Die Gartenlaube (1854)/Heft 18
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No. 18. | 1854. |
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(Schluß.)
August war während dieser Rede roth und blaß geworden. – „Hat Leonie Ihnen gesagt, daß sie einwilligen würde, sobald ich zurückträte?“ fragte er endlich kalt.
„Das nicht. Aber ich setze es voraus. Sie ist verständig genug, einzusehen, daß ein armes Mädchen, kann sie den Einen nicht bekommen, den sie lieber möchte, den Andern nehmen muß. Und für Sie ist ja noch gar keine Aussicht zu Brot, wohin soll sie also gehen, wenn ich sterbe?“
„Zu mir!“ versetzte August rasch. „Leonie macht keine Ansprüche an ein glänzendes Loos, und meine jetzige Stellung als Privatlehrer liefert mir ein hinreichendes Einkommen, um davon die Bedürfnisse für uns Beide zu bestreiten.“
„Also nicht nur eine Candidatenbraut, auch sogar eine Candidatenfrau! Mein armes, armes Kind!“ Sie wimmerte still vor sich hin.
„Wenn Sie mich beleidigen wollen, so muß ich mich entfernen,“ sagte August, und verließ seinen Platz.
„Nein, nein! Gehen Sie nicht! Ich habe noch mit Ihnen zu reden. Sie nehmen gleich Alles so auf die Spitze, Sie lieber empfindlicher Mensch! Haben Sie doch Nachsicht mit einer sterbenden Mutter, die bekümmert ist um das weltliche Schicksal eines einzigen Kindes. Also Sie wollen sie heirathen? Nun, – wenn es denn nur Jemand ist, der sie nimmt. Schwören Sie mir also denn auf diese Bibel hier, die nie mein Bett verläßt, daß mein Kind binnen vier Wochen Ihre Frau sein soll. Mag sie denn mit Ihnen hungern und darben, gleichviel! Sie ist denn doch eine Frau und ich brauche mich nicht zu fürchten, im Himmel noch die Schande zu erleben, daß mein schönes Kind als unvermählte alte Jungfer auf der Erde lebt. Retten Sie also mir wenigstens meine Mutterehre. Hier ist das heilige Buch, legen Sie Ihre Rechte darauf und wenden Sie den Blick zum Himmel, wo mein seliger Ludwig weilt, der Sie hört. Bedenken Sie das!“
„Würde Ihnen mein Manneswort nicht genügen?“ fragte August. „Ich versichere Ihnen auf meine Ehre, daß Ihre Tochter meinen Namen tragen soll, sobald Sie wollen.“
„Was mache ich mir aus Ihrer Ehre, junger Mann! Sie haben ja noch gar kein Alter, um von Ehre zu reden. Den Eid! Den Eid! Ich sterbe nicht ohne den Eid!“
„Ich thue es ungern.“ sagte August mit zusammengezogener Braue. „Wenn Sie es denn aber durchaus so wollen, so sei es und ich schwöre Ihnen bei Allem was mir heilig und theuer ist, daß nur der Tod mich meines Versprechens entbinden kann.“
„In dem Falle bliebe mir immer noch Ihr Bruder,“ versetzte die Frau Pastorin trostvoll. „und nun rufen Sie mir meine Leonie, damit ich ihr ankündige, was ihre opferungsfähige Mutter für sie gethan.“
August folgte ihrem Geheiß und eilte sofort hinaus auf das Feld, um sich in der Natur von der Scene dieses Morgens zu erholen, die einen höchst peinlichen Nachklang in seiner Seele gelassen hatte. Der Abend fand den kleinen Kreis um den Theetisch versammelt; alle Drei waren ungewöhnlich ernst. Sie fühlten, daß ein Schicksal zwischen sie getreten und ein Bangen überschlich sie, daß das, was nicht Einsicht, nicht freie Wahl und Selbstbestimmung über ihre Zukunft verhängt, sie schwer treffen könne. Sie scheueten sich von Dem zu sprechen, was sie in ihren Innersten bewegte und die Folge war, daß oft lange Pausen in der Unterhaltung eintraten, die sie erst dann bemerkten, wenn diese Stille drückend zu werden anfing. Jeder bemühte sich dann ein Etwas zu sagen, das die Lücke ausfüllte, und so verging dieser letzte Abend ohne eigentliches Beisammensein; denn Jeder war mit seinen Gedanken ferne, und kein Wort eines frohen Wiedersehens wurde laut.
„Muth, mein Freund!“ sagte Leonie, als August sie beim Abschiede lange umfangen hielt, als wollte das Wort der Trennung diesmal durchaus nicht über seine Lippen kommen; „wer keine Wahl hat, für den ist die Entscheidung nicht schwer. Die Wogen des Lebens tragen uns nun mit fort, oder sie schlagen über unserm Kopfe zusammen; wir erwarten ruhig was da kommt, denn das Ende ist ja immer dasselbe.“
Auguste war bleich und matt auf einen Stuhl gesunken. „Mein Kind,“ sagte sie, als er sich zu ihr herunter beugte, und nahm sein Haupt zwischen ihre beiden Hände, „verzeihe Deiner armen Mutter, daß sie Dich für einen Beruf erzog, der Dich unglücklich macht. Weiß Gott! Ich that nach meiner besten Einsicht und meine Blindheit ist mir jetzt unbegreiflich. Fluche meinem Andenken nicht, mein Sohn, in Deinen trüben Stunden! Sage Dir vor: sie konnte nicht anders, sie wußte es nicht besser. Sieh, Deine alte Mutter bittet Dich auf ihren Knieen darum, daß Du ihrer dennoch mit Liebe gedenkst!“ Sie sank bei diesen Worten leise vom Stuhle herab, und umfaßte seine Knie.
„Um Gott, meine Mutter! Nicht so! Nicht doch!“ rief August und zog sie empor an seine Brust, wo er sie lange fest umschlungen hielt. „Immer werde ich Dein Andenken segnen, meine Mutter! Mein letzter Gedanke noch wird der der Liebe für Dich sein. Dein Segen soll mich behüten und bewahren in jeder Stunde, wo ich Deiner unwerth zu werden fürchte. Ja, segne mich, meine [204] Mutter, lege Deine liebe Hand auf mein Haupt, und sage mir, daß Dein Gebet mich begleitet!“
Auguste erhob sich langsam von seiner Brust, zog ihn zu sich nieder und küßte mit einem heiligen Kuß seine Stirne. „Du hast mir viel Glück gegeben, mein Sohn, habe Dank dafür, und wie gesagt, vergieb mir!“
„Mutter, das Wort nicht mehr!“ rief August, und stürzte laut schluchzend zur Thüre hinaus.
Gleich am Tage nach seiner Ankunft in Mücheln ging August zu seinem Freunde, dem Bürgermeister Solger, und fand diesen, zu seiner Bestürzung, auf einer Geschäftsreise begriffen, von welcher er erst im Laufe der folgenden Woche zurückerwartet wurde.
Er sah ein, daß er sich gedulden müsse, so unangenehm ihm dieser Aufschub auch war, denn als Oberhaupt der Stadt hatte jener ihm ja die Bewilligung zu ertheilen in diesem Orte als ansäßig betrachtet zu werden und einen Hausstand gründen zu dürfen.
Daß ihm eine solche Bitte abgeschlagen werde, fiel ihm im Entferntesten nicht ein, denn er wußte ja, wie lieb er seinem Jugendfreunde war und wie froh ihn dieser hier aufgenommen. Doch blieb es immer ein Ceremoniell, das beseitigt werden mußte, bevor ein Aufgebot erlassen werden konnte, und sollte dieses in seinem dreiwöchentlichen Zeitraum bis zu dem ihm gestellten Termin nicht mehr zu bewerkstelligen hin, so konnte man am Ende ja noch eine Dispensation einholen, die nicht schwer zu erhalten war. Mit diesen Gedanken beruhigte er sich und sah einstweilen seine kleine Einrichtung an und welche Zusätze dieselbe bedürfte, um auch Leonien einen Platz hier zu gestatten.
Endlich hieß es der Bürgermeister sei wieder eingetroffen und August eilte nun sogleich nach seinen Schulstunden zu ihm, und drückte eine herzliche Freude über seine Rückkehr aus. „Ich war recht unangenehm überrascht bei meiner Ankunft zu finden, daß Du verreist warst, lieber Solger,“ sagte er, „denn ich hatte ein Anliegen, das weniger dem Freunde, als dem Oberhaupte der Stadt galt, obwohl es hier vielleicht von beiden gemeinsam geprüft werden kann. Ich habe Dir nämlich noch nie mitgetheilt, daß ich mit einem Mädchen verlobt bin, welches mit mir aufgewachsen ist. Ihr Vater war zweiter Prediger in meinem Geburtsorte und sie theilte allen Unterricht mit mir. Ihre Mutter ist seit mehreren Jahren Wittwe und eigensinnig und kränklich; sie bildet sich ein, daß sie sterben wird und hat mir das eidliche Versprechen abgenommen, ihre Tochter jetzt gleich zum Altare zu führen. Ich kann nicht umhin mein Wort zu halten und muß daher bei Dir um die Erlaubniß nachsuchen mein Aufgebot mit Leonie Sommer ergehen lassen zu dürfen.“
„Diese Erlaubniß erhältst Du nicht, das kann ich Dir mit Gewißheit versprechen, mein Freund!“
„Und warum nicht?“ rief August, während ihm alles Blut in die Wangen stieg.
„Weil Du kein Brot hast eine Frau zu ernähren.“ sagte der Andere mit vollkommener Geschäftsruhe.
„Das ist meine Sache und nicht die der Behörde.“
„Da irrst Du. Die Regierung hat uns verantwortlich dafür gemacht, daß wir Niemand in unsern Mauern aufnehmen, der unserer Armenkasse zur Last fallen kann.“
„Solger! Mir das?“ rief August empört.
„Nun ja! Warum nicht? Das Amt eines Privatlehrers ist precär, jeden Tag können die Aeltern Dir die Kinder nehmen und dann hast Du nichts zu beißen oder zu brocken.“
„Ich gebe Dir mein Wort darauf, nie Ansprüche an die Stadtkasse zu machen!“
„Als ob Du mir das noch zu versichern brauchtest!“ lachte der Bürgermeister. „Auch habe ich Dich ja mit Freuden aufgenommen, ohne an eine Kaution oder sonstige Gewährleistung nur zu denken. Du bist mir ganz recht hier und magst bleiben, so lange Du willst. Aber heirathen lasse ich Dich darauf nicht. – Und das thut Niemand. Du mußt überall nachweisen, daß Du die Mittel zu einer Existenz hast, und da Du diese nicht garantiren kannst, so verweigert man Dein Gesuch. Schlage Dir die Thorheit also aus dem Sinne.“
„Ich habe aber mein Wort gegeben und kann nun nicht zurück. Mag sein, daß das Gesetz gegen mich ist; könnte denn der Freund hier nicht eine Ausnahme machen?“
„Das wird er nicht thun, denn es hieße Dich in’s Unglück stürzen. Es ist Alles recht schön mit Deinem Wort geben. Du mußtest aber erst wissen, ob Du es auch halten konntest. Was nicht geht, das geht nicht.“
„Wie wäre mir das je eingefallen, daß der Staat meine persönliche Freiheit auf diese Art beschränken wolle. Wie konnte ich nur vermuthen, daß es mir verwehrt werde, mir eine Existenz zu gründen, wie und wo es mir beliebt? Ich habe ja nicht im Traume daran gedacht und darum ohne Bedenken den Eid geleistet. Was soll nun daraus werden?“
„Du nimmst Dein Wort zurück, weiter nichts!“
„Das thut kein Ehrenmann.“
„Ich seh’ doch keinen andern Ausweg ein.“
„Solger. Du bist mein Freund, sei nur diesmal erbittlich. Gieb Deinen Consenz!“
„Keinenfalls, das versichere ich Dir!“
„Bedenke die Folgen. Du bringst mich zur Verzweiflung.“
„Nun, das wissen wir schon, wie lange in Deinen Jahren die Leute verzweifeln, wenn ihre Liebesangelegenheiten nicht recht gehen. Ich lasse es darauf ankommen.“
„Du weißt nicht, was Du thust, Solger. Es ist ja hier nicht von einer Liebesgeschichte die Rede, sondern von dem Eide, den ich einer Sterbenden geleistet. Geh’ in Dich! Ich versichere Dir, die Folgen können fürchterlich sein, wenn Du bei Deiner Weigerung beharrst.“
„Ich beharre dabei.“
„Ist das Dein letztes Wort?“
„So magst Du es verantworten!“ Er stürzte zum Zimmer hinaus und eilte in seine Wohnung. Was thun? Was beginnen? Er durchwachte die Nacht sinnend. Früh am Morgen setzte er sich an seinen Schreibtisch, und richtete einige Zeilen an den Bürgermeister, in denen er ihn noch einmal dringend bat, sein Wort zurückzunehmen. Sein Bursche mußte das Billet überbringen und August blieb so lange am Fenster stehen, bis er ihn zurückkehren sah. Erwartungsvoll trat er seinem Boten entgegen. „Nun!“ sprach er, als wolle er ihm die Worte von den Lippen lesen.
