärtig in Amerika am Staatsruder befindlichen Partei, und dieser Lust zu fröhnen ist zur Zeit die Weltlage wie dazu gemacht. Wie verlautet, wird der Präsident zunächst die Aufnahme der im stillen Oceane auf dem Wege nach China liegenden Sandwichinseln in die Union beantragen, und diese von den Inseln selbst gewünschte Aufnahme wird jedenfalls auch erfolgen trotz englischer und französischer Proteste. Was die Präsidentenbotschaft uns weiter bringen wird, müssen wir abwarten.
Sobald der Congreß in Washington zusammentritt, beginnen die schönern Tage der Unionshauptstadt, die außerdem ein einförmiges Leben führt. Fast in allen Ländern drängen sich da, wo der Sitz der Regierung ist, die im Volke vorhandenen Hauptkräfte, [550] das Mark des Landes, zusammen, und die Hauptstadt eines Staates kann in den meisten Fällen auch als das Herz desselben gelten. Wer die größern Residenzstädte Europa’s besuchte, wird dies gefunden und kennen gelernt haben. Kommt er dann aber später nach Washington, er würde, dem Aeußern des Ortes nach, nicht die Hauptstadt eines großen Reiches, die Bundesstadt der gewaltigen Freistaaten von Nordamerika, den Sitz der Unionsregierung, vermuthen. Man sieht dort keine glänzenden Carrossen und Livreen, keine betreßten Lakaien und Läufer, keine schimmernden Uniformen, Garden, Wachen und Ehrenposten, keine besternten Fracks, nichts von all’ dergleichen, wie man es in europäischen Residenzen sieht. Der Anblick der sehr weitläufig angelegten Stadt[1], die bei ihrer großen Ausdehnung nur ca. 40,000 Einwohner zählt, ist sogar öde und traurig, zumal wenn man vielleicht von Neuyork einen Abstecher hierher machte und dort kurz zuvor noch in unermeßlichem Gewühle alle Welttheile ihre Schätze austauschen sah.
Washington zeichnet sich indeß durch die Eleganz der öffentlichen und Privatgebäude aus, und wenn Du nun, die Stadt durchwandernd, in den westlichern Theil derselben kommst, tritt Dir auf einem Hügel ein kolossales Gebäude entgegen, welches durch sein Aeußeres wie durch seine Größe vielleicht zunächst daran erinnert, daß man sich in einer Stadt von politischer Bedeutung befindet. Jenes ganz Washington beherrschende Gebäude ist das Kapitol!
Das Kapitol, so wie es jetzt dasteht, ist nach dem Kriege von 1814, wo es nebst einem Theile der Stadt durch die Engländer verbrannt wurde, mit einem Kostenaufwand von 1.800.000 Dollars erbaut worden. Dem Hauptgebäude entlang, an das sich zwei Flügel lehnen, läuft ein Portikus von korinthischen Säulen, von welchem aus es in die mit Reliefs und Gemälden aus dem nordamerikanischen Freiheitskriege geschmückte Rotunde führt. Das ganze Gebäude ist 350 Fuß lang, 121 Fuß tief und mit der Kuppel 120 Fuß hoch. Außer den vom Congreß in Anspruch genommenen Räumlichkeiten befindet sich auch der oberste Gerichtshof der Union in dem Kapitol. Dasselbe umschließt mithin die jedem freien Volke heiligsten Gewalten.
Das Kapitol ist die Residenz des aus dem Senate und dem Hause der Repräsentanten bestehenden Congresses, in welchem sich die Nationalsouveränetät des amerikanischen Volkes verkörpert, dieses Volkes, das sein Blut noch unausgesetzt mit dem Blute fast aller Völker des Erdballs kreuzt.
Zur Zeit der Congreßsitzung, wo von den Küsten des mexikanischen Meerbusens bis hoch hinan zu den großen Seen, und von den Ufern des stillen Meeres bis zu denen des atlantischen, die Erwählten der Nation nach Washington kommen, nimmt die Stadt eine lebhaftere Physiognomie an, und man gewahrt dann, daß hier die politischen Fäden des ungeheuern Staatenbundes zusammenlaufen; die Wände des Kapitols hallen von gewichtigen Worten wieder, und wenn zwischen [551] ihnen zur Stunde auch nur die Geschicke eines mächtigen Reiches entschieden werden, so dämmert doch jetzt schon Etwas wie leises Ahnen auf, daß dort einst das Geschick unseres ganzen Erdballs entschieden werden dürfte. Schon lange fügt sich Stern zu Stern im Banner der Union und das Racengemisch auf ihrem Gebiete wird immer vielfältiger.
Nur die eingeborene Race des Landes, die rothhäutigen Indianer, gehen in diesem Völkergährungsprozeß, aus dem fortwährend frisches Leben zu Tage tritt, ihrem Untergange entgegen. Diese ehemals so stolzen, muthigen und großherzigen Völker welken unter den Segnungen wie unter den Lastern der Civilisation dahin. Bisweilen sieht man jetzt noch auf dem Kapitol in Washington Abgeordnete jener unglücklichen Stämme erscheinen, deren Väter vor Zeiten die Hügel bewohnten, auf denen sich jetzt das Kapitol erhebt, und die nun bis weit hinter den Mississippi zurückgedrängt sind. In der Tracht ihrer Wälder und Prairien kommen diese indianischen Abgesandten, um gewöhnlich die Gelder zu empfangen, welche die Unionsregierung den meisten Indianerstämmen als eine Art Pension für die Vertreibung von ihrem ursprünglichen Wohnsitzen zahlt. Bei solchem Verkehre mit den Weißen hat aber der Indianer die Schwäche, denselben meistens nachzuahmen, und so sieht man oft Diejenigen, welche noch in theilweiser indianischer Urkraft die Unionsstadt betraten, als häßliche Zerrbilder der Civilisation wieder aus ihr scheiden.
