Die Gartenlaube (1854)/Heft 17

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 17. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Die Candidaten-Braut.
Von Amely Boelte.
(Fortsetzung.)

In diesen und ähnlichen Selbstgesprächen verging ihm die Nacht und als der Morgen purpurn am Himmel heraufzog, fand er ihn mit gestütztem Haupte am Fenster sitzen, den Blick sinnend auf die Nebel gerichtet, deren Spiel ihm dem Chaos blinder Naturkräfte vergleichbar dünkte. Er knöpfte seinen Ueberrock zu und wanderte hinaus in den Garten, und von da in den angrenzenden kleinen Wald, wo die Vögel eben ihr Morgenlied anstimmten und Alles so frisch und freudig in den Tag hineinschaute. „Wer doch auch froh sein könnte beim Anblick dieser lachenden Natur,“ sagte er schmerzlich. „Aber der Sclave, der die Kette trägt, der kann es nun und nimmermehr.“

Als es sieben schlug, stand er dem Hause gegenüber, dessen Fenster jetzt schon das inwohnende Leben verriethen. Die Knaben waren bereits aufgestanden und winkten ihm ihren Morgengruß zu. Er stieg hinauf in sein Zimmer, wo so eben sein Frühstück aufgetragen ward. Um acht sollte der Unterricht beginnen und Frau von Rabenhorst ließ hinaufsagen, daß sie gegenwärtig sein würde, um nach einer kurzen Prüfung der Kenntnisse ihrer Söhne, mit dem Lehrer zu berathen, wie das Tagewerk derselben eingetheilt werden sollte. August konnte gegen diese Anforderung nichts einwenden. Es war billig, daß man der Mutter eine Stimme im Punkte der Erziehung ihrer Söhne ließ. Er erwartete also deren Erscheinen und ließ sich einstweilen die Schulbücher der Knaben vorlegen und den alten Stundenplan hervorsuchen. Indem trat auch die Frau Mama schon ein und das kleine Examen nahm seinen Anfang. Das Resultat desselben war die Ueberzeugung, daß hier noch wenig geschehen sei und viel einzuholen wäre; August theilte seine Ansicht darüber mit und fand in diesem Punkte volle Billigung. Ueber die Gegenstände des Lernens vereinigte man sich schnell, ein anderer Punkt war aber die Aufsicht der Knaben nach den Stunden. Die Mutter begehrte, daß er dieselben keinen Augenblick aus den Augen lasse, mit ihnen spazieren gehe, bei ihren Spielen gegenwärtig sei, kurz, daß er den Kindern jede Möglichkeit abschneide, die geringste Unart zu begehen. August meinte, das heiße die Kinder unglücklich machen. Er dachte an seine eigene glückliche Jugend, an die goldne Freiheit nach gethaner Arbeit, an die Knabenstreiche, die er ausgeübt, und den Uebermuth des Lebens, der damals in ihm gesprudelt, als ihm noch die ganze Welt ein offenes weites Feld war, auf dem sein Fuß ungehindert wandern mochte. Er schilderte mit glühenden Farben das Glück jener Tage, und bat die Frau Kammerherrin auch ihren Söhnen diese freie Entwickelung ihrer Kräfte zu gönnen. Sie hörte ihm mit halbem Lächeln zu.

„Sie sprechen warm,“ sagte sie. „Es scheint, daß Sie meine Knaben lieber zu wilden Buben, als zu wohlgesitteten Söhnen eines vornehmen Hauses erziehen möchten. Vielleicht ist Ihnen auch die Mühe zu viel. die ich Ihnen damit zumuthe. Sie brauchen das aber nur einfach zu sagen, es giebt der jungen Leute genug, die gerne eine solche Stellung in unserm Hause annehmen.“

August fühlte, wie ihm alles Blut in die Wangen stieg. Er stand auf, vielleicht um seine innere Erregung dadurch zu bemeistern. „Sie mißverstehen den Sinn meiner Worte, gnädige Frau,“ sagte er dann höflich kalt. „Doch ganz wie Sie befehlen. Auch ich werde einen anderen Aufenthalt zu finden wissen.“

Frau von Rabenhorst verließ das Zimmer und als man am Mittag zu Tische kam, war keine Rede von dem was vorgegangen. Gegen Abend traf der Herr Kammerherr ein und am Theetische wurde August diesem vorgestellt. Außer einer höflichen Begrüßung, wie sie ein feiner Weltmann für Jeden hat, der ihm untergeordnet ist, widmete er den neuen Hausgenossen keiner Aufmerksamkeit, und dieser blieb ein stummer Gast am Theetische, wo von Familien und nachbarlichen Verhältnissen die Rede war, bis die neunte Stunde schlug, wo er sich mit einer stummen Verbeugung zurückzog. Am folgenden Morgen fand er auf seinem Kaffeebrete ein versiegeltes Billet, von Damenhand geschrieben; er öffnete es mit gesteigerter Erwartung des Inhaltes und las:

P. P.

„Ich habe mit meinem Gatten Rücksprache genommen wegen der unter uns stattgehabten Unterhaltung von diesem Morgen, und er ist meiner Ansicht, daß diese Art von Erziehung, wie Sie sie unsern Knaben zu Theil werden lassen möchten, nicht für eine Familie von unserem Stande paßt; in seinem Auftrage bitte ich Sie daher sich zu nächstem Michaelis nach einer andern Stelle umzusehen, und versichert zu sein, daß unsere Empfehlung Ihnen dabei in geeigneter Weise zu Theil werden soll.

Ihnen Alles Wohlergehen wünschend unterzeichnet sich gewogentlichst

Amalasunda von Rabenborst  
geb. Gräfin Treutheim von Eberswalda.“

August legte das duftende Papier wieder zusammen und schenkte ruhig eine Tasse Kaffe ein. „Damit wäre man also schon wieder fertig!“ murmelte er. „Was nun zunächst? Ob ich meiner Mutter die Sache melde, oder lieber schweige. Er beschloß endlich das Erstere zu thun und ihr mit einfacher Wahrheit den ganzen

[192] Vorgang zu melden. Schon die nächste Post brachte ihm ihre Antwort. Sie lautete:
„Mein geliebter Sohn!

„Ich danke Dir für den Beweis Deines Vertrauens, den das Herz Deiner Mutter für die schönste Gabe hält. Du weißt es ja, daß ich nur in und mit Dir lebe, und daß ich das, was Dir das Leben an Freude oder Kummer zuführt, stets zwischen den Zeilen lese, selbst da, wo Du es nicht aussprichst. Glaube daher nicht, daß es mir ein Geheimniß ist, wie oft Dein stolzer Sinn schon Demüthigungen gesucht und erfahren, wo ein Anderer mit dankbarer Anerkennung den Umständen erkenntlich wäre; glaube auch nicht, daß ich in solchen Stunden nicht mit Dir gelitten! Das Mutterherz fühlt ja Alles doppelt mit dem geliebten Kinde, und sehnt sich nur darnach Alles allein zu tragen, jede Bürde auf die eigenen Schultern legen zu können, damit ihr Liebling frei ausgehe. Aber ich konnte ja nicht helfen, konnte bei dem besten Willen keinem Umstande Deines Lebens eine andere Gestaltung geben. Darum schwieg ich und darum schwiegst vielleicht auch Du; denn ich glaube, Du erkanntest meine Ohnmacht und meinen Willen.

„Heute stehen die Sachen anders. Du bist hinausgetreten in die Welt. Du hast den Beruf des Mannes auf Dich genommen und nicht länger ist es die Mutter, die schützend über Dir gewacht, von deren Rath Dein Wollen und Thun abhängt. Du bist meiner Obhut entwachsen. Du gebietest frei über Dich selbst; darum auch suchst Du in mir die Vertraute Deiner Sorgen und bangst nicht ferner vor Mahnung und Tadel. Beides hast Du überdem auch nur selten erfahren, mein Sohn!

„So wie Du bist, konntest Du in Deiner Stellung nicht anders auftreten, mein August, und ich zweifle nach diesem Versuche, ob irgend ein Verhältniß der Art Dich befriedigen, könnte. Darin liegt kein Tadel. Ich sehe die Sache objectiv an, ich sehe Dich und sehe den Lehrerstand, und ich fühle, daß mein Sohn diese Unterordnung unter Gesetze, die die Willkür und ein oft unvernünftiger Wille macht, nicht erträgt. Warum ich das nicht im Voraus in Betracht gezogen? magst Du fragen. Ich hätte es freilich wissen können. Aber wie häufig geht es uns nicht so, daß wir Dinge für möglich halten, bis wir durch die Erfahrung eines Bessern belehrt werden.

„Ich würde Dir nun rathen in der Stadt Mücheln als Privatlehrer Dein Heil zu versuchen. Der junge Solger ist dorthin versetzt als Bürgermeister, nachdem er einen glänzenden Richter-Examen bestanden, und als alter Schulkamerad wird er Dir, denke ich, die Hand bieten, und froh sein, Dich in seiner Nähe zu haben. Mir scheint dies das Beste für Dich; Du wirst prüfen, ob mein Vorschlag Dir zusagt, und Dir nicht ein noch besserer Gedanke kommt. Es bleiben Dir ja noch fünf Monate zur Ueberlegung, eine Zeit die Dir, ich weiß es, höchst peinlich sein wird; aber es ist auch eine von den Nothwendigkeiten diese bösen Tage zu bestehen, denen wir uns im Leben nun einmal nicht entziehen können.

„Ich frage mich jetzt oft, und habe mich auch früher schon deshalb gefragt, ob ich Deine Erziehung hätte anders leiten sollen, ob es gut war, daß ich Deinen stolzen Sinn nicht brach? Hätte ich dasselbe Werk noch einmal zu verrichten, so weiß ich nicht, ob ich es anders und besser machen würde. Ich wollte einen Mann und vor Allem einen Menschen aus Dir erziehen und konnte Dir nicht lehren, Dich vor Autoritäten zu beugen, die mir keine waren. Ich konnte es nicht. Dein frischer, schöner Jugendmuth sollte Dir nicht getrübt werden, ich ließ Dir Deine Welt der Ideale, ich lehrte Dich nicht Menschenfurcht kennen, sondern Gottesfurcht. Wie freuete ich mich an Dir, wie glücklich war ich in Deinem Anblick, wie meinte ich eine beneidete Mutter zu sein! Und bin ich es denn nicht? Warst Du nicht stets der beste der Söhne, habe ich durch Dich wohl etwas Anderes gekannt, als die Freude, die ein wohlgerathenes Kind umgiebt, eine Freude, die selbst Engel theilen möchten. Und nun wollte ich mich beklagen, keinen Knecht aus Dir erzogen zu haben? Ich schäme mich jetzt, daß Dieser Gedanke mir aufsteigen konnte!

„Leonie schreibt Dir heute selbst. Sie hat viel Leid und Plage mit der Mutter, die mit jedem Tage grämlicher wird, und wahrscheinlich Brustwassersucht bekommt. Dabei verliert sie nie ihre heitere Miene und ihren Lebensmuth. Das Mädchen gehört wahrlich nicht in unsere Zeit, sie hätte eine Römerin sein müssen. Ihr seid ein Paar, wie es die Welt nicht mehr sieht.

„Schreibe uns recht bald, mein theurer Sohn, und erleichtere Dein Herz durch Mittheilung. Wir wissen ja, daß Du jetzt trübe Stunden verlebst und es beruhigt uns, wenn Du uns aussprichst, wie Du diese Prüfung hinnimmst. Ich bin ja in Gedanken täglich, stündlich mit Dir und meine Wünsche und mein Gebet sind ja für Dich allein.