„Der Herr Bürgermeister lassen sich empfehlen und Sie recht sehr bitten ihm keine solchen Briefe mehr zu schreiben, hier ist der Ihrige wieder zurück. Und wenn Sie sich wieder besser befänden, so möchten Sie ihn des Abends besuchen, wie sonst, aber von der bewußten Sache müsse nicht weiter die Rede sein.“
„Also unerbittlich!“ murmelte August und stampfte den Boden.
Er hieß seinem Burschen die Knaben heute zurücksenden, wenn sie zur Schule kämen, er habe ganz unaufschiebbare Geschäfte zu ordnen. Dann knöpfte er seinen Ueberrock zu und eilte in die Stadt zu einem Advocaten.
„So früh schon, Herr Liebig?“ rief ihm dieser entgegen. „Es müssen wichtige Angelegenheiten sein, die Ihren Morgenschlummer dermaßen stören.“
August erzählte nun kurz sein Anliegen und daß der Bürgermeister ihm rund abgeschlagen, hier als verheiratheter Mann zu leben. Er wünsche zu wissen ob jener zu einer solchen Verweigerung berechtigt sei.
„Das ist er allerdings!“ sagte der erfahrene Geschäftsmann mit der größten Ruhe. „Sie haben hier kein Heimathsrecht, und selbst, wären Sie hier geboren, so müßten Sie immer noch nachweisen, daß Sie die Mittel besitzen, eine Familie zu ernähren. Es läßt sich in der Sache gar nichts thun, denn die Gesetze sind wider Sie.“
„Sie wissen keinen Rath für mich?“
„Keinen! Als daß Sie sich gedulden, wie wir Andern es auch gethan haben. Erst eine Pfarre, dann eine Knarre, lautet unser alter Spruch.“
„So empfehle ich mich Ihnen,“ sprach August kurz und verließ das Haus. Still und in sich gekehrt brachte er den ganzen Tag in seinem Zimmer zu, ohne Nahrung zu verlangen, oder irgend einen Dienst zu begehren. Als es dämmerte, trug er einen Brief auf die Post und gab dann Befehl, daß man ihn durchaus nicht störe und jeden Besuch abweise. Er könne in den nächsten Tagen Niemand sehen und würde auch keinen Unterricht ertheilen, bis er sich wohler fühle.
Seine Wirthin sah ihn verwundert an, wagte aber keine weitere Frage.
Er ließ die Vorhänge herunter, verschloß die Thür und versank dann in trübes Nachsinnen. Düstere Verzweiflung tobte in [205] seinem Herzen, er hörte fast die Schläge desselben, und seine Stirn brannte fieberheiß. Einem Gesetz Unterthan zu sein, das für Schufte gemacht war, die Verpflichtungen übernahmen, die sie nicht lösen konnten oder wollten, das schien ihm eine zu grausame Aufgabe. Man wußte, daß er der Stadt nie zur Last fallen würde, und dennoch wies man sein Gesuch ab; man wußte, daß er sein Ehrenwort als Mann verpfändet, und dennoch hieß man ihm sich die Sache aus dem Sinne schlagen. Wer konnte ein solches Opfer von ihm begehren? Wer ihm zumuthen, mit einem solchen Makel an seiner Ehre noch unter den Lebenden zu wandeln? – Ja, hätte noch das kalte Gesetz mit seinem todten Buchstaben allein ihm gegenüber gestanden, so möchte er sich gesagt haben: ich leide nur, was Hunderte vor mir vielleicht schon litten, was Hunderte nach mir noch leiden werden, ich bin nur Einer von so Vielen, was berechtigt mich hier die Ausnahme zu sein? Aber so! Einem Menschen gegenüber, der sein Freund war, einem Menschen gegenüber, der hier die Autorität besaß, die ihn ermächtigte, das Gesetz den Umständen gemäß in Anwendung zu bringen, und von diesem Menschen verhöhnt werden, nein, das überstieg jede Grenze dessen, was er als Mann dulden und ertragen durfte! „Sein oder nicht sein,“ rief es in ihm und hastig erhob er sich und stürzte zur Thüre hinaus.
Es hatte bereits neun Uhr geschlagen, als August in dieser aufgeregten Stimmung in die Wohnung des Bürgermeisters trat. Auf dem Flur begegnete ihm der Stadtdiener, der eben seine letzten Befehle einholen wollte; er eilte an diesem vorbei in das Arbeitszimmer des Herrn vom Hause, und fand denselben behaglich auf dem Sopha ausgestreckt, dabei große Wolken aus einer ellenlangen Pfeife von sich blasend.
„Nun, wieder vernünftig?“ rief er ihm entgegen. „So setze Dich und wir wollen eine Flasche Wein miteinander ausstechen.“
„Davon kann keine Rede sein,“ versetzte August finster, warf seine Mütze auf den Tisch und blieb mit verschränkten Armen vor dem Andern stehen „Du oder ich, einer von uns muß bleiben. Ich fordere Dich im Namen der Ehre, der wir alle huldigen. Du hast mich beschimpft, hast den Menschen und den Freund in mir beleidigt und mußt mir mit den Waffen in der Hand Satisfaction geben. Nenne mir Zeit und Stunde, wo Du mich treffen willst. Auch die Wahl der Waffen bleibe Dir überlassen!“
„Ha, ha, ha!“ lachte der Bürgermeister in sich hinein und sein Auge drückte dabei mehr noch aus wie spaßhaft ihm die Scene erscheine, als seine Mienen es sagten. „Jetzt bist Du doch ganz toll geworden, Liebig. Wenn ich mich mit allen Einwohnern der Stadt duelliren sollte, weil ihnen der Ausspruch der Gesetze nicht genehm, so hätte ich viel zu thun. Da würde bald Niemand mehr Bürgermeister sein wollen. Nein, alter Junge, so haben wir nicht gewettet! Keinen Tropfen Bluts soll uns die Sache kosten. Wenn Du aber vernünftig sein willst, und mit mir reden wie ein Mensch der seine fünf Sinne hat, so setze Dich zu mir und ich lasse eine Flasche Hochheimer darauf gehen, aus bloßer Freude, daß Du nicht mehr toll bist.“
„Solger, reize mich nicht!“ sprach der Andere mit zusammen gekniffenen Lippen und seine Zornesader schwoll. „Ich bin nicht in der Stimmung, wo man Scherz verträgt, ich bin wie ein gereizter Löwe, ich bin fähig einen Mord zu begeben.“
„Was, steht es so?“ sagte der Bürgermeister stirnrunzelnd und schien erst jetzt zu bemerken, wie geisterbleich sein Freund aussah und welche finstere Gluth aus seinem Auge leuchtete. „Wenn Du so sehr im Ernste bist, da muß auch ich die Sache wohl ernst nehmen. Mit mir geht es aber nicht so schnell, mein Blut fließt langsamer. In einer Stunde wirst Du meine Antwort in Deiner Wohnung finden. Gute Nacht, bis auf Wiedersehen.“ Er winkte ihm wie verabschiedend zu, worauf August seine Mütze ergriff und ohne noch ein Wort zu verlieren, das Zimmer verließ. Als seine Schritte verhallt waren, rief der Bürgermeister: „Schlünz!“ und augenblicklich trat der Stadtdiener ein, der draußen so lange geharrt hatte.
„Hören Sie, Schlünz?“ sagte er, und blies drei mächtige Puffe aus der Pfeife, um sie vor dem Ausgehen zu sichern, „der Candidat Liebig scheint mir krank zu sein; wir dürfen ihn nicht allein lassen. Bestellen Sie zwei Mann Wache vor seine Thüre, die ihn, bis auf weitere Ordre, verhindern, sein Zimmer zu verlassen, und dann bitten Sie Doctor Friedrich, sogleich zu mir zu kommen.“ Damit war der Auftrag zu Ende und das Oberhaupt der Stadt rauchte behaglich fort, bis der Arzt eintrat.
„Setzen Sie sich, lieber Doctor, und entschuldigen Sie, daß ich nicht aufstehe; ich bin verwünscht müde. So eine Entenjagd fühlt man!“ redete er den Eintretenden an. „Ich habe Sie noch so spät herbitten lassen wegen des jungen Liebig, der nahe daran scheint überzuschnappen. Thun Sie mir den Gefallen und gehen Sie gleich von hier zu ihm mit der Botschaft, daß ich ihn wie krank, oder schlimmer noch wie verrückt behandeln müsse, so lange er solchen Unsinn schwatze. Ich gäbe ihm drei Tage Zeit zur Ueberlegung, ob er sich die verwünschte Heirath aus dem Sinne schlagen und mich mit seinen Herausforderungen in Ruhe lassen wolle: oder wenn nicht, würde ich ihm die Conzession entziehen, sich hier aufhalten zu dürfen, und gehe er nicht gutwillig, so würde er aus dem Thore gebracht. Das letztere sagen Sie ihm aber nicht gleich, denn er ist ein verteufelter Kribbelkopf, der sich Alles zu Gemüthe zieht. Wir wollen es daher mit Güte versuchen. Verordnen Sie ihm auch etwas Niederschlagendes. Er hat für’s Erste Hausarrest.“
August erwartete nichts weniger als eine solche Botschaft, die ihm der Arzt, ein besonnener, wohlwollender alter Herr, mit großer Schonung überbrachte, und dabei zugleich an seinem Pulse sah, daß der junge Mann wirklich nicht in dem Zustande war, um für zurechnungsfähig erklärt werden zu können. Er blieb lange bei ihm, und seinem milden, beruhigenden Zuspruche gelang es, daß August das Bett suchte und unter dem Einfluß eines leichten Opiats auch Ruhe fand.
Als er am nächsten Mittag erwachte, fühlte er sich wirklich unwohl und wie betäubt, so daß er das Bett nicht verlassen konnte und der Arzt, der häufig nach ihm sah, erhielt ihn gerne in diesem Zustande, um ihm Zeit zu lassen, sich mit mehr Ruhe in seine Lage hinein zu denken und einen vernünftigen Entschluß zu fassen. Er suchte ihn zu bewegen, sich ihm mitzutheilen, wohl wissend, wie erleichternd schon das ausgesprochene Wort wirkt und war bereit, ihm auch auf irgend einem vernunftgemäßen Weg mit Rath und That zur Seite zu stehen. Er begriff, daß dem jungen Manne sein Ehrenwort oder gar ein Eid etwas Heiliges war, und daß der ganze Stolz seiner edeln Natur sich dagegen bäumte, sein Versprechen nicht halten zu können. Vielfach überlegten Beide, wie sich ein Ausweg finden lasse und immer noch bot sich kein solcher; da brachte die Post einen Brief, der alle Zweifel löste. Leonie schrieb:
„Du forderst Deinen Ring zurück, mein theurer Freund! Die Bitte, verzeih es mir, war thöricht. Soll ich Dich weniger achten, weil Du meiner Mutter ein Versprechen gabst, das zu halten die Gesetze des Landes Dich verhindern? Wo war Deine Einsicht, wo Deine ruhige Besonnenheit, als Dir die Grenzlinie zwischen Wollen und Können verloren ging? – Du lieber, lieber Brausekopf, dessen stolze Ehrliebe den Himmel stürmen möchte, und dem diesmal die Erde dabei unter den Füßen entschlüpfte.
„Aber wir kennen Dich, Deine theure Mutter und ich; wir wissen, daß keine Worte, keine Gründe, keine Unmöglichkeiten diesen Makel an Deiner Mannesehre in Deinen Augen verwischen könnten, und eben weil wir Dich so kennen und Beide Dich auch so lieben, eben darum mußt Du meiner Mutter Dein Versprechen halten. So komme denn, und gieb mir das Recht, Deinen lieben Namen zu führen. Eine Dispensation dazu wird bereit sein und Dein Bruder sein Amen dazu sprechen. So komme denn und erfahre, wie wir Dich lieben! Denn damit Du Dir selbst getreu bleiben könntest, haben wir den langen, langen Hoffnungen und Plänen für die Zukunft ein ewiges Lebewohl zugerufen und beschlossen. Dich zu entbehren, auf Länge zu entbehren, damit Du einst froh in unsere Mitte zurückkehrest. – Eine kleine Gesellschaft junger Leute in Hamburg segelt ab nach St. Francisco, um sich dort eine neue Heimath zu gründen; der Sohn unseres hiesigen Oberamtmanns ist von der Zahl, und er wartet nur auf Dich, um aufzubrechen. – Komm also! Wo Du bist, konntest Du jetzt nicht mehr bleiben, komme also! Weile eine Stunde unter uns, und welch eine Stunde in unserm beiderseitigen Leben! und ziehe dann hinaus in die weite Welt, wo ein Mann, befähigt wie Du, eine Existenz finden wird und finden muß.
[206] „Wie wir das Alles möglich gemacht, wie uns die Mittel geworden, deren Du zu dieser Reise bedarfst, das kümmere Dich nicht. Frauen, die zu lieben verstehen, wie Deine Mutter und ich, die haben auch den Muth zur That, wo es das Glück Desjenigen gilt, dem ihr ganzes Sein und Denken gewidmet ist; die finden auch Freunde im Momente, wo sie deren bedürfen.