Um eine im Untergange begriffene Nation ist es immer etwas Wehmüthiges, und tröstend ist hier nur, daß auf dem Grabe jener die Wiege einer andern steht, die ein Herkules unter allen Völkern zu werden verspricht.
Aus der Menschenheimath.
Erwarte nicht, mein Freund, daß ich Dir heute unter dieser Ueberschrift etwas von der Erfindung Gutenberg’s erzählen werde, wie ich Dir neulich von der Verbündeten derselben, der Holzschneidekunst, wenigstens von deren Stoff Einiges mittheilte. Der Buchdrucker, von dem ich heute sprechen will, ist eigentlich ein Holzschneider; er hat in seiner Kunst nie eine Lehrzeit bestanden, sondern ist ein geborener Meister; er ist auch kein Mensch, sondern nichts mehr und nichts weniger als ein kleines Käferchen, welches schon wohl über hundert Jahre lang den ehrenvollen, aber durchaus für sein Metier übel gewählten Namen des Buchdruckers führt, obgleich er sich um die Menschheit nichts weniger als verdient gemacht hat. Er ist im Gegentheile ein arger Feind und Quälgeist der Menschen.
Aber eben deswegen, weil wir unsere Feinde kennen müssen, um sie besiegen zu können, oder wo das nicht möglich ist, um wenigstens zu wissen, wem wir unterliegen, so will ich Dir auch dann und wann etwas von unseren Feinden aus der Thierwelt erzählen. Die Thierwelt ist ja zusammen mit der Pflanzenwelt in anderer Richtung der belebende Schmuck unserer Menschenheimath, ohne den wir nicht würden leben mögen, und noch viel weniger würden leben können.
Ungefähr eben so viele Insektenarten wie Pflanzenarten – nämlich von jeden etwa 100,000 Arten – kriechen und fliegen und summen und brummen auf, in und über unserer Erdoberfläche, ohne daß sie uns im gewöhnlichen Leben sehr in’s Auge fallen; und es wird Dir gewiß auffallend sein, hier zu vernehmen, daß diese eine Thierklasse allein der Zahl nach dem Gewächsreiche das Gleichgewicht hält.
Aber nicht blos der Zahl nach, sondern auch sonst besteht eine wunderbare Beziehung zwischen beiden. Man kann annähernd sagen, daß in fernen Welttheilen mit jeder neu entdeckten Pflanze immer auch ein neues Insekt entdeckt werde, auf und von welcher letzteres ausschließend oder wenigstens vorzugsweise Wohnung und Nahrung entlehnt. Oft auch ist entweder die eine oder das andere früher schon bekannt gewesen, als das dazu gehörige Seitenstück.
Daß die meisten Insekten blos von Pflanzennahrung leben, ist Dir schon bekannt; dabei sind aber viele Arten streng an eine gewisse Pflanzenart und oft wieder an gewisse Theile dieser Pflanzenart, als Wurzel und Samen gebunden; ja manche verhungern lieber ehe sie eine andere selbst nahe verwandte Pflanzenkost annehmen, als die ihnen allein zusagende ist.
Zu letzter Sorte gehört mein Buchdrucker, Bostrichus typographus.
Er bildet mit vielen andern, sämmtlich sehr kleinen Käferchen die Käferfamilie der Holzfresser, Xylophaga, weil sie, wenigstens als Larven nur die holzigen Theile der Pflanzen, also meist der Bäume fressen. Die Gattung Bostrichus ist ziemlich artenreich. Sie führt den deutschen Namen der Borkenkäfer, weil sie ihre Wohnung und Nahrung in der Borke der Bäume finden. Seit lange schon nennt der Forstmann unsere Art vorzugsweise und schlechthin den Borkenkäfer und fürchtet ihn unter diesem Namen schlimmer als der Landmann den Kornwurm.
[552] Er hat dazu auch Ursache, wie Dir aus dem Verlauf meiner Mittheilungen hervorgehen wird.
Zunächst sieh Dir in Fig. 1. die etwas vergrößerte Abbildung des Käfers an. Die Linie daneben giebt Dir die natürliche Größe an. Vom Kopfe kannst Du nichts weiter sehen, als die daran sitzenden kolbig endenden Fühlhörner. Er ist ganz von dem stark gewölbten Brust- oder Rückenschild bedeckt. Dieses ist nicht viel kürzer als die Flügeldecken, welche hinten plötzlich eingedrückt und scheinbar, aber nicht wirklich, abgestutzt sind. An der dadurch entstehenden Kante, die von beiden Flügeldecken zusammen eine fast kreisförmige Linie bildet, stehen an jeder Flügeldecke vier kleine Zähnchen, welche diese Art ganz besonders auszeichnen, obgleich auch andere Bostrichus-Arten hier Zähnchen, aber in Zahl und Form verschieden, haben. Der ganze Käfer ist schwarzbraun und am ganzen Leibe, ausgenommen die Beine, mit sehr feinen Härchen und die Flügeldecken mit dicht stehenden Reihen zierlicher Punktstiche bedeckt. Die Beine sind verhältnißmäßig klein, aber kräftig und haben an ihrem letzten Dritttheil, das man den Fuß oder den Tarsus nennt, vier kleine hintereinanderstehende Glieder.