„Mit der treuesten, herzlichsten Liebe
Deine Mutter  
Auguste Liebig. 
August hatte diesen Brief zuerst gelesen, weil er das Couvert des inliegenden bildete und daher sogleich mit seinem Inhalte vor sein Auge trat. Jetzt entfaltete er auch das andere Blatt. Es lautete:
„Mein theurer Freund!
„Gefesselt wie ich bin an das Krankenlager einer Mutter, die meiner jetzt jede Minute bedarf, in welcher unaufschiebbare Geschäfte mich nicht von ihr rufen, muß ich mir doch heute einen Augenblick erobern, um Dir zu sagen, daß ich ganz einverstanden bin mit Deiner Art des Auftretens in dieser hochadeligen Familie. Ich hätte Dich weniger geachtet, wenn Du es anders genommen, wenn Dir die Umstände etwas abgewonnen hätten, vor dem Dein Selbstgefühl erröthen gemußt. Was auch das Leben bringt, nur bleibe der Mensch sich selbst getreu! Nur opfere er nichts von dem Adel seiner Natur, nur halte er in sich fest an dem Ideal, das ihn zum Verwandten der Gottheit macht. Ich weiß es, so denkst auch Du, und ich wiederhole heute nur, was uns gemeinsam ist, um Dich dadurch zu befestigen und zu stärken, um keinen Preis irdischer Vortheile Dein herrliches Naturell zu verkümmern und zu verkleinern. Ich kenne Dich zu genau, um nicht zu wissen, daß Du nur leben kannst, wo Du frei athmest, frei Dich auslebst, ein Unterthan des höchsten Sittengesetzes bist, das dem Menschen über sich gestellt ist. Wo Du diesem entsagen müßtest, da wärest Du nicht mehr Du selbst, da müßtest Du zu Grunde gehen. Ich bitte Dich vor allen Dingen, Dich nie auf Deinem Lebenswege durch eine Rücksicht für mich gehemmt zu fühlen. Was der Mann nach Außen hin für sich erstrebt, dabei darf die Frau nicht mit in Rechnung kommen; ist er da mit sich fertig, kehrt er in sich zurück, dann ist sie da für sein Stillleben und sein Haus. Handle daher Deiner Neigung entsprechend und thue einstweilen, als wäre ich nicht da. Nur so gestaltet sich Dein Schicksal nach meinem Sinne, nur so kann ich. freudig der Zukunft entgegenblicken und in allen Beziehungen mich Deine erste Freundin nennen.
Leonie. 

August faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in seine Brusttasche, ein Platz, den er auch nicht wieder verließ. Bei der nächsten Gelegenheit, wo die beiden Knaben von den Aeltern auf ein benachbartes Gut mitgenommen wurden, bat er um ein Pferd und benutzte die Zeit zu einem Spazierritt nach Mücheln. Hier suchte er sogleich seinen alten Schulkameraden auf und dieser war nicht wenig erfreut in dieser ihm fremden Gegend plötzlich einen Freund zu entdecken, mit dem er die heitern Tage der Jugendzeit recapituliren konnte. August sprach ihm den Wunsch aus, zum Winter ganz in die Stadt zu ziehen und dort einige Knaben zum Privatunterricht um sich zu versammeln. Dieser Plan fand des Bürgermeisters ganze Billigung und er erbot sich sogar selbst thätig zu sein ihm die nothwendige Zahl von Schülern zu gewinnen. Beiderseits befriedigt von diesem Wiederfinden trennten sie sich und August ritt mit erheiterter Miene auf das Schloß zurück. Gleich in den nächsten Tagen meldete er seiner Mutter, daß ihr Rath von ihm befolgt worden und er von der dadurch eröffneten Aussicht auf eine Thätigkeit, die seine persönliche Freiheit nicht beschränkte, befriedigt sei.

Es wurde ihm von diesem Tage an weniger schwer die Ketten zu tragen, die ihm das Gebundene seiner Stellung anlegte, und jeder neue Morgen zählte ja überdem eine Verminderung dieser bösen Zeit, wodurch auch die schwierigsten Stunden leichter zu durchleben sind. Sieht man das Ende, so hilft man sich mit einem Seufzer über die Gegenwart fort. Der Sommer schwand [193] ihm somit rascher dahin, als er erwartet hatte und der Tag seiner Abreise von hier rückte ganz nahe heran. August ersuchte nun Frau von Rabenhorst ihm eine Stunde zu bewilligen, in welcher er in ihrer Gegenwart die Knaben prüfen dürfe, damit sie sich überzeuge, in wie weit er seine Lehrerpflicht getreulich erfüllt. Sie lächelte gnädig zu diesem Vorschlag und bestimmte gleich den folgenden Morgen. Diese Einwilligung war August sehr erwünscht. Es drängte ihn, ihr zu beweisen, daß er den Lohn gewiß verdient, den man ihm hier gewährte, und daß er weit eher als Gläubiger, wie als Schuldner scheide. Sein Vertrauen fand sich gerechtfertigt, die Mutterliebe siegte über jede kleinliche Rücksicht und Frau von Rabenhorst gestand ihm zu, daß er ihre Erwartung bei weitem übertroffen. August verbeugte sich mit einem weit artigeren Lächeln, wie sie es je an ihm gesehen.

„Wie schade!“ fügte sie hinzu, „daß ein so vortrefflicher Lehrer eine so democratische Erziehungsmethode befolgen will! Unsere Söhne hätten sonst unter Ihrer Leitung schöne Kenntnisse erwerben können.“

„Ich hoffe mehr als das, gnädige Frau!“ erwiederte er heiter angeregt, mit mehr Worten, als er sonst hier zu wechseln sich zum Gesetze gemacht. „Ich hätte Männer aus ihnen gebildet, und wirkliche Gentlemen, wie der Engländer sagt, wodurch sie in ihren Verhältnissen weit mehr nutzen konnten, als durch Büchergelehrsamkeit.“

„Gentlemen, sagen Sie? Warum sprachen Sie davon nicht früher. Das war ja gerade mein Wunsch, meine Söhne in diesem Genre heranzubilden.“

„Ich konnte das nur, wo das Geschäft des Erziehens ganz in meine Hand gelegt war, und die Aeltern mir völliges Vertrauen schenkten.“

„Das hätte Ihnen werden können, Herr Liebig. Ich werde noch heute mit meinem Gatten darüber sprechen.“

Sie entfernte sich, ohne das spöttische Lächeln zu bemerken, das um August’s Lippen spielte. „Jetzt weiß ich, was der Engländer unter „Unterrocks-Regiment“ versteht,“ dachte er bei sich. „Wenn sich die Männer von solchen Weiberlaunen lenken lassen, so könnte man ihnen den Spinnrocken dazu wünschen. Welch eine ganz andere Frau ist doch meine Mutter und gar erst Leonie.“

Wenige Tage darauf zog er in Mücheln ein, wo ihm der Bürgermeister Solger bereits eine Wohnung besorgt hatte, und schon am folgenden Montag seine Stunden ihren Anfang nahmen. August war zu Muthe wie Jemand, der eine Gefangenschaft durchgemacht hat. Trat er hinaus auf die Straße nach vollendetem Tagewerke, so erschien ihm Alles so schön, der Himmel, die Erde, die Menschen, denn das Gefühl seiner persönlichen Freiheit lieh hier den neuen Reiz. Die Bewohner der Stadt waren froh, einen so schönen, fein gebildeten jungen Mann in ihrem Kreise zu sehen, die Mütter speculirten auf ihn für ihre Töchter und die Töchter verfolgten ihn mit zärtlichen vielsagenden Blicken. Aber August blieb davon unangefochten. Leonie war ihm das Ideal aller Frauen, und diese unbedeutenden Wesen, deren Leben sich um Putz und Bälle drehte, konnten freilich einer Leonie nicht die Hand reichen. Er hatte zu deren Erstaunen kaum ein artiges Wort für sie.

Sonderbar befremdend war es den Bewohnern der Stadt, daß der junge Candidat nie gepredigt hatte. Bei manchen Gelegenheiten dazu aufgefordert, lehnte er diese Pflicht stets mit artigem Danke ab, versichernd, daß er sich noch nicht dazu berufen fühle, seinen Mitbrüdern Worte der Ermahnung zuzurufen.

„Du solltest Dich doch einmal darin versuchen, Liebig!“ sagte sein Freund, der Bürgermeister häufig. „Hier in der Umgegend sind prächtige Pfarren, da könnten wir Dich präsentiren. Oder hast Du etwa auch, wie so viele, Zweifel über die Erbsünde?“ fügte er lachend hinzu.

„Das kann wohl sein, mein guter Solger!“ versetzte August ernst. „Jedenfalls bin ich noch nicht im Klaren mit mir selbst, werde vielleicht auch noch lange nicht dahin kommen, und bis dahin will ich mich des Predigens enthalten.“

„Das ist aber eine verfluchte Geschichte! Was soll da aus Deiner Zukunft werden?“

„Nun! Was schon daraus geworden ist; ein tüchtiger Lehrer.“

„Alles recht gut, aber es nährt seinen Mann nicht. Es ist keine sichere Versorgung. Ich rathe Dir, laß die Grillen sein! Viele Wege führen nach Rom. Drücke ein Auge zu und die Sache geht.“

August schüttelte verneinend den Kopf. „Ich darf nicht,“ sagte er. „Für mich giebt es nur einen Weg, den geraden.“

Zum Osterfeste reiste August zu seiner Mutter, die, seit er die Universität verlassen, ihre Schule aufgegeben hatte, theils weil sie fühlte, daß sie der Anstrengung nicht mehr gewachsen war, theils auch, weil Leonie, indem sie den doppelten Pflichten einer Krankenwärterin und Lehrerin genügte, zu sehr angestrengt wurde. Sie übergab daher das einmal eingerichtete Erziehungsinstitut einer andern Hand, und behielt sich nur vor, mit ihrer jungen Freundin abwechselnd einige Stunden darin zu ertheilen, um jener auf diese Art die Mittel zu sichern, ihrer Mutter manches zu ihrer Pflege verschaffen zu können, wozu deren kleine Einnahme sonst nicht hinreichte. Für ihre eigenen Bedürfnisse reichte ihre Pension als Predigerwittwe schon zu, denn ihre Ansprüche waren sehr bescheiden, und nur wenn der geliebte Sohn als Gast bei ihr weilte, sann sie auf einen Aufwand, der ihrer kleinen Einrichtung sonst fremd war. – Sie hielt ihn jetzt einmal wieder in ihren Armen, und musterte mit freudetrunkenen Blicken sein gutes Aussehen. Sein Tritt war fester, sein Auge leuchtender, seine Züge männlicher, als wie sie ihn zuletzt vor sich gesehen. Er fühlte sich glücklicher, sie konnte nicht daran zweifeln, und ihr Herz floß über von Dankgefühl, den theuern Sohn in einer Lage zu wissen, die ihn mit muthigerem Blicke in das Leben schauen ließ.

„Es ist Aussicht dazu, daß Dein Bruder versetzt wird.“ sagte sie, als sie am Abend um den Theetisch saßen und auch Leonie sich eingefunden hatte, eine Stunde des Glückes hier zu verleben. „Wilhelm meint, man könne Dich in Vorschlag bringen, vielleicht daß Du trotz Deiner Jugend die Pfarre aus Rücksicht für Deinen Vater erhalten würdest. – Das wäre viel Glück. August! Sollte ich das noch erleben, meine geliebten Kinder hier vereint zu sehen, so wäre die Freude fast zu groß für mich!“

August erblaßte vor diesen Worten und verließ seinen Platz, um, unruhig, einige Male im Zimmer auf und ab zu gehen. Leonie’s Blick folgte ihm fragend und besorgt. Aber schon hatte sie Alles errathen, was diese plötzliche Bewegung sagen wollte.

„Mutter!“ nahm er das Wort und setzte sich dabei wieder zu ihr, indem er zugleich ihre Hand ergriff, „erzeige mir die Liebe, mich nicht für die Pfarre in Vorschlag bringen zu lassen. Ein solches Amt paßt nicht für mich. Verzichte auf diesen Wunsch!“

„August!“ rief sie mit einem Tone des Schmerzes, der unbeschreiblich ist, und sah ihn mit erstauntem Blicke an; „dann hast Du ja keine Zukunft! Und was wird aus Leonie?“

Sein Auge senkte sich zu Boden, seine Miene wurde sehr ernst. „Es führen ja viele Wege durch das Leben, Mutter, und, dem Muthigen gehört die Welt.“

„August hat Recht, Mutter!“ nahm das Mädchen das Wort, das aus seinen Mienen zu lesen gewohnt war, und mit dem Instincte des Herzens seine Gedanken errieth. „Er ist noch viel zu jung, um schon unwiderruflich für seine Zukunft zu entscheiden. Das Leben muß den Mann erst reifen und entwickeln, bevor er sich einer endlichen Bestimmung hingiebt.“

„Das Leben bildet den Charakter, mein Kind!“ versetzte die Mutter, immer noch schmerzlich bewegt; „einen Beruf wählt der Mann aber nur einmal, seine ganze Erziehung und Bildung ist auf diese einmal getroffene Wahl angelegt, und das Verfehlte holt dann keine spätere Zeit mehr ein. Die wenigen Worte, die August gesprochen, sagen mir, daß Deine – daß seine Zukunft hoffnungslos ist.“

Sie verließ bei diesen Worten das Zimmer, weil sie fühlte, daß sie ihren Thränen nicht länger gebieten konnte. Alles vermochte diese Frau zu ertragen, nur nicht das Eine, das Geschick ihres Sohnes auf dieser Basis von Glas zu sehen, durch die sich der Abgrund spiegelte.