„Komm also und sei stark, wie wir stark sein wollen in dieser schweren, schweren Stunde, die mir so Vieles giebt, so Vieles nimmt! – Das Hinaus in die Welt, das Dein Herz, gesteh’ es nur, so dringend begehrte, das steht Dir jetzt bevor, und frei athmest Du auf in dem Gefühl, von da an keinem Prinzip mehr Unterthan zu sein, das der Gott in Deiner Brust Dir nicht dictirte. Sieh, wie ich Dich verstehe.
„Ich verpflege indessen unsere beiden Mütter, und erfülle die Pflicht zu Hause, die der Mann der Welt gegenüber zu erfüllen hat, und suche glücklich zu sein durch Erinnerung und Hoffnung. Komme also zu„Welch ein Mädchen!“ rief August, als er zu Ende gelesen. „Ja, Leonie, ich bin Deiner noch werth und werde Deiner werth bleiben. In einer neuen Welt sollen diese beiden gesunden Arme mir zu einer Existenz verhelfen, die unsern einfachen Bedürfnissen genügt, dort will ich mir die Hütte erbauen, wohin ich Dich als mein treues Weib führe, und meiner angebeteten Mutter letzte Jahre verschönere. Ich habe jetzt ein Ziel, dem ich nachstreben kann, das die ganze Aufwendung meiner Kräfte erfordert, und ich wäre kein Mann, wenn ich es nicht zu erreichen wüßte. – Doctor!“ rief er seinem Arzte entgegen, „helfen Sie mir einpacken! Noch diesen Abend muß ich fort von hier. Meine Fesseln sind gebrochen, meine Ehre ist gerettet und dem muthigen Wollen winkt der Sieg.“
Noch standen am heutigen Morgen die Sternbilder an dem tiefdunkelblauen afrikanischen Himmel, da schmetterten schon die Trompeten das Signal zum Antreten und mit lautem „vite, vite, sacre nom de dieu!“ und ähnlichen Flüchen trieben die ungeduldigen Capitaine und Lieutenants ihre Soldaten in die Reihen. Glaubten die Chasseurs doch selbst schon, in nächster Stunde vielleicht würde es wieder ein tüchtiges Gefecht mit den Kabylen geben, und nicht wenig trug diese Hoffnung dazu bei, ihren frohen Eifer zu vermehren. Gar manche der braven Bursche hatten sich nicht einmal Zeit gelassen, ihren schwarzen Kaffee, der im Feldkessel am Wachtfeuer gekocht, ohne Milch und Zucker das Frühstück bildete, in Eile hinunterzustürzen, sondern traten den Marsch in gänzlicher Nüchternheit an, höchstens ein trocknes Stücklein des steinharten alten Schiffszwiebacks, von dem jeder Soldat eine Portion bei sich trug, mit höchster Anstrengung der Zähne beim Marschiren selbst zerkauend. Was denkt aber der Chasseur in Algerien auch viel an Frühstück und anderweitige Bedürfnisse, wenn er nur Hoffnung hat, seine Büchse tüchtig auf die verhaßten Kabylen, die schon so viele seiner Kameraden heimlich überfallen, und dann ohne Weiteres grausam ermordet haben, abfeuern zu können. Diesmal aber sollte diese Hoffnung gar arg getäuscht werden, denn viele Stunden schon, Berg auf, Berg ab, in den steinigen Schluchten des Atlas hatte der Marsch gedauert, und von den Feinden wollte sich auch nicht die mindeste Spur entdecken lassen. Was half es, wenn die Patrouillen, die vorn und zu beiden Seiten marschirten, auch noch so eifrig spähten und spähten, auch nicht das leiseste Zeichen von irgend einem Kabylen konnten sie entdecken. Schien es doch wirklich, als wenn die ganze Gegend auf viele Meilen weit und breit ganz von Feinden leer wäre, so wenig ließ sich eben eine Spur von denselben auffinden und doch war vor einigen Tagen noch durch theuer bezahlte und daher zuverlässige Späher die sichere Nachricht gebracht worden, daß ein sehr starker feindlicher Trupp in räuberischer Absicht hier in der Gegend herumschweife. Aber in der Kunst, gerade da zu sein, wo man sie am Wenigsten erwartet, hingegen sich jeder etwaigen Aufsuchung auf das Schlauste zu entziehen, haben es die Kabylen und Hajuten in Algerien wirklich zu einer außerordentlichen Vollkommenheit gebracht und gerade dies verleiht ihnen eine weit höhere feindliche Bedeutung, wie alle ihre anderweitigen kriegerischen Eigenschaften.
Wollten die Kabylen sich aber an dem Morgen nicht zeigen, so wurden die Chasseurs bald von einem andern, ihnen ungleich unangenehmeren Feind geplagt, nämlich der immer mehr steigenden Sonnenhitze. Die ersten drei bis vier Stunden war der Marsch wirklich angenehm gewesen, denn kühl und kräftigend wehte die Morgenluft, geschwängert mit Wohlgerüchen aller Art, aus den vielen blühenden Sträuchen und Blumen an den Bergabhängen. Aber schon gegen neun Uhr fing die Sonne an immer glühender und glühender zu werden, immer senkrechter fielen ihre Strahlen auf die armen Chasseurs; dazu marschirte man jetzt in einem engen Thal, auf beiden Seiten von steilen Felsenwänden eingeschlossen, so daß auch nicht der mindeste Luftzug eindringen und die furchtbare Hitze etwas mildern konnte. Wirklich als wenn man in einem Schmelzofen sich befände, so drückend war die Luft, so sehr widerstrebte förmlich die Lunge, dieselbe einzuathmen, und mit schwerem Druck legte sich diese Gluthitze auf den ganzen Körper. Dazu mußten die Chasseurs den vollgepackten Tornister mit darauf befestigtem gerollten Capotemantel, die mit achtundvierzig scharfen Patronen gefüllte Cartouche, den Brotsack mit Zwieback, Reis und etwas gesalzenem Hammelfleisch auf zwei Tage und ihre sämmtlichen Waffen mit sich herumschleppen. Wie trieften aber auch dieselben vor Schweiß, gleichsam als wenn sie aus dem Wasser gezogen wären, so durch und durch geschwitzt von oben bis unten waren die Meisten von ihnen. Noch aber marschirten Alle rüstig, wenn auch gerade nicht mehr lustig, fort, und wenn auch die frohen Gesänge und muntern Witzeleien, die man anfänglich hören konnte, allmälig immer mehr und mehr verstummten, zu lauten Klagen ober Murren war es bisher noch nicht gekommen. Waren die Chasseurs, größtentheils Söhne der französischen Baskenlande oder der Provence und Gascogne, hier und da auch von Corsika, doch schon von Jugend auf an ziemliche Hitze gewöhnt, und ein zweijähriges Feldleben in Algerien hatte sie außerdem schon recht sehr im Ertragen von Strapazen und Beschwerden aller Art abgehärtet. Was solchen Mühseligkeiten nicht gewachsen war, hatte man entweder zum Depôt nach Frankreich zurückgeschickt, oder der Tod hatte in den Lazareths eine schnelle Beute daran gefunden, der Rest aber, der am heutigen Tage den Eilmarsch machen mußte, konnte schon etwas vertragen und war durch und durch abgehärtet. Wollte aber wirklich ein oder der andere Chasseur sich allzusehr dem Eindruck der Hitze oder gar der Müdigkeit hingeben, so erhielt er so kräftige Ermahnungen von den Offizieren und Unteroffizieren, oder ward gar mit solcher Menge von Flüchen und Strafdrohungen von denselben überschüttet, daß er gewiß seine äußersten Kräfte anspannte, um noch rüstig mit fortmarschiren zu können. Der französische Soldat wird im Dienst stets sehr strenge und rücksichtslos behandelt und von Schonung desselben ist in Algerien nie viel die Rede.
Immer steiler und beschwerlicher ward nun aber der Weg, immer glühender und glühender fielen die Sonnenstrahlen in den engen Bergkessel. So ungeduldig der Commandant, der auf seinem kleinen muthigen Berberhengst vorn an der Spitze der Kolonne ritt und oft mit einem unwilligen en avant, en avant!“ die Marschirenden zur größeren Eile antrieb, auch oft auf seine Uhr sah, denn es schien, als müsse er zur vorgeschriebenen Stunde ein bestimmtes Ziel erreichen, so wollte es doch nicht gelingen, den Marsch noch mehr zu beschleunigen. Endlich gegen Mittag,
[207]wo wirklich die Hitze eine fast unerträgliche Höhe erreicht hatte, und selbst die Läufe der Büchsen von den Sonnenstrahlen so erhitzt waren, daß man kaum noch die bloße Hand darauf legen konnte, mußte der Commandant sogar das Signal zum Halt und dann zur Rast geben lassen. Wenn er auch einige tüchtige Flüche dabei wetterte, es half doch nichts, gerastet mußte einige Zeit werden, oder die Mannschaft wäre zu Grunde gegangen. Drei Stunden wurden zur Ruhe bestimmt, dann sollte der Marsch wieder fortgesetzt werden, und zwei Drittel der Soldaten durfte in dieser Zeit sich dem Schlafe hingeben, während abwechselnd das [208] übrige Drittel mit der Büchse in der Hand wach bleiben mußte, um einen etwaigen heimlichen Ueberfall der Kabylen zu verhüten. Gerade solche von starken Märschen und großer Hitze erschöpfte Mannschaft heimlich zu überfallen und dann ohne Weiteres niederzuhauen, pflegen die Kabylen gar sehr zu lieben, und führen solche That häufig mit nicht geringer Schlauheit und Schnelligkeit aus. Gar viele französische Soldaten in Algerien sind auf diese Weise schon der Rachsucht ihrer unermüdlichen Feinde zum Opfer gefallen.
So wie die Mannschaft Halt gemacht hatte, war es das erste Geschäft aller Chasseurs, sich der von Schweiß triefenden Uniformen und der Wäsche zu entledigen und solche zum Trocknen in der Sonne auf dem Boden auszubreiten, während sie selbst, sonst fast ganz nackt, nur die langen dicken Mäntel anbehielten. Solche Trocknung der Kleider ist fast die einzige Behaglichkeit, die sich der Soldat bei den Streifzügen in Algerien verschaffen kann, und wenn irgend Zeit oder Umstände es erlauben, pflegt man dieselbe nie zu unterlassen, da es nicht allein sehr unbehaglich, sondern für die Gesundheit auch schädlich ist, sich gänzlich naß zum Schlafen hinzulegen. Während nun ein Drittel der Soldaten dies Geschäft besorgte, ein anderes Drittel, die Büchsen in der Hand, als Postenkette um den ganzen Lagerplatz ausgestellt wurde, war das letzte Drittel beschäftigt in aller Eile möglichst viele grüne Büsche und Sträucher, die an der Bergwand wuchsen, mit den Hirschfängern abzuhauen. Kaum einige Minuten dauerte es – denn französische Chasseurs, die bereits mehrere Jahre in Algerien stehen, sind in allen solchen Verrichtungen ungemein gewandt und schnell – so kamen die Ausgeschickten schon, mit ganzen Armen voll solcher grünen Sträucher wieder daher. Kleine Hütten, eben groß genug, daß zwei Mann mit Kopf und Brust darunter kriechen und so Schutz vor den Sonnenstrahlen finden konnten, wurden nun schnell zusammengeflochten, und so wie dies geschehen, legte sich die gesammte Mannschaft, mit Ausnahme der Wachen, zum Schlafen nieder. Förmlich in Reih und Glied, nach den Compagnien geordnet, standen diese kleinen grünen Hütten, in denen immer zu zwei und zwei Chasseurs zusammen bis an die Brust sich verkrochen, während sie die Beine lang daraus hervorstreckten. Der Tornister wurde zum Kopfkissen genommen, ein Sacktuch noch über das Gesicht gebreitet, um solches besser gegen die Sonnenstrahlen, die sich durch die einzelnen Löcher der Laubgeflechte hindurchdrängten, zu schützen, und alle Vorbereitungen zum Schlafen waren fertig. Nicht über zehn Minuten dauerte es, nachdem die Glieder auseinandergetreten waren, und im festen Schlummer versunken, lagen schon Alle lang ausgestreckt auf dem harten Felsboden, der ihnen jetzt eine mehr ersehnte Ruhestätte darbot, wie es das beste Bett je gethan hatte. Nur die armen Doppelposten, die unablässig in bestimmter Weite auf und niederschritten, mußten wach bleiben, und warfen oft mit müden Augen gar neidische Blicke auf ihre schon so sanft schlafenden Kameraden. Wollte aber ein solcher Posten auch nur einen Augenblick stehen bleiben, so trieb sogleich der laute, gerade nicht allzu freundliche Zuruf der wachhabenden Offiziere ihn wieder zur munteren Bewegung an. Es ist das einzige Mittel, um solche sehr ermüdeten Soldaten, die auf Posten sind, vor dem Einschlafen zu schützen, daß man ihnen nie gestattet, auch nur eine Minute stehen zu bleiben, sondern sie unaufhörlich in Bewegung erhält. Von dem Munterbleiben und der beständigen Aufmerksamkeit dieser Posten hängt aber die Sicherheit der ganzen Mannschaft ab, denn auf dem Bauche im Gebüsche fortkriechend und mit der Schnelligkeit und Geräuschlosigkeit einer Schlange sich nähernd, suchen die Kabylen oft heranzuschleichen, um die sich unbesorgt der Ruhe hingebenden Soldaten niederzuhauen. Jede und auch nur die allergeringste Vernachlässigung bei diesem Wachdienst wird daher in Algerien ungemein hart bestraft und selbst die Offiziere, die zur Aufsicht commandirt sind, trifft nicht geringe Verantwortlichkeit, sobald sie ihre Pflicht nur im Allermindesten vernachlässigen. So ein Felddienst auf den äußersten Grenzen Algeriens, in der Nähe der Kabylen, ist weder für die Offiziere noch Soldaten eine Kleinigkeit, sondern erfordert nicht geringe Anstrengungen aller Art.