Fig. 2. zeigt Dir die Puppe oder Nymphe und Fig. 3. die Larve dieses Käfers; denn er hat wie alle Käfer und alle Fliegenarten und alle Wespenarten so gut eine Verwandlung wie die Schmetterlinge. Anfangs sieht die Puppe schneeweiß, kurz vor dem Auskriechen des Käfers aber wird sie allmälig braungelb. Du siehst sie ebenfalls vom Rücken; die Füße liegen an den Bauch angedrückt auf der Unterseite und die Flügeldecken sind ebenfalls unter den Bauch geschlagen; ungefähr so, wie wir die Rockschöße vorn zusammenlegen können. Die Larve, aus der die Puppe wird, und die daher der Raupe des Schmetterlings entspricht, ist wie die Made der Haselnuß, aus der auch ein Käfer wird, eine fußlose gelbweiße sehr weiche fette Made, die immer gekrümmt liegt. Sie hat an ihrem bräunlichen Kopfe sehr kleine aber sehr scharfe Kauwerkzeuge.
Diese kleine schwache Made ist es, welche schon oft die dem Forstmanne so furchtbare Wurmtrockniß veranlaßt und schon so manches Hundert Morgen Fichtenwald getödtet hat!
Höre also nun die Lebensweise dieses kleinen Thieres.
Ende April oder Anfang Mai kommen die überwinterten Käfer aus ihrem Winterquartiere, welches sie unter der Borke von stehenden oder gefällten Fichtenstämmen gefunden hatten, hervor und bohren sich in irgend einem ihnen geeignet scheinenden Baume, meist etwa von sechs Fuß über der Wurzel an bis in den zweiten oder dritten Astquirl hinauf, ein kleines, vollkommen wie mit dem Cirkel gezogenes Loch durch die Borke bis auf, aber nicht in das Holz. Dabei ist gewöhnlich ein Männchen und ein Weibchen schon beisammen.
Jetzt vergleiche das Folgende mit Fig. 4. Sie stellt ein Stück Fichtenrinde von der inneren Seite dar, womit sie auf dem Holze aufsaß. Du siehst einen langen geraden Gang; ungefähr in der Mitte desselben eine kleine Ausweitung und in dieser das eben beschriebene Eingangsloch. Von diesem aus hat nun eben das Pärchen diesen Muttergang, der immer mit dem Stamme gleich, also senkrecht läuft, genagt und dann ganz rein von allen Spänchen gesäubert. Ist dies geschehen, so legt, was Du an meiner Zeichnung nicht mehr siehst, zu beiden Seiten des Mutterganges das Weibchen in kleine, dazu ausgenagte Grübchen desselben je ein Ei, zusammen 80, 100 oder noch mehr. Dann verdeckt sie jedes etwa mohnkorngroße, milchweiße Ei mit feinem Borkenmehl.
Nun ist für die Nachkommenschaft gesorgt und eine Colonie angelegt.
Nach etwa acht Tagen kriechen die Eier aus. Die anfangs natürlich ganz kleinen zarten Lärvchen nagen sich nun seitlich abwärts von dem Muttergange anfangs sehr feine, aber mit ihrem eigenen Wachsthum immer weiter nothwendig werdende Larvengänge. Diese füllen sie hinter sich immer wieder mit ihrem Kothe, dem fast unveränderten Borkenmehl, aus. Sind auch diese Larvengänge immer etwas gebogen, so durchschneiden sie sich doch nie. Es scheint also, als ob die benachbarten Geschwister vermieden, einander in’s Gehege zu kommen und als ob sie gegenseitig um einander wüßten. Diese Larvengänge liegen in der unteren oder Bastschicht der Rinde und dringen nur sehr wenig auch in die Oberfläche des Holzes.
Auf diese Art entsteht also die eigenthümliche einigermaßen einer Verzierung gleichende Bildung, die Du in Fig. 4. des beschränkten Raumes wegen nicht ganz dargestellt siebst, das Fehlende Dir aber leicht in Gedanken ergänzen wirst. Auf der von einem noch lebenden Baume abgeschälten Rinde erscheint sie braunroth auf weißem Grunde. Indem man sie mit Schriftzeichen [553] verglich, fand man darin Veranlassung zu dem deutschen und zu dem wissenschaftlichen Artnamen des Käfers.
Du siehst in dem stets die größte Breite zeigenden Ende jedes Larvenganges in einer Weitung das Lärvchen liegen. Ist nun dessen Verpuppungszeit gekommen, so wird das Ende des Ganges besonders regelmäßig und geräumig ausgeweitet und in dieser Puppenkammer verwandelt sich die Larve in die Puppe (*). Kommt dann die Zeit des Auskriechens des Käfers aus der Puppenhülle, so gräbt, nachdem dieses erfolgt ist, der neue Käfer meist noch einige Zeit lang unregelmäßige Gänge, und bohrt sich erst dann ein Ausflugsloch. Bei ** habe ich, was man aber selten sieht, dieses Loch in der verlassenen Puppenkammer gezeichnet.
Diese ganze Entwickelung vom Ei bis zum Ausfliegen des Käfers dauert 6–8 Wochen.
Da nun die Rinde den Bäumen ein zum Leben unumgänglich nothwendiges Werkzeug ist, und ganz besonders die innere oder Bastschicht derselben, so sind diese kleinen Käfer, wenn sie in großer Menge ihre Brutplätze unter der Borke einer Fichte aufschlagen, im Stande, den ganzen Baum zu tödten. Das allmälige Absterben des Baumes kündigt sich durch Gelbwerden und Abfallen der Nadeln an und endigt mit völliger Entnadelung und theilweiser Ablösung der Rinde. Der Baum ist dann todt. Wie ich schon sagte, sind schon viele Hunderte Morgen Fichtenwaldes, namentlich auf Waldgebirgen, z. B. dem Harze, auf diese Weise getödtet worden. Das Holz geht zwar dabei nicht verloren, aber es ist weit werthloser, leichter und viel weniger dauerhaft als lebendig gefälltes; abgesehen davon, daß dieses Insekt nichts danach fragt, ob wir gerade jetzt und an dieser Stelle Holz gefällt haben wollen.