Als sie sich entfernt hatte, saßen August und Leonie sich eine Weile stumm gegenüber. Der junge Mann hatte die Hand über die Augen gedeckt, das Mädchen blickte auf die Arbeit in ihrem Schooße.

„Und Du zürnst mir nicht, Leonie?“ fragte er endlich, ohne sie anzublicken, und reichte ihr die Hand hinüber. „Du hast mich nicht aus bloßer Großmuth vertheidigt, nicht nur jene Worte gesprochen, um meine arme Mutter durch Deine Billigung zu beruhigen?“

[194] „Nein, mein Freund!“ sprach sie mit Ihrer hellen, klangreichen Stimme, stand auf, lehnte sich über ihn und drückte sein Haupt, wie beruhigend, an ihre Brust. – „Ich sehe ein, daß Du nicht anders kannst. Der Mensch macht seine Gesinnung nicht, und auch nicht seinen Glauben; die Umstände und das Leben entwickeln Beides in ihm und er muß hinnehmen, was sie ihm bringen. Deine Ueberzeugung soll Dir heilig sein. Folge ihr! Ich liebe Dich darum erst recht, auch getrennt, auch noch so ferne von Dir, selbst über das Grab hinaus. Glaubst Du denn, daß Du nur darum für mich Werth hattest, weil ich einst Amt und Brot mit Dir zu theilen gedachte? Nein, August, so klein darfst Du von mir nicht denken! Das Bild meines Aelternhauses schützt mich auf ewig davor, eine Existenz hinzunehmen, die nicht die höchste Gesinnung begleitet. Ich will Dich achten können, August; ich will Deinen Menschenwerth durch nichts verringert sehen, sei es, was es sei, und mag Dir sonst begegnen, was da will, mag ich Dich nie wiedersehen, immer noch werde ich das Glück im Herzen tragen, das Ideal meiner Jugend rein mir zu bewahren.“

Eine Thräne rollte über seine Wange; sie küßte sie hinweg. Schweigend verharrten sie noch einige Minuten in dieser Stellung, wie in dem Bedürfniß des Ausruhens von der starken, innern Bewegung, dann sagte Leonie sanft in sein Ohr: „Ich will jetzt unsere Mutter suchen. Sie darf nicht wissen, was ich zu Dir gesprochen; ihr Lebensabend darf nur die Hoffnungen kennen, die sie während so vieler Jahre mit Opfern und Entbehrungen für unsere Zukunft aufgebaut, und deren gänzliche Zertrümmerung sie nicht ertragen könnte. Laß uns daher vorsichtig sein.“

Sie entfernte sich und bald darauf kehrten Beide Hand in Hand zurück. Augusten’s Augen schienen noch vom Weinen geröthet, sonst aber war sie still und sanft und betrachtete den Sohn mit einer Art mitleidsvoller Zärtlichkeit, die ihr sonst nicht eigen gewesen. Was ihr nie zuvor in den Sinn gekommen, war ihr in dieser Stunde mit fürchterlicher Klarheit vor die Seele getreten: sie und nur sie allein trug ja die ganze Schuld an ihres Sohnes Unglück; denn nie hatte sie ihn gefragt, nie seine Neigung zu Rath gezogen, sondern einfach angenommen, daß der Beruf, welcher ihm am Schnellsten und Leichtesten zu einer Versorgung helfe, auch der ihm gemäße sein müsse. Sie erkannte ihr Versehen, und das brach ihr das Herz. Sie fühlte von dieser Minute an, daß ihre Tage gezählt seien, sie fühlte ihren Lebensmuth gebrochen, sie war innerlich wie geknickt, und keinen Trost gab es für solches Leid, keine Heilung für solche Wunde. Sie war freundlich wie immer, aber still und in sich gekehrt und man sah ihr an, daß ihr Interesse wenig Antheil noch an den Dingen dieser Welt nahm.

August war diesmal bis jetzt noch nicht zu Leonie’s Mutter gegangen, die er seit dem ihm gewordenen Empfang bei seinem letzten Besuche nicht wieder gesehen hatte. Am Tage vor seiner Abreise sandte sie nun plötzlich und ließ ihn zu sich entbieten. Er konnte dieser Aufforderung kein Weigern entgegensetzen und ging. Sie war allein und zwar im Bette. Er fand sie sehr verändert. Sie bat ihn, die Thüre zu verschließen und neben ihrem Lager Platz zu nehmen.

„Herr Liebig,“ begann sie nun, „,meine Lebenstage sind gezählt, bald werde ich in jener Welt mit meinem unvergeßlichen Gatten vereint wandeln.“ Sie konnte vor Rührung nicht weiter sprechen, und erst, nachdem sie sich wieder gefaßt, fuhr sie fort: „Ich habe mit dieser Welt abgeschlossen, und nur eine Angelegenheit bleibt mir noch zu ordnen, die Versorgung meines Kindes. Ich darf ihrem Vater nicht unter die Augen treten, wenn ich sie hier arm und unbeschützt zurücklasse. Thun Sie mir also den Gefallen und geben Sie sie auf, dann heirathet sie Ihren Bruder. Niemand hat erfahren, welche Hoffnungen Sie hegen; der junge Pastor wird also keinen Anstoß nehmen, seine Bewerbung zu erneuern, sobald ich ihn dazu ermuntere. Einer Sterbenden dürfen Sie keine Bitte abschlagen. Sagen Sie ja!“

(Schluß folgt.) 




Das Staatsgefängniß Mazas in Paris.[1]

Flanirt man in Paris südwärts nach den Quais, so ist es leicht möglich, dort einen vergitterten Omnibus zu treffen, welchem zwei mobile Gensd’armen zu Pferde folgen. Dies ist an und für sich schon ein auffallendes Ereigniß; für den Fremden aber noch mehr, da er die Bestimmung dieses fahrenden Käfigs nicht kennt. Doch auch der Einheimische, der Pariser, bleibt neugierig stehen; denn – es ist der Omnibus Mazas.

Mit einem Wort, ein eiserner Zellenwagen, in welchem die Gefangenen transportirt werden. Es hat darin ein Jeder anderthalb Quadratfuß Zelle, gerade so viel, um auf einem Brett sitzen zu können und sich die Knieen wund zu stoßen. Statt der Fenster sind es eiserne Jalousien, als wenn ein neugieriger Blick des Vorübergehenden so furchtbar wäre!

Von dem Augenblicke an, wo der Gefangene in diesem modernen Vehikel Platz genommen, hat er auf die Welt nicht eher wieder Anspruch, als bis er frei ist. Von diesem Augenblicke an ist er Maschine, Werkzeug, Gegenstand, – über welchen nur ein Gericht sitzt, das ihn verdammt oder wieder Mensch werden läßt – Der Gefangene wird pensylvanischer Bewohner.

Jetzt hält der Zellenwagen, gegenüber dem Lyoner Bahnhof, vor einem aus hartem Mörtel gemauerten Gebäude von langer, strahlenförmiger Ausdehnung.

Hier ist das Zellengefängniß Mazas, welches von dem Abbé den Namen führt, der unter Louis Philipp den Plan dazu entwarf.

Das hohe, eisenbeschlagene Thor öffnet sich knarrend und der Wagen holpert, die Wache vorbei, in den Hof, wo ihn der Inspector und die Kerkermeister empfangen. Mit dem Thore, welchen sich jetzt dröhnend wieder schließt, wird die ganze Welt für den Gefangenen abgeschlossen; es ist der Sargdeckel, welcher auf das letzte Kastengestell geworfen wird und was ihn jetzt erwartet, ist ein lebendiges Grab.

Einzeln steigt der Mann aus dem Zellenwagen, wird in den breiten, hellen Corridor geführt und in eine sogenannte Wartezelle gebracht. Das System der Einsamkeit beginnt und der Gefangene sieht Niemanden mehr als seinen Wärter. Das christliche Werk des Abbé Mazas macht den Menschen hier wider Willen zum Eremiten. Man hätte dies Gebäude auch das Kloster Eremitage sans volonté taufen können.

Er tritt darauf durch einen Irrgang in das Bureau des Zellenhauses, wo er seine Arme entblößt und der Schreiber ein genaues Signalement von ihm aufnimmt. Dann kehrt er in den ersten Corridor zurück und vor einer Glasrotunde, welche die sechs immensen Flügel dieser Einsiedelei beherrscht, giebt man ihm eine Nummer.

Der Gefangene sagt der Welt nun vollends Lebewohl, denn er hat jetzt nur noch eine Nummer, wie ein Bild im Museum; nur mit dem Unterschiede, daß man ein Bild höher schätzt, als einen nummerirten Gefangenen. Dennoch sind alle diese Nummerirten nur erst Verdächtige, meist leichte Verbrecher oder politisch Gravirte, welche erst verurtheilt werden sollen; denn in Mazas sitzt kein Verurtheilter, nur erst der Inkulpat.

Der Unglückliche hat nun also seine Nummer. Man schickt ihn im Trabe nach seiner Abtheilung, das heißt, nach einem von den sechs Flügeln. Ein Wärter empfängt ihn und führt ihn in eine Badezelle, um den Menschenschmutz hier in die Seine fließen zu lassen und wo möglich auch die Seele auszuwaschen, obgleich das jetzt vollkommene Nebensache wäre. Das wird Jedem selbst überlassen. – Man führt ihn alsdann endlich nach seiner Zelle, ohne daß er nur einen Menschen gesehen hat. Der Riegel schließt sich auch hier, um der neuen Nummer ihren engeren Wirkungskreis zu überlassen.

Dieser für das Wohl der Nummer berechnete Aufenthalt ist [195] eine längliche, schmale Zelle, von etwa zehn Fuß Länge und sechs Fuß Breite. Der Thür gegenüber befindet sich ein großes viereckiges Fenster von geringeltem Glas, um den Gefangenen weder den Himmel, noch die Wolken, noch die Vögel sehen zu lassen; – denn er soll von der andern Welt abgezogen werden, und man hätte ihm gern Pechpflaster über die Augen geklebt, damit er fromm werde in der steten Finsterniß.

An der einen Seitenwand befindet sich ein Holztisch, über welchem eine Gasröhre modernes Licht herausbrennen läßt, freilich nur im Winter, wo man von fünf bis sieben Uhr, oder auch wohl noch länger, den Gefangenen nicht in Dunkelheit zu lassen beliebt.

An der andern Ecke, neben der Thür, befindet sich ein Schap, auf welchem das gute Bett, gerollt und gewickelt, steht. Unter diesem ist das nothwendige Uebel für das menschliche Geschlecht praktisch angebracht; es ist dies eine Art Stuhl, welchem man durch Ventilisation den unausbleiblichen Geruch genommen. – Ich habe schon gedacht, daß man in Paris nicht in Verlegenheit sein könnte und die Cabinets inodorés, wie man aus diesem Detail sieht, ganz billig, gratis, bekommen kann. Neben diesem Möbel befindet sich ein Besen und alle Nothwendigkeiten zur weiteren Reinigung.

Mit einem Blick hat der Neueingetretene seine stille Behausung überschaut – er ist nun entweder erbaut oder verzweifelt darüber. Darin läßt man ihm vollkommene Freiheit. Doch Beides ist ohne Erfolg: denn er ist und bleibt hier König in seinem Zellenreiche und hat die Freiheit, sechs Schritte auf- und abzugehen.

Punkt sechs Uhr des Morgens ertönt die große Glocke und man hört das geheimnißvolle Summen, welches anzeigt, daß man sich die Glieder gereckt hat. Der Detinirte muß nun aufstehen. Wenn er nun, gern oder ungern, sich erhoben hat, so muß er sein Bett von den Haken in der Mauer losmachen, es sauber rollen und die Decken vorschriftsmäßig zusammenfalten. Dann kehrt er den steinernen Fußboden seiner Zelle und stellt neben dem Kehricht auch seinen blechernen Wasserbehälter an die Thür.

Der Wärter kommt; – er fegt den Schmutz hinaus und nimmt den Wasserbehälter, – dann schließt sich die Thür, ohne daß der Gefangene Zeit hatte, Bon jour zu sagen. Bald darauf stellt ihm eine unsichtbare Hand sein frisches Wasser für den Tag in die Zelle und schon um sieben Uhr sind die achtzehnhundert Zellen nach vorschriftsmäßiger Ordnung besorgt, gereinigt und versehen.