Nach drei Stunden, von denen jeder Chasseur zwei Stunden geschlafen und eine Stunde Posten gestanden hatte, wurde wieder zum Antreten geblasen und mit der großen Schnelligkeit, welche französischen leichten Truppen eigen ist, standen die Compagnien bald wieder geordnet. Welch’ sehnsüchtige Blicke warfen manche Chasseurs noch nach den kleinen grünen Hüttchen, deren Zweige übrigens schon von der Sonnenhitze schnell verdorrt aussahen und wie gern hätten sie noch einige Stunden so fortgeschlafen, aber wehe dem noch Müden, der nicht mit der vollsten Aufmerksamkeit jetzt wieder auf den Dienst achtete oder gar noch etwas schläfrig sich zeigte, derbe Flüche, oder gar selbst einige Strafwachen würden ihm gewiß zu Theil. Mit neuer Eile ging es jetzt wieder fort, Berg auf, Berg ab, und der Commandant schien das durch die Mittagsrast Versäumte möglichst nachholen zu wollen, so unablässig konnte man sein Allons donc vite, vite, sacre dieu vorn an der Spitze der Kolonne vernehmen, sobald der Marsch nur einen Augenblick stocken wollte, da der ungebahnte Weg allzugroße Hindernisse darbot.
Schon eine Stunde war man wieder so fortmarschirt, da tauchten am fernen Horizont, wo die Thalschlucht auf einer großen Hochebene ausmündete, plötzlich mehrere Reiter auf. Mit Spannung sah die Tête der marschirenden Soldaten auf diese Gestalten, und selbst der Commandant hielt seinen Hengst eine Weile an, um das kleine Handfernglas besser vor die Augen bringen zu können. Nur fünf Reiter waren es, die in vollem Lauf ihrer Rosse über die Ebene dahergebraust kamen, und bald konnte man sie an ihren weitflatternden rothen Burnussen als Spahis in französischen Diensten erkennen. Es war gewiß eine gar wichtige Meldung, welche dieselben brachten, denn gleich Schimmeln fast, so waren ihre Rosse von Schaum weiß gefärbt und doch konnte man jetzt immer deutlicher und deutlicher erkennen, wie heftig die Reiter die scharfen Räder ihrer Bügelschaufeln den schon ermüdet scheinenden Thieren in die blutenden Flanken stießen, um solche noch immer zu rascherem Laufe anzutreiben. Beim Commandanten, der ungeduldig den Spahis entgegensprengte, um ihre Nachricht desto eher zu erfahren, angekommen, rissen diese mit heftigem Ruck ihre keuchenden Thiere fast auf die Hinterfüße zusammen, und der Aelteste derselben machte dann in schlechtem gebrochenen Französisch seine Meldung. Wahrlich, dieselbe war wichtig genug, um solche Eile zu erfordern, zugleich aber sehr unerfreulich. Ein starker Trupp Kabylen, wohl an die 200 – 300 Mann, hatte ungefähr zwei Stunden von diesem Platze entfernt, eine französische halbe Grenadier-Compagnie überfallen und auf der Stelle zusammengehauen. Die Grenadiere gehörten einem Regimente an, was erst seit wenigen Monaten aus Frankreich gekommen und deshalb noch nicht mit der eigenthümlichen Beschaffenheit der afrikanischen Kriegsführung bekannt genug war. Die starke Hitze hatte sie ermattet und zu einer Ruhe verführt, ohne daß sie dabei die nöthige Vorsicht beobachtet, sich hinlänglich durch ausgestellte Posten zu schützen. Schien die Gegend doch so ruhig und sicher zu sein, und hatten die vorher zum Rekognosciren ausgeschickten Patrouillen doch weit und breit keine Spur von irgend wie einem Feinde entdecken können, unbesorgt hatte die Mannschaft nebst den zwei Offizieren sich deshalb zum Schlafen hingelegt, und selbst die paar Schildwachen, die man ausgestellt, waren von der furchtbaren Hitze so überwältigt worden, daß sie bald nach einander auch einschliefen. Diesen Zeitraum hatten die Kabylen, die schon lange der marschirenden Truppe aus weiter Ferne nachschlichen, um womöglich die Gelegenheit zu einem heimlichen Ueberfall abzulauern, geschickt zu benutzen gewußt. Mit der ihnen eigenthümlichen Schlauheit und Geräuschlosigkeit, hatten sie sich an die Schlafenden herangeschlichen, dieselben plötzlich überfallen und dann, bevor die Ueberraschten noch rechtzeitig ihre Waffen ergreifen und sich gehörig zur Wehr setzen konnten, sie ohne Weiteres niedergehauen. So lautete die Meldung der Spahis, die den Grenadieren in einiger Entfernung nachgeritten und so dem Ueberfall glücklich entgangen waren. Uebrigens hatten die Kabylen auch sie verfolgt und zwei der Reiter bluteten aus leichten Wunden, die ihnen die nachgesandten Kugeln der Feinde zugefügt hatten, während auch das schöne, edle Roß des Einen, solche Wunde an der Brust hatte, daß es bald darauf todt niederstürzte.
Welche Aufregung brachte aber diese Nachricht unter den Chasseurs hervor! Müdigkeit und Hitze, Hunger und Durst waren auf der Stelle vergessen, nur das glühende Gefühl, die ermordeten Kameraden so bald wie möglich zu rächen, beseelte Alle. An zweihundert funfzig der kräftigsten und ausdauerndsten Chasseurs wählte der Commandant nun in aller Eile aus, obgleich fast die ganze Mannschaft sich als Freiwillige dazu meldete, und bestimmte sie, nach dem Ort des Ueberfalls hin zu marschiren, [209] während die übrigen Compagnien sich hier auf der Stelle lagern sollten. Ein klarer Bach, der hier floß, gab Wasser zum Kochen und zum Stillen des brennenden Durstes, einige mächtige Platanenbäume, die an seinen Ufern standen, gewährten der Mannschaft genügenden Schatten und machten so den Platz für dieselben zum Nachtlager sehr geeignet. Damit übrigens die zur Expedition bestimmten Chasseurs besser marschiren konnten, ließen dieselben auf Befehl des Commandanten ihre Tornister auf dem Lagerplatz zurück und nahmen nur den zusammengerollten Mantel und die Patrontasche mit, dann ging es im eiligen Schnellschritt wieder fort. Mochten die Sonnenstrahlen jetzt auch noch so heiß brennen, die braven Burschen empfanden das jetzt viel weniger, so lebendig war in ihnen das Verlangen, ihre ermordeten Kameraden zu rächen. Welch furchtbarer Anblick bot sich nun aber dem Auge dar, als man nach ungefähr 11/2 Stunden des angestrengtesten Marschirens, bei dem es wirklich zu bewundern war, daß die Leute dasselbe aushalten konnten, an dem Platze des Ueberfalles anlangte. In einer Reihe, wie zum Spott von den Kabylen ausgebreitet, lagen die Leichen der ermordeten vierzig Grenadiere, alle gänzlich nackt und ihrer Kleidungsstücke beraubt. Die Köpfe waren sämmtlichen Körpern abgeschnitten und dieselben sonst auch noch auf die empörendste Weise verstümmelt und geschändet. Manchen waren die Bäuche aufgeschnitten, so daß die Gedärme weit heraushingen, Andere hatte man ihrer sonstigen Gliedmaßen beraubt und auf die roheste Weise, die wir gar nicht beschreiben mögen, den frechsten Hohn damit getrieben. In welche Wuth brachen aber nun die Chasseurs bei diesem Anblick aus, der freilich auch jedes Herz empören mußte, wie verwünschten sie in allen möglichen Flüchen, an denen die französische Sprache so überreich ist, die feigen Mörder, und gelobten feierlichst, die blutigste Rache an denselben zu nehmen und nie wieder einem Kabylen Pardon zu schenken. Gerade durch derartige Vorkommenheiten hat der ganze kleine Krieg an den Grenzen Algeriens den sehr grausamen Charakter erhalten, den er jetzt unläugbar besitzt und der so sehr viel dazu beiträgt, selbst die französischen Soldaten, die längere Zeit an demselben Theil nehmen, mit verwildern zu helfen. Von gegenseitigem Pardongeben ist bei diesen kleinen Kämpfen und heimlichen Ueberfällen selten viel die Rede und fast immer wird jeder Feind, den man mit den Waffen in der Hand antrifft, sogleich ohne viel Umstände niedergehauen.
Wenn’s Einem eklig ist und wenn Einer eklig ist, so kommt dies gewöhnlich aus dem Unterleibe, von Beschwerden, die ihren Grund in einer Störung des Unterleibsblutlaufes haben und bald Hämorrhoidal- oder Unterleibsbeschwerden, bald Pfortaderstockungen, Unterleibsanschoppungen, Abdominalplethora u. s. w. genannt werden. Um nun die Entstehung dieser Beschwerden, sowie ihre Verhütung und Heilung auf naturgemäßem Wege richtig begreifen zu können, bedarf es der Kenntniß des ganz eigenthümlichen Blutlaufes im Unterleibe, welcher unter dem Namen des
Pfortaderblutlaufes bekannt ist. Während nämlich das Blut aus allen Theilen des Körpers, nachdem es bei seinem Durchströmen durch die Haargefäßnetze der Organe gute Bestandtheile zur Ernährung abgegeben und schlechte dafür aufgenommen hatte, durch die Blutadern sofort zum Herzen zurückfließt, so läuft das aus den Haargefäßen der Verdauungsorgane des Unterleibes zum Herzen zurückfließende Blut vorher erst noch durch ein Haargefäßnetz innerhalb der Leber. Die Einrichtung ist nämlich folgende: die in das Bauchfell eingewickelten Verdauungsorgane erhalten aus der großen Körperpulsader (Bauchaorta) drei ziemlich starke Schlagadern (nämlich die große Eingeweide-, die obere und die untere Gekrösschlagader), welche in diesen Organen nach vielfacher baumförmiger Verzweigung endlich mit einem Haargefäßnetze endigen. Aus diesem Netze, vorzugsweise der Milz, des Magens und Darmkanals, nehmen nun viele Blutadern ihren Anfang und diese vereinigen sich nach und nach zu drei Stämmen (zur Milz-, Magen- und Gekrösblutader), welche dicht unterhalb der Leber zu einem einzigen Hauptstamme, zur Pfortader, zusammenfließen. Diese Ader tritt in die Leber (an der untern Fläche derselben) hinein und verzweigt sich hier grade wie eine Pulsader baumförmig in immer kleinere Aestchen, bis endlich die feinsten derselben in ein Haargefäßnetz übergehen, welches die Leberzellen und Gallenkanälchen umspinnt. Aus diesem Netze nehmen sodann abermals Blutadern ihren Ursprung und diese, Leberblutadern genannt, senken sich am hintern Rande der Leber in die untere Hohlader ein, kurz ehe sich dieselbe in die rechte Vorkammer des Herzens einmündet. Von besonderer Wichtigkeit hierbei ist es, daß die Darmblutadern, ehe sie in die Pfortader übergehen, ebensowohl vielfach unter einander, wie auch am Mastdarme (als Hämorrhoidal-Blutadern) mit Blutadern, die ihr Blut sofort durch die untere Hohlader in das Herz schicken, im unmittelbaren Zusammenhange stehen, so daß Blut aus dem einen herüber in die anderen fließen kann.