Was ist nun wohl gegen diesen Feind zu thun?
Nicht viel. Da aber die Beobachtungen seiner Lebensweise mit Bestimmtheit ergeben haben, daß der Borkenkäfer die durch Stürme, Versumpfungen oder durch andere Gründe kränkelnden Bestände am liebsten angreift, von da aus aber sich auch auf gesunde ausbreitet, so ist die erste Regel für den Forstmann, Alles abzuwenden, was seine Fichtenwälder krank machen kann. Wo dazu, wie bei Stürmen, heftigem Sonnenbrande dürrer Jahre, seine Macht nicht ausreicht, da muß er auf diese Weise krank gemachte Bestände möglichst schnell schlagen und die gefällten Bäume entrinden, um dem Einnisten des Käfers, der dann nie ausbleibt, zuvorzukommen. Ueberhaupt ist die Ausübung des Forstschutzes gegen diesen kleinen Käfer sehr schwierig und erheischt eine unausgesetzte Aufmerksamkeit. In verdächtigen Beständen schlägt man daher einzelne Fichten um und läßt ihre Stämme liegen, um zu sehen, ob sich viele Käfer in ihnen einfinden, und dadurch zu sehen, ob deren vielleicht bereits viele in der Nähe sind.
Du wirst von selbst wissen, was Du von der Meinung zu halten hast, die jetzt wohl wenigstens kein Forstmann mehr haben wird, der Borkenkäfer entstehe aus dem verdorbenen Safte kranker Fichten. –
Die Heilung einer Wahnsinnigen.
Ich war 17 Jahre alt, lebenslustig, Freund von Abenteuern und von Kindheit mit dem Hange versehen, ungewöhnliche Wege zu betreten. Ein solcher war auch der, auf welchem ich mich im August 1844 befand. Ich war durch widrige Geschicke aus meinen Gymnasialstudien gerissen worden, den regelmäßigen Studiengang fortzusetzen, wie ihn die osterreichischen Gesetze vorschrieben, war für mich zu spät, da fiel ich auf den Gedanken, von Böhmen nach Ungarn zu wandern, um an einem der zahllosen dortigen Gymnasien mich prüfen zu lassen und dann in die Philosophie einzutreten. Ein solcher Entschluß galt trotz der schon benützten Eisenbahnen für so außerordentlich und abenteuerlich, als etwa der zur Aufsuchung der Nilquellen, auf den nur geniale Köpfe verfallen konnten. Aber zu diesen rechnete ich mich schon von meinen zehnten Jahre an, und darum nahm ich getrost meinen Ranzen auf den Rücken, und trat – da mein Geld kaum für die Prüfungstaxen hinreichte – meine kühne Reise zu Fuß an.
Die Grenze Ungarns – wohin einen Paß zu erlangen schwer hielt – wurde mit Schmugglerlist überschritten, und der ungarische Grenzort Holitsch ohne Fährniß in Gesellschaft eines Holitscher, den ich auf dem Wege getroffen, erreicht. Er lud mich für die Nacht in seine Wohnung, und die Einladung wurde angenommen
Die Familie, zu der ich kam, wohnte zur Miethe in einer ebenerdigen Stube, in der alle Familienglieder schliefen, und wo auch mir ein Lager zubereitet wurde.
Des Morgens kam eine weibliche Person von köchinartigem Aussehen ins Zimmer.
„Was sagen Sie nur, Frau Tauber,“ redete sie meine Wirthin mit ängstlicher Miene an, „heute haben wir die ganze Nacht wieder nicht schlafen können, so hat sie immerfort geklagt und gejammert. Ich werde sterben, ich muß sterben! das ist Ihnen immerfort so gegangen. Gegen Mitternacht hat sie sich Gabriel zum Bett hingerufen, und ihm Moral gepredigt, wenn er sich nicht bessern und seine losen Streiche lassen werde, werde es ihm schlecht ergeben, er werde ein schlechtes Ende nehmen und alle ....“ „Pauline, Pauline!“ rief [554] eine Kinderstimme von außen, und die Sprecherin verschwand.
Aus den Reden der Hausleute entnahm ich, daß die Rede von der Schwester der Hausfrau gewesen, daß diese seit zwei Monaten in Folge einer schweren Entbindung in eine tiefe Schwermuth und endlich in Wahnsinn verfallen sei, von nichts als Tod und Gräbern spreche, und unaufhörlich rufe, sie müsse sterben. Ich erfuhr ferner, daß sie nicht im Orte, sondern in dem zwei Meilen entfernten Scharschin wohne, und nur auf Besuch bei ihrer Schwester da sei.