Das Staatsgefängniß Mazas in Paris.

Jetzt schlägt es acht Uhr! – Zum zweiten Male leutet die große Glocke und ein Blechgeklapper läßt sich erst fern, dann immer näher und näher vernehmen. Das viereckige Loch in der Thür öffnet sich und die flüchtige Hand des Wärters nimmt das leere Blechgeschirr hinaus und stellt dafür einen Blechnapf mit Suppe und eine Portion tägliches Brot auf das kleine Brettchen hinter der Thür-Oeffnung. – Einen Moment später ist Alles besorgt.

Der Gefangene verzehrt nun mit einem Holzlöffel seine gute Suppe, welche ihm die Liberalität des Gerichts bestimmt, und er ist sicher, daß er vor drei Uhr nichts weiter bekommt.

Doch halt! – Kaum ist die Suppe verzehrt, so öffnet sich die Oeffnung seiner Thür von Neuem und mit dem Ruf: Cantime! frägt der Wärter nach seinen Bedürfnissen. Diese Einrichtung ist sehr liberal; denn Alles, was der Gefangene wünscht, Wein, Brot, Fleisch, Frühstück, Mittag, Käse, Butter, Taback, Tinte, Feder u. s. w., wird ihm für sein Geld eben so billig, wie im Laden verabfolgt und überdies ist dies der Moment, wo er sich Alles wünschen kann, den Besuch des Arztes, des Direktors, des Priesters; eben so Bücher aus der christlichen Bibliothek des Mazasgefängnisses und sonstige Bedürfnisse, welche nach der Hausordnung nicht verboten sind. Der Wärter schreibt Alles auf und bringt es ihm nach einiger Zeit – das heißt Cantime oder Marketenderei!

Je nachdem nun die Reihe an ihm ist, wird dem Gefangenen eine Stunde Spaziergang erlaubt. Es öffnet sich der verhängvolle Riegel seiner Thür, er hört das Wort Promenade! Mit einer Geschwindigkeit, als stürze er zum Kampf oder zur Lotterie, durchläuft er seine Abtheilung, steigt die Treppe hinunter, rennt durch einen Korridor und ist in seinem Garten, ohne daß er Jemand gesehen oder gehört hat.

Dieser Garten ist ein Theil von einem großen Kreise, welcher durch hohe Mauern in zwanzig oder vier und zwanzig Schnitte getheilt ist. Einen von diesen tortenartigen Schnitten hat der Gefangene inne. Die Radien dieses Kreises münden in einer Rotunde, wo ein Wärter alle zwanzig Gärten übersehen kann und aufpaßt, daß kein Brief über die Mauer geworfen wird, um etwa den Nachbar zur Unterhaltung zu bewegen. Ein anderer Wärter macht vor dem äußern Gitter die Runde und ist beauftragt, jedem [196] Detinirten Auskunft zu geben und seine Fragen zu beantworten. Eine Stunde hat die Nummer Zeit hier, wie ein Thier im Käfig des Jardin des Plantes, umherzugehen, um frische Luft zu schnappen; nach dieser Zeit öffnet man seine Thür und mit derselben Geschwindigkeit wie beim Kommen kehrt er in seine Zelle zurück.

Nur ein flüchtiger Blick war ihm über das Innere des Gebäudes gestattet; aber er überblickt es in einem Monat dreißig Mal, er merkt sich immer mehr davon. Es ist dies ein langer Saal, elegant, breit, rein wie ein Tischtuch. Eine Glasdecke erleuchtet diesen pensylvanischen Tempel. Zwei Gallerien heben sich über das Steinparket empor, welche mit eisernen Gittern versehen sind und also auf jeder Seite drei Etagen Zellen abgeben, welche hier hinaus ihren Eingang haben. Auf der einen Seite blickt ein ungeheures Fenster hinein, auf der andern Seite stößt dieser Corridor-Saal auf die erwähnte Glasrotunde, welche zugleich Sonntags die Kapelle abgiebt.

Um drei Uhr öffnet sich das Thürfenster wieder und das Essen wird hineingestellt. Dann wird der Detinirte nicht wieder gestört. – Um sieben Uhr läutet es zur Ruhe und er kann sich sein Bett machen. In den beiden gegenüberstehenden Mauern seiner Zelle hakt er seine Hängematte ein, legt die Haarmatratze darauf, bedeckt dieses mit einem reinen Laken, während er mit einem anderen Betttuch seine Decken umschlägt. Dann schläft er den Gefangenenschlummer, – unruhig, leise – halb wachend, bis ihn am andern Morgen die Glocke zum Aufstehen mahnt.

Man sieht hieraus, was pensylvanische Einsamkeit ist. Nur Nichts sprechen und Nichts hören. – Beten, arbeiten und spazierengehen, soll den Tag ausfüllen. Aber das ist eben die fürchterliche Strafe, daß der Mensch hier oft ein Jahr sitzt, ohne zu sprechen oder zu hören und ohne arbeiten zu können.

Er kann Nichts aus Wuth zertrümmern, denn Alles ist von Stein oder festem Holz; man sorgt für seine Bequemlichkeit auf das Allerbeste, ohne daß er nöthig hat, sich darum zu bekümmern, denn Alles geht seine regelmäßige Ordnung durch. Da ist es noch ein Glück, lesen oder schreiben zu können, denn man hat den ganzen Tag Muße dazu. Aber unglücklich Derjenige, welcher gar Nichts kann – er könnte nichts Besseres thun, als hier Etwas zu lernen, wenn er nicht ebeben stumpf und dumm würde. Die Bastille ist nicht mehr, aber Mazas ist auch Bastille!




Gesundheits-Regeln.
Ueber die große Sterblichkeit unter den kleinen Kindern.
Ernste Worte an Aeltern.

Daß so viele Kinder in den ersten Lebensjahren sterben, davon tragen ebensowohl die Aeltern, wie die Aerzte die Schuld, und zwar deshalb, weil erstere die Krankheiten, welche den Tod so oft herbeiführen, nicht zu verhüten trachten, letztere aber die Aeltern nicht mit den nöthigen Vorsichtsmaaßregeln bekannt machen. Und doch lassen sich die meisten dieser Krankheiten so leicht vom kindlichen Körper abhalten.

Daß aber eine große Sterblichkeit unter kleinen Kindern wirklich existirt, zeigen die meisten Sterblichkeitstafeln, aus denen man ersieht, daß von den Neugebornen fast 25 vom Hundert wieder hinwegsterben und daß später bis gegen den dritten Monat hin nach der Geburt noch etwa der zehnte Theil der Gebornen untergeht, während nach dieser Zeit die Zahl der Sterbenden allmälig bis zum fünften Jahre abnimmt. In Preußen war während der Jahre 1844 bis 1847 der vierte Todte ein Säugling, denn es starben durchschnittlich jährlich 440,000 Menschen und darunter 110,000 Säuglinge. Uebrigens sind manche Statistiken hier und da etwas besser, andere noch schlechter ausgefallen und es wird deshalb wahrscheinlich, daß ein bestimmtes Naturgesetz für die Sterblichkeit in den verschiedenen Kindesaltern wohl nicht existirt, sondern daß eine Menge Zufälligkeiten bei der Ab- und Zunahme dieser Sterblichkeit mitwirken müssen. Zu diesen Zufälligkeiten gehört nun ganz gewiß die größere oder geringere Verständigkeit, Vorsichtigkeit und Gewissenhaftigkeit der Aeltern und der Aerzte, und da diese Eigenschaften bei beiden im Allgemeinen nicht zu oft angetroffen werden, so ist eben die Sterblichkeit unter kleinen Kindern in der Regel sehr groß. Oder kümmern sich etwa viele Aeltern darum, was die Kinder krank machen kann? und wie viele Aerzte streben denn nach Verhütung von Kinderkrankheiten? Aber natürlich die Aeltern haben den Glauben, daß wenn die Kinder krank werden, der Arzt ja da ist und die Krankheit kuriren kann, obschon dies der schrecklichste unter allen Aberglauben ist und sich dem Glauben an den Tischklopfgeist direct anschließt. Für die Aerzte aber, die größtentheils selbst in diesem Aberglauben befangen sind, ist es freilich weit leichter und einträglicher, kranken Kindern die paar Arzneimittel (wie Calomel, Zinkblumen, Brechweinstein und Rhabarber), welche gewöhnlich gegen nichtssagende Namen von Kinderkrankheiten (wie gegen Hirnkrämpfe, Wasserkopf, Bräune, Magenerweichung, Scrophulose, Unterleibsschwindsucht, Darrsucht u. s. w.) empfohlen werden, mit wichtiger Miene bald in dieser, bald in jener Form zu verschreiben, als durch zweckmäßige diätetische Vorschriften für die Behandlungsweise des Kindes Krankheiten von demselben abzuhalten oder doch ihre Ausbreitung zu hemmen. Wenn wird nur einmal die Zeit kommen, wo das zur Zeit wie mit Blindheit geschlagene und abergläubische Volk klüger werden, die Augen aufmachen und endlich einsehen wird, wie die oft geträumte Heilmacht der Heilkünstler, – mögen dieselben nun unter dem Schutze des Doctorhutes allopathisch, homöopathisch, rademacherisch, hydropathisch etc. quacksalbern, oder als unpromovirte, geduldete und verfolgte, männliche und weibliche Quacksalber mit trockner Semmel, Kräutern, Geheimmitteln, Sympathie, thierischem Magnetismus und anderm Hokuspokus die kranke Menschheit betrügen, – doch nur eine Heilohnmacht ist und wie, mit Ausnahme einiger wenigen Fälle, da, wo eine Krankheit wirklich geheilt wird, die im Körper nach feststehenden Gesetzen wirkenden Processe allein die Heilung bewirkten. So lange als die Menschen nicht schon von Jugend auf in den Schulen genauere Bekanntschaft mit der Einrichtung ihres Körpers machen, wird auch diese längst ersehnte Zeit nicht kommen und es werden die Krankheiten trotz der enormen Fortschritte der medicinischen Wissenschaft und trotz der täglich wachsenden Zahl der Heilkünstler nicht abnehmen. Doch zur Sache.

Untersucht man die Leichen verstorbener Kinder, so ergiebt sich, daß bei der Mehrzahl derselben der Tod entweder durch eine entzündliche Affection der Athmungsorgane (gewöhnlich durch Lungenentzündung), oder durch einen Magen-Darmkatarrh (Brechdurchfall), oder durch Blutarmuth und zwar vorzugsweise des Gehirns herbeigeführt wurde. Nur in verhältnißmäßig wenigen Fällen (meisten bei Kindern, die später höchstwahrscheinlich schwindsüchtig geworden wären) tödtete die bei den Aerzten so beliebte Hirn- oder Hirnhautentzündung. Daß ein Kind zu viel Blut im Kopfe haben könnte, was durch Blutegel entzogen werden müßte, muß der Verfasser seinen Erfahrungen nach geradezu bezweifeln. Uebrigens nehmen bei kleinen Kindern die meisten fieberhaften, leichten wie schweren Krankheiten sehr gern das Ansehen von Hirnaffectionen an, denn sie gehen sehr oft vermöge der größeren Weichheit des Gehirns und leichtern Uebertragung (des Reflexes) der Reizung von Empfindungsnerven auf Bewegungsnerven, mit Krämpfen (Zuckungen, Convulsionen) der verschiedensten Art einher. Deshalb sind aber auch Krampfzustände bei fieberhaften Kinderkrankheiten durchaus nicht immer gefährliche Erscheinungen; am wenigsten muß man aber durch dieselben veranlaßt werden, sofort eine Hirnentzündung zu fürchten; am allerwenigsten würde jedoch eine solche vorhanden sein, wenn das kranke Kind nebenbei noch hustet, bricht oder laxirt, denn dann ist sicherlich eine Störung im Athmungs- oder Verdauungsapparate die Ursache der Krämpfe. Daß Kinder in Folge des Zahnens sterben oder überhaupt nur ernstlich krank werden können, kann nur von alten Weibern und von solchen Aerzten behauptet werden, die keine Kenntniß vom kindlichen Organismus und seinen [197] Krankheiten haben. Freilich ist es für diese weit leichter zu sagen: das kommt von den Zähnen, als durch genaue Untersuchung mit Hülfe des Beklopfens und Behorchens den wahren Sitz und die Art des Leidens zu ergründen. – Von den genannten tödtlichen Kinderkrankheiten sind nun die drei häufigsten, nämlich die Entzündung im Athmungs- und Verdauungsapparate, so wie die Blutarmuth, ebensowohl ganz zu verhüten, wie auch bei ihrem ersten Entstehen in den gehörigen Schranken zu halten. Bei der Hirnhautentzündung schwindsüchtiger Kinder, und überhaupt bei Lungen- und Bauchschwindsucht (Drüsen-Tuberculose) ist aber alle Hoffnung auf Genesung eitel und sollten mehrere Kinder von denselben Aeltern an einer solchen Krankheit gestorben sein (was ja die Section lehren muß), dann hat der Arzt die Verpflichtung, gegen dieses Uebel schon vor der Geburt des Kindes und gleich von dieser an diätetisch (durch Luft und Nahrung bei Mutter und Kind) zu wirken.