Das Blut der Pfortader, welches in die Leber einströmt, hat ebenso wie der Pfortaderblutlauf seine ganz besondern Eigenthümlichkeiten, denn es unterscheidet sich nicht unbedeutend von anderm Blutaderblute, zumal aber von dem Blute, welches durch die Leberblutadern aus der Leber wieder herausfließt. Es ist das Pfortaderblut nämlich dunkler, dickflüssiger, schwerer und fetthaltiger als alles übrige Blut und zeichnet sich vom Blute der Leberblutadern dadurch aus, daß es eine geringere Menge und weit mehr alte Blutkörperchen als jenes enthält, welches dagegen reich an jungen Blutkörperchen ist. Die Vergleichung des (durch die Pfortader in die Leber einströmenden) und des (durch die Leberblutadern) aus der Leber herausfließenden Blutes läßt sonach deutlich erkennen, daß innerhalb der Leber eine Veränderung mit dem Pfortaderblute vor sich gehen und zwar, daß es besser, sowie reicher an frischen Blutkörperchen werden muß. Diese Veränderung scheint hauptsächlich dadurch zu Stande zu kommen, daß schlechte und überflüssige Bestandtheile aus dem Pfortaderblute herausgeworfen werden, daß alte Blutkörperchen untergehen und sich dafür neue bilden. Der Abfall bei dieser Reinigung des Blutes wird sodann zur Gallenbereitung verwendet und die Leber hätte sonach einen doppelten Zweck, nämlich ebensowohl das Blut zu reinigen, wie auch eine Flüssigkeit, die Galle, zur Unterstützung der Verdauung zu bereiten. Auch ist es sehr wahrscheinlich, daß derartige in den Magen und Darmkanal eingeführte Stoffe, welche dem Blute fremd und unähnlich sind, in das Pfortaderblut aufgenommen und innerhalb der Leber wieder ausgeschieden werden, ohne in den allgemeinen Blutstrom zu gelangen. Ich möchte die Leber insofern einen Abzugsapparat für Arzneimittel, so wie für andere schädliche Stoffe, und sonach ein Schutzorgan gegen mittelliebende Heilkünstler nennen. Daß der so beliebte Leberthran die Leber fettsüchtig macht, ist ganz gewiß und daß Metallpräparate auf die Leber störend einwirken können, ist mehr als wahrscheinlich.
Die Quelle des Pfortaderblutlaufes ist natürlich, wie in allen andern Blutadern, vorzugsweise die Zusammenziehung des Herzens und der Gefäßwände, jedoch wird dieser Lauf noch unterstützt: durch die Erweiterung des Brustkastens beim Einathmen, wobei das Blut aus der Leber herausgesogen wird, und durch den Druck auf die Wurzeln und Zweige der Pfortader, welcher durch die Zusammenziehungen der Bauchmuskeln, sowie bei den Bewegungen des Magens und Darmes zu Stande kommt. Eine solche kräftige Unterstützung ist aber insofern beim Pfortaderblutlaufe nöthiger als bei andern Blutströmungen, weil das Pfortaderblut nochmals, innerhalb der Leber, ein enges Haargefäßnetz zu passiren hat, weil ferner dieses Blut selbst schwerflüssiger als anderes Blut ist und weil dasselbe in den meisten Pfortaderzweigen seiner Schwere entgegen im Bauche zur Leber in die Höhe steigen muß, wobei es übrigens durch die Zusammenziehungen der Pfortaderwände nicht sehr kräftig unterstützt werden kann, da dieselben dünn und nicht muskulös genug sind. Wenn demnach bei diesem schwierigern Blutaderlaufe die Bewegungsmittel desselben unvollkommner in Anwendung kommen oder Hindernisse diesem Blutstrome entgegentreten, dann muß sich natürlich das Blut sehr [210] leicht in den Gefäßen anhäufen können, welche mit der Pfortader zusammenhängen, vorzugsweise in den Gefäßen des Magens, Darmkanales (Mastdarmes) und der Milz. Solche Anhäufungen führen nun den Namen Pfortaderstockungen oder Anschoppungen und finden sich gewöhnlich zuerst und am Häufigsten im abhängigsten Theile des Pfortadersystems; dies wird aber von den Hämorrhoidalblutadern des Mastdarmes gebildet. Daß so häufig Pfortaderstockungen und zwar ohne wichtigere Hindernisse (wie organische Leber-, Herz- und Lungenleiden) im Pfortaderblutlaufe, zu Stande kommen, hat seinen Grund in der jetzigen Lebensweise der meisten Menschen, weil durch diese die Unterstützungsmittel des Pfortaderblutlaufes, nämlich die Athmungs-, Bauchmuskel- und Magen-Darmbewegungen nicht in der gehörigen Wirksamkeit erhalten werden, weil ferner das Pfortaderblut in Folge des unzureichenden Genusses wässeriger Getränke nicht leichtflüssig genug ist.
Die Blutstockungen im Pfortadersysteme müssen nun, wie leicht ersichtlich, ihre Wirkungen theils in den Organen äußern, von welchen das Blut nach der Pfortader hin abfließt, vorzugsweise im Magen und Darmkanale, theils in der Leber selbst, wo die Blutreinigung und Gallenbereitung eine Störung erleiden muß. Diese Wirkungen beziehen sich sonach blos auf Organe des Unterleibes und sind deshalb örtliche zu nennen. Man bedenke nun aber auch, daß allmälig die Blutmasse des ganzen Körpers schlechter werden muß, wenn die Blutreinigung in der Leber längere Zeit gestört wird und endlich sogar das schlechte Pfortaderblut, welches sich nach dem Mastdarm herabgesenkt hat, hier durch die Verbindungszweige der Hämorrhoidalblutadern in den Blutstrom der untern Hohlader gelangt. So geht dann aus den örtlichen Blutstockungen in den Unterleibsorganen eine Entartung des Blutes, ein sogen. Allgemeinleiden, hervor und dieses muß, da ja vom Blute die Ernährung und Thätigkeit aller Organe abhängig ist, die mannigfaltigsten Beschwerden hervorrufen, vorzugsweise aber in den Organen, welche reines gutes Blut am Nöthigsten haben, nämlich das Nerven- und Muskelsystem. Hiernach trennen wir denn auch die Krankheitserscheinungen, in Folge der Störungen im Pfortaderblutlaufe in örtliche und allgemeine. Was die ersteren betrifft, so eröffnen sie die Reihe der Krankheitserscheinungen, nehmen ihren Sitz im Unterleibe und bestehen in Empfindungen und Verdauungsstörungen der mannigfaltigsten Art und sind bei verschiedenen Menschen von so großer Verschiedenheit, daß eine ausführliche Aufzählung derselben fast unmöglich und auch ganz nutzlos wäre. Am Auffälligsten zeigt sich die Anhäufung des Blutes in den Blutadern des Mastdarmes und diese ist unter dem Namen Hämorrhoiden ganz allgemein bekannt, wie überhaupt die meisten aus der Störung des Pfortaderblutlaufes hervorgehenden Unterleibs- und Verdauungsleiden als Hämorrhoidalbeschwerden bezeichnet werden, mit welchem Worte sich aber leider auch die große Mehrzahl der Aerzte beruhigt und dann nicht weiter nach der Ursache dieses krankhaften Zustandes forscht. Und doch sind die Hämorrhoiden aus einer Menge sehr verschiedener Ursachen herzuleiten und verlangen deshalb oft auch eine ganz verschiedene Behandlung. Die sogenannten allgemeinen Krankheitserscheinungen, wenn nämlich die Pfortaderstockungen später eine Verderbniß des ganzen Blutes erzeugt haben, concentriren sich selten auf einen bestimmten Punkt, sondern bestehen in den mannigfaltigsten Störungen des Allgemeinbefindens und Allgemeingefühls, so wie der geistigen und Muskelthätigkeit, Unlust zum Arbeiten, Kraftlosigkeit, Willensschwäche, Mißmuth, Zanksucht und Herrschsucht, Aergerlichkeit, Traurigkeit, Hypochondrie, Melancholie, kurz Alles, was Jemanden für sich selbst und für Andere unangenehm machen kann, das findet seinen Grund in dieser pfortaderblutähnlichen Beschaffenheit der Gesammtblutmasse und in der falschen Ernährung des Gehirns und Nervensystems durch dasselbe. Es ist recht leicht, Einem, der sich unwohl fühlt und dem es bald hier bald dort fehlt, ohne daß er von einer bestimmten nachweisbaren Krankheit befallen ist, zu sagen: Du bist ein Hypochonder und mußt nur gesund sein wollen; allein ausführen läßt sich dies von Seiten eines solchen Patienten nicht so leicht, da sein Willensorgan, das Gehirn nämlich, nicht in der ganz richtigen Verfassung ist. Deshalb habe man Geduld mit dem sogen. Hypochondristen und suche dieselbe durch Beförderung des Pfortaderblutflusses von der Hypochondrie zu befreien. Am Besten ist es freilich, man läßt es gar nicht zu einem solchen krankhaften Zustande im Körper kommen, der uns die Lebensheiterkeit rauben und uns eklig machen kann. Dies ist aber gar nicht mit so großer Schwierigkeit verbunden. Also frisch an’s Werk, wenn Du ein ekliger Hypochondrist, lieber Leser, etwa bist. Nur laß Dir vorher noch etwas Weniges über die Entstehung der Pfortaderstockungen sagen.
Die Ursachen der Unterleibs- oder Pfortaderstockungen sind entweder solche, die nimmer mehr (trotz Carlsbad) zu entfernen sind, oder solche, die sich heben lassen. Die ersteren bestehen in organischen Unterleibs-, Leber-, Herz- oder Lungenleiden, welche auf ganz mechanische Weise eine Störung des Blutlaufes veranlassen; sie ziehen in der Regel Bauchwassersucht nach sich. Die letzteren, auf welche es in diesem Aufsatze abgesehen ist, begreifen alles Das in sich, was die Quelle des Pfortaderblutlaufes zu trüben und zu verstopfen vermag. Hierher gehört aber, wie schon angedeutet wurde: geschwächte Herzthätigkeit, kraftlose Gefäßwand, oberflächliches Athmen, schlaffe und unthätige Bauchmusculatur, Trägheit der Magen- oder Darmbewegung, Beengung des Unterleibes und abnorme Dickflüssigkeit des Pfortaderblutes. Das allzuwenige Trinken ist besoders bei den Frauen der Grund der Schwerflüssigkeit des Pfortaderblutes; auch tragen bei ihnen das Schnürleibchen und die Unterrocksbänder (s. Gartenl. Jahrg. I. S. 277 die verkrüppelte Frauenleber) viel zur Störung des Pfortaderblutlaufes bei. Am Gewöhnlichsten kommt aber die Beenung des Unterleibes durch anhaltendes Krummsitzen, überhaupt bei sitzender Lebensweise zu Stande, während die Schwäche in der Musculatur des Herzens, des Athmungsapparates, der Bauchwand und des Darmkanales ihr Entstehen verdanken: mangelhafter Körperbewegung, anstrengenden geistigen Arbeiten, niederdrückenden Gemüthseinflüssen, zu häufigem Genusse erhitzender und erregender Speisen und Getränke, geschlechtlichen Ausschweifungen, allzu reichlicher und zu stark nährender, schwerverdaulicher oder zu fettreicher Kost, dem Mißbrauche der Abführmittel und Klystiere. Gewöhnlich tragen mehrere dieser Ursachen zusammen die Schuld an den Unterleibsbeschwerden; vorzüglich ist es die sitzende Lebensweise bei geistiger Arbeit, bei mangelhafter Bewegung im Freien, bei nahrhaften Speisen und spirituösen Getränken, welchen der Hypochonder und Staatshämorrhoidarius ihre Existenz, die meisten Bäder ihre Gäste verdanken.
Vermieden und gehoben können aber die Unterleibsbeschwerden gar leicht dadurch werden, daß man den Pfortaderblutlauf in Ordnung hält oder bringt. Dies läßt sich aber dadurch ermöglichen, daß man die Kräfte, von denen der Blutlauf im Unterleibe und durch die Leber abhängig ist, gehörig unterstützt und bethätigt. Es waren diese aber, wie oben gesagt wurde: die Herzthätigkeit, die Athmungs-, Bauchwand- und Darmbewegungen, der passende Flüssigkeitsgrad des Pfortaderblutes und die unbehinderte Ausdehnung des Bauches. Und sonach würde gegen Unterleibsbeschwerden folgendes naturgemäße Recept zu verschreiben sein: zweckmäßige Bewegung und kräftiges Athmen, besonders im Freien, Mäßigkeit und Einfachheit im Essen und Trinken, reichlicher Genuß von Wasser, den Bauch nicht einengende Kleidung oder Sitzweise, und Vermeidung geistiger und geschlechtlicher Anstrengungen. In welcher Apotheke läßt sich dieses Recept aber am Besten machen? In Gottes schöner Naturapotheke! und darum nützen auch die Bäder so viel, nicht aber der paar Salze ihres Quellwassers wegen. Es ist deshalb Jedem, der nicht für gewöhnlich die angedeutete Lebensweise führen kann oder will, anzurathen, so oft als möglich auf einige Zeit seine Berufsgeschäfte zu verlassen und sich in einer schönen, gemüthlichen Gegend in irgend einem ihm zusagenden Bade, bei einfacher, nahrhafter Kost ordentlich mit Bewegungen, Athmen und Wassertrinken zu beschäftigen. Wem dies seine Mittel nicht erlauben, der erreicht zu Hause dasselbe Ziel, am Besten bei leicht verdaulicher reizloser Nahrung und erheiternder Umgebung, durch zweckmäßige Bewegungen (Turnen, Kegeln, Holzsägen, Gartenarbeiten u. dgl.), durch kräftiges Ein- und Ausathmen im Freien, reichliches Wasseertrinken (meinetwegen von kohlensaurem oder warmem Wasser), zeitweiliges Kneten, Drücken und Pochen des Bauches und durch Eröffnung des Leibes mittels einfacher Wasserklystiere bei Verstopfung. Der Arzt verordnet bei Unterleibsstockungen in der regel Abführmittel (besonders in Pillen) und Schwefel, auch empfielt er Carlsbad, Kissingen und Reiten, und schafft dadurch allerdings eine vorübergehende Erleichterung, nicht aber radicale Heilung. Am meisten ist vor der Kurirerei mit stark purgirenden (drastischen) Mitteln, wie sie besonders vom Herrn Sanitätsrathe Dr. Strahl in Berlin [211] (der, aller Wissenschaft zum Hohne, Kranke ohne sie gesehen zu haben behandelt) und mit den Morison’schen Pillen betrieben wird, zu warnen, denn diese bringt weit mehr Nachtheil wie Vortheil, insofern dabei Magen und Darmkanal geradezu maltraitirt werden. – Schließlich laß Dir, lieber Leser, nun noch gesagt sein: das meiste Unglück in der Welt stammt aus dem Unterleibe; wie manchmal schon haben sicherlich versetzte Blähungen und Leibesverstopfungen bei Hochgestellten den Grund großen Drangsales abgegeben. Also halte auf Ordnung im Unterleibe.