Ich nahm an der Sache nur so viel Theil, als man von einem fremden Durchreisenden erwarten kann, und hatte, sobald ich wieder auf dem Wege war, von süßen Zukunftsträumen eingenommen, der Geschichte ganz vergessen. Mein Reiseziel war vorläufig Preßburg, wohin die Straße über Scharschin führt. Als ich eine halbe Stunde in heiterer Stimmung fortgewandert war, kam mir eine viersitzige „Britschka“ nachgefahren, worin sich ein Mann und eine Frau befanden. Die Rücksitze waren leer. Ich hatte von Jugend auf den amerikanischen Geist des „Go ahead,“ Vorwärts! war meine Losung, für die Romantik des Zufußgehens hatte ich keinen Sinn, und ich hätte keinen Anstand genommen, mit Hunden zu fahren, wenn ich nur schneller mein Ziel erreichte. Ich bat daher um Aufnahme, der Wagen hielt und ich stieg ein. Die Frau wurde mein Gegenüber. Ich befand mich in der Periode, wo man mit gleichem Appetit riesige Butterbemmen und riesige Romane verschlingt, Bulwer genoß damals meiner höchsten Gunst, ich verlegte mich gar eifrig auf Physiognomik, und begann daher, sobald ich nur Platz genommen hatte, die Züge meines Gegenüber, nach den Anleitungen meines vielbewunderten englischen Meisters zu untersuchen. Die Frau mochte im Spätherhst der Dreißiger stehen, hatte sanfte, regelmäßige Züge und blaue Augen, in denen eine tiefe Schwermuth zu lesen war. Diese erweckte mein ganzes Interesse, und nahm mich für den Gegenstand meines Studiums ganz ein. Ich ersann tausend Scenen, in denen meine arme Leidende die Rolle eines schuldlosen Opfers fremder Bosheit und Laster spielte, und Engelsmilde und eine himmlische Sanftmuth ihren Peinigern gegenüber an den Tag legte. Plötzlich wurde ich aus meinen Träumen durch einen schweren Seufzer geweckt. Wir waren an einem niedern steinernen Kreuze vorübergekommen, das man hier einem Erfrornen gesetzt hatte. „Wie bald werde ich hier in der Erde liegen!“ waren die den Seufzer erläuternden Worte. Da wurde es hell in meinem Hirn, wie bei einer patriotischen Schreckensillumination. Und so schnell, wie der Gedanke: „Das ist die“ kam auch der Entschluß: „Der muß geholfen werden.“
Mit feierlicher Miene und Betonung wendete ich mich an die bekannte Unbekannte; „Liebe Frau, Sie sind krank.“ Sie schwieg und sah mich verwundert an.
„Ich weiß nicht nur, daß Sie krank sind, ich weiß auch, wie lange Sie krank sind: seit zwei Monaten.“
Schweigen; steigende Verwunderung.
„Ich weiß nicht nur, wie lange Sie krank sind, ich weiß auch, wodurch Sie krank sind: in Folge einer schweren Entbindung.“
Schweigen; Erstaunen.
„Sie erstaunen; ich weiß noch viel mehr; ich kenne alle Ihre Handlungen, Ihre geheimsten Gedanken; ich weiß was Sie thun in der Mitternacht und an Orten, wo kein menschliches Auge Sie sieht, kein menschliches Ohr Sie hört. Haben Sie nicht heute in der Mitternacht, als Sie nicht schlafen konnten, und von allerlei quälenden Gedanken und schrecklichen Bildern verfolgt wurden, Ihren Gabriel an’s Bett gerufen und ihm warm an’s Herz gelegt, daß er sich bessern solle, weil er sonst sich und Andern großes Leid zuziehen werde? Sie staunen, weil ich das Alles weiß, und Sie sich nicht erinnern können, mich je gesehen zu haben; wohl haben Sie mich noch nicht gesehen, aber ich kenne Sie von Ihrer Kindheit an.“
„Sie?“ entgegnete die Kranke halb erschreckt, halb ungläubig. „Ich!“ entgegnete ich mit festem Tone und feierlichem Ernst. „Dieses junge Gesicht, das Ihnen vielleicht 17 Jahre zu zählen scheint, hat sich schon über die Wiege Ihrer Großmutter und über deren Großvater herabgebeugt, als er an der Mutterbrust lag. Ich gehöre zu denen, die wohl alt werden, aber nie alt sind.“
Das Erstaunen ging in Schrecken über.
„Erschrecken Sie nicht,“ sagte ich mit mildem, freundlichem Tone, „meine Lust ist Wohlthun, und zu Ihrem Heile sind Sie mir begegnet. Seien Sie getrosten Muthes; ich banne hiermit die Schreckgestalten Ihres Geistes (dabei legte ich ihr segnend die Hand auf’s Haupt) und der Tod soll Ihnen nicht erscheinen, ehe Sie das Greisenalter erreicht. Auch wegen Gabriel’s können Sie sich beruhigen; sein Leichtsinn wird sich mit den Jahren legen. Gott segne Sie.“ Eine plötzliche Umwandlung ging während meiner Worte mit der Kranken vor. Das Auge schien wie ausgewechselt. Das von Trübsinn umdüsterte war verschwunden und ein Glaube und Hoffnung strahlendes an die Stelle getreten.
Wir waren vor Scharschin angekommen. Ich stieg vor der Stadt aus. „Ich werde bald wieder in diesen Ort kommen,“ sagte ich vor dem Weggehen, „und werde Sie finden fröhlich in fröhlicher Gesellschaft. Aber Eins müssen Sie genau befolgen. Sie müssen jeden Morgen, Mittag und Abend sieben Mal um einen Brunnen herumgehen, der reines Wasser giebt, und nach jeder einmaligen Umkreisung ein Glas davon trinken und meiner dabei gedenken.“ Ich war verschwunden, ehe sich die Fahrenden von ihrem Staunen erholen konnten.
Einige Monate später kam ich wieder durch Scharschin. In einer Gasse wurde ich durch einen Hochzeitszug aufgehalten. Mein Auge traf auf das einer heitern Frau von blühender Gesundheit, dessen Blick zuerst Ueberraschung, dann inbrünstigen Dank ausdrückte – meine Prophezeiung war buchstäblich in Erfüllung gegangen.