Von den entzündlichen Affectionen im Athmungsapparate, welche Kindern leicht den Tod zuziehen können, ist die häufigste die Lungenentzündung, die weit seltenere aber die häutige Bräune oder der Croup. Beide Entzündungen beginnen in der Regel, abgesehen von einem stärkern oder schwächern Fieber (d. i. beschleunigter Puls, beschleunigtes Athmen und Hitze der Haut) und einer schwächern oder stärkern Hirnaffection, mit leichten katarrhalischen Erscheinungen im obern Theile des Athmungsapparates, nämlich entweder mit öftern Niesen und Absonderung eines dünnen Schleimes aus der Nase, oder mit Heiserkeit und Hüsteln. Bald schneller, bald langsamer steigern sich diese Beschwerden zum heftigen Husten, kurzen und rasselnden Athmen und endlich zu Erstickungszufällen. Forscht man den Ursachen dieser Entzündungen nach, so ergeben sich als solche in den allermeisten Fällen entweder das Einathmen einer rauhen kalten oder auch unreinen (staubigen, rauchigen) Luft, oder eine stärkere Verkühlung der äußern Haut. Gewöhnlich wirkte die kalte Luft nach vorhergegangener größerer Erwärmung ein. Es wird sich ferner noch finden, daß die ersten Anfänge des Katarrhes nicht gehörig beachtet wurden und daß man damals das Kind noch nicht als wirklich krank betrachtete. – Auf Grund dieser Thatsachen läßt sich nun zur Vermeidung der genannten tödtlichen Entzündungen anrathen, kleine Kinder niemals einer rauhen, kalten, unreinen Luft zum Athmen und überhaupt der Erkältung auszusetzen. Deshalb müssen kleine Kinder bei kalter Luft, zumal bei Nord- und Ostwinden, im Winter und im Sommer, hübsch in der Stube bleiben; in der Stube selbst aber und auch im Schlafzimmer muß auf gleichmäßig warme (+12 bis 14°), reine Luft gehalten werden; die Kleidung des Kindes darf weder eine zu warme noch auch eine zu dünne sein (wenn schon die Kinder viel Wärme in ihrem eigenen Körper entwickeln). Vorzüglich ist aber ein schneller Wechsel zwischen warmer und kalter Luft zu vermeiden; das Heraus- und Hereintragen und Laufen der Kinder aus der Stube taugt gar nichts, ebensowenig der Aufenthalt in staubiger und rauher Atmosphäre; das Schlafen der Kinder in kalten Zimmern, während sie beim Wachen in warmen sich aufhielten, ganz besonders aber das frühzeitige Abhärten der Kinder durch kalte Waschungen und Halbnacktgehen, erzeugte unendlich oft schon Schnupfen, Husten, Keuchhusten, Bräune, Lungenentzündung und Tod derselben. Eine vorsichtige Mutter kann eigentlich ohne Thermometer und Windfahne gar nicht existiren, wenn sie ihre kleinen Kinder vor gefährlichen Hustenkrankheiten beschützen und vor den oft unheilbaren Folgen derselben bewahren will. Eine Menge von Lungenleiden schreiben sich aus der ersten Jugend von solchen Krankheiten her. Nicht nur einfältig, sondern sogar verbrecherisch ist es, wenn man diese von der Natur gebotene Sorgfalt für die Kinder während ihrer ersten Lebensjahre für unnütze Verweichlichung erklärt und den Müttern etwas Sorglosigkeit anempfiehlt. Man bedenke wie die Thiere mit ihren Jungen und die Gärtner mit den Pflänzchen umgehen, man bedenke, daß es der Beruf der Mutter ist, für ihr Kind naturgemäß zu sorgen. – Sind nun aber doch bei einem Kinde die ersten Spuren von Katarrh der Nase, des Kehlkopfes oder der Luftröhre, wie Schnupfen, Heiserkeit, Husten eingetreten, dann ist es gewissenlos, diesen Zustand deshalb leicht nehmen zu wollen, weil er sehr oft ungefährlich bleibt und von selbst verschwindet; gar häufig steigert er sich auch zum Keuchhusten, zur Bräune oder Lungenentzündung. Darum ist dieser Katarrhalzustand in Grenzen zu halten und zwar dadurch, daß man das kranke Kind forwährend eine reine, aber etwas wärmere Luft (+ 15 bis 16) als gewöhnlich, und nicht blos bei Tage, sondern auch bei Nacht, einathmen läßt. Hinsichtlich der Nahrung braucht keine Aenderung getroffen zu werden, denn ein Kind bedarf seines regern Stoffwechsel wegen der nahrhaften Kost (Milch). Wehe dem kindlichen Organismus, wenn jetzt schon der Arzt mit seinen Arzneimitteln über ihn kommt, dann folgt Appetitlosigkeit, Erblassung und Abzehrung unwiederbringlich. Jedes wirklich wirksame Arzneimittel (besonders Brechweinstein) ist bei diesem Zustande nicht blos unnütz, sondern schädlich; Mandelmilch, Gummischleim, Syrupe und was sonst gewöhnlich noch Unwirksames verschrieben wird, sind aber keine Arzneien, sondern Nahrungsmittel.

Der Magen-Darmkatarrh oder der Brechdurchfall ist ebenfalls ein krankhafter Zustand, welcher viele kleine Kinder hingerafft und zwar theils deshalb, weil diese hierbei wegen der gestörten Magen- und Darmverdauung nicht die gehörige Menge Nahrungsstoff in das Blut aufnehmen können, theils darum, weil in Folge des Durchfalls eine Menge nahrhafter Bestandtheile aus dem Blute verloren gehen. So muß natürlich das Leben wie die Flamme einer Lampe verlöschen, der man nicht nur Oel nicht zugießt, sondern sogar entzieht. Bisweilen beschränkt sich der Katarrh blos auf den Darm und giebt sich dann durch Diarrhöe allein zu erkennen; ergriff er dagegen blos den Magen, dann deutet er sich durch Appetitlosigkeit und Brechen ohne Durchfall an. – Die Ursache des Magen-Darmkatarrhs ist, wie bei den Hustenkrankheiten, in den allermeisten Fällen auch wieder die Kälte und zwar dann, wenn sie auf das Innere oder Aeußere der Baucheingeweide einwirkte. Lächerlicher Weise hört man freilich gar nicht selten auch das Zahnen als Ursache des Durchfalls angeben. Erkältung des Bauches, kaltes Trinken, kalte Bäder und Klystiere ziehen am meisten diesen Krankheitszustand nach sich; vorzüglich gehört hierher auch das Bloßstrammpeln (Aufdecken) der Kinder, besonders im Schlafe und bei kalter Luft, das schlechte Tragen derselben auf dem Arme (wobei Füße und Bauch zum Theil entblößt werden) und das Abhalten zum Uriniren im Freien (zumal wenn das Kind vorher im warmen Bette lag), das Setzen auf zugige Abtritte, das Einwickeln in kalte und feuchte Windeln, das Trinken kalter Milch oder kalten Wassers und Bieres, Erkältung beim Baden. Aus dieser Aufzählung von Gelegenheitsursachen geht von selbst hervor, worauf eine gewissenhafte Mutter zu achten hat, damit ihr Kind nicht vom Brechdurchfalle heimgesucht werde. Vor Allem muß die Erkältung des Bauches, welche ja auch bei Erwachsenen so oft Leibschmerz, Diarrhöe und selbst die Cholera hervorruft, vermieden werden, sodann ist natürlicher Weise stets auf die richtige Nahrung zu halten. (Welches die richtige Nahrung für kleine Kinder ist, siehe unten und in einem spätern Aufsatze.) – Die erste krankhafte Erscheinung, welche nicht unbeachtet bleiben darf, ist in der Regel der Durchfall, der nach und nach immer häufiger, wäßriger und farbloser wird und sich später erst mit Brechen verbindet. Gegen diesen Durchfall wirkt am besten die Wärme, welche in Gestalt der Bettwärme, einer warmen Bauchbinde, warmer Tücher, warmer Kräutersäckchen oder Umschläge auf den Bauch, warmer schleimiger Getränke und Klystiere angewendet werden kann. Bei häufigerem Durchfalle, zumal mit Brechneigung und Erbrechen muß das Kind durchaus im Bette bleiben und warme Breiumschläge (von Hafergrütze, Leinsamen) über den Leib bekommen; die Nahrung darf keine andere als eine warme flüssige und nahrhafte sein, und nach dem Alter des Kindes und dem Zustandes des Magens aus reiner oder verdünnter Milch, Fleischbrühe, Eiflüssigkeit und Schleim bestehen. Ist das Kind vor nicht so langer Zeit entwöhnt worden, dann thut eine Amme die besten Dienste. Es steht sehr schlimm um das Kind und es ist die letzte Hülfe, wenn der Arzt hierbei wirksame Arzneinen verordnet.

Blutarmuth oder Bleichsucht (s. Gartenlaube Jahrg. I, No. 49) ist bei kleinen Kindern, auch wenn diese nicht an Brechdurchfall und Knotensucht (Tuberculose oder Scrophulose) leiden, eine weit häufigere Veranlassung zum Tode als man gewöhnlich meint und wird von den Aerzten gewöhnlich für allgemeine Schwäche und Auszehrung, krankhaftes Zahnen, Hirnkrämpfe und hitziger Wasserkopf erklärt. Es tritt hierbei der Tod entweder unter fortwährend zunehmender Erblassung und Abzehrung des ganzen Körpers oder wegen des Blutmangels im Gehirne unter den Erscheinungen [198] einer Kopfaffection (mit Zuckungen, Krämpfen aller Art, Betäubung) ein. Das Erstere ist vorzugsweise dann der Fall, wenn ein Kind überhaupt zu wenig Nahrungsstoff bekommt und sonach verhungert; das Letztere kommt am häufigsten bei Kindern vor, die eine unzweckmäßige Nahrung erhalten und dabei sogar fettleibig sind. Auch bei wohlhabenden Leuten, nicht blos bei Armen, die selbst nicht zu brocken und zu beißen haben, können kleine Kinder den Hungertod sterben und zwar dann, wenn die stillenden Mütter oder Ammen nicht genug Milch haben und der Arzt, die eigentliche Quelle des Leidens verkennend, mit Arzneimittel (besonders mit Quecksilber, Abführmittel, Blutegeln) zu kuriren anfängt. Eine unzweckmäßige Nahrung würde aber eine solche sein, die vorzugsweise aus Stärkemehl, Zucker oder Fette, sonach aus Stoffen bestände, welche wohl Fett bilden aber nicht zur richtigen Ernährung der lebenswichtigen Organe des Körpers verwendet werden können. Solche Nahrungsmittel sind vorzüglich: Sago, Arrow-Rout, Salep, Kartoffeln, Mehlsachen und Gebäcke. Da aber diese Stoffe das Kind zur Freude unerfahrner Mütter wollsackähnlich dick machen, so sind sie in großer Aufnahme, sogar unter den Aerzten. – Daß bei genügender und naturgemäßer Nahrung ein Kind, wenn es sonst nur diese gehörig verdauen kann, den Tod durch Blutarmuth nicht erleiden wird, versteht sich wohl von selbst. Ob aber die richtige Menge Nahrungsstoff in den kindlichen Körper geschafft wird, zeigt die Menge der Ausleerungen (besonders des Urins), das Zunehmen oder Abnehmen an Fleisch und Gewicht, das schnellere oder langsamere Wachsthum und die Beschaffenheit der Haut. Diese letztere wird nämlich bei Blutarmuth nicht blos blässer, sondern gewöhnlich auch schlaffer, dünner und runzlicher, oder bei fettleibigen Kindern wachsartig bleich mit gelblichem oder grünlichem Schimmer. Um übrigens ein Kind hinsichtlich seines Ernährungszustandes richtig zu beurtheilen, muß man Rumpf und Gliedmaaßen desselben betrachten, da das Gesicht oft noch lange voll erscheint, während der übrige Körper schon abzehrt. Eine naturgemäßge Nahrung muß aber neben den fetten und fettbildenden Stoffen auch noch eine ziemliche Menge von Eiweißsubstanzen (Käsestoff, Eiweißstoff, Faserstoff, s. Gartenlaube Jahrg. I. No. 39), sowie Kochsalz und Kalksalze enthalten. Deshalb sind Milch (s. Gartenlaube no. 12), Fleisch und Fleischbrühe, so wie Ei nicht zu entbehrenden Nahrungsmittel für Kinder. [Ausführlicheres über die naturgemäße Ernährung kleiner Kinder s. später.]

