Die Gartenlaube (1854)/Heft 51

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 51. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Weihnachtslied.

Weihnacht rufet wach die Freude,
Weihnacht ruft auch wach den Schmerz;
Tönt hier frohes Festgeläute,
Bricht dort manch’ bekümmert Herz.

5
Wie der Kranke erst recht drückend

Sich im Zimmer fühlt allein,
Wenn die Sonne, froh beglückend,
Alles lockt in ihren Schein –

So auch fühlt sich mehr verlassen –

10
Winkt die Freude zum Genuß –

Der im Elend durch die Gassen
In der Weihnacht wandern muß.

Leuchten Euch so viele Lichter,
Findet manches doch noch Raum:

15
Schafft auch fröhliche Gesichter,

Wo sonst glänzt kein Weihnachtsbaum.

Fließen Thränen – nicht aus Sorgen –
Freudenthränen sollen’s sein!
Thränen wie der Thau am Morgen

20
Hell erglänzt im Sonnenschein.


Wenn das Aug’, das freudig weinet,
Mit dem Aug’, das freudig lacht,
Sich zu einem Glanz vereinet,
Giebt’s die schönste Weihenacht.

25
Weihnacht darf nur Glück verheißen!

Leuchtend schrieb’s des Himmels Hand:
Als ein Sternlein die drei Weisen
Führte aus dem Morgenland.

Laßt es niemals anders werden,

30
Glänze fort, du gold’ner Schein!

Ist das Elend groß auf Erden,
Soll die Freude größer sein.
Soll die Freude größer seinKarl Schwarz.




Die Blinde.
Weihnachtserzählung von August Schrader
(Fortsetzung.)
IV.

Der Sommer war fast vorüber, und noch immer zeigte sich an der armen Cäcilie keine heilsame Veränderung; es schien vielmehr, als ob die Einsamkeit ihre schwärmerische Liebe vermehrte. Die Harfe, ihr Lieblingsinstrument, das sie mit meisterhafter Fertigkeit spielte, ergriff sie nur, um ihre Leiden und ihre Schwermuth in Tönen wiederzugeben. Das Herz der jungen Blinden barg unzählige unterdrückte Wünsche, so unbestimmte, so flüchtige, so unmerkliche Nüancen der Leidenschaft, daß man sie kaum mit dem Dufte der Blumen vergleichen kann, mit dem Gewölke, den Lichtstrahlen, den Schatten, mit Allem, was in der Natur einen Augenblick glänzt und verschwindet, sich wieder belebt und stirbt, indem es tiefe Bewegungen in der Seele zurückläßt. Wie das Auge eine schöne Gestalt erfaßt und dem Herzen einprägt, das das Bedürfniß nach Eindrücken empfindet, so erfaßte Cäcilien’s Ohr den Zauber der Stimme, um die in ihrer Brust erwachte Sehnsucht daran zu sättigen. Ihre Schwingungen, deren Reiz und Ursprung in der Seele selbst liegen, wirken doppelt auf das Herz eines armen blinden Wesens, und bei Cäcilie, der aufblühenden Jungfrau, hatte die Stimme des begeisterten Predigers so klare Gedanken erweckt, daß sie die Auflösung des ganzen Lebens bewirkte. Lange hatte Cäcilie ihre geistige Liebe bewahrt und in jenen ersten unendlichen, so furchtbaren Wonnen geseufzt, bis endlich die Hoffnungslosigkeit, diese Gefährtin unerwiederter Liebe, eine stille Melancholie erzeugte, welche die zärtliche Mutter mit Besorgniß erfüllte. Sie sah ihr Kind unter den Qualen einer so ausschließlichen Leidenschaft langsam dahinwelken. Es gab keinen Balsam für diese brennende [618] Wunde, und selbst die Trostsprüche der Religion vermochten nicht eine Linderung herbeizuführen.

Cäcilie hatte seit einiger Zeit den Gedanken angeregt, den Winter wieder in der Stadt zuzubringen, denn sie gab sich der unsichern Hoffnung hin, jene Stimme noch einmal zu hören, die ihre Seele so mächtig erschüttert hatte. Wie ein Kind, das sich auf die Geschenke freut, so berechnete Cäcilie die Wochen und Monate bis zum Weihnachtsfeste. Es war zu einer fixen Idee bei ihr geworden, daß der junge Prediger die Christrede wieder halten würde.

Der Pastor Braun, den man der Hofräthin B. schon in der Residenz empfohlen hatte, stattete der armen Mutter oft Besuche ab. Die Blinde schien Gefallen an den Unterhaltungen des lebhaften, gutmüthigen Greises zu finden, und so oft er kam, empfing sie ihn mit einer schmerzlichen Freude.

Es war in den ersten Tagen des November, als der Pfarrer auf das Schloß beschieden ward. Die Hofräthin empfing ihn allein in einem Zimmer.

„Herr Pastor,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „Sie haben bis jetzt die traurige Gemüthsstimmung meines Kindes gekannt, aber der Grund derselben ist Ihnen unbekannt geblieben, weil ich Cäcilien versprochen hatte, ihn gegen jedermann zu verschweigen. Ich kann dieses Versprechen nicht mehr halten, ich muß mich Ihnen ganz entdecken, denn Geist und Körper meiner blinden Tochter scheinen gleich zu leiden.“

„Das wolle Gott verhüten!“ sagte theilnehmend der Pfarrer.

„Der Himmel hat mich mit Glücksgütern reich gesegnet, aber das Glück einer Mutter hat er mir versagt. Cäcilie liebt Sie wie ihren Vater, und ich vertraue Ihnen wie meinem langjährigen Seelsorger – Sie müssen Alles wissen, damit wir berathen können.“

Die Hofräthin erzählte ihm nun die Mittheilungen, die ihr Cäcilie gemacht.

„Was ist zu thun?“ fragte sie dann.

„Cäcilie besitzt Geist und Verstand – ehe wir andere, unsichere Mittel ergreifen, müssen wir das einleuchtender Ueberredung anwenden.“

„Alle meine Versuche sind fruchtlos geblieben.“

„Meine Worte, die Worte eines greisen Predigers, werden in einem so zarten Gemüthe wie dem Ihrer Tochter nicht ohne Anklang bleiben. Gestatten Sie mir, daß ich Fräulein Cäcilie allein spreche. Sie mag mich als ihren Beichtvater, als ihren Seelsorger betrachten.“

Die Hofräthin führte den Pfarrer durch ein angrenzendes Gemach, dann öffnete sie leise die Thür eines kleinen Saales. Beide blieben auf der Schwelle stehen. Die scheidende Herbstsonne warf einen bleichen Schein durch die mit reichen Vorhängen geschmückten Fenster. Cäcilie, in schwarze Seide gekleidet, saß in der Mitte des mild erwärmten Saales, ihr Arm lag auf der vor ihr stehenden glänzenden Pedalharfe, und das Haupt ruhte, als ob sie schliefe, auf dem Arme. Den Augen der Mutter entrollten Thränen bei diesem Anblicke, und auch der Pfarrer konnte sich einer schmerzlichen Rührung nicht erwehren, obgleich er durch einen Wink zur Fassung ermahnte. Die Blinde verblieb einige Augenblicke in ihrer Lage, dann hob sie langsam den Kopf empor und wandte ihr reizendes Gesicht nach dem Orte zu, von wo sie das Geräusch der Eintretenden gehört hatte. Der Pfarrer, der die Blinde seit einiger Zeit nicht gesehen hatte, machte die schmerzliche Bemerkung, daß ihre Züge bleicher waren als sonst, und daß die großen von einem Kranze langer Wimpern umgebenen Augen ein feuchter Glanz erfüllte.

„Bist Du es, Mutter?“ fragte sie leise.

„Ich bin es, mein liebes Fränlein,“ antwortete in freundlichem Tone Pastor Braun.

„Sie, Herr Pastor?“ flüsterte sie verwundert.

„Sonst erkannten Sie meine Schritte, noch ehe ich eintrat –“

„Ach, Verzeihung,“ sagte sie verwirrt und indem sie sich erhob – „die Einsamkeit des Zimmers hatte mich in einen so lebhaften Traum versenkt –“

„Daß Sie die Wirklichkeit darüber vergaßen!“ fuhr rasch der Pastor fort, indem er der Blinden entgegentrat, die ihm ihre beiden Lilienhände zum Gruße bot.

„Was ist die Wirklichkeit für mich, für eine Blinde?“ sagte sie seufzend.

„Cäcilie!“ rief im Tone sanften Vorwurfs der Pfarrer.

Ein leichter Schrecken durchzitterte die zarten Glieder Cäcilien’s und ihre Hände, die in denen des Pfarrers ruhten, begannen leise zu beben.

„Ihre Wirklichkeit, mein Kind, ist leider nur eine sehr beschränkte, aber es bewegt sich ein Wesen in ihr, dessen Lebensaufgabe Ihr Glück ist,“ fuhr ruhig mahnend der Pfarrer fort.

„Mein Gott, zeihen Sie mich nicht der Undankbarkeit!“ flüsterte sie bewegt. „Meine gute Mutter ist mir ja Alles!“

Pastor Braun führte die Blinde zu dem Sopha, dann ließ er sich neben ihr nieder. Indem er sanft ihre Hände drückte, begann er:

„Cäcilie, betrachten Sie mich als Ihren Vater, und erlauben Sie mir, daß ich zu Ihnen wie zu meiner Tochter rede. Gestatten Sie mir, daß ich mich in den engen Kreis Ihrer Wirklichkeit dränge, daß ich an die Seite Ihrer verehrten Mutter trete und die Schatten aufhellen helfe, die das Gebiet Ihrer Träume überschreiten und das schwache Licht Ihrer Wirklichkeit zu erlöschen drohen.“

Wie eine Marmorgestalt, von der Hand eines Meisters geformt, saß Cäcilie da. Unter den langen gesenkten Augenwimpern quollen heiße Thränen hervor, die still über die bleichen Wangen rannen. Die feinen erbleichenden Lippen bewegte ein kaum merkliches Zucken. Der Pfarrer beobachtete ruhig den Eindruck, den seine Worte auf die blinde Jungfrau ausgeübt hatten.

„Gestatten Sie es mir?“ fragte er nach einer Pause.

„Sie kennen mein Geheimniß!“ flüsterte sie, ohne aufzusehen.

„Ich kenne es, Cäcilie, denn Ihre Mutter hat meinen Beistand angerufen, den Beistand eines Seelsorgers.“

„Meine arme, arme Mutter!“ rief sie, in lautes Schluchzen ausbrechend. „Sie theilt meine Leiden, und ich vermag so wenig, sie zu bekämpfen.“

„O, Sie vermögen viel!“ rief der Greis mit mahnender Stimme. „Fragen Sie Ihren Verstand, den die Liebe Ihrer Mutter so schön gebildet hat; fragen Sie Ihr Herz, das die Mutter ehrt und liebt, und wenn dann –“

„Um Gottes Willen, nicht weiter!“ rief hastig Cäcilie und indem sie mit ihren blinden Augen den Greis anstarrte. „Sie führen mich in eine Welt zurück, die ich zittere zu betreten. Mein Gott, wie ich leide!“ schluchzte sie in einem unbeschreiblichen Tone und indem sie die Hände auf den wogenden Busen preßte, als ob sie einen plötzlich entstandenen Schmerz unterdrücken wollte.

„Cäcilie,“ sagte mild der Pastor und ergriffen von dem Anblicke der weinenden Blinden, „Cäcilie, ich bin nicht gekommen, Ihnen Vorwürfe zu machen, sondern mit Ihnen über den Gegenstand zu berathen, der Ihnen so großen Kummer macht.“

Sie hob rasch das in Thränen gebadete Gesicht empor und horchte auf.

„Sie sind ein Prediger, lieber Herr,“ flüsterte sie und ein hoffnungsfrohes Lächeln belebte, das bleiche Antlitz. „Sie verkündigen Gottes Wort wie er – kennen Sie ihn? Kennen Sie den Mann, dessen Stimme alle Saiten meines Herzens bewegte, daß sie immer forterklingen? Wenn Sie ihn kennen, müssen Sie wissen, wie schön seine Stimme ist, die aus einer erleuchteten edeln Brust kommt. Dann müßten Sie ihn lieben, wie ich ihn liebe!“ fügte sie schwärmerisch hinzu und ihr Gesicht verklärte sich. „Noch leben alle seine Worte in meinem Gedächtnisse, denn ich habe sie mir tausendmal wiederholt – ach, und ich mußte sie mir ja wiederholen, ein seltsamer Trieb zwang mich dazu. Eine ewige Nacht herrscht um mich her, ich sehe die Menschen nicht, ich höre sie nur – aber ihn glaube ich zu sehen, wenn die Stimme erklingt – mit den Worten bildet sich ein Begriff von seiner Gestalt. Dann lächelt er mich mitleidig an, und ich muß mir selbst sagen, daß er nur Mitleiden mit mir empfinden kann, denn wer wird ein blindes Mädchen lieben? O, könnte ich sehen!“ seufzte sie in einem herzerschütternden Tone. „Nicht um seine Gestalt zu erblicken, denn ich liebe ja seine Stimme und seinen Geist, die sich darin ausspricht – ach, nur deshalb, daß ich kein blindes Mädchen wäre.“

„So hoffen Sie auf seine Gegenliebe?“ fragte mild der Pastor.

„Ach, wenn das wäre!“ flüsterte Cäcilie mit einem Entzücken, das die ganze verderbliche Tiefe ihrer Leidenschaft verrieth. „Wenn er mich wiederliebte!“ fuhr sie fort, als ob sich ihr Geist verirrte. [619] „Mutter hat mir gesagt, ich sei schön – ach, könnte ich mich doch überzeugen – sie hat mich nur trösten wollen - -“

„Cäcilie! Mein liebes Kind!“ sagte der Pfarrer, um ihren Ideengang zu unterbrechen, denn er sah die weinende Mutter in dem angrenzenden Gemache, dessen Thür geöffnet war.

Die Blinde schrack zusammen wie eine Nachtwandlerin, die zur Wirklichkeit erwacht.

„Mein Kind, setzen Sie andere Gründe voraus, die eine Annäherung an den Prediger unmöglich machen.“

„Welche?“ fragte sie in furchtbarer Spannung.

„Wenn ihn nun schon Bande der Liebe an eine Gattin, an eine Familie fesselten?“

„Das habe ich nicht bedacht!“ flüsterte sie erbleichend.

„Cäcilie, Gott hat in jedes Menschen Brust die Kraft gelegt, die aufkeimenden Triebe, wenn sie dem Verstande nicht entsprechen, zu unterdrücken. Und wahrlich, es bedarf nur des festen Willens, und der Mensch ist Herr seiner Gefühle.“

„Des festen Willens!“ wiederholte sie mit einer schmerzlichen Bewegung des Hauptes. „Gott weiß, daß ich mit aller meiner Kraft gekämpft habe; aber sie scheiterte mit dem festen Willen an der Gewalt des Gedankens, der mein ganzes Wesen allmächtig beherrschte. Und ich lebe und erfasse die Welt mit dem Gedanken, denn er ist mir, was den glücklichen Menschen das Licht. Ach ja, es gab eine Zeit, wo auch ich glücklich war, die Musik entzückte mich, und kein anderer Wunsch, kein Verlangen regte sich in meiner Seele. Ich glaubte allen Zauber der Empfindungen zu kennen, deren eine menschliche Brust fähig ist. Das war die Zeit meiner ersten Jugend. Doch bald empfand ich eine unbestimmte Sehnsucht, ein hoffendes Verlangen, und die Ahnung eines noch größeren Glückes ward in mir rege. Wie ein süßes Geheimniß, das man nicht zu enthüllen wagt, um den Reiz desselben nicht zu zerstören, lag dieses Glück vor dem Auge meines Geistes. Ich glaubte es zu erfassen; aber dennoch war es ein wunderbares, unauflösliches Räthsel. Da hörte ich die Stimme des Predigers, ein neues Licht entzündete sich in meiner Nacht, und die Lösung war gefunden. Ich empfand ein anderes, zuvor nie gekanntes Glück – aber ein schmerzliches, leidvolles Glück, das sich mit allen seinen Leiden und Freuden vergrößerte, jemehr ich mich seinem Einflüsse zu entziehen suchte.“

„Und dennoch komme ich auf den festen Willen zurück,“ sagte ernst der Pfarrer.

„Zweifeln Sie immer noch daran?“

„Nein! Ihre Phantasie, mein Fräulein, absorbirt die Realität. Tragen Sie Sorge, daß ein umgekehrtes Verhältniß eintritt. Nehmen Sie fest an, der Gegenstand Ihrer Neigung ist für Sie verloren – betrachten Sie die Christnacht als einen Traum, der nichts als eine schöne Erinnerung zurückgelassen hat. Mütterliche Liebe und Freundschaft werden Ihnen die Hand bieten, ein neues Leben zu schaffen.“

Der gute Pastor wollte noch weiter reden, aber er schwieg, als er sah, daß plötzlich eine Leichenblässe Cäcilien’s Gesicht überzog. Wie leblos sanken ihre Hände in den Schooß, und mit bebender, kaum vernehmbarer Stimme flüsterte sie:

„Verloren! Verloren!“

„Cäcilie!“ rief die Mutter, die aufmerksam gelauscht hatte, und nun erschreckt in das Zimmer eilte. „Zu Hülfe, meinem Kinde, meinem armen Kinde zu Hülfe!“

Sie fing die ohnmächtige Tochter in ihren Armen auf. Die Hoffnung, welche die Hofräthin in mütterlicher Verblendung genährt, hatte der Pfarrer, um ein kräftiges Heilmittel anzuwenden, zerstört. Mit Entsetzen sah der Greis die Wirkung seines gutgemeinten Verfahrens.

Nach einer Minute, die den ängstlich Harrenden eine Ewigkeit erschien, schlug Cäcilie langsam die Augen auf.

„Mutter,“ flüsterte sie wie im Traume, „der heilige Weihnachtsabend ist gekommen – klingen von dort herüber nicht die Töne der jubelnden Hymne? Sind das nicht die frohen Stimmen der Kinder, die jauchzend um den strahlenden Christbaum tanzen? Alle Welt freut sich – Mutter, führe mich zur Kirche, daß sich auch Deine blinde Tochter freuen kann! Führe mich, Mutter – ich komme zu spät – der Prediger verläßt die Kanzel! O laß mich seine Stimme hören,“ bat sie in rührenden Tönen, „denn es ist ja Weihnacht, und die arme Blinde will ja auch eine Freude haben! Ich habe viel, viel gelitten – ich habe mich lange nach dem Christabende gesehnt – führe mich, Mutter, dann will ich beten und – wieder dulden!“

„Fasse Dich, mein Kind!“ erinnerte die Mutter, der vor Schmerz das Herz zerspringen wollte.

„Ich kann es, Mutter,“ sagte sie mit einem trübseligen, unheimlichen Lächeln. „Ich kann und will es! Ist es mir gestattet, mit ihm das Christfest zu begehen, so ist er nicht für mich verloren!“

Ein heftiges Zittern bemächtigte sich des zarten Körpers. Dann bebte sie, wie von einem jähen Krampfe durchzuckt, zusammen, und ihr Gesicht nahm den Ausdruck der Bestürzung an.

„Bist Du es, Mutter?“ fragte sie, indem sie die Hofräthin hastig mit den Händen betastete.“

„Deine Mutter ist bei Dir, Cäcilie!“

„Dann hast Du mich wohl belauscht? O glaube meinen Worten nicht,“ rief sie ängstlich „jener lebhafte Traum hatte sich meiner bemächtigt, der mich unablässig verfolgt, sobald ich allein bin. Aber sei getrost, Mutter, es wird noch Alles gut werden! Meinem festen Willen soll es gelingen, den Traum zu bekämpfen.“

„Der Herr Pfarrer, mein Kind –“

„Wo ist er?“ Sie streckte die Hand aus, die der Pastor ergriff. „Ich sehe Sie wieder,“ fuhr sie ängstlich fort. „Dann werden Sie mich heiterer sehen –“

„Verzeihung, Fräulein Cäcilie,“ stammelte der bestürzte Greis.

„Ich bin krank, Mutter – ein leichtes Frösteln durchbebt mich. Aber beruhige Dich – es ist nichts – morgen bin ich wieder hergestellt.“

Eine Glocke rief die Kammerfrau herbei. Man brachte die Blinde zu Bette und schickte nach dem Arzte, der zufällig in dem Dorfe wohnte, ein geschickter, erfahrener Mann und langjähriger Freund des Pfarres. Er kam und traf seine Verordnungen. Er tröstete die Mutter und versprach später noch einmal wiederzukommen. „Vielleicht ist eine heilsame Krisis eingetreten,“ fügte er tröstend hinzu.

Die beiden Männer verließen das Schloß. Pastor Braun hielt es für Pflicht, dem Arzte die erforderlichen Mittheilungen zu machen.

„Ich habe gleich ein moralisches Leiden erkannt,“ meinte der Doctor. „Aber es muß tief Wurzel gefaßt haben, daß es den Körper so erschüttern konnte. Bildet sich diesmal kein nervöses Fieber aus, so fürchte ich eine langwierige, schleichende Krankheit, die langsam und sicher zerstört, wenn der Grund des Leidens nicht zeitig beseitigt wird.“

„Auch mir ist das klar geworden,“ meinte der Pfarrer. „Die Blinde ist jung, schön und reich – mit diesen drei Mitteln hoffe ich zum Ziele zu gelangen, wenn nicht geradezu eine Unmöglichkeit vorliegt. Sorgen Sie für den Körper, ich werde für das Gemüth sorgen.“

Die beiden Freunde trennten sich. Der Pastor fürchtete für den Verstand der jungen Blinden, obgleich er sich darüber nicht aussprach, und nachdem, was er erlebt, hatte er auch in der That Grund dazu. Indem er noch einmal Alles überdachte, was Cäcilie gethan und gesprochen, hielt er es selbst nicht für unwahrscheinlich, daß sich bei ihr bereits ein gewisser Grad von Monomanie ausgebildet habe.

„Und wenn ich nun wirklich den Prediger ermittele,“ fragte er sich, „wenn er wirklich noch unverheirathet ist – wird er sein Leben an das eines blinden und dabei des Verstandes nicht mächtigen Mädchens fesseln? Kann er das arme Mädchen lieben? Er muß entweder ein armer Mensch sein, der durch die Heirath seine Zukunft zu sichern gezwungen ist, oder ein Spekulant, der mit dem Vermögen der Hofräthin ein Geschäft zu machen gedenkt. In beiden Fällen ist Cäcilie zu beklagen. Die Klugheit gebietet, daß ich mit der größten Vorsicht zu Werke gehe. Niemand darf ahnen, warum ich nach dem Prediger forsche; auch er selbst darf nichts wissen, bevor ich nicht Näheres über seinen Charakter und seine Lage weiß. Die Angelegenheit ist sehr delicat, ich habe eine schwierige Aufgabe zu lösen.“

„Vater,“ rief Concordia, als der Greis in sein Zimmer trat, „es ist ein Brief vom Vetter Arnold angekommen!“

„An wen ist er gerichtet?“

„An mich!“ sagte stolz das junge Mädchen.

„Dann darf ich ihn wohl nicht lesen?“ fragte der Pfarrer, der eine Correspondance der Zärtlichkeit voraussetzte.

[620] „Ich hoffe, Du wirst meine kleinen Geheimnisse ehren!“

„Geheimnisse des Herzens – gewiß! Aber so viel darf ich wohl erfahren, ob Du mit dem Inhalte des Briefes zufrieden bist?“

„Väterchen,“ sagte Concordia mit strahlenden Blicken, „Vetter Arnold ist ein guter und dabei sehr verständiger Mensch, den ich hoch schätze, obgleich ich ihn nur kurze Zeit kennen gelernt habe. Sein Brief ist so schön, daß er mich mit unbeschreiblicher Freude erfüllt hat. Noch heute werde ich ihm die Antwort schreiben und ihn einladen, daß er das Weihnachtsfest bei uns feiert.“

Pastor Braun hielt nichts für gewisser, als daß die beiden jungen Leute sich gegenseitig erklärt hätten. Er glaubte seinen Lieblingswunsch in Erfüllung gehen zu sehen.

„Dann, mein Kind, wünschest Du auch wohl,“ fragte er fröhlich, „daß unsere Gemeinde den zukünftigen Pfarrer kennen lerne?“

„Je eher, je lieber, da Du doch einmal den Vetter zu Deinem Nachfolger vorschlagen willst.“

„Gut; so schreibe ihm, daß er sich vorbereite, in der Christmesse die erste Predigt bei uns zu halten. Ich halte das für die beste Gelegenheit, einen neuen Prediger einzuführen; die Gemeinde ist feierlich gestimmt und der Redner hat ein dankbares Thema. Auch ich werde Deinem Briefe einige Zeilen beifügen.“

Vater und Tochter waren denselben Abend mit Schreiben beschäftigt. Am nächsten Morgen wurden beide Briefe in ein Couvert geschlossen und abgesendet.

„Ein Versprechen fordere ich von Dir, lieber Vater!“ sagte Concordia, als der Bote mit dem Briefe sich entfernt hatte.

„Was willst Du, mein Kind?“

„Du versprichst mir, bei keinem andern zu wohnen, als bei mir und Deinem zukünftigen Schwiegersohne. Die Mutter ist bereits damit einverstanden.“

„Thörichtes Mädchen, wohin sollte ich mich denn sonst wenden?“

„Gleichviel, ich fordere das Versprechen!“ rief sie schelmisch.

„Gut, ich gebe Dir es hiermit!“

Concordia flog dem Vater an den Hals und bedeckte seine Wange mit Küssen.

„Sie ist glücklich,“ dachte der Greis, „könnte es doch auch die arme Cäcilie sein.“

Um Mittag ging Pastor Braun nach dem Schlosse. Wie der Arzt befürchtet, hatte sich Cäcilien’s ein Fieber bemächtigt, das einen gefährlichen Charakter anzunehmen drohte. Die Kranke hatte die ganze Nacht in Fieberphantasien verbracht. Der gute Pfarrer mußte die ganze Kraft seines geistlichen Zuspruchs aufbieten, um die der Verzweiflung nahe Mutter zu trösten. Sie klagte sich selbst der Schuld des Unglücks der geliebten Tochter an, und vorzüglich deshalb, da sie aus zu großer Nachgiebigkeit die unsichere Hoffnung in Cäcilien genährt habe, eine Vereinigung mit dem Gegenstande ihrer Leidenschaft herbeizuführen. Wir unternehmen es nicht, die Angst und Bekümmerniß der Hofräthin zu schildern, mit der sie während der nächsten vierzehn Tage an dem Krankenbette der Tochter wachte. Nur dann erst, als der Arzt die Gefahr für beseitigt erklärte, gab sie sich neuer Hoffnung und einiger Ruhe hin. Cäcilien’s jugendliche Kraft hatte der Krankheit getrotzt, und die Krisis war überstanden. Es schien selbst, als ob mit der nun eintretenden Genesung Ruhe und Friede in das Gemüth des jungen Mädchens zurückkehrten. Sie empfing den Pastor freundlich und bat ihn, oft seine Besuche zu wiederholen.

Am funfzehnten Tage konnte Cäcilie das Bett verlassen. Der Arzt rieth Zerstreuung und vorzüglich den Umgang mit einem heitern lebensfrohen Mädchen. Eine passendere als Concordia ließ sich dazu nicht finden. Der Vater bereitete die Tochter vor, und noch waren nicht acht Tage verflossen, als sich zwischen den beiden Mädchen ein erfreuliches Freundschaftsband gebildet hatte. Die Munterkeit Concordia’s übte einen so heilsamen Einfluß aus, daß sich Cäcilien’s Schwermuth in eine stille Melancholie verwandelte. Man sah es deutlich, daß die arme Blinde mit aller Kraft darnach strebte, auf die fröhlichen Unterhaltungen ihrer neuen Freundin einzugehen, und es war ein rührender Anblick, wenn sie über die Scherze des muntern Mädchens lächelte.

„Wie bedauere ich,“ sagte die Hofräthin zu dem Pfarrer, „daß ich mein Kind nur auf den Umgang mit mir beschränkt habe – es war eine zu ängstliche Vorsicht; vielleicht wäre Alles anders, wenn Cäcilie früher eine Freundin gehabt hätte.“

„Das Gute kommt nie zu spät!“ antwortete der Pastor. „Jetzt dürfen wir nicht mehr zagen. Die Heilung geht langsam, aber sicher von Statten, so daß nach meiner Ansicht die Hülfe aus der Residenz überflüssig erscheint, selbst wenn wir sie hätten erlangen können.“

„Haben Ihre Forschungen ein Resultat gehabt?“ fragte eifrig die Hofräthin.

„Ja. Gestern erhielt ich einen Brief von meinem Correspondenten, und ich theile Ihnen die betreffende Stelle mit. Hier ist sie.“

Der Pastor holte einen Brief hervor und las:

„Sie fordern, mein bester Onkel, Auskunft über den Prediger, der in dem Dome unserer Residenz die letzte Weihnachtspredigt gehalten hat. Kann ich mir auch Ihre Gründe nicht erklären, so will ich dennoch nach bestem Wissen und Gewissen die Fragen beantworten, die Sie in Bezug auf seine Person aufgeworfen haben. Obgleich der Kandidat, den Sie im Sinne haben, mein einziger und vertrautester Freund ist, so soll mich doch nichts abhalten, Ihnen unumwunden das Urtheil abzugeben, das ich mir über ihn gebildet habe. Sie erlassen mir die Nennung seines Namens, der Ihnen ohne Zweifel gleichgültig sein wird, wenn Sie mein Urtheil gelesen haben.“

„Mein Gott,“ flüsterte die Hofräthin, „die Einleitung klingt trostlos.“

„Ich fahre fort, Madame. „„Ueber die Identität unsers Mannes können wir nicht in Ungewißheit sein, da ich genau weiß, daß kein anderer in verflossener Christmesse auf der Kanzel gestanden hat. Dieser Kandidat also ist ein Mann, der eben so wenig für die Welt paßt, als die Welt für ihn. Er ist der widerlichste Egoist, der sich denken läßt. Man hält ihn für einen Mann von Fähigkeiten; ich halte ihn nicht dafür, er ist vielmehr ein so trockener Philosoph, daß man ihn höchstens im Interesse der Wissenschaft zu philosophischen Experimenten benützen kann. Sein Herz ist kalt und verschlossen, und wenn ihn nicht der leidige Eigennutz an meine Person fesselte, er würde mich kalt und verächtlich behandeln, wie Alles, was ihn umgiebt. Er ist ein Anachoret mitten in der großen, wogenden Gesellschaft, ein Sonderling, den man hassen muß, wenn man nicht über ihn lacht oder ihn bedauert. Hoffnungen für das Leben auf ihn zu bauen, wäre eben so thöricht, als eine Aenderung seines Wesens zu erwarten.““

Der Pfarrer schloß das Papier, indem er sagte:

„Mein Neffe, der Verfasser des Briefes, ist nicht allein ein scharfsichtiger, sondern auch ein redlicher und zuverlässiger Mann, so daß ich sein Urtheil für unumstößlich halte. Dem Himmel sei gedankt, Frau Hofräthin, die Kranke wird genesen, ohne daß wir nöthig haben, zu diesem seltsamen Menschen unsere Zuflucht zu nehmen.“

„Wohl muß es ein seltsamer Mensch sein,“ meinte die verwunderte Dame. „Ich habe seine Predigt gehört und muß bekennen, daß sie mich begeistert hat.“

„Man findet nicht selten, daß Männer von ausgezeichneten Geistesgaben dem geselligen Umgange völlig verschlossen sind. Man möchte glauben, daß die Natur den Geist auf Unkosten des Herzens bevorzugt hat. Ein solcher Fall scheint hier vorzuliegen.“

Die Hofräthin war zufrieden mit der Gestaltung der Verhältnisse, und als der Arzt erklärte, er könne der Genesenden eine Winterreise nicht gestatten, richtete sie sich für den steten Aufenthalt im Schlosse ein.

(Schluß folgt.)
[621]
Die Pflege der Verwundeten bei Sebastopol.

Neue Feldlazareth-Wagen der Alliirten im Orient.

Die grausigen Erscheinungen, welche im Gefolge eines jeden Krieges zu Tage treten, und hauptsächlich wenn die Schlachten geschlagen in schauerlichen Scenen auf dem Schlachtfelde selbst das abgehärtetste Herz erschüttern können, haben in dem gegenwärtigen Kriege durch die Humanität, mit welcher derselbe geführt wird, einen Theil ihrer Schrecken verloren, wozu namentlich das musterhaft eingerichtete Feldspitalwesen viel beigetragen hat.

Das Feldspital der französischen Armee, welches während des orientalischen Feldzugs unter einer ausgezeichneten Verwaltung steht, hatte bis jetzt zur Aufnahme der Verwundeten nur die Fouragewagen und die sogenannten „cacolets.“ Das „cacolet“ besteht aus zwei Packsätteln, welche auf eine zweckentsprechende Weise eingerichtet sind und von einem Pferde getragen werden und ist besonders in bergigen Ländern mit Vortheil anzuwenden. Indeß ist es doch schwierig die Verwundeten darauf zu befestigen, auch vergrößert die Bewegung des Pferdes oft ihre Schmerzen. Was die Fouragewagen anbelangt, so war deren Einrichtung nur eine sehr unzureichende, sehr oft enthielten sie blos eine Schütte Stroh, auf welche man Schwerverwundete gar nicht legen konnte, diese mußten dann auf Bahren getragen werden, was viel Leute erforderte.

In der englischen Armee hat man eine Art Munitionswagen so eingerichtet, daß sich auf den Vordertheil drei Mann setzen können, während die hintere Abtheilung zur Aufnahme von vier Tragbahren, je zwei übereinander, bestimmt ist.

Der franz. Kriegsminister hat aber jetzt zur Erbauung von hundert Wagen Befehl ertheilt, welche alle für diesen Zweck wünschenswerthe Eigenschaften in sich vereinigen.

Diese Wagen sind sehr leicht, fest und sogar elegant, aber besonders sehr zweckmäßig, sie ruhen auf vier Rädern, welche sich nach jeder Richtung hin drehen können und so die Fortbewegung sehr erleichtern. Gezogen werden die Wagen von zwei Pferden oder auch blos von einem, je nachdem die Umstände es erfordern.

Drei Verwundete können auf der vorn befindlichen Bank Platz nehmen, zu welcher man mit Bequemlichkeit emporsteigt.

Der hintere Theil des Wagens besteht aus einem verschlossenen [622] Kasten, welcher zur Aufnahme von zwei Bahren eingerichtet ist, die mit verschiebbaren Handhaben versehen sind. Um alle Erschütterungen zu vermeiden, laufen dieselben auf sogenannten „galets,“ wenn man sie in den Wagen hineinschiebt.

Inwendig sind diese Bahren mit Matratzen ausgelegt, die einen Wachstuchüberzug haben, welcher, auf eine neue Art zubereitet, dem braunen Schafleder gleicht und eine öftere Reinigung zuläßt.

Das Gepäck und die Waffen der Verwundeten können in Koffern aufbewahrt werden, welche an der Seite mit einem Drathgitter versehen sind und dadurch leicht eine Untersuchung, ob auch nichts vergessen sei, möglich machen.

So werden wenigstens in thunlichster Weise die Schrecken des Krieges gemindert! Dank der vorgeschrittenen Humanität, die sich noch unter Pulverdampf und Kanonendonner geltend zu machen weiß.




Des Menschen erste Lebenszeit.
Die Erziehung des Säuglings.

Auch der Säugling bedarf schon der Erziehung, und zwar ebensowohl der körperlichen, wie der geistigen, wenn aus einem Menschen etwas Ordentliches werden soll. Sie gründe sich auf das Gesetz der Gewöhnung und der Nachahmung. Das erstere Gesetz erfordert eine konsequente und öftere Wiederholung des Anzugewöhnenden, so daß dieses nach und nach zur andern Natur wird, das letztere verlangt richtige Vorbilder; beide bedürfen aber mit dem fortschreitenden Wachsthume des Kindes einer allmäligen Steigerung. So lange Aeltern in dem Wahne stehen, der Geist (d. h. die Fähigkeit des Gehirns zu fühlen, zu denken und zu wollen) trete so ohne Weiteres zu einer bestimmten Zeit (wenn der Verstand kommt, wie man zu sagen pflegt) in den Körper hinein, so lange kann von einer vernünftigen Erziehung gar keine Rede sein. Nur durch der Sinne Pforten zieht allmälig der Geist in unsern Körper ein und die durch Sinneseindrücke erregte geistige Thätigkeit des Gehirns kann nur durch Gewöhnung den gehörigen Höhegrad erreichen. Daß die Sinne die Erwecker und Vermittler des Verstandes sind, zeigt sich deutlich beim Mangel derselben; bei Blindheit und gleichzeitiger Taubheit bleibt der Mensch fast geistlos. Wie aber auch die Nachahmung zur Erweckung des menschlichen Geistes beiträgt, beweisen erwachsene Menschen (wie Caspar Hauser), die von Jugend an nur sich selbst überlassen blieben oder blos mit Thieren Umgang hatten; bei ihnen fanden sich keine Spuren des menschlichen Geistes und nur thierische Manieren. Also nochmals: Sinneseindrücke, Gewöhnung und Nachahmung, legen den Grund zur guten und schlechten Erziehung. Man vermeide deshalb Alles, was dem Kinde zur unnöthigen Gewöhnung wird.

Die körperliche Erziehung des Säuglings beziehe sich auf den Nahrungsgenuß, den Schlaf, die Bewegungen und die Reinlichkeit. – Hinsichtlich der Nahrung, die nur in Milch bestehen soll, verfahre man so, daß diese blos in den ersten Tagen stets dann gereicht werde, wenn der Säugling schreit, bald aber nur zu festbestimmten Zeiten und zwar etwa viermal täglich (vielleicht in der Frühe, um Mittag, gegen Abend und bei Anbruch der Nacht), des Nachts aber, wo sich die Ernährerin durch Schlaf stärken soll, gar nicht. Man lasse sich jetzt durch das Schreien des Kindes ja nicht in dieser Ordnung stören, forsche aber nach der Ursache dieses Schreiens (s. Gartenlaube Nr. 43 S. 515), da diese eine andere als Hunger und zu entfernen sein könnte (z. B. Nässe, Kälte, Blähung, Verstopfung, unbequeme Lage, Druck, Stiche von Nadeln oder Insekten). Niemals vergesse man, daß beim Kinde, wenn es durch Schreien seine Bedürfnisse sogleich befriedigt fühlt, das Schreien zur Erreichung seines Willens sehr bald zur Gewohnheit wird und nun schwer wieder abzugewöhnen ist. Zur bestimmten Zeit mag nun aber das Kind, in Absätzen, so viel trinken, als es nur immer trinken will, jedoch gewöhne man dasselbe nicht daran, beim Trinken zwischen durch ein Weilchen zu schlafen. – In Bezug auf den Schlaf verhält sich ein junger Säugling anders als ein älterer, denn während das Kind die erste Zeit seines Lebens (wahrscheinlich wegen gänzlicher Unthätigkeit seines Gehirns) fast nur im Schlafe verlebt, mindert sich das Schlafen immer mehr mit dem allmäligen Erwachen der Sinne und der dadurch angeregten Geistes- (Gehirn-) Thätigkeit. Denn nur das Gehirn schläft. Wie im Trinken muß nun aber auch im Schlafen nach und nach die gehörige Ordnung hergestellt werden, so daß endlich das Kind eine ganz bestimmte Zeit lang wach und eine andere (besonders in der Nacht und nach dem Trinken) schlafend erhalten wird. Hierbei beobachte man aber noch folgende Regeln: das Kind schlafe in seinem eigenen Bettchen, bleibe gehörig zugedeckt (weil es sonst sehr leicht zur Baucherkältung und zum Durchfalle kommen kann), und werde nicht an unnöthige, später beschwerliche Hülfsmittel zum Einschlafen gewöhnt, wie z. B. an das Einsingen, an das Anhalten des Kindes an die Hand, den Hals oder Busen der Pflegerin, an Licht und so fort. Ist das Kind in dieser Hinsicht schon verwöhnt, dann lasse man sich durch sein Schreien ja nicht abhalten, ihm diese Verwöhnung abzugewöhnen, im Nothfalle selbst durch einige Schläge auf das Gesäß. – Die Bewegungen, theils solche, welche mit dem Kinde von Andern vorzunehmen sind (passive), theils die, welche das Kind selbst zu machen hat (active), sind bei der Erziehung eines Säuglings nicht ohne Bedeutung. Zuvörderst muß alles Tragen, Umherschleppen, Schaukeln und Wiegen des Kindes, zumal wenn dasselbe schreit, unterbleiben, dagegen ist das Fahren des liegenden oder sitzenden Säuglings zeitweilig, besonders im Freien, zu empfehlen, aber ebenfalls nicht als Beruhigungsmittel zu gebrauchen. Ein sehr nachtheiliger Wunsch der meisten Mütter ist es, ihr Kind sobald als möglich aus dem Bettchen zu nehmen und im Kleidchen auf ihrem Arme sitzen zu sehen. Die Nachtheile des zu zeitigen Aufsitzenlassens des Säuglings sind Verkrümmungen der Wirbelsäule und Störungen in der Entwickelung innerer lebenswichtiger Organe in Folge des Zusammenkrümmens des Rumpfes, welcher den großen und schweren Kopf nicht zu tragen vermag. Es darf ein Kind durchaus nicht früher an das Sitzen gewöhnt werden, als bis es zu der Kraft gelangt ist, seinen Kopf gerade und steif zu halten und sich selbst aufzurichten. Dies ist gewöhnlich aber erst nach dem fünften Monate möglich. Da jetzt das Herumtragen des Kindes auf dem Arme von Seiten der Mutter oder Wärterin, trotz dem daß es unnöthig ist und das Kind dadurch schon verwöhnt wird, doch nicht abkommen wird, so werde dabei wenigstens die Vorsichtsmaßregel gebraucht, das Kind wechselsweise bald auf den einen, bald auf den andern Arm zu nehmen, damit es nicht schief werde. Ebenso schädlich wie die übereilte Gewöhnung an das Aufrechtsitzen sind die zu zeitigen Steh- und Gehversuche, welche mit dem Kinde unternommen werden. Auch hier ist es das Beste, das Kind nicht eher auf die Beine zu stellen, als bis es aus eigenem Kraftgefühle aufzutreten und zu laufen beginnt und dies ist im zehnten oder elften Monate der Fall. Bis dahin mag das Kind, nachdem es sitzen gelernt hat, auf dem mit einer Decke und weichen Kissen belegten Erdboden herumkriechen und an Gegenständen, an denen es sich nicht verletzen kann, das Aufstehen erlernen. Gehkörbe, Laufwägen, Laufzäume und dergleichen Hülfsmittel zur Unterstützung beim Laufenlernen taugen, weil sie stets nachtheilig auf die Brust wirken, alle nichts, höchstens ist ein locker angelegter Laufzaum dann von Vortheil, wenn das Kind schon laufen kann, aber noch ungeschickt oder etwas großköpfig ist, dann soll aber der Laufzaum, der übrigens nicht straff zu halten ist, nicht etwa das Laufen unterstützen, sondern das Fallen verhindern. Das Aufheben des Kindes sei nicht ein in die Höhe ziehen an einem Arme, sondern es geschehe so, daß man das Kind unter beide Achseln faßt. Ebenso vermeide man das Führen des laufenden Kindes an einer Hand, so lange dasselbe noch nicht ganz sicher beim Gehen ist. Der Hauptgrundsatz in der Erziehung des Kindes hinsichtlich seiner Bewegungen sei: man gestatte demselben von Geburt an seine Glieder frei zu bewegen und lasse ihm durch selbstständige Anstrengungen sitzen, stehen und gehen lernen. So wird gleichzeitig auch schon der Wille im Kinde erweckt und allmälig zum festen Willen ausgebildet. Menschen, die als Kinder immer nur von Andern [623] Hülfsleistungen erhielten, zeigen im spätern Leben gewöhnlich Schwäche und Unsicherheit des Charakters. – Das Reinlichsein des Kindes in Bezug auf seine Ausleerungen kann demselben von der Zeit an, wo es aufzusitzen vermag, dadurch allmälig angewöhnt werden, daß man dasselbe in bestimmten Zwischenräumen auf ein Nachtgeschirr setzt und ihm laute Aeußerungen des Pressens vormacht. Das Abhalten des Kindes im Freien, wobei die untere Körperhälfte entblößt wird, giebt nicht selten zu Erkältungen des Bauches und gefährlichen Durchfällen Veranlassung.

Für die geistige Erziehung des Säugling, die wie die körperliche auf Gewöhnung beruht, handelt es sich hauptsächlich darum, die Sinnesorgane desselben in gesundem Zustande zu erhalten und gehörig auszubilden. Denn erst mit Hülfe der Sinne, besonders des Gesichts- und Gehörsinnes, wird allmälig die Thätigkeit des Gehirns, das Bewußtsein, das Gefühl, der Verstand und der Wille, kurz der Geist erweckt und immer mehr ausgebildet. In der ersten Zeit seines Lebens ist der Mensch, eben weil die Hirnthätigkeit durch Sinneseindrücke noch nicht erweckt ist, ohne alles Bewußtsein und seine Bewegung, sein Schreien ist rein automatisch; nach und nach erst bildet sich durch wiederholte Eindrücke auf die Empfindungsnerven, also durch Gewöhnung, das Behaglichkeits- und Unbehaglichkeitsgefühl (Gemeingefühl). Es dauert lange, ehe das Kind die Einzeleindrücke zu unterscheiden lernt. Ueber die Zunge des Säuglings muß erst einige Zeit die süße Muttermilch geflossen sein, ehe er sie als angenehm schmeckt, vorher nimmt er eben so leicht die bittersten Stoffe, wie die Brust der Mutter. Gerade so verhält es sich mit allen andern Empfindungen und man hat es deshalb in der Hand dem Kinde durch Gewöhnung eine Menge von Empfindungen zum Bedürfnisse zu machen, die wenn sie dann einmal nicht erregt werden, das Kind zum boshaften Schreien und Erzwingen des Gewünschten antreiben. – Von den Sinnen entwickelt sich zuerst der Tastsinn, aber nur an den Lippen, womit diese die Mutterbrust suchen, sodann erwacht der Gesichtssinn, nach diesem der Gehör- und Geschmackssinn, zuletzt der Geruchs- und Tastsinn. Das Auge (bis etwa zum vierten Monate kurzsichtig) starrt anfangs theilnahmlos in die Welt, bald wendet es sich aber nach dem Hellen und zeigt einige Aufmerksamkeit, bis es im zweiten Monate auf Gegenständen längere Zeit haften bleibt. Dieses Anschauen ruft im Gehirn die ersten Sinneseindrücke (Hirnbilder) hervor, welche sich durch wiederholtes Anschauen immer tiefer einprägen und dadurch leicht in’s Gedächtniß zurückgerufen werden können. So lernt das Kind Personen und Gegenstände kennen und endlich sich Vorstellungen machen (d. i. das Bewußtwerden, Erinnern von früher gemachten Sinneseindrücken). In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Gehör; anfangs wird das Kind nur durch starken Schall erschüttert, allmälig unterscheidet es stärkere und schwächere Töne und etwa gegen das Ende des zweiten Monats, wendet es seine Augen und später auch den Kopf nach der Richtung, von welcher der Schall herkommt. Gegen das Ende des fünften Monats hin ist zwischen den beiden Sinnen des Gesichts und Gehörs die Aufmerksamkeit des Kindes gleich getheilt; beide Sinne unterstützen übrigens einander beim Kennenlernen der Außenwelt, besonders auch der Entfernung; der eine Sinn erregt die Aufmerksamkeit des Kindes für den andern. Jetzt nimmt auch das Kind immer mehr Interesse an Gesichts- und Gehörserscheinungen, am Beweglichen, am Sprechen, am Takt und Gesange. Es lernt die Geberden, Mienen und die Stimme der Mutter und umgebenden Personen kennen und unterscheiden. Während früher lärmende Töne mehr Eindruck auf das Gehör machten als melodische, ist dies jetzt umgekehrt. Ist der Gesichtssinn bis zum Anschauen gelangt, dann fängt (im dritten Monate) das Kind auch an nach Gegenständen zu greifen; diese verfehlt es zuerst öfters, faßt sie anfangs nur an, später hält es dieselben fest, bewegt sie hin und her und lernt sie allmälig zum Munde führen; endlich betastet es dieselben und lernt so deren Größe und Form, so wie ihre Entfernung kennen. Sobald sich (im dritten Monate) Gehörsvorstellungen gebildet haben, zeigt sich das Lallen, welches später in das Nachahmen von Worten übergeht. Vernimmt das Kind öfters bei dem Anblicke eines Gegenstandes oder beim Wahrnehmen einer Eigenschaft und Thätigkeit einen gewissen Laut, so wird allmälig durch das Hören desselben Lautes die Vorstellung desselben Gegenstandes hervorgerufen und so lernt das Kind (im fünften oder sechsten Monate) bestimmte Worte nach ihrer Bedeutung verstehen, besonders die Namen von Personen und Dingen. Erst später lernt es die Bedeutung der Zeit und Eigenschaftswörter kennen, eine zusammenhängende Rede ist ihm ganz unverständlich. Das Lächeln bemerkt man schon im zweiten Monate (nie aber vor dem vierzigsten Tage) und stets früher als das Weinen mit Thränen (im dritten Monate); erst im fünften oder sechsten Monate lacht das Kind laut und jubelt. Kinder, die durch sofortige Befriedigung ihrer Wünsche, wenn sie schreien, nach und nach zur Bosheit erzogen wurden, suchen durch Schreien und Weinen ihren Willen durchzusetzen und das Gewünschte zu erzwingen. Schon im fünften oder sechsten Monate merkt das Kind die Freundlichkeit, wie auch den Ernst der Worte und Geberden; es lernt warten, wird geduldiger und läßt sich durch Sinneseindrücke vom körperlichen Genusse eine Weile abziehen. Im siebenten oder achten Monate spielt das Kind für sich und beschäftigt sich mit dem Nachahmen. Durch die Unlust, welche durch das Gefühl eines Mangels erzeugt, durch Abhülfe des letztern ihr Ende findet, durch die Beobachtung, daß auf bestimmte Thätigkeiten bestimmte Wirkungen folgen, ja daß das Kind selbst im Stande ist, dergleichen hervorzubringen, kommt es allmälig zur dunkeln Vorstellung eines Zweckes, der Zeitfolge und Dauer. Je mehr nun das Kind das Bewegungsvermögen in seine Gewalt bekommt, desto mehr bildet sich auch die Sprache aus und das Kind benennt die Dinge anfangs in seiner Weise, später durch Nachahmung so, wie es ihm vorgesagt wird. Die weitere Ausbildung der Sprache wird nur durch das Hören der Redenden und die Nachahmung ihrer Worte bedingt.

Die Hauptregel bei der geistigen Erziehung des Säuglings, so wie überhaupt des Kindes, ist: Alles vom Kinde abzuhalten, an was es sich nicht gewöhnen soll, dagegen das was ihm zur andern Natur werden soll, beharrlich zu wiederholen. Es darf der Laune des Kindes nach ungebundener Willkür niemals freier Lauf gelassen, sondern es muß ein Gesetz beobachtet werden, nach welchem sich die vernünftige Gewährung des Einen und das Versagen des Andern richtet; dann wird das Kind nach und nach ein Gefühl vom Gesetz gewinnen, dem sich unterzuordnen Nothwendigkeit ist. Hierbei läßt sich auch, und zwar mit dem besten Erfolge, bei Kindern, deren Naturell zu lebhafterem Thun und schwerem Angewöhnen hintreibt, sogar das Gefühl der Unbehaglichkeit (schon vom dritten Monat an) benutzen und Manches sehr leicht durch ernste Worte und passende Schläge erreichen, was sonst nur schwer und erst nach langer Zeit angewöhnt werden kann. Man bedenke, daß hier die Schläge nicht zur Bestrafung von schon vorhandenen Fehlern, sondern zum Nichtangewöhnen von Eigenheiten, welche später Strafe verdienen, angewendet werden. Ein Kind, was nach dem Erwachen des Selbstbewußtseins, nach dem dritten oder vierten Jahre, überhaupt zu einer Zeit, deren es sich im spätern Leben noch deutlich entsinnen kann, Schläge bekommen muß, ist nach des Verfassers Ansichten ein schon ganz verzogenes und nur die unbeugsamste Consequenz in der Erziehung wird dann dasselbe noch zu bessern vermögen. Darum achte man auf die kleinsten Züge, in denen sich das Naturell des Kindes erkennen läßt. Der Grund zur Verziehung des Kindes wird in der Regel durch das Herumtragen, Schaukeln und Wiegen desselben gelegt, weil diese Bewegungen im Kinde ein Behaglichkeitsgefühl erzeugen, welches wenn es einmal nicht befriedigt wird, dasselbe zum Schreien veranlaßt. So entwickele sich nach und nach beim Kinde die Gewohnheit durch Schreien seine Wünsche zu erzwingen und es kommt dann, wenn die Aeltern so schwach sind dem Eigensinne des schreienden Kindes nachzugeben, recht bald dahin, daß das Kind bei jeder Verweigerung seines Willens trotzt, starrt und unbändig wird. Jetzt soll nun erst mit Schlägen eine Unart aus dem Kinde vertrieben werden, die in Folge verkehrter Erziehung sich bilden mußte. Verdienten nicht weit mehr die Aeltern diese Schläge? Nur aus solchen Erziehungsfehlern in der ersten Lebenszeit des Kindes geht gewöhnlich die Charakterverderbniß hervor, die später die Kinder und Aeltern unglücklich macht. – Gewöhnung ist sonach die Hauptmacht bei der Erziehung; unterstützt wird sie durch den Nachahmungstrieb des Kindes. Viel kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht. Freundlichkeit in der Stimme und Miene, im Blicke und überhaupt im ganzen Benehmen der Umgebung gegen das Kind, übt einen großen Einfluß auf die Entwickelung des Gemüthes im Kinde aus und deshalb ist bei der Wahl der Wärterin desselben große Vorsicht anzuwenden. Erziehen die Aeltern von mehreren [624] Kindern das erste Kind nur recht gut, dann wird dieses auf die Erziehung aller übrigen so vortheilhaft einwirken, daß dadurch den Aeltern das so schwierige Erziehungsgeschäft sehr erleichtert wird. Redselige Mütter, die munter und drollig mit ihrem Kinde sprechen, erweisen ihm, ohne es zu ahnen, eine große Wohlthat, denn ihre Töne wirken nicht nur auf sein Gehör und auf das Sprechen, sondern bewegen sein ganzen Wesen und erregen Sympathien. – Von einem Willen ist beim Kinde lange keine Rede, erst wenn es durch selbstständige Anstrengungen aufsitzen, sich stellen und laufen lernt (siehe vorher), beginnt die Entwickelung des Willens; dagegen bildet sich sehr leicht die entschiedenste Willkür aus, die zu Eigensinn und Trotz ausartet, sobald die Erzieher dem Kinde alles thun was es will, und wenn sie sich durch Schreien etwas abzwingen lassen. – Die Sinnesthätigkeiten, sind, da nur durch diese die Geistesthätigkeit zu erwecken ist, wohl zu üben, deshalb aber auch auf die Bewahrung der Sinnesorgane vor Schaden (siehe Gartenlaube Nr. 49 S. 597) die ängstlichste Sorgfalt zu verwenden. Durch Uebungen des Gesichts- und Tastsinnes, bestehend im Näher- und Fernerhalten zu beschauender und befühlender Gegenstände, soll das Kind nach und nach eine richtige Vorstellung vom Verhältniß der Größe und des Raumes bekommen; die Uebung des Gehörs trägt zur Schätzung des Raumes, der Richtung und Entfernung viel bei. Außerdem kann das Ohr aber auch noch durch Vorsingen oder Vorspielen reiner Töne und Melodien, so wie durch Vermeiden unreiner Töne an den Genuß des Wohlklanges gewöhnt werden. Allerdings sind diese Sinnesübungen im Säuglingsalter noch nicht so wichtig, wie im folgenden Lebensalter, aber ganz sollte man von denselben doch nicht absehen. Jedenfalls ist es von großem Vortheile, im Kinde wenigstens eine größere Aufmerksamkeit für Sinneserscheinungen zu erwecken, weil aus dieser später die Achtsamkeit und Wachsamkeit hervorgeht.

Schließlich mögen noch die wahren Worte Dr. Besser’s eine Erwähnung finden, welche derselbe in seinem Schriftchen: „die Benutzung der ersten Lebenstage des Säuglings zu dessen Eingewöhnung in eine naturgemäße Lebensordnung“ schreibt: Gerade die neueste Zeit liegt schwer krank daran nieder, daß sich kein kräftiger Wille, keine klare Ueberzeugung mehr in der Erziehungsweise der Aeltern findet. Es hängt diese Erscheinung tief mit dem Hochmuthe unserer Zeit zusammen, mit dem Meinen der Menschen, sie könnten doch was Rechtes erziehen. Ihre Kinder halten sie für tüchtig, weil sie sich und somit auch ihre Erziehungsweise für tüchtig halten. Es läßt sich das in ihrem Innern natürlich nicht trennen. So brauchen sie aber gegen ihre Kinder keinen Ernst, keine Strenge, weil sie gegen sich nicht streng sind, ja sie dürfen sich nicht einmal die Unarten ihrer Kinder gestehen, es sind ja ihre Kinder, Kinder tüchtiger, vortrefflicher Aeltern, die was Rechtes leisten. Und wie geschäftig und gewandt ist das schwache Mutter- und Vaterherz, sich die Charakterfehler des Kindes zu verbergen, sie mit den eigenen Schwächen zu entschuldigen oder mit einer ungewöhnlichen geistigen, meist nur angeblichen, Begabung zu bemänteln.

Krankheiten im Säuglingsalter sind, obschon eigentlich nur wenige zu existiren brauchten, doch nicht nur sehr häufig, sondern auch gefährlich, meist tödtlich. Die größte Zahl der Menschen, die geboren werden, sinkt schon in der Kindheit wieder in’s Grab. Dies rührt aber ja nicht etwa von der Zartheit und geringen Lebensfähigkeit des kindlichen Organismus her, sondern es liegt in der falsch geleiteten physischen Erziehung. Unpassende Nahrungsmittel, kalte und unreine Luft für’s Athmen, Erkältungen, besonders des Bauches, erzeugen Blutarmuth und Abzehrung, Lungenentzündungen und Brechdurchfall, und dieses sind diejenigen Krankheiten, welche die meisten Säuglinge tödten, trotzdem daß eine richtige Behandlung bei ihrem Beginnen die Gefahr verscheuchen könnte. Ausführliches hierüber findet man in der Gartenlaube Nr. 17, S. 196 u. Nr. 43, S. 515 beim Neugebornen – Ungefährliche, aber Beschwerden erzeugende abnorme Zustände, sind: Verstopfungen (mit Leibschmerzen und Schmerzgeschrei), die stets nur durch Klystiere zu heben sind; Wundsein und Ausschläge, bei denen öftere Reinigung mit lauem Wasser und Bestreichen mit frischem Talge den besten Erfolg hat; das Zahnen (s. Gartenlaube Nr. 49, S. 597). – Was das Einimpfen der Kuhpocken anbelangt, was doch höchst wahrscheinlich eine Vergiftung des Blutes mit Pockenlymphe ist, so hält Verfasser dasselbe in Folge mehrerer Beobachtungen für nicht ganz so ungefährlich, als die meisten Aerzte glauben, und er möchte deshalb das Impfen nicht in den ersten Monaten des Lebens, sondern erst nach dem ersten Lebensjahre bei kräftigerer Körperbeschaffenheit des Kindes vornehmen, keinen Falles aber zur Zeit des Zahnens und Entwöhnens. Zeitiger zu impfen, dazu könnte ihn nur das Herrschen der Menschenblattern in der Nachbarschaft veranlassen.
(B.) 




Pariser Bilder und Geschichten.
Der Hüter des Kaisergrabes im Invalidendom zu Paris.

Der Mann, den ich Euch heute vorführen will, ist kein mit Orden überdeckter Staatsmann, kein berühmter Dichter, kein mit Blumen beworfener Sänger oder Schauspieler, es ist ein einfacher, gewöhnlicher Mensch, den nichts bekannt gemacht, als sein treues Herz und die Liebe für seinen Kaiser.

Der Mann, welcher jetzt das Grabmal des Kaisers Napoleon im Invalidendom zu Paris bewacht, ist eine der treuesten Seelen, die jemals einem Herren gedient haben, und er hat dieser Treue wegen ein so seltsam bewegtes Leben geführt, wie man es ähnlich kaum in einem Romane findet.

Santini, so heißt er, wurde von armen Aeltern 1790 in dem kleinen Dorfe Lama auf Corsika geboren und begeisterte sich schon als Knabe für seinen berühmten Landsmann so, daß er sich bereits in seinem vierzehnten Jahre bei der Rekrutirung stellte. Er wurde als Trommler angenommen und begleitete als solcher mehrere Jahre das Bataillon der corsischen Schützen, bis er selbst das Gewehr nahm, und mit demselben die Feldzüge und Schlachten in Deutschland mitmachte. In Königsberg, bei Beginn des russischen Feldzugs, kam er als Courier in das Hauptquartier. Als solcher sah er den Brand von Moskau, die Schrecken des Rückzugs, die Schlacht bei Leipzig und die Kämpfe in Frankreich. Aber alles dies war nur das Vorspiel zu dem, was er später thun und leiden und was ihm einen Namen in der Geschichte machen sollte.

Am Tage der Abdankung Napoleon’s in Fontainebleau sah ihn der General Ornano in seiner Courieruniform im Schloßhofe sitzen und sehnsüchtig nach den Fenstern des Kaisers blicken. Er hatte um die Gnade gebeten, seinen Kaiser nach Elba begleiten zu dürfen und wartete auf Antwort. Es sei kein Platz mehr zu besetzen, sagte ihm der General, der ihm indeß auf unablässiges Bitten gestattete, sich anzuschließen, wenn er selbst für seinen Unterhalt sorgen könne. Vielleicht finde sich später etwas, tröstete der General.

Auf dem Schiffe, das Napoleon nach Elba brachte, sah dieser den Corsen und sprach zum erstenmale mit ihm. Er fragte, wer er sei, was er auf dem Schiffe thue und auf Elba thun wolle. Bald gab er ihm einen Auftrag. Als das Schiff im Hafen angekommen war, sammelten sich die Bewohner der Insel an der Küste und ein Boot fuhr an das Schiff heran.

„Geh’ in diesem Boote mit an’s Land;“ sagte Napoleon zu Santini, „und erkundige Dich vorsichtig, was die Leute von mir, denken und von mir erwarten. Wenn Du wiederkommst, sagst Du mir die Wahrheit, die nackte Wahrheit, hörst Du?“

Santini richtete den Auftrag aus und Napoleon forderte ihn auf, sich am nächsten Tage bei ihm zu melden, da er einmal bei ihm bleiben wolle. Er fand sich pünktlich ein, aber man ließ ihn nicht zu dem Kaiser. Er wendete sich nach der Reihe an alle Großen, er intriguirte selbst unter den Kleinen länger als drei [625] Monate. Vergeblich. Er hatte längst gar kein Geld mehr und in einer Art Verzweiflung entschloß er sich endlich, Napoleon selbst auf dem Spaziergange anzureden, den derselbe täglich machte.

Das gelang. Napoleon ernannte ihn zum Aufseher seines Portefeuilles.

Die Wohnung Napoleons war noch nicht im Stande. Die Arbeiter mußten oft durch sein Arbeitszimmer gehen, in welchem auf dem Tische Papiere aller Art lagen und ein kostbares Schreibzeug stand.

Eines Tages, als Napoleon nicht da war, mußte Santini in irgend einer Dienstangelegenheit sich auf einige Augenblicke entfernen. Er wollte es recht gut machen und verhindern, daß Einer der Arbeiter etwas auf dem Tische berühre; er nahm also alles, was auf dem Tische lag, trug es in ein Cabinet, schloß dies zu, steckte den Schlüssel ein und ging. Unglücklicherweise erschien gleich darauf Napoleon und sah, daß sein Tisch abgeräumt war. Er gerieth in den heftigsten Zorn und riß in die Klingel, um nach Santini zu fragen, der in diesem Augenblicke selbst erschien.

„Wo ist Alles?“ donnerte ihn Napoleon an. „Habe ich Dir nicht gesagt, daß kein Blatt von den Papieren verrückt werden solle?“

„Ja, Sire; ich habe Alles in das Cabinet getragen.“

„Den Schlüssel!“

Zitternd reichte Santini den Schlüssel hin.

„Geh!“ fuhr Napoleon fort.

„Aber, Sire …“

„Geh auf der Stelle. Ich mag Dich nicht mehr sehen“

„Sire, verzeihen Sie.“

„Hinaus!“

Santini ging als trage er den Tod im Herzen. Er wußte nicht, was er beginnen sollte. Am zweiten Tage endlich entschloß er sich, dem Kammerdiener Marchand sich anzuvertrauen und durch diesen die Verzeihung des Kaisers erbitten zu lassen. Marchand versprach es und Santini wurde wirklich zu Napoleon berufen, der sich die Sache erklären ließ.

„Warum sagtest Du mir das nicht gleich?“ fragte er dann.

„Sire … Ihr Zorn.“

„Schon gut. Tritt Dein Amt nur wieder an.“

Santini.

Er blieb doch nicht lange in demselben. Es sollte ein Mordversuch gegen den Kaiser Napoleon gemacht worden, und die Thäter sollten von Corsica gekommen sein. Da nahm der Chef der Polizei auf Elba Santini bei Seite und sagte: „Das Attentat geht von dem neuen Gouverneur von Corsica aus; heute Nacht noch fahren Sie auf einer Feluke ab und landen ungesehen auf Corsica. Sie werden da Freunde und Verwandte haben; bereden Sie sich vorsichtig mit ihnen; lassen Sie eine geheime Polizei durch dieselben einrichten, welche den Gouverneur genau beobachtet; leiten Sie eine geheime Correspondenz zwischen Corsica und Elba ein, damit wir Alles erfahren und sorgen Sie namentlich, daß wir jedesmal Nachricht erhalten, wenn Jemand von Corsica nach Elba reiset.“

Um Mitternacht, bei Regenwetter, stieg Santini in einer versteckten Bucht, in Hirtentracht, an seiner heimatlichen Insel an’s Land. Er durchwanderte einen großen Theil derselben und gelangte endlich zu einem Oheim Voccheciampe, der zwar Napoleon, den Kaiser, haßte, weil er ihm einen Bruder als Verschwörer hatte erschießen lassen, aber, da er verbannt war, sein Leben für den unglücklichen Landsmann gegeben hätte. Von diesem Oheim erfuhr Santini so viel, daß er schon am nächsten Tage einen Vertrauten mit Nachrichten nach Elba schicken konnte, während er selbst mit der Ausführung der weitern Pläne beschäftigt blieb.

Der Polizei des Gouverneurs blieb es indeß auch nicht verborgen, daß ein Agent Napoleon’s auf der Insel sich aufhalte und sie bot Alles auf, um seiner habhaft zu werden. Santini wurde gewarnt, wagte sich aber sogar nach Bastia, in wechselnder Verkleidung, und verließ diese Stadt erst wieder, als er seinen Auftrag vollständig ausgeführt hatte. Er schiffte sich wiederum in der Nacht ein und gelangte glücklich nach Elba.

Santini war später mit thätig bei den Vorbereitungen zur Rückkehr Napoleon’s nach Frankreich; in den hundert Tagen übernahm er seinen Posten als Courier wieder und auf dem Northumberland, welcher Napoleon nach St. Helena führen sollte, treffen wir Santini ebenfalls. In der Nähe von Teneriffa, als es sehr heiß war, bat Cypriani seinen Landsmann Santini, ihm doch das Haar zu verschneiden. Es geschah dies auf dem Verdeck. Napoleon ging mit Gourgaud und Las Cases da auf und ab, und als er die Friseurarbeit Santini’s sah, blieb er stehen und sagte:

„Wenn Du fertig bist, schneide auch mir das Haar; aber wehe Dir, wenn Du es nicht recht machst!“

Er setzte sich in der That hin und Santini legte mit Zittern die Hand an das Haupt, das so glänzende Kronen getragen hatte. Er zitterte noch stärker, als der Kaiser nach dem ersten Scherenschnitte in sein Haar, freilich im Scherz, hinzusetzte:

„Haben Sie Acht, Gourgand; wenn der Corse einen Fehler macht, lasse ich ihn in das Meer werfen.“

Geschah es in Folge des Zitterns der Hand oder überließ sich Santini seinen Gedanken, genug, er schnitt den Kaiser leicht in das Ohr.

Er ließ vor Schreck die Scheere fallen, Napoleon aber parodirte lächelnd die bekannten Worte: „es schmerzt nicht“ und forderte den ungeschickten Friseur, der kein Friseur war, auf, fortzufahren.

Auf St. Helena war es Santini’s größter Kummer, daß es seinem Kaiser an geeigneten Speisen fehlte. Ob dies wirklich der Fall gewesen – es ist behauptet und bestritten worden – wollen [626] wir nicht untersuchen, genug, Santini stahl junge Schweine und wilde Schafe, welche der ostindischen Compagnie angehörten, oder kletterte auf den steilsten Felsen umher, um Tauben zu schießen, die da in Menge nisteten. Seine Beute brachte er stets heimlich in die Küche, und der Kaiser wußte lange nichts davon; um so trauriger war er, wenn er ganze Tage lang in den Felsen umhergeklettert war, und ohne Beute zurückkehren mußte. Seine Trauer sollte aber bald tiefer greifen, denn Sir Hudson Lowe erschien als Gouverneur der Insel.

Auf den Jagdausflügen schloß sich unserm Santini nach einiger Zeit ein englischer Offizier an. Sie wurden ziemlich befreundet mit einander und endlich machte der Offizier Santini den Antrag, er möge, für schweres Geld natürlich, dem Gouverneur täglich einen ganz genauen Bericht über Alles, was Napoleon thue, zukommen lassen.

Wie Santini den Antrag aufnahm, brauchen wir nicht zu erwähnen. Er hatte zwar geschworen, die Sache geheim zu halten, aber denselben Tag noch mußte er zum zweitenmale dem Zorn seines Kaisers gegenüberstehen und da sprach er von dem was geschehen.

Der General Gourgaud hatte einen Engländer in Dienst genommen und die Franzosen wollten mit diesem nicht essen. Santini kam an jenem Tage mit verbissenem Grimm zu einem solchen Zanke und er spielte bald die Hauptrolle dabei. Es kam zu großem Lärm; Napoleon hörte ihn und erfuhr, daß Santini der Schuldige sei. Er ließ ihn rufen und redete ihn unter Zornesblicken an: „Du stellst Dich, als seist Du mir ganz ergeben und fängst Unfug an. Ein Soldat! Solltest ein gutes Beispiel geben … Wäre ich noch auf der Insel Elba, ich würde Dich auf der Stelle erschießen lassen … Ich kenne Dich nicht mehr … Geh!“

„Sire,“ antwortete Santini, gebeugt unter diesem Unwillen und indem er auf Pistolen zeigte, die auf dem Tische lagen, „da liegen Ihre Pistolen; Sie sind für mich noch immer der Kaiser; befehlen Sie, daß man mir eine Kugel durch den Kopf jage; ich bin bereit, niederzuknien, denn tausend Mal lieber den Tod als Ihren