Blätter und Blüthen.
Wie amüsirt sich der Amerikaner? Der eingeborene Amerikaner, der ächte Yankee kennt nur das „Geldmachen“, von einem gemüthlichen Familien- oder Gesellschaftsleben, wie es dem Deutschen, Franzosen oder Engländer Bedürfniß ist, hat er keine Idee. Der Amerikaner versteht sich nicht zu amüsiren und seine Bestrebungen, sich die Freistunden auf angenehme Weise zu kürzen, bestehen nach den Atlantischen Studien in Folgendem:
Er geht mit seinen Ladies spazieren und spricht von der Bibel und der Predigt am letzten Sonntage.
Er ladet eine Abendgesellschaft ein, die der Superlativ von Langweiligkeit ist. Um seinen Tisch im Kreis herum sitzen die Ladies, wie Pfauen aufgeputzt und die Herren schüchtern wie Täubchen. Zu dem ewig gleichen Gespräch von dem Herrn Pfarrer und seiner Predigt, von den Geisterklopfereien oder der letzten Dampfschiffexplosion, in Folge deren fünfzig Menschen wie Krebse gesotten wurden, wird „a cap of tea“ und einige Traubenrosinen und Knackmandeln gereicht, wonach man sich unter Complimenten und devoten Handreichungen gegen 10 Uhr ehrbar nach Haus verfügt und in einem abgelegenen Zimmer eine Cigarre raucht, während die Ladie ihr Abendgebet verrichtet.
Er schleicht sich ein oder zwei Mal des Tages aus seiner Expedition oder Werkstatt hinweg, schlüpft in eine Trinkstube, wo er mit Hast ein Glas Brandy leert, kehrt aber eiligst zurück, als wenn Donnerkeile hinter ihm hergeschleudert würden.
Er geht in einer müßigen Stunde in das Gastzimmer eines Hotels, setzt sich auf einen Stuhl an das offene Fenster, streckt die Beine heraus, so daß die Vorübergehenden vom ganzen Manne nichts weiter sehen als die Schuhsohlen, und liest eine Zeitung.
Er begleitet die Ladies in eine Conditorei und richtet eine vandalische Verheerung unter dem Zuckerwerke an. Er kaut Taback.
Er hält Bankette und bringt die Toaste mit einer Tasse Thee aus.
Er besucht zuweilen ein Concert und bewundert die Pastoralsymphonie von Beethoven, weil ein Donnerwetter darin vorkommt.
Er pfeift den „Yankee-doodle.“
Er fährt oder reitet um die Wette und bricht den Hals.
Er macht alljährlich eine Reise, d. h. er fährt von einer Stadt zur andern und trinkt in jeder einen Rum.
Er hält Paraden.
Er läßt sich explodiren.
Die Frauen amüsiren sich geistiger als ihre Gemahle. Die Pflege der Literatur und Kunst ist in ihren Händen, aber nur die Langeweile treibt sie dazu, nicht das Bedürfniß. Sie amüsiren sich eben nur damit, sie tändeln sentimental und kennen ein tieferes Interesse, ein wirkliches Verständniß der Kunst- und Literaturheroen gar nicht. Wenn man seine Ohren auf die grausamste Weise maltraitiren will, muß man eine ächte Amerikanerin Klavier spielen lassen.
Wie schwer ein Mann und wie schwer ein Weib wiegt. Dr. G. Blöde aus Dresden hat in der in Detroit (Staat Michigan) erscheinenden „Atlantis“ einen langen Artikel über „die Frauenrechtsfrage“ veröffentlicht, worin er aus physischen und physiologischen Gründen alle Emancipation des weiblichen Geschlechts, so weit sie eben über die von der Natur bedingten Beschränkung des schwachen und schönen Geschlechts hinausstrebt, sehr klar zurückweist. Um zunächst den Maß- und Gewichtsunterschied beider Geschlechter in Durchschnittszahlen anschaulich zu machen, sagt er, daß der Mann zwischen dem 30sten und 40sten Jahre eine normale oder Durchschnittslänge von 1,68 Meter (in Decimalbruchverhältnissen), das Weib dagegen nur von 1,579 Meter habe (ein Meter ist 3 Fuß, 2 Zoll, 2,8 Linien). Das durchschnittlliche Gewicht des Mannes 63,67 Kilogramme (gleich 135,6 Pfund), das des Weibes nur 56,16 Kilogramme oder 119,6 Pfund betrage. Dieser Unterschied ist bei den innern Organen noch viel bedeutender, da das weibliche Geschlecht mehr Gewicht in den Muskelhüllen hat, welche die rundere, schönere Form bedingen. Das Durchschnittsgewicht eines männlichen Gehirns ist 56 Unzen 147 Gran, das des weiblichen blos 48 Unzen 63 Gran. Das männliche Herz wiegt 11 Unzen 400 Gran, das weibliche 9 Unzen 275 Gran. Aehnlich ist’s mit Leber, Nieren u. s. w. Die weibliche Form bleibt der kindlichen näher, daher unentwickelter. Andere Hauptunterschiede sind bei dem weiblichen Körper: Zartheit und geringere Länge der Knochen, schwächere Muskelauswirkung bei reicherer Fettumhüllung wie beim Kinde, schlankere Form des Ober- und Unterarms, schmälere Hand, geringere Länge der untern Gliedmaßen im Verhältniß zum Rumpfe, größeren Umfang des Unterleibes im Verhältniß zur Brust, Höhe und Zartheit der Stimme, Feinheit und geringere Entwickelung der Formen des Kopfes und der Gesichtszüge, Ueberwiegen des Schädels gegen das Gesicht, größere Feinheit der Nerven (mit Ausnahme des Geruchs), zarterer Bau und deshalb feinere Färbung der Haut, größere Feinheit, Weichheit, Ueppigkeit und Länge des Haares bei dessen Beschränkung in Betreff der Flächenausdehnung (es fehlt im Gesicht) – Alles Eigenthümlichkeiten des weiblichen Körpers, die er mit dem des Kindes theilt. Der Mann athmet stärker, energischer und producirt und consumirt mehr Lebenskraft. –