Daß bei Beobachtung der angegebenen Vorsichtsmaßregeln kleine Kinder von den genannten todbringenden Krankheiten äußerst selten befallen werden, davon können sich gewissenhafte und verständige Aeltern recht leicht eben so überzeugen, wie dies der Unterzeichnete seit 25 Jahren gethan hat. Aber leider wie viele Aeltern sind denn in dieser Hinsicht verständig? Nun vielleicht machen meine Worte doch auf Solche einigen Eindruck, die bei ihren Kindern schon schwerere derartige Krankheiten oder gar Todesfälle erlebt haben. Müttern, welche nach Durchlesung dieser Zeilen sagen: „ei da hätte man viel zu thun, wenn man das Alles beobachten wollte,“ werde hiermit ihrer Gatten und meine vollste Verachtung zu Theil. Von vernünftigen Vätern und Aerzten fordere ich aber, daß sie sich mehr als dies bis jetzt gewöhnllich geschieht, um das Wohl der kleinen Kinder kümmern. Ein gebildeter Mann sucht in der Ehe nicht blos Genuß und Behaglichkeit für seine Existenz und glaubt genug zu thun, wenn er für seine Kinder das Erforderliche erwirbt, sondern er verschafft slich so wie der Mutter seiner Kinder auch die gehörige Einsicht in die körperliche und geistige Erziehung des Kindes und weiß dann in seinem Hause bei Weib und Kind das Rechte durchzusetzen. Freilich gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.
(B. = Bock.) 




Die Markthallen in den amerikanischen Städten.
Von G. L. Lindner.

Wenn Obst- oder Butterhändlerinnen, Wildprethändler, wohl auch Fleischer und andere Verkäufer auf unsern Marktplätzen bald von Sonnenbrand, bald von Sturm, bald von Regen oder Schnee zu leiden haben oder durch eine lockere Bude nur dürftig dagegen geschützt sind, so haben sie wohl Ursache, ihre Standesgenossen in Nordamerika, wenigstens in den bedeutenderen Städten des Landes, zu beneiden. Dort sitzen sie unter den Säulengängen und an den Pfeilern der Markthäuser oder Markthallen, die gewöhnlich längliche Vierecke bilden und bald mitten in einer langen und besonders breiten Hauptstraße, bald zwischen mehreren Stadttheilen oder nach einem Flusse zu angebracht sind. Wir haben viele derselben in mittleren und größeren Städten, welche letztere meist mehrere haben, betreten und die Einrichtung in Gegenden, die so weit auseinander liegen, daß man in Europa auf bedeutende Unterschiede in Sprache, Tracht und Sitte der Bewohner stoßen würde, ziemlich gleichartig gefunden.

An den Hauptpfeilern haben die Fleischer ihre Stände, die für jeden derselben täglich einen halben Dollar zu zahlen haben. Meistentheils sieht man bei ihnen nur Rinder und Schweine hängen, die im Leben hier frei in Wäldern und auf Lehden herumlaufen und darum weit leichter, als bei uns, zu ziehen sind, freilich aber auch minder fett werden. Letzteres gilt zumal von den Rindern des Südens, denen das struppige, saftlose Waldgras nicht die beste Weide bietet. Die Schafzucht, für Australiens dürre, baumlose Gegenden ganz geeignet, ist in Nordamerika, wo das Wollvieh in Wäldern wenig geeignete Nahrung finden würde, nicht bedeutend. Neben zahmem Vieh haben wir in den Markthäusern größerer Städte auch Hirsche und Wasservögel gesehen; zweimal ist uns sogar ein ausgeschlachteter Bär mit dem schwarzen Felle daneben vorgekommen. Der Geruch des Fleisches und der weggeworfene Abgang lockt im Süden – wenigstens fiel uns dies in Charleston in Südcarolina auf, sobald wir den Fuß an’s Land gesetzt hatten – zahlreiche Aasgeier oder Truthahnfalken an, große schwarze, den Raben ähnliche, doch mit einer rothen Haut um die Wurzel des Schnabels versehene Vögel, die in den wärmeren Theilen Nord- und Südamerika’s durch Aufzehrung des Aases, das ihr scharfer Geruch bald wittert, die durch sumpfige Dünste ohnedies gefährliche Luft reinigen. Da sie hierdurch eine große Wohlthat der Bevölkerung sind, so ist die Tödtung jedes solchen Vogels bei fünf Dollars Strafe verboten; die hieraus entstandene Schonung aber hat die schwarzen Gesellen so dreist gemacht, daß sie in der Nähe der Fleischerstände, deren Abfälle ihnen gleich dem Aase behagen, zwischen den zahlreich hin und her eilenden Menschen, deren jeder sie fast mit Händen greifen könnte, keck daherschreiten. Daß Sonntags kein Markt gehalten wird, ist ihnen durch Erfahrung ebenfalls begreiflich geworden; sie bleiben weg.

Neben dem Fleische werden in jenen Hallen Fische aus Flüssen, wie aus dem Meere Krebse und im Süden verschiedenartige Schildkröten feilgeboten. Die größten der letzteren, im Meere durch Netze, die man von Böten aus unter ihnen hinweggezogen, oft im Schlafe gefangen, sind auf den Rücken gelegt und würden sich, zumal da die Natur sie mit flossenartigen Gliedern versehen hat, selbst auf dem Bauche hier wenig bewegen können; doch hüte man sich, mit der Hand zwischen ihre messerscharfen, nach Luft schnappenden Kinnladen zu kommen, – man könnte die Finger einbüßen. Auch an Früchten und Gemüsen ist kein Mangel, obschon die Mannigfaltigkeit gerade nicht bedeutend ist. Der Norden liefert dem Süden Aepfel, der Süden dem Norden Apfelsinen; in New-Orleans fanden wir beide neben einander zu Pyramiden aufgethürmt und zu ziemlich gleichen, nach unseren Begriffen für die einen etwas hohem, für die andern niedrigem Preise. Auch ganze Trauben gelber Bananen, die man auf Cuba noch vor völliger Reife gebrochen und über den Golf gebracht hat, hängen oft dazwischen, und von Ananas, hier der Gestalt wegen Fichtenzapfen genannt, kam uns einmal ein ganzer Wagen voll vor. Am meisten fallen die großen dunkelgrünen Wassermelonen in’s Auge, gegen welche zahlreiche, weingelbe, hier zu Lande jedoch minder saftige Pfirsichen abstechen. Daneben finden noch Hickorynüsse und in einer kurzen Zeit des Jahres kleine, den Kirchen gleichende Pflaumen Platz, die an kleinen Bäumen mit schlehenartigen Blättern



[199] wachsen und oft zu Kuchen verwandt werden. Andere Früchte sind selten, oft weit hergebracht und ziemlich theuer; die ganze amerikanische Landwirthschaft, die theils noch zu sehr mit dem Fällen der Waldbäume beschäftigt, theils, wie das übrige Leben, zu sehr auf schnellen Gewinn berechnet ist und sich daher lieber mit Mais, Taback, Baumwolle u. a. einjährigen Gewächsen abgiebt, ist dem Anbaue und der Pflege von Obstbäumen um so weniger günstig, als der, welcher sie pflanzt, selten wissen würde, wem seine Mühe zu Gute käme und ob dieselbe ihm überhaupt vergütet würde. Bei der allgemeinen Wanderlust und dem fortwährenden großartigen Zuge gegen Westen sieht kein Grundbesitzer voraus, wie viele hundert Meilen weiter dorthin einst seine Kinder ihr Brot essen werden, ist vielleicht mancher selbst noch nicht fest entschlossen, auch nur im Alter in der Jahrzehnte lang bewohnten Gegend zu bleiben. Doch wir kehren in die Markthallen zurück, wo wir Kartoffeln in Tonnen verpackt, an deren Seite man kleine Luftlöcher gehackt hat. Kohlköpfe, die die englische Küche meist nur in zwei Stücke schneidet, die rothen Blasen des spanischen Pfeffers, hier mit Essig versetzt als häufiges Gewürz gebraucht, süße Rüben, große dunkelviolette Eierfrüchte, unsern in Scherben gezogenen weißen verwandt, und eine den Knollen des Kohlrabi ähnliche Frucht, Squash genannt, erblicken. Salatköpfe und Radieschen gedeihen auf Louisiana’s fruchtwarmem Boden, der selten von einem leichten Froste heimgesucht wird, den ganzen Winter hindurch; neben ihnen sind in den Hallen der mittleren und südlichen Staaten die süßen Bataten, die länglichen Wurzelknollen einer windenartigen, aber Seitenranken treibenden Pflanze, ein stehender Handelsartikel, der dort, gekocht, oder leicht geröstet, fast täglich zu unserm Frühstück gehörte und den wir bei seinem kastanienartigen Geschmacke später sehr vermißt haben.

In der Nähe dieser Markthäuser halten sich Obst- und Kuchenhändlerinnen, Schleifer u. a. Leute auf, die sich, ohne ein Standgeld zahlen zu können, dem Publikum anbieten; eine noch bescheidenere Rolle nehmen in New-Orleans und mitunter in Mobile u. a. Städten des Westens die hereingekommenen Indianer ein, die, freilich nur die Äermsten ihres fast ziemlich cultivirten Stammes, mit erlegten Eichhörnchen oder wilden Kaninchen und mit mancherlei ihnen durch langen Umgang mit der Natur bekannt gewordenen Theekräutern Handel treiben. Auch wagt es wohl manche arme deutsche Frau, die jenseit des Oceans den Wohlstand nicht sogleich gefunden hat, den sie suchte, ihre im Walde rasch gesammelten Brombeeren oder Lorbeerblätter auszubieten.

Sehen wir uns nun aber auch nach den Einkäufern in diesen Hallen um. Wo sind die Köchinnen und Dienstmädchen, wo die ehrsamen Bürgersfrauen, die wir auf unsern Märkten feilschen und ihre Körbe vollpacken sehen? Eine deutsche Landsmännin, die die gewohnte Sitte auch im neuen Vaterlande nicht aufgeben kann, begegnet uns hie und da in dem Gewühle unter weißen und farbigen Gesichtern; die Amerikanerin aber, durch die bis zur Uebertreibung gestiegene Achtung vor dem weiblichen Geschlechte stolz und durch den Stolz, zumal in den Sklavenstaaten, träg gemacht, hat mit Putz und Besuchen mehr zu thun. Namentlich scheut sich die weiße Frau vor allen solchen Arbeiten, die im Geringsten zu erniedrigen scheinen, und wie im Norden, wo es keine Sklaverei giebt, die Mägde auf dem Lande das Melken, diese bei uns so entschieden weibliche Arbeit, verschmähen und meist den Knechten, wo nicht gar dem Herrn, überlassen, wie ferner nicht leicht eine Mutter ihr Kind trägt, sondern der Gatte, will er nicht für höchst ungalant gelten, diese Bürde als sein Vorrecht betrachten muß; so würden die meisten Frauen, selbst wenn sie keine Sklaven auszuschicken haben, auch Einkäufe auf dem Markte unter ihrer Würde halten. Und so erblickt man denn die Handkörbe mit dem eingekauften Fleische und Gemüse am Arme flinker Kellner oder ihrer Gastwirthe selbst oder wohlhabender, oft zierlich gekleideter Hausväter aller Stände, selbst Lehrer und Prediger nicht ganz ausgenommen. Zugleich aber werden die Markthäuser größerer Städte am frühen Morgen bei günstigem Wetter die Sammelplätze der vornehmen Welt. Für diese aber oder sonstige hungrige und durstige Seelen, die während des Tages vorübergehen und sich für ein Geringes erquicken wollen, sind an einigen der äußersten Randpfeiler große blecherne, fortwährend warmgehaltene Kessel mit einer Abtheilung für Kaffee und einer andern für Milch, bisweilen auch einer dritten für Chocolade aufgestellt, welche Getränke denn der Verkäufer dem Begehrenden aus eben so viel Hähnen strömen läßt, während er ihm auf einem kleinen Teller dazu ein Stück, Blättergebackenes reicht. Die Unternehmer dieses Geschäftes sind meist Deutsche, nicht selten Frauen, wie denn überhaupt gewisse Erwerbszweige vorzugsweise in die Hände gewisser Nationen gekommen sind. Denn blicken wir von dem Marktgebäude ein wenig hinweg – wir sprechen hier nur von New-Orleans – den Mississippidamm auf- oder abwärts, so fallen uns verschiedene Breterbuden mit ganzen Hügeln großer Muschelschalen daneben in’s Auge. Hier haben die Austerhändler ihren Sitz, die für fünf Cents dem Besucher vier Stück ihrer bereits den Schalen entnommenen Seethiere mit Essig, Oel, Pfeffer, Salz und Schiffszwieback oder anderem harten Gebäck anbieten. Diese Händler aber sind fast ohne Ausnahme Spanier.