Zweiundzwanzigster Brief.
Auch die Natur hat ihren Fasching, und natürlich sind die Insekten die Faschingsnarren; die Insekten, an denen die Natur allen ihren Launen und Phantasien den freiesten Spielraum gegönnt hat; in denen sie ihren staunenerregenden Erfindungsgeist, ihren bewunderungswürdigen Geschmack wie ihre Caprice im Bilden des Häßlichsten und Bizarrsten erschöpfte.
Es sind außer den Insekten nur noch sehr wenige Thiergruppen, von denen man nicht sagen darf: wenn sie aus dem Ei geschlüpft oder als lebendige Junge geboren sind, so sind sie die mehr oder weniger ähnlichen kleinen Ebenbilder ihrer Aeltern. Der kleine Fisch, die junge Schlange, das Küchlein der Henne, das junge Säugethier, junge Krebse, Spinnen, Blutegel, Schnecken, Muscheln – alle gleichen im Wesentlichen ihrer Form und Theile ihren Aeltern.
Welcherlei Aehnlichkeit besteht aber zwischen der Raupe und dem Schmetterlinge – dem Engerlinge und dem Maikäfer – der Käsemade und der zierlichen daraus werdenden Fliege? Das sind doch in Wahrheit echte Verlarvungen! Und wenn wir dahinter die wahre Person erkennen, wenn wir in der schönen, mit dem rothen schwarzspitzigen Horne auf dem letzten Leibesringel versehenen Raupe den noch schöneren Wolfsmilchschwärmer erkennen, so wissen wir es blos, weil wir als Knaben es gesehen haben, wie sich dieselbe demaskirte.
Sieht auch das kleine struppige Ding, die junge Taube, mit dem wolligen Flaum und den federlosen Flügeln seiner schlanken, kühnbeschwingten Mutter sehr wenig gleich, so findet doch, bis dies der Fall ist, nur eine ununterbrochene Reihe sehr allmäliger Umänderungen statt, in welchen kein plötzlicher Uebergang, kein Sprung von einer Form zur andern vorkommt.
Bei den Insekten werden wir diesen Sprung im Puppenzustande kennen lernen, oder Du kennst ihn vielmehr schon längst; wenn Du auch vielleicht noch nicht darüber nachgedacht haben solltest, welch ein gewaltiger Sprung es eben ist.
Ich habe Dir schon früher gesagt, daß nicht alle Insekten eine Verwandlung haben, was ungefähr eben so viel heißt, als daß nicht alle Insekten als Larven der Gestalt nach von ihrem vollkommenen Zustande ganz verschieden sind. Bei den Insekten ohne Verwandlung, beruht der Unterschied der Larve von der Fliege – Fliegen nennt man nämlich alle Insekten in ihrem vollkommenen Zustande gegenüber ihren Larven und Puppen, weil bei weitem die meisten Insekten im Fliegenzustande fliegen können – oft blos in dem Mangel der Flügel, abgesehen von ihrer geringeren Größe. Solche verwandlungslose Insekten sind die Ordnungen der Heuschrecken und Wanzen ohne Ausnahme und die der Libellen mit einigen Ausnahmen. Du erkennst in Fig. 9 leicht eine flügellose Heuschrecke, eine Larve. Fig. 10 ist eine Libellenlarve, welche eine höchst sonderbare versteckte Waffe hat, die wir in meinem folgenden Briefe kennen lernen werden, wo wir ihre Puppe sehen, welche die Waffe noch hat.
Ehe ich Dir von den übrigen Figuren meiner heutigen Zeichnung Einiges erzähle, welche sämmtlich Larven von solchen Insekten darstellen, welche eine Verwandlung haben, muß ich einige Worte über den Larvenzustand im Allgemeinen vorausschicken.
Er ist durchaus ein Vorbereitungszustand, in welchem die Ernährung alle übrigen Lebensthätigkeiten so sehr überwiegt, daß man ihn geradezu einen Ernährungszustand nennen könnte. Viele Larven, namentlich die der sich verwandelnden Insekten, nehmen eine unglaublich große Menge Nahrung zu sich; manche fressen täglich das Zwanzig-, ja das Hundertfache ihres Körpergewichts. Darum werden uns auch die meisten schädlichen Insekten vorzugsweise als Larven schädlich. Meist haben sie auch demgemäß ein reißend schnelles Wachsthum; in wenig mehr als drei Wochen wächst die Seidenraupe wohl um das Hundertfache ihres Umfanges und Gewichts. Indem ihre Haut nicht gleichen Schrittes mitwächst, kann man fast alles Ernstes sagen, daß ihnen ihre Haut zu enge wie dem wachsenden Knaben sein Röckchen zu klein wird. Die alte Haut platzt dann und wird abgestreift. Solcher Häutungen finden sich bei den verschiedenen Insektenlarven regelmäßig bald mehr, bald wenigere, und zwar bis zehn.
Keine geringe Sonderbarkeit der Insektenlarven, und zwar der Insekten mit und ohne Verwandlung, ist es, daß sie stets geschlechtslos sind. Nur zuweilen kann man durch die Größe, nicht aber durch die ihnen eben noch mangelnden Fortpflanzungsorgane, das Geschlecht unterscheiden. Du kannst es keiner Raupe ansehen, ob daraus ein weiblicher oder ein männlicher Schmetterling werden wird.
Im August findet man zuweilen in Schonungen die Birkenbüsche an der Spitze entlaubt und wenn man hinzutritt, sieht man eben nur blattlose Zweige. Sieh aber nur näher hin und betrachte Dir die kurzen Aestchen genauer. Es sind die Raupen des Birkenspanners, Geometria betularia. Als sie das Geräusch Deiner Tritte vernahmen, streckten sie sich alle steif vom Zweige ab, indem sie nur mit den hintersten zwei Afterfußpaaren, deren sie überhaupt stets nur zwei Paare haben, sich fest klammerten. Fig. 1 stellt eine solche Raupe dar, welche sich geschwind in ein steifes knotiges Aestchen metamorphosirt hat, um ihre Verfolger zu täuschen. Ihre Farbe, der der Rinde der Zweige gleich, und einige Knötchen auf ihrem Leibe kommen ihr dabei trefflich zu statten.
[212] Fig. 2 ist eine Afterraupe. So nennt man wegen ihrer Aehnlichkeit mit den wahren Raupen, den Larven der Schmetterlinge, die Larven der sogenannten Blattwespen, Tenthredo, welche eine große Abtheilung der wespenartigen Insekten oder Hymenopteren bilden. Viele davon werden uns schädlich. Die Afterraupen haben außer den drei Paaren der gegliederten eigentlichen Insektenfüße noch acht Paare häutiger Larven- oder Afterfüße, während die echten Raupen, deren nie mehr als höchstens fünf Paare haben. Daran kann man trotz der zuweilen sehr großen Aehnlichkeit die Afterraupen stets sicher von den Schmetterlingsraupen unterscheiden. Viele leben gesellig, z. B. die so schädliche Kiefer-Afterraupe. Wenn man eine Gesellschaft dieser stört, so nehmen sie alle eine drohende Stellung an und treiben einen dunkelgrünen Saft aus dem Maule.
Linné sagte, die Nachkommen Einer Fleischfliege würden schneller ein Pferd aufzehren, als ein Löwe. Fig. 3 stellt uns eine ausgewachsene, nur wenig vergrößerte Larve dieses allem Fleische nachstellenden Thieres vor. Die Wissenschaft nennt wie die Volkssprache wurmförmige, fußlose Insektenlarven Maden. Du erkennst also auch in Fig. 4 eine Made. Es ist die Larve der Biene, welche noch keine Ahnung von dem Fleiße und der Geschicklichkeit hat, welche ihr im Fliegenzustande eigen sein wird, vorausgesetzt, daß es eine Arbeiterlarve ist; denn bekanntlich arbeiten die Weisel und Drohnen (Männchen) nicht.
Wenn die Saatraben in ihrer schwarzen Robe gravitätisch hinter dem Ackersmann in der frisch gezogenen Furche einherstolziren, so suchen sie nicht sowohl Körner als vielmehr die Larven der Maikäfer, die Engerlinge, und andere Insektenlarven auf. Fig. 5 ist dieser bekannte Erbfeind der Landwirthe, der Engerling oder die Ackermade, aus welchem der Maikäfer wird, nachdem er diese unterirdische Maskerade fast volle vier Jahre gespielt hatte. Am großen plumpen Leibe sehen wir nur die drei Insektenfußpaare, welche nicht ausreichen, demselben das Gehen zu ermöglichen. Daher liegt der Engerling, aus seinem Versteck gezogen, hülflos und gekrümmt auf der Seite.
Die Fische im Wasser sind vor den Insekten so wenig sicher, wie die Wurzel im Erdboden. Du siehst an der Fig. 6 abgebildeten Larve eines großen stahlgrünen Wasserkäfers, eines Dytiscus, daß sie große sichelförmige Beißzangen hat, mit denen diese, immer im Wasser umherschweifende, Larve kleine Fischchen und andere Wasserthiere fängt und dann mit nimmer befriedigter Gefräßigkeit verzehrt. Die beiden federförmigen Anhängsel am Ende des Hinterleibes dienen ihr beim Athmen. Ist sie dann zum Käfer geworden, so setzt dieser zwar die Lebensgewohnheiten der Larve fort; aber Nachts verläßt er die Gesellschaft der Fische und mischt sich in die Schwärme der Fledermäuse und Eulen.
Figur 7 möge Dich daran erinnern, nun nach überstandenem Winter Deinen Pelz vor den Motten in Sicherheit zu bringen. Du siehst ein Räupchen und daneben einige Hüllen, die sie sich aus Haaren und Wolle weben und immer mit sich herumschleppen. Daß ein Schmetterling, freilich ein sehr kleiner, daraus wird, ist Dir bekannt. Da man ihn gleichwohl selten zu Gesicht bekommt, so will ich Dir ihn auf dem Bilde zu meinem Briefe über den Fliegenzustand darstellen.
Wenn Du im hohen Sommer in Bächen und Teichen Dich umsehen willst, so findest Du auf dem Grunde derselben ein Völkchen fleißiger und erfinderischer Arbeiter, deren einen Dir Fig. 8 zeigt. Es sind die Köcherjungfern, Phryganes, so genannt, weil sie in die Ordnung der Seejungfern oder Neuropteren gehören und sich als Larven ein köcherartiges Gehäuse bauen, was sie immer mit sich herumschleppen. Mit Seidenfäden spinnen sie Steinchen, Holzstückchen, Blattabschnitzel, Sandkörner, kleine Schneckenschaalen kunstvoll zu einer Röhre zusammen, die sie innen noch mit weicher Seide austapeziren. Dabei wählen sie aber ihren Stoff nicht willkürlich, sondern jede Art verwendet dazu immer eine bestimmte Art von Baumaterial; so daß man schon nach der Art desselben und nach der Form des Köchers auf die Art der Phryganea schließen kann. Eine derselben kann man die Erfinderin des Steuerruders nennen, indem sie am Ende ihres breiten, einem Floß ähnlichen Gehäuses immer eine Kiefernnadel anheftet.
Die Fig. 9 und 10 dargestellten Larven kennen wir schon. Auch in Fig. 11 erkennst Du eine bekannte Raupe, die des Baumweißlings, Pontia Crataegi, welche uns in unsern Obstgärten gar großen Schaden thut. Beachte, daß sie sich hinter dem vierten Leibesringel durch einen feinen, aber festen Seidengurt an dem Zweige festgebunden hat. In meinem folgenden Briefe sollst Du erfahren, wozu sie dies gethan hat.
Die ältesten, und wenn man daher will, die rechtmäßigsten Beherrscher Sumatra’s sind die Elephanten, und neben ihnen die Tiger und Büffel. Sie auszurotten, ist den Menschen trotz der seit Jahrtausenden geführten Kämpfe nicht gelungen und wird auch nicht gelingen, denn Sumatra, das an Flächenraum Ungarn und Siebenbürgen zusammengenommen übertrifft, bildet nur wenige Meilen von den Küsten weg durch das ganze Innere einen großen zusammenhängenden Wald, der tiefer und tiefer hinein zuletzt zum undurchdringlichen Urwalde wird. Die Küsten und hügeligen Ebenen, wo unter Palmen, Teak- und Machinellbäumen Alles in tropischer Ueppigkeit prangt, wo die zauberhaft gewobenen Blumen, darunter die Rafflesia. deren Blüthenkrone drei Fuß im Durchmesser mißt, durch Farbe und Duft alle Sinne berauschen, – diese Küsten und Ebenen gehören den Menschen; den oben bezeichneten ältesten Herrschern Sumatra’s aber der Wald im Innern.
Man spricht und erzählt in Sumatra so viel von den Elephanten, daß ich gleich die erste mir gebotene Gelegenheit ergriff, um einer Elephantenjagd beizuwohnen. Wir waren ein halbes Dutzend Europäer, die sich einigen eingebornen Häuptlingen vom Stamme der Lampuhns anschlossen, während eine ziemlich beträchtliche Anzahl von Leuten derselben, mit Waffen und Munition beladen, uns begleiteten. An einer tüchtigen Meute ungeduldiger Jagdhunde fehlte es ebenso wenig.
Als Sammelplatz wurde ein Punkt jenseits eines großen, uns von dem Walde trennenden Sees bestimmt, wo, wie unsere braunen Freunde versicherten, die Elephanten gern zu verweilen pflegten. Wir brachen also am frühen Morgen auf und ruderten frisch über den See weg. Das Wetter war prachtvoll, der See glühte wie ein Lichtmeer und von den Ufern her trugen die Lüfte berauschende Wohlgerüche zu uns.
Am jenseitigen Ufer angelangt, zogen wir unsere Barken an den Strand, und begaben uns dem Orte zu, wo die Elephanten sich aufhalten sollten. Wir drangen kühn vorwärts, bis bald darauf die ersten Spuren der riesigen Thiere eine wahrhaft elektrische Wirkung hervorbrachten. Mehr als einer der Jäger erbebte, obwohl Alle hinter Verhauen und Bäumen sicher Posto fassen und sich zum Kampfe vorbereiten konnten. Flinten und Büchsen wurden noch einmal untersucht, die Jagdmesser bereit gehalten und durch das dunkle Grün des Laubes blitzten die glänzenden Wurfspieße der Lampuhns. Die Aufregung war allgemein, und theilte sich ebenso sehr unsern Hunden als uns selbst mit.
Kaum hatten wir einige Indianer weiter vorausgeschickt, als sich plötzlich ein furchtbares Geheul, ein Heulen und Brüllen durcheinander, vom Dickicht des Waldes her vernehmen ließ, daß es uns eiskalt überlief. Es unterlag keinem Zweifel, daß eine Heerde Elephanten sich uns näherte.
Ein panischer Schrecken verbreitete sich im ersten Augenblick. Der Gedanke, den man sich nicht ohne Grund von der außerordentlichen Stärke dieser Thiere macht, welche nur zu wollen brauchen, um jedes Hinderniß auf ihrem Wege über den Haufen zu stürzen, ermuthigt den Menschen wenig, festen Fußes die Gefahr zu erwarten. So ging es auch hier, der Schreck war so groß, daß fast Jeder auf seine Rettung sann. Vergeblich sprachen die an Dergleichen gewöhntern Häuptlinge Muth ein, die Verwirrung steigerte sich nur und die Mehrzahl der Indianer flüchtete den Ufern [213] des Sees zu; andere kletterten auf Bäume und schrieen und jammerten dazu, als ob ihre letzte Stunde gekommen wäre.
Das Schauspiel dieser unsinnigen und an’s Lächerliche streifenden Furcht gab mir und meinen europäischen Freunden unsern im Anfang selbst erschütterten Muth wieder, so daß wir auf unsern Posten kaltblütig zurückkehrten. Was die indianischen Häuptlinge und eine kleine Zahl ihrer Leute anbelangte, die mit der Elephantenjagd vertraut waren, so erwarteten sie den Feind mit unerschütterlicher Ruhe.
Plötzlich brachen etwa dreißig Elephanten, in engen Reihen majestätisch anzuschauen, aus dem Walde hervor. Der Anblick war wahrhaft Schrecken erregend; sie kamen mit hocherhobenem Rüssel drohend daher, ihre langen Ohren schlugen gewaltig an ihre Schläfe, unter ihren Tritten zitterte die Erde und ihr Athemzug hätte einen Mann zu Boden werfen können.
Der Augenblick war kritisch, und es galt, keine Minute zu verlieren, wenn wir nicht selbst verloren sein wollten. Als sie daher bis auf vier oder fünf Schritte dem Gehölz, das uns ihren Blicken entzog, nahe gekommen waren, empfingen wir sie mit einem tüchtigen Büchsenfeuer, wozu wir zinnerne und kupferne Kugeln verwendeten, denn bleierne würden sich auf der harten Haut der Elephanten nur breit gedrückt haben, und hätten diese Thiere um so mehr aufgebracht, ohne uns die Aussicht zu lassen, auch nur eins davon zu tödten. „Auf die Ohren gezielt! Auf die Ohren!“ klang es von allen Seiten, und schnell ladeten wir wieder, um unsere Schüsse, die anfangs mehr Lärm gemacht als Schaden angerichtet hatten, auf diesen empfindlichen Körpertheil der Elephanten zu richten.
Die von Schrecken ergriffenen Ungeheuer wichen indeß nach dem Walde zurück, allein die einmal losgelassenen bellenden Hunde standen nicht mehr ab und zwangen sie fast sofort zur Umkehr. Die Zahl der Elephanten belief sich jetzt etwa auf sechzig, da ein großer Theil der Thiere beim ersten Angriff nicht gleich mit aus dem Walde hervorgekommen war.
Wir hatten mittlerweile Zeit gehabt, unsere Flinten und Büchsen von Neuem zu laden, und gefaßter als vorher, wie Soldaten, die das erste Feuer ausgehalten haben, empfingen wir den Feind noch nachdrücklicher als das vorhergehende Mal. Die Elephanten stoben hierauf, ebenso sehr von Schreck als von Wuth erfaßt, auseinander, wobei sie auf ihrem Wege Alles niederbrachen und in ein die Luft erschütterndes Gebrüll ausbrachen. Die Mehrzahl von ihnen maß zwölf bis dreizehn Fuß Höhe, und bei so gewaltiger Körperbeschaffenheit wunderten wir uns nicht wenig über ihre Abneigung, den Kampf mit uns aufzunehmen.
Ein Indianer belehrte uns, daß wir es mit lauter weiblichen Elephanten zu thun hätten; kaum aber hatte er ausgesprochen, als ein riesiges Thier, größer noch als die andern, voller Wuth auf uns losging und die Niederlage seiner Gefährten rächen zu wollen schien.
„Ein Männchen! Ein Männchen!“ riefen unsere indianischen Anführer, und schneller als diese Worte gesprochen, knallte es auch zugleich aus zwanzig Gewehren, und tödtlich getroffen stürzte das kolossale Thier, nachdem es noch einige Schritte schwankend gethan, zu Boden, so daß alle Bäume ringsum wankten.
Mehrere der Elephanten lagen bereits leblos da; einige, schwer verwundet, taumelten umher und hielten sich nur aufrecht, indem sie sich an andere anlehnten, die noch nicht von unsern Schüssen getroffen worden und ihre Kameraden brüderlich unterstützten. Die Bestürzung unter diesen großen Thieren war grenzenlos, und rührend sah es sich an, wie sie einander beizustehen suchten. Zu einer wahrhaft ergreifenden Scene gab ein junger Elephant Anlaß, der, mehrfach getroffen, sich nur mit Hülfe seiner Mutter auf den Beinen erhielt; endlich sank er unter dem fortgesetzten Feuer unserer Jäger zusammen, die arme Mutter aber wich nicht von der Stelle, stieß ein Angst und Wuth athmendes Geschrei aus und wollte den Körper ihres Kindes schützen, bis sie ihre mütterliche Zärtlichkeit mit dem Verlust des eigenen Lebens büßen mußte.
Der Kampf, wenn man es so nennen kann, da die Elephanten eigentlich keinen Widerstand geleistet hatten, war beendigt, kein Feind stand uns gegenüber, nur Leichen bedeckten den Grund; auf die überstandene Angst folgte nun der Jubel, und die Indianer begannen die Elephanten ihrer mächtigen Kinnbackenzähne zu berauben, welche bekanntlich unter dem Namen Elfenbein einen sehr geschätzten Handelsartikel bilden.
Bevor wir uns von unsern indianischen Jagdgenossen, bei denen wir keine Unehre eingelegt hatten, trennten, wurden wir von ihnen, die uns ihre Achtung bezeugen wollten, für den folgenden Tag zu einem Büffel- und Tigerkampf eingeladen, welche Einladung, zumal von meiner Seite, mit großer Freude angenommen wurde.
Wir fanden uns demgemäß am nächsten Tage auf dem angegebenen Platze ein, wo der zum Kampf bestimmte Raum durch einen festen Verschlag von Bambusrohr abgegrenzt war. In einer anstoßenden Umzäunung befand sich ein prachtvoller schwarzer Büffel, der seine mächtigen Hörner, die ihm an den Enden zugespitzt worden waren, voller Stolz hoch emportrug. Ein anderes getheiltes Behälter schloß zwei Tiger ein, deren prächtig glänzendes Zebrafell ihren königlichen Ursprung verrieth.
Auf ein Zeichen des ältesten Häuptlings wurde der kleinere der beiden Tiger losgelassen, während zugleich der Büffel in die Schranken trat. Im Nu stürzte der Tiger auf den Büffel los, allein dieser gab seine Seiten nicht bloß, sondern wendete sich mit einer Leichtigkeit, die bei seinem plumpen Aussehen Wunder nehmen mußte. Sein ungestümer Gegner fiel gerade auf die gespitzten Hörner los, bei deren Berührung er ein furchtbares Geheul ausstieß; der Schmerz steigerte jedoch nur seine Wuth, und seine Tatzen und Zähne knirschend in den Kopf des Büffels einschlagend, blieb er einen Augenblick so hängen, bis ihn der Büffel unter verzweifelter Anstrengung nach den Stämmen des Verhaues hinzog und ihn so mächtig dawider stieß, daß alle Rippen im Leibe krachten.
Beide Thiere trugen die entsetzlichen Spuren dieses erbitterten Kampfes. Oberhalb der Schnauze des Büffels bemerkte man eine breite Wunde, aus welcher das Blut in Strömen floß; seine Nüstern klafften weit offen und seine stieren Augen bekundeten die vollständigste Erschöpfung. Gleichwohl brauchte er nur kurze Zeit, um sich zu erholen, und bald schritt das muthige Thier wieder stolz mit funkelnden Augen einher, als fordere es seinen Gegner, der halb todt in einem Winkel lag und mit weit geöffnetem Rachen nach Luft schnappte, zu neuem Kampfe auf.
Doch siehe da, schon hat sich plötzlich ein neuer Kämpfer gefunden; der zweite Tiger, noch größer und kräftiger als der vorige, springt hervor und stürzt mit Blitzesschnelle auf den Büffel. Die einen Augenblick lang geschwächte Aufmerksamkeit der Zuschauer wird bei diesem Anblick auf den höchsten Grad gespannt: welcher der beiden Gegner wohl siegen wird?! Ob dieser, der noch bei vollen Kräften ist, ob jener, der schon einen mörderischen Kampf bestanden?!
Die Antwort erfolgte bald. Der Büffel, seiner Kampfweise getreu, empfing den frischen Angreifer ebenfalls mit der Spitze seiner Hörner; der Widerstand des Tigers war vergeblich, ein gleiches Schicksal wie seinen Kameraden traf ihn, zornschnaubend stieß ihn der Büffel zu wiederholten Malen gegen den Verhau, und unter den wüthenden Tritten des Siegers schien das besiegte Thier das Leben aushauchen zu müssen. Der Triumph des Büffels war vollständig; die beiden Tiger lagen halb leblos am Boden, der Sieger aber warf einen stolzen Blick auf sie, in welchem jedoch nichts Drohendes mehr lag, denn mit der Bewältigung seiner furchtbaren Gegner hatte sich auch seine Wuth gelegt.
Der Kampf ist zu Ende oder sollte eigentlich zu Ende sein, allein die grausame Lust der Indianer ist noch nicht befriedigt, und hat Mittel gefunden, den Kampf auf’s Neue zu entzünden. Der Büffel wird durch Stiche mit spitzigen Eisenstäben gereizt, seine frischen Wunden werden mit spanischem Pfeffer bestreut, das gereizte Thier geräth in entsetzliche Wuth, … und das ist’s, was die Zuschauer wollen.
Es genügt indeß nicht, den Zorn des Büffels zu erregen, man muß auch seine, auf dem Boden ächzenden Opfer wieder beleben, muß ihnen mit dem Leben zugleich die frühere Kampflust wieder einhauchen. … Man wirft Stroh auf sie und zündet dieses an; sofort richten sich die Tiger unter markerschütterndem Gebrüll empor. Mit weit ausgeholtem Sprunge fällt der eine den Büffel an, wieder beginnt der Kampf, mehr oder weniger sich stets ähnlich, und ein Tiger ersetzt immer den andern, je nachdem die Kräfte des einen abnehmen.
[214] Diesen blutige Schauspiel fand beim Klange einer Art Cymbeln statt, und dauerte so lange, bis der älteste Häuptling das Zeichen zum Schlusse gab. Die besiegten, und über ihre Niederlage wie beschämten Tieger, wurden in ihre Behälter zurückgebracht, um, wenn sie leben blieben, zu neuen Kämpfen verwendet zu werden.
Ich meines Theils hatte für immer an einem Schauspiele genug, das für europäische Nerven doch etwas zu stark ist, und nahm während meines Aufenthaltes auf Sumatra keine ähnliche Einladung mehr an.
Deutsche Colonie in Mexiko. Die Regierung der Republik Mexiko hat so eben den Beschluß gefaßt, die Niederlassung deutscher Colonisten auf vielfache Weise zu erleichtern und zu begünstigen, und es läßt sich nicht bezweifeln, daß die Auswanderung dahin in diesem und den nächsten Jahren massenhaft sein wird, denn wenn auch die im Innern der Republik noch immer herrschenden Kämpfe gegen die Obergewalt des Präsidenten Santa Anna Manchen abschrecken dürften, so sind doch auf der andern Seite die Anerbietungen und Versprechungen, welche die Regierung den Auswanderern macht, so lockend, daß gewiß Viele sich dadurch bewegen lassen werden, in dem, von der Natur zumal in vielen Theilen so reich, so paradiesisch begabten Lande ein neues Vaterland zu suchen. In der Erwartung, daß die Regierung den ihr eingereichten Plan bewilligen würde, ist für die Ausführung der Colonisation seit dem Ende des vorigen Jahres gewirkt worden, und obgleich dies natürlich nur im Stillen mit gänzlicher Ausschließung der Oeffentlichkeit geschehen konnte, wissen wir mit Gewißheit, daß bereits über 3000 Anmeldungen eingegangen sind. Dies ist auch gar nicht zu verwundern, da selbst vollkommen Unbemittelten durch die bewilligten Begünstigungen gleich für den Augenblick ein eigener Heerd geboten wird, und daneben die Möglichkeit, ja sogar die größte Wahrscheinlichkeit, binnen wenigen Jahren einen behaglichen Wohlstand zu erwerben, denn es ist dazu durchaus weiter nichts erforderlich, als Fleiß und Arbeitsamkeit. Haben sich also schon jetzt eine solche Menge Auswanderungslustiger gemeldet, so ist mit Gewißheit zu erwarten, daß die Zahl sehr bedeutend steigen wird, sobald die gebotenen Vortheile offiziell in die Oeffentlichkeit dringen. Noch ungleich massenhafter aber würde unbedingt die Zuströmung sein, wenn der in dem Plane aufgestellte Punkt der Religionsfreiheit bewilligt worden wäre. Leider ist dies aber nicht der Fall, sondern die Bedingung gestellt, daß die Colonisten der römisch-katholischen Kirche angehören müßten, und ist dies bei einer jungen, nach Freiheit strebenden Republik um so bedauerlicher, als sich gewiß nicht bezweifeln läßt, daß dadurch mancher Protestant zun Uebertritt bewogen werden wird; denn es ist allerdings zu lockend für einen jungen Menschen, der diesseits des Meeres nichts sein eigen nennt, jenseit des Oceans als Lohn für die Veränderung seinen Glaubens, sofort einen eigenen Hausstand zu bekommen, ein nicht unbedeutendes Stück Land, Baumaterialien, Handwerkszeug und sogar Vieh zur ersten Einrichtung, und sicher wird die katholische Geistlichkeit nicht verfehlen, sich dieses willkommenen Mittels zu bedienen, um Hunderte zum Uebertritt zu bewegen.
Die wesentlichsten Bestimmungen den Regierungsdecretes, das bis zu diesem Augenblicke in Deutschland wahrscheinlich nicht veröffentlicht ist, das wir aber in dem offiziellen Original der deutschen Uebersetzung einzusehen Gelegenheit hatten, sind die folgenden: Ertheilung von Land für die sämmtlichen Auswanderer, in größerer Masse für die, welche die Kosten der Ueberfahrt und Einrichtung selbst bestreiten, in geringerer für Andere, welche unbedingte oder theilweise Unterstützung von der Regierung verlangen; – Abzahlung der empfangenen Vorschüsse in mäßigen Terminen während des Zeitraumes von zwei bis fünf Jahren; – Erwerbung aller Unterthanenrechte, ganz den Eingeborenen gleich, sobald sie den Boden der Republik betreten; – für zehn Jahr Befreiung von allen Abgaben, sowie von der Verpflichtung zum Militärdienst, außer gegen einen auswärtigen Feind; freie Wahl des Ortes zu ihrer Niederlassung. – Die Bedingungen, welche die Regierung dagegen stellt, sind: 1) Das römisch-katholische Glaubensbekenntniß; 2) Kräftige Körperconstitution; 3) ein Alter von nicht über vierzig Jahren (dies jedoch nicht unbedingt, sondern nur als besonders wünschenswerth) – daneben möchte man für diese Colonisation, wenigstens für den ersten Anfang, hauptsächlich Ackerbauer und Handwerker gewinnen; indeß wird Jeder, der seine Niederlassung aus eigenen Mitteln bestreitet, der Regierung gewiß sehr willkommen sein. Die meisten Anmeldungen sind bis jetzt aus Böhmen eingegangen; dann folgen Würtemberg und Baiern, und endlich Ostpreußen.
Ohne Zweifel werden die offiziellen Bekanntmachungen nicht lange auf sich warten lassen; so viel können wir indeß schon jetzt sagen, daß die Anmeldungen bei dem Generalconsulat Mexikos in Berlin und bei dem Viceconsulate in Leipzig zu machen und bei denselben nähere Instructionen einzuholen sein werden.
Friedrich Schneider und die Sängerin. Als der unlängst verstorbene Kapellmeister Schneider in Dessau, der rühmlichst bekannte Componist des „Weltgerichts“, auch Musikdirektor des Stadttheaters in Leipzig war, wurde in einer Probe die erste Sängerin von der epidemischen Krankheit der „Künstlerlaune“ befallen, und sagte, als die Stelle an eine ihrer Arien kam, vornehm und befehlend: „Die lasse ich weg; die liegt mir zu hoch!“ – Schneider, dessen derbes Wesen hinlänglich bekannt ist, entgegnete ruhig: „Sie liegt Ihnen nicht zu hoch. und Sie werden sie singen!“ – „Ich werde sie nicht singen und Sie können mich nicht zwingen!“ rief die Dame gereizt. – „Da haben Sie recht,“ sagte Schneider mit „kannibalischer“ Ruhe; „ich kann Sie nicht zwingen, die Arie zu singen, aber Sie können mich und das Orchester eben so wenig zwingen, sie nicht zu spielen, und ich gebe Ihnen das Wort, die Arie wird gespielt, mit dem Singen können Sie es dann nach Belieben halten.“ – Die Dame ließ es darauf ankommen und probirte die Arie nicht, wenigstens nicht in der Probe, wahrscheinlich aber desto fleißiger zu Hause; denn als die Aufführung der Oper erfolgte und das Orchester die Introduktion der Arie spielte, trat die Sängerin, welche der Situation nach die Scene nicht verlassen konnte, unter sichtlichem Zeichen der Aufregung vor, sang die Arie mit mehr Gefühl und Leidenschaft, als es ohne den verbissenen Aerger der Fall gewesen sein würde, und erntete den reichlichsten Applaus. – In dem gleich darauf folgenden Zwischenakt trat Schneider zu der einherstolzirenden Sängerin und sagte mit ironischer Betonung: „Nun, wer hatte Recht? Können Sie die Arie singen oder nicht?“
R. O. Spazier, in der literarischen Welt früher oft und mehrfach nicht unrühmlich genannt, ist, von körperlichen Leiden schwer heimgesucht, der früheren schriftstellerischen Thätigkeit wahrscheinlich für immer entrissen worden, indem er ganz kürzlich in das Land-Versorgungshaus zu Hubertusburg aufgenommen wurde, nachdem er einige Zeit vorher in dem Georgenhause zu Leipzig untergebracht war. Nervenzufälle hatten ihn schon früher des ganz ungehinderten Gebrauches seiner Füße beraubt, und das Uebel war so sehr gewachsen, daß er sich zuletzt nicht mehr ohne einen Führer bewegen konnte.
Liebhabereien großer Männer. En ist nicht ohne Interesse, zu sehen, auf welche verschiedene Weise große Männer in einzelnen Schwächen und persönlichen Liebhabereien mit den übrigen Sterblichen zusammenhingen. Wer sollte es wohl glauben, daß der ernste Philosoph des alten Griechenlands Vergnügen daran fand, so oft als möglich zu tanzen, obgleich ihn dann seine Frau Xanthippe jedesmal mit einem ganz extraordinären Donnerwetter empfing? Ja, Sokrates war ein leidenschaftlicher Tänzer. Die Zahl der Musikliebhaber unter großen Männern ist sehr groß. Der berühmte Epaminondas sang auf Dörfern und zu festlichen Gelegenheiten. Der gräßliche Nero spielte Harfe, während Rom auf sein Geheiß brannte, um zu sagen, die damaligen Demokraten, die Christen, hätten es angesteckt. Luther und Friedrich der Große spielten sehr oft Flöte, um aufgeregte Stimmungen „flöten gehen“ zu lassen. Milton, der Sänger des verlornen Paradieses, war ein leidenschaftlicher Orgelspieler und componirte mehrere Psalmen, die jetzt noch in englischen Kirchen gesungen werden. Bentham hatte das ganze Haus voll Orgeln und Fortepiano’s. Gainsborough der Maler war Virtuose auf der Violine. Die leidenschaftliche Blumenliebhaberei Byron’s ist sprüchwörtlich geworden. Auch liebte er manche Thiere ganz besonders und machte einmal einen Bär zu seinem Busenfreunde. Goethe hielt sich im Ofenwinkel kleine Schlangen, die er in Mußestunden hätschelte wie Goldkinderchen. Der römische Kaiser Tiberius hielt sich ebenfalls lange ein solch ekelhaftes Thier als Busenfreund. (Unschmeichelhafte Collegialität für Goethe.) Der große Kaiser Augustus hatte zu seinem intimsten Vertrauten einen gemeinen Spatz vom Dache, dessen Tod er jämmerlicher beweinte, als die Legionen, die er gegen Deutsche unter Varus verlor. Honorius, unter dessen Regierung Alarich Rom eroberte, klagte so bitterlich über den Verlust seiner Lieblingshenne, daß er den Verlust Roms ganz darüber vergaß. Ludwig XI., der große fromme Tyrann und Heuchler, der einst über Frankreich herrschte, fand auf seinem Krankenlager blos noch Vergnügen an dem Tanze aufgeputzter und für ihn speciell dressirter Schweine. Papst Alexander VI., einer der ekelhaftesten Charaktere, hielt sich vor seinem Fenster stets Heerden von Pferden und Kühen, um deren Begattungsakte als Reizmittel für sich wirken zu lassen.
Als einen der liebenswürdigsten Liebhaber von allerlei zahmen Geflügel wird uns Jean Paul geschildert. In seiner Arbeitsstube amüsirten sich stets eine Menge Tauben, Hühner und Sperlinge, bei deren Unhöflichkeiten er über Unsterblichkeit schrieb. Ein auch nicht unberühmter Deutscher, der immer etwas zu trinken bei sich führte, meinte, es käme ihm gar nicht so sehr auf’s Trinken an, er trinke blos, weil er das „Kluckern“ aus der enghalsigen Flasche so gerne höre.
Kunst und Natur. Wir schreiben jetzt mit dem Blitz und zeichnen mit der Sonne. So hat die Macht der Naturwissenschaft die Elementarkräfte dem Gedanken und der Kunst vermählt. Als eine neue bedeutende Erscheinung dieser Wirkung begrüßen wir die so eben veröffentlichte erste Serie von dreizehn photographischen Blättern nach berühmten Gemälden der Dresdner Gallerie, in der photographischen Anstalt von Friedrich August Schwedler in Dresden erschienen. Sie bilden den ersten glänzenden Anfang des großartigen Unternehmens: durch „den Diebstahl der Natur“ nach und nach alle berühmten Bilder jener berühmten Gallerie allgemein zugänglich zu machen, und ist es nicht allein diese schöne Idee und ihre nach dem Vorliegenden meisterhafte, wahrhaft künstlerische Ausführung, sondern auch die leichte, angenehme Form und der billige Preis der einzelnen Blätter, die diesen reichen Zweck jedenfalls auch erreichen lassen wird.
- ↑ Da ein großer Theil der Französisch-Algierischen Armee nach dem Orient eingeschifft ist, so dürfte die Art und Weise, wie diese Soldaten an den Krieg gewöhnt werden, unsere Leser wohl interessiren. Herr v. Wickede, der bekannte Verfasser militärisch-wichtiger Schriften, war selbst längere Zeit in Algier und kennt also die Armee und die dortige Kriegsführung aus eigener Anschauung. Die Redaktion.