Alle diese wesentlichen, physischen und physiologischen Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern sind ewig und unabänderlich und lassen sich durch keine Art von Emancipation beseitigen, so daß das Weib in der eigens männlichen Sphäre immer eine Unnatur, eine Schwäche, eine Lächerlichkeit sein und bleiben würde. Das Weib kann sich also blos innerhalb seiner Sphäre emancipiren und muß es, denn gerade innerhalb dieses Kreises giebt’s noch sehr viel zu thun. Man glaubt dem schönen Geschlechte nur immer etwas Schönes sagen zu dürfen. Gut, aber man weiche auch der Wahrheit nicht aus. Und so ruft Blöde aus: „,Wer sind die fanatischsten Anhänger der tollsten Sektenlehren, wer die sorgsamsten Pfleger der Frömmelei und der Werkheiligkeit? Wer hat den Unsinn der Pochgeister aufgebracht zur Schande des neunzehnten Jahrhunderts? Wer sind die eifrigsten Kunden der Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen? Also zunächst Emancipation von trüber, abergläubischer, auf Unwissen beruhender Gefühls- und Eigensinns-Tyrannei! Nur geläuterte, hochgebildete Frauen hatten segensreichen Einfluß auf die Kreise des Mannes. Man erinnert an Aspasia, an die Josephine Napoleon’s, an Washington’s Gattin. Alle großen, edeln Männer aller Zeiten und Völker sind stets von gebildeten, edeln, ächt weiblichen Müttern erzogen worden. Hier ist das herrlichste Feld für die schönste, erhabenste Wirksamkeit des weiblichen Geschlechts. Edle Mütter und schöne, sittige Schwestern wirken auch wie Engel des Himmels auf entfernte Söhne und Brüder. Ein Gymnasiast, ein Student, ein Jüngling allein und frei in der Welt wird nie gemein denken und handeln, wenn er mit einer edeln Mutter, mit einer unentweihten, zartsinnigen Schwester in Briefverkehr steht. „So ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in’s Himmelreich kommen.“ Das Weib bleibt körperlich kindähnlich, also im Himmelreiche und ist deshalb bestimmt, den in der Welt schaffenden Mann als kindlicher, himmlischer Genius zu begleiten, aber nicht selbst ein Mann zu werden. –
Die Blätter zum Licht, die Wurzeln zum Dunkeln: das ist ein Gesetz des Wachsthums, dessen Unabänderlichkeit ein in Berlin angestellter Versuch recht lebendig darthat. Man verschloß einen langen Kasten hermetisch gegen jede Lichteinwirkung von oben herab, säete auf einem Drahtgitter an der oberen Decke im Innern des Kastens Erbsen-, Bohnen- und Kressensamen in feuchtes Moos und brachte am untern Ende des Kastens ein kleines Loch an, worin ein unter dem Kasten an einer Wand befestigter Spiegel das Sonnenlicht so in die Höhe warf, daß es die Samen von unten herauf beschien. Und siehe: nun richteten sich beim Keimen der Samen die Wurzelchen in die lichtere Höhe, während die Blätter der Stenglein nach unten, dem lichtgebenden Spiegel zu,
[556] wuchsen. Also: „Trotz Alledem und Alledem“: Alles Wachsthum drängt zum Licht und das Licht giebt das Wachsthum. Darum Licht! Licht!
Ein Berliner Gaunerwitz. In Berlin giebt es einzelne Kellerschenken, wo die sogenannten Bauernfänger ihr Wesen treiben. Das heißt, ehrlich aussehende Bursche machen sich an ehrliche Landleute, denen ihr Fremdsein an der Stirne geschrieben steht. Sie werden ihre gefälligen, uneigennützigen Führer, tractiren auch zuweilen aus reiner Humanität die Fremden, und gerathen endlich mit ihnen in die Spelunken, wo dann dieselben auf mannichfache schlauere oder gröbere Weise ausgezogen werden, und zwar in der Regel durch das Spiel. Helfershelfer sind dabei allezeit zur Hand. Ein solcher Keller, in einer der Hauptstraßen Berlins, war längst bei der Polizei deshalb renommirt, aber aller angewandten Mühe ungeachtet war es noch nicht gelungen, die dort thätigen Künstler auf frischer That zu ertappen. Sobald ein verdächtiges Gesicht eintrat, waren die ehrlichen Leute verschwunden, und der Unfug dauerte doch fort. Ein Polizeimann betrachtete diese Sache als eine Ehrensache. Er verwandelte sich in einen ehrlichen, jungen, dummen Landmann; Rock, Stiefel, Bart, Perrücke lassen vor dem Spiegel nichts zu wünschen übrig. So tappt er in den Keller, aber mit aller Vorsicht; ein Gehülfe, als Bäuerin verkleidet, eine Kräze auf dem Rücken, muß, auf ihn wartend, seine Last vor dem Kellerhofe absetzen, ein dritter bleibt als Flaneur vor dem Laden gaffend stehen; an den Ecken stehen noch andere, die auf einen Pfiff zur Hand sind; denn bei derartigen Entdeckungen mag man auf den heftigsten Widerstand gefaßt sein. Im Keller wird auch in der That gespielt. Die Physiognomien locken den Polizeimann, er bittet um die Erlaubniß, mitspielen zu dürfen, die ihm gerne gewährt wird. Er hofft zu verlieren, aber er gewinnt, er hofft falsche Karten zu erhalten, aber es sind richtige, er hofft endlich auf hohes Spiel, aber die Leute sind die Solidität selbst
und es handelt sich nur um Pfennige. Mißvergnügt wirft er endlich die Karten fort, und um sich in seinem Aerger zu zerstreuen, geht er in den Circus des Kunstreiter Renz, immer noch in seinem Costüm als ehrlicher Bauernbursch. Bald aber
wird es um ihn und hinter ihm laut. Ein leises Kichern, lachende Blicke, endlich ein lautes Auflachen und aller Blicke auf ihn gerichtet. Sähe er denn wirklich gar so dumm aus? Jemanden, der ihn gar zu dummdreistig angafft, fährt er endlich, aus der Rolle fallend, an mit einem: „Herr, was unterstehen Sie sich?“ – „Belieben Sie nur auf Ihrem Rücken
zu lesen,“ ist die Antwort. Auf seinem Rücken stand, deutlich mit Kreide geschrieben, sein Name und seine Charge.