Ein ganz anderes Schauspiel bieten uns diese Hallen des Sonntags. Der Lärm und das geschäftige Treiben der Wochentage schweigt; höchstens in dem weniger religiösen äußersten Süden halten ganz früh die Fleischer feil, wie wir dies in Mobile gesehen haben. Nachmittags aber kann man hier nicht selten die Bußreden wandernder Methodistenprediger vernehmen. Wir sahen in Baltimore einen englischen und in einem daneben stehenden Markthause zwei deutsche Prediger nacheinander auftreten, die die Gemüther der Zuhörer durch Schilderung der Sünde erschütterten und durch Verweisung auf die Gnade, der das Dasein der Sünde angenehm sei, weil sie sich an ihr zeigen könne, wieder erquickten, um nachher den deutschen Anwesenden – ihre Wohnung anzudeuten und ihren Unterricht im Englischen anzuempfehlen.

Nichtsdestoweniger wollen wir gern zugeben, daß manche wochenlang nur von Gewinnsucht erfüllte Seele sich bei diesen nach apostolischer Weise recht eigentlich „auf dem Markte“ gehaltenen Reden Erbauung geholt hat. Dem gedrückten Neger besondern sind sie oft die einzige Quelle, aus der Gottvertrauen, Trost und edleres Gefühl in sein unter harter Arbeit und vielfachen Mißhandlungen verkümmerndes Dasein flieht. Leider erinnert uns dies noch an eine traurige Bestimmung mancher Hallen. Auf einem Markthause in Charleston erblickten wir ein dem Anscheine nach geräumiges und sogar mit einem Thurme geziertes oberes Stockwerk und fragten einen deutschen Landsmann nach dem Zwecke dieses Saales, der uns an unsere Tuchböden erinnerte. „Nun, hier werden manchmal die Schwarzen ausgestellt und verkauft.“ „Also ein Sklavenmarkt?“ „Nun ja, man darf es aber nicht so nennen; sie hören es nicht gern.“




Von den Ufern der Ostsee.
Nr. 3. Kronstadt und Petersburg.

Die englische Flotte in der Ostsee ist mit ihren beinahe 3000 Kanonen, darunter manche Vier- und Sechsundachtzig-Pfünder, die furchtbarste, welche die Welt je beisammen sah. Sie ist dreimal stärker, als die Nelson’ s, der 1801 in der Ostsee über dreimal stärkere, vereinte Feinde siegte, indem er Dänemark zwang, von der nordischen Aliance zurückzutreten. Wohl Mancher traut ihr deshalb, besonders unter Napier, zu, daß sie sich als einen guten Hafen Aland nehmen und dann den finnischen Meerbusen hinaufsegeln und dampfen könne, um sich Petersburg zu kaufen. Das Geschäft würde indessen nicht so leicht sein. Viele halten’s auf dem offenen Wege des Kampfes für unmöglich. Die Flotte müßte nämlich Kronstadt passiren, das etwa vier deutsche Meilen vor Petersburg den Seeweg mit 600 großen und unzähligen kleineren Kanonen-Augen bewacht, die im Falle der Noth ein solches Kreuzfeuer und einen solchen dichten, schweren eisernen Kugelregen auf die allein gangbar gelassenen Wasserstraßen unterhalten könnten, daß kaum eine Katze lebendig hindurchkommen würde. Unsere Zeichnung giebt ein sehr genaues natur- und kriegswissenschaftlich

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[201] ausgeführtes Bild dieser Kanonenstrahlen. Die Linien stellen zugleich die Tragweite der verschiedenen Kanonen und Mörser figürlich dar. Wo diese Strahlen – ein ganz respektabler Heiligenschein Kronstadt’s – dünner erscheinen, sind sie entweder gar nicht oder wenigstens nicht dichter nöthig, da in diesem Falle die Vertheidigung unter dem Wasser liegt, entweder von Natur oder von der Kunst besorgt. Zu ersterem Falle ist das Meer so seicht, sandbankig und gefährlich, daß kein respektables Schiff daran denken kann, mit heiler Haut nur in das Bereich des „Heiligenscheines“ zu kommen. In letzterem Falle sind es Pfähle und Granitblöcke, die unter dem Wasser wie eine Festungsmauer hinlaufen. Auf diese Weise ist z. B. die ganze Breite des Meeres zwischen Kronstadt und Lisi Noß (siehe die Zeichnung im verkleinerten Maßstabe) für jedes größere Fahrzeug geschlossen. Auf der andern Seite, wo die eigentlichen Seestraßen nach Petersburg laufen, ist Alles seicht und gefährlich oder ganz unpassirbar, was nicht doppelt, drei- und vierfach im Bereich der Kanonen liegt. Die „große“ und die „kleine Straße“ zwischen dem Alexander- und Peter-Fort und dem großen mit Kanonen bedeckten Damm, der die Höhen und die Pulvermagazine einschließt, auf der einen Seite und Cronslott und Risbank auf der andern, auf welcher allein Kriegs- und Handelsschiffe Petersburg erreichen können, sind so furchtbar und vielseitig gegen nicht willkommene Gäste geschützt, daß jeder 2 – 300 kalte und glühende Kugeln und Paixhänse in den Leib bekäme, ehe er aus der großen in die kleine einlaufen könnte. Aus der kleinen allein könnten ihm die 44 Kanonen des Menzikoff-Forts acht bis zehn Ladungen in die Brust geben, wenn es sich inzwischen die zehnfachen Grüße der 70 Kanonen und 12 Mörser, die ihm von links von den Hafen-Dämmen her entgegen jauchzen, nicht zu sehr zu Herzen genommen haben sollte. Inzwischen ist schon dafür gesorgt worden, daß die englische Flotte auf dem ganzen Wege im finnischen Meerbusen den tödtlichsten Steinschmerzen ausgesetzt würde. Er war nämlich noch im April größtentheils zugefroren. Auf das Eis würden nun da, wo die tiefen Fahrstraßen liegen, ungeheuere Felsblöcke gewälzt, deren Spitzen den Schiffen in den Bauch fahren würden, wenn sie sich über sie hinwegzuwagen den Muth hätten.

Im Uebrigen bedarf es hier um so weniger weiterer Worte, als die Zeichnung in ihrer Anschaulichkeit selbstredend genug wird. Wir bemerken nur noch, daß die langgestreckte flache Insel, auf deren breitestem Endpunkte sich Kronstadt von Granit, Eisen und Holz in lauter straffen militärischen Linien erhebt – strenger Lapidarschrift autokratischer Regierungsform und eines Staates, dessen ganzes Leben und Streben auf Eroberung auf dem Wasser gerichtet ist – daß die Kronstadt-Insel in den Seiten und besonders an ihrer Spitze durch eine unzählige Menge kleine Inselchen, Felsstücke und Sandbänke natürlich geschützt ist, wo die Kunst und die Politik nicht mit Kanonenaugen wachen. Unter den Inselchen an der Spitze derselben erhebt sich eine imposante Granitmasse, die an hellen Nächten wie Alpen im Abendroth glüht, da sie von einem 95 Fuß hohen Leuchtthurme, der 1/2 Meile vor ihr die Wasserrücken spielend beleuchtet, illuminirt wird.

Kronstadt selbst bietet im Innern für den Laien wenig Anziehendes, da Architektur, Häuser, Straßen, Magazine, Leben und Gesellschaft von einem streng militärischen Geiste durchhaucht sind. In das Observatorium ist noch kein Reisender gekommen, der es hätte schildern können. Wahrhaftig großartig soll die Dampfmaschinen-Anstalt der Festung sein, worin außer Maschinen besonders Kanonen und Kugeln, Anker und sonstige metallene Schiffsutensilien gegossen und geschmiedet werden. Die Bewohner Kronstadt’s sind außer der bedeutenden Militärmasse, Arbeiter und Beamte in den verschiedenen Officinen der Regierung und Lieferanten, Handelsleute und Ladenbesitzer, die für den Bedarf und die Bequemlichkrit der Bewohner die nöthigen Materialien von Petersburg importiren. Die Verbindung mit der Hauptstadt wird durch regelmäßige Dampfschifflinien unterhalten, welche blos an dem einzigen Hafendamme an der nordöstlichen Spitze landen dürfen. Er ist durch 16 Kanonen und eine Ziehbrücke, außerdem durch eine strenge Controle der Kommenden und Gehenden gesichert. Die Wasserthore, welche in die vier Docks und Häfen im Süden führen, sind ebenfalls nur nach strenger Controle und mit besondern Erlaubnißscheinen, die beiden Kriegshäfen aber in der Regel gar nicht zugänglich.

Was Petersburg selbst betrifft, so lassen die Mündungen der Newa mit ihren vielen Untiefen und Sandbänken nur sehr enge Straßen für größere Fahrzeuge. Jene großen Leuchtschiffe bezeichnen und erhellen die beiden Hauptzugänge, durch welche nur der kundigste Pilot die richtige Fährte finden kann. Von der Stadt selbst wollen wir hier weiter nichts sagen und nur auf die zum Theil prächtige beinahe 10 deutsche Meilen am südlichen Gestade sich ausstreckende Vorstadt aufmerksam machen. Sie besteht aus kaiserlichen Palästen, Katharinhof, dem Peterhof-Palast, Oranienbaum u. s. w.. Gruppen von Privatpalästen, kleineren Städten, Parken, Festungswerken, Exercierplätzen, Gärtnereien, Treibhäusern u. s. w. und dürfte im Sommer in Natur und Kunst mit manchen stolzen und berühmten Dekorationen von Hauptstädten wetteifern. In der Kunstgärtnerei hat man’s hier weiter gebracht, als selbst in den weltberühmten Gärten in Kew (Kju) bei London. Bei 30 Grad Kälte läßt sich der Fürst oder große Kaufmann frische Erdbeeren oder Kirschen oder Weintrauben vom Baume abschneiden, um den Gaumen zum Nachtisch damit zu erfrischen. Eine berühmte Künstlerin erfuhr zufällig, daß man bei einem Mahle, welches man ihr zu Ehren gab, beiläufig für 6000 Rubel Erdbeeren und Kirschen verzehrt habe. Da es in der vornehmen Welt aller Länder Sitte ist, Früchte und Gemüse nur dann zu essen, wenn sie gar nicht da sind (der englische Gesandte in Berlin ließ sich einmal um Weihnachten ein Gerichtchen frische Schoten für etwa zwei Louisd’or kochen), läßt sich leicht erklären, daß die Treib- und Gewächshäuser von Petersburg für ihre Kunst-Industrie, bei 30 Grad Kälte Erdbeeren zu reifen und Kirschen zu röthen, gute Kunden und Einnahmen erzielen. Im Uebrigen hängen uns alle diese Trauben zu hoch, und wir nehmen mit dem Bewußtsein von diesen Blumen und Früchten einer von Grund aus künstlichen, durch die Macht und Willenskraft absoluter Herrscher hervorgerufenen Welt Abschied, daß wir’s in den Armen der Natur, die auch in der strengsten Polizei ihren Kopf für sich behält, bequemer und gemüthlicher haben.

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Blätter und Blüthen.

Die Newa. Der harte nordische Winter schlägt leider fast die Hälfte des Jahres die Newanymphe in eiserne Banden. Erst im Anfange des April, selten am Ende des März, sind die Gewässer warm und kräftig genug, um den sie drückenden Eismantel zu sprengen. Dieser Augenblick wird mit Sehnsucht erwartet und kaum schieben sich die schmutzigen Eisschollen vor, den glatten Spiegel des Flusses so weit enthüllend, daß einem überfahrenden Boote freie Bahn vergönnt ist, so erdonnern die Kanonen von der Festung, diesen ersehnten Moment den Bewohnern verkündend. Zur selben Zeit, sei es Tag oder Nacht, steigt der Commandant der Festung, mit allen Insignien seines Ranges angethan und von seinen Offizieren begleitet, in eine prächtig geschmückte Gondel, um zum gegenüberliegenden Palaste des Kaisers zu fahren. In einen schönen, großen Krystallbecher schöpft er das klare Newawasser, um es als die erste und schönste Gabe den Flusses dem Kaiser im Namen des Frühlings darzubringen. Er meldet seinem Herrn, daß die Gewalt des Winters gebrochen sei, daß die Gewässer wieder frei seien und überreicht ihm den Newabecher, den der Monarch auf die Gesundheit seiner Residenz leert. Der Zeitpunkt der alljährigen Feier naht heran, und die Gondel des Commandanten harrt bereits in frischgetünchter Pracht ob des baldigen Ereignisses. Werden die Kanonen der Festung jedoch auch heuer so freudebringend ertönen, wird der Commandant auch heuer nach gewohnter Sitte seinem Herrn die Meldung bringen, daß die Gewässer wieder frei seien? Die „Petersburgerinsel,“ von der wieder durch kleine Flußarme die Apothekerinsel, die Insel Petrowskoi und eine Menge kleinerer abgetheilt sind, gewährt das meiste Interesse durch die auf einer besondern kleinen Insel vor ihr liegende Festung, die man vom Admiralitätsthurme aus in allen ihren Theilen übersieht. Sie bildet ein längliches Viereck, das große Vorwerke auf der Petersinsel und zwei andere kleine Inseln vorgeschoben hat, so daß sich auf den Kanälen, welche die Inseln von einander trennen, auch Schiffe unter die Kanonen der Festung sicher zurückziehen könnten. Es ist gut, daß die Petersburger gewöhnlich andere Dinge zu besorgen haben, sonst möchten sie wohl nicht ohne Schaudern an die Bestimmung dieser mitten in ihrer schönen Residenz liegenden Festung denken. Da sie rund herum von der Elite der Petersburger Häuser umgeben ist, so würden, wenn die Thätigkeit ihrer Kanonen einmal in Anspruch genommen werden sollte, ihre Kugeln furchtbar in den Eingeweiden des eigenen Fleisches wüthen. Da sie mitten in der Stadt auf niedriger Insel liegt, von wo aus sie nichts außer der Stadt dominiren und diese also durchaus nicht vertheidigen könnte, so kann der einzige Zweck ihrer Unterhaltung nur ein feindlicher gegen die Stadt selber sein, dem Kaiser und den ersten Häuptern und Kostbarkeiten als letzter Zufluchtsort zu dienen, sei es, daß die Stadt in Feindeshand geräth, sei es, daß sie aufrührerisch sich selbst gegen ihren Beherrscher erhöbe. Die Festung liegt dem Winterpalast gerade gegenüber, mit dem sie in beständigem Verkehre steht, und zeigt so deutlich Ihren Zweck. Im Kriege wohnt man drüben, im Frieden hüben. Die Newaarme unmittelbar an ihrer Mündung in’s Meer sind durch nichts befestigt, und wenn Kronstadt, das ihnen als Schloß und Riegel dient, seinen Dienst versagt, so mag dann die wehrlose Hauptstadt vor der Spitze des Dolches zittern, den sie im Busen trägt und den sie nicht zur Vertheidigung brauchen kann, ohne sich selbst zu zerfleischen.




Geistesgegenwart. Zwischen dem Grafen Flemming (✝ 1740), Gouverneur der Stadt Leipzig und dem damaligen Magistrate fielen verschiedene Zwistigkeiten vor. – Bei einem Gastmahle, bei dem der Graf zugegen war und auch der regierende Bürgermeister, der um Leipzig hochverdiente Hofrath Dr. Adrian Steger, kam die Rede auf den Zapfenstreich, den der Gouverneur Abends zuvor hatte schlagen lassen. – „Wissen Sie,“ fragte er den Bürgermeister, „auch den Text dazu?“ – „Nein,“ erwiederte dieser. – „Nun, er lautet:

Und wenn der Rath des Teufeln wär’,
So bin ich doch der Gouverneur.“

„Excellenz,“ versetzte Steger sogleich, „wir haben eine andere Lesart. Nach der heißt es:

Der König nur ist unser Herr;
Der Teufel hol’ den Gouverneur.




Naturarithmetik. Zum Beweise, wie nothwendig es ist, daß den erzeugenden Naturkräften andere zerstörende entgegenwirken, mag Folgendes dienen. – Das Bilsenkraut, vielleicht die saamenreichste Pflanze, würde nur eine Zeit von vier Jahren brauchen, um die ganze Oberfläche der Erde zu bedecken, wenn all’ ihr Saame Wurzel triebe. Ein Stengel dieses Krautes enthält zuweilen 5000 Saamenkörner; diese Zahl auf 1000 herabgesetzt, so würde sich die vierte Zeugung bereits auf 10,000,000,000,000,000 belaufen. Man berechnet aber die Erdfläche auf 5,359,758,336,000,000 Quadratfuß. Folglich würde, wenn man einem Stengel auch nur einen Quadratfuß einräumte, die ganze Erdfläche nicht für alle die Pflanzen hinreichen, die aus einer einzigen Bilse am Ende der vierten Zeugung, oder des vierten Jahres entsprössen. – Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Thierreiche. So würde z. B. die Nachkommenschaft einer einzigen Sau, die sechs Junge wirft, worunter zwei männliche und vier weibliche, wenn von diesen weiblichen ein jedes wieder sechs Junge, in gleichem Verhältniß der männlichen und weiblichen, in jedem Jahre zur Welt brächte und keines zerstört würde, sich in zwölf Jahren auf 33 Millionen, 554,430 belaufen. – Ungeheuer würde vollends die Vermehrung solcher Thiere sein, die nur wenige Wochen tragen, wie z. B. die Kaninchen, die Katzen u. s. w. Schon nach einem halben Jahrhundert würde die Erde nicht mehr im Stande sein, sie zu bergen und zu ernähren. – Nur wenige Jahre bedürfte es, und ein einziger Hering könnte den ganzen Ozean mit seiner Nachkommenschaft bevölkern. Wir wollen nur bei einem eitragenden Fisch 2000 annehmen, aus welchen tausend Männchen und tausend Weibchen ihr Dasein empfingen, so würden es im zweiten Jahre schon mehr als 2,000,000 im dritten 200,000,000, und im achten Jahre mehr sein als 2,000,000,000,000,000,000,000,000 Heringe. Nun enthält aber der ganze Erdkörper kaum so viel Cubikzoll, der Ozean würde also diese Fische nicht fassen können, selbst wenn er die ganze Oberfläche der Erde mit ihrer ganzen Tiefe einnähme.




Der Revalenta arabica-Schwindel. Die Berliner Feuerspritze bringt einen sehr derben Artikel gegen dieses sogenannte Heilmittel, dessen Ankündigung man jetzt in allen Zeitungen liest. Es wird immer eine Herkulesarbeit bleiben, den Augiasstall medicinischer Charlatanerie reinigen zu wollen und man kann es den wenigen Organen der Oeffentlichkeit nur Dank wissen, wenn sie bei den vielen schlechten Resultaten, die sie trotz aller Mühe erzielen, nicht erlahmen. Daß sich aber sogar Aerzte und Zeitungen finden, die dergleichen Schwindeleien unterstützen, wird mit Recht von der Feuerspritze an den Pranger gestellt.

„Eine treffliche Bundesgenossenschaft“ sagt sie „in dieser Razzia gegen das deutsche Publikum hat das englische Haus in unserer periodischen Presse gefunden, die mit unglaublicher Naivität sich zur Fanfare dieser Spekulation machte oder, was noch viel schlimmer ist, sich dazu erkaufen ließ. Wir haben ein Schreiben in Händen, in welchem die Herren Du Barry von der Redaktion einer wissenschaftlichen Zeitschrift gegen das Erbieten eines ziemlich ansehnlichen Insertions-Betrages die Aufnahme einer Reihenfolge lobender Artikel beanspruchen, mit der ausdrücklichsten Bedingung, daß nichts gegen die Revalenta arabica in die quästionirte Zeitschrift aufgenommen werden dürfe. Die wenigsten deutschen Zeitungen vermochten diesem Lockvogel zu widerstehen, und so ist es erklärlich, wenn wir in dem für literarische, wissenschaftliche etc. Notizen bestimmten Theile unserer Zeitungen jene aus der Du Barry’schen Fabrik hervorgegangenen Lobpreisungen mit Hinweis auf die in den Beilagen enthaltene merkantilische Annonce der Revalenta finden.

„Das Publikum, gewohnt, seinen täglichen Bedarf an Intelligenz aus dem Reservoir der Spener’schen und Vossischen zu schöpfen, nimmt bona fide jene Anpreisungen für Redactions-Artikel und hegt nicht den leisesten Zweifel an der ausgezeichneten Wirkung der Revalenta, denn sie hat „in der Zeitung gestanden“. – So machen sich unsere Redactionen, indem sie sich leichtsinnig zu jenen Manipulationen hergeben, zu Mitschuldigen einer absichtlichen Täuschung, welche die Herren Du Barry weiter auszubreiten verstehen, indem sie den Artikel, etwa einer süddeutschen Zeitung, mit den Worten beginnen lassen: „Die Berliner Spener’sche Zeitung sagt Folgendes etc.“ – Hätten unsere Zeitungen ihre Aufgabe richtig begriffen, spürten sie etwas von der moralischen Verantwortlichkeit, die auf ihnen lastet, sie würden sich nimmer, um eines pecuniären Vortheils willen, zu Werkzeugen eines solchen Verfahrens machen. – Von den deutschen Aerzten haben die Herren Du Barry nur drei zu ihren Annoncen-Dienern zu werben vermocht; Schreiber dieses hatte vor Kurzem Gelegenheit, einen derselben kennen zu lernen, und fand in dieser persönlichen Bekanntschaft bald den Schlüssel zu dem Räthsel, wie ein Arzt die Heilkraft der Revalenta gegen Lungenschwindsucht mit seiner Namensunterschrift zu attestiren vermöge. Originell ist das Zeugniß eines englischen Arztes und Chemikers, des Doctor Ure, welches die Herren Du Barry mit großer Emphase produciren; dieser Herr Ure ist der unparteiischste Mensch auf Gottes Erdboden und bezeugt nicht blos der Revalenta, sondern auch der Ervalenta und jedem andern aus der Linse, Wicke, Saubohne oder andern Ingredienzien hervorgegangenen Concurrenz-Produkte, daß es das beste und heilkräftigste ist.

„Mit solchen Mitteln haben nun die Herren Du Barry es vermocht, das deutsche Publikum zu verführen, ja sogar unter den sogenannten gebildeten Ständen enthusiastische Anhänger gemacht, deren einer, zum Hauptmann gesetzt über eine preußische Compagnie, jedem Gegner der Revalenta öffentlich einen „albernen Esel“ aufbrummt und dadurch der logischen Beweisführung einen durchaus neuen Weg eröffnet.“




Literatur. Während an der Donau, in Asien und wahrscheinlich auch bald in der Ostsee die Kanonen donnern und das Interesse des Publikums fast nur an die Zeitungspresse gefesselt ist, wagen sich doch noch einige schönwissenschaftliche Produkte auf den literarischen Markt, der durch die kriegerischen Ereignisse fast ganz verödet ist. Von Rellstab erscheint eine billige Ausgabe seines bekannten Romans „1812“, von H. König eine 2. Ausgabe seiner Werke, von Gutzkow bekanntlich ebenfalls eine billige dritte Ausgabe seiner „Ritter vom Geiste“. Als ganz neu sind neuerdings noch angekommen: L. Schüking, ein Staatsgeheimniß, 3 Bände. – Chop, Poesie und Verbrechen, Novelle. – Schröder, Iphipania In Delphi. – Natalie von Barfuß, Ida und Clara. 3 Bände, der Königin von Preußen gewidmet. – Hermann Grimm, Traum und Wachen, ein Gedicht.
E. K. 

  1. Durch die vielen politischen Gefangenen, welche seit dem Staatsstreich des Kaisers von Frankreich in diesem Gefängniß verweilten, hat dasselbe eine traurige Berühmtheit erlangt. Die Schilderung des traurigen Ortes dürfte deßhalb nicht ohne Interesse für unsere Leser sein.
    Die Redaktion.