Weihnachtsgeschenke. Unter den vielen neuerschienenen und oft brillant ausgestatteten Jugendschriften möchten wir den in Hildburghausen von den Gebrüdern Jäde herausgegebenen den Vorzug geben. Das Roggenkörnlein – Alles was Federn hat, fliegt – Blicke in Natur und Menschenleben – Hänschen, der Etwas werden wollte – zeichnen sich durch die hübsche poetische Form aus, die sich dem Kindergemüth traulich anschließt und Alles, ohne unnöthige Phrasen in sehr gelungener Weise zur Anschauung bringt; auch die Bilder dazu sind naturgetreu und sehr verständig für die Kinderwelt ausgeführt. Die beiden Jäde haben bereits seither durch die in Weimar erschienenen „Lichtbilder aus den Tages- und Jahreszeiten und den Spiegelbildern für das zarte Kindesalter“ ihre Befähigung für diesen wichtigen Genre der Literatur bewiesen. –
Für große Kinder von 18 Jahren und darüber empfehlen wir die in der Verlagshandlung der Gartenlaube erschienenen Stolle’schen Werke, die bereits bis zum neunten Bande vorliegen und die Gedichte von Ludwig Storch, die in ihrer eleganten Ausstattung und ihrem ganzen Inhalte nach sich besonders zu Festgeschenken für Damen eignen. Die bis jetzt über diese Gedichte erschienenen Kritiken in der Modenzeitung, Illustrirten Zeitung etc. sprechen sich mit warmer Anerkennung darüber aus.
Literatur und Kunst. Der Prozeß des Grafen Tycskewitsch in Paris gegen den Direktor der großen Oper wegen schlechter und verstümmelter Aufführung des „Freischütz“ ist von dem Gerichte ebenso sehr gegen den Grafen als – gegen C. M. v. Weber entschieden worden. Die Klage wurde abgewiesen, weil in Paris der Freischütz niemals besser oder eigentlich gar nie aufgeführt wurde. Man hat dem Publikum immer ein Arrangement von Berlioz und Paccini aufgetischt, dergestalt, daß dieselben Autorrechte auf die von ihnen arrangirte Musik Weber’s erworben haben, die Tantième dafür seit Jahren beziehen und juridisch in der Lage sind, die Aufführung des wirklichen „Freischütz“ als ein Plagiat und einen Diebstahl zu verfolgen. Das Köstlichste an diesen musikalischen Zuständen der Weltstadt ist, daß gerade Berlioz in seinen Recensionen gegen die Mißhandlung Weber’s in der großen Oper sehr oft gedonnert hat. In der öffentlichen Meinung jedoch hat Tycskewitsch seinen Prozeß gewonnen. –
Die Düsseldorfer Künstler beabsichtigen mit Anfang nächsten Jahres und für die Zeit des Carnevals eine „Carnevals-Zeitung“ herauszugeben, und sind dazu schon alle nöthigen Vorbereitungen getroffen. Das Blatt wird mit vielen Illustrationen dortiger Maler verziert werden und am Rhein, wo das Carnevalsleben noch einen geistreichen, interessanten Anstrich hat, sicher viele Freunde finden. – In der Frankfurter deutschen Romanbibliothek haben wir in nächster Zeit neue Erzählungen zu erwarten: von H. Kurz der Sonnenwirth, – von Wolfg. Müller Kunstnovellen, – von Prutz der Musikantenthurm, – von Schirges der Bürgermeister von Henneberg, – von Ludw. Storch die Herzogin von Gotha.
Allen Freunden einer edeln Lektüre empfehlen wir:
Ludwig Storch.
Sowohl durch ihren anerkannten innern Werth, wie durch die prachtvolle Ausstattung eignen sich diese Gedichte vor vielen andern zu Festgeschenken, besonders für Damen.
Von dieser eben so schönen als billigen Familienbibliothek sind bereits neun Bände erschienen, welche enthalten: Camelien. – Napoleon in Aegypten. 3 Bde. – Moosrosen. – Die deutschen Pickwickier. 3 Bde. – Je länger je lieber.
Der 12 bis 13 Bogen starke Band kostet nur 71/2 Ngr. bei Abnahme sämmtlicher Bände, einzelne Romane oder Erzählungen den dreifachen Preis.
Leipzig im December 1853. Ernst Keil.
- ↑ Die Straßen sind 400 bis 460 Fuß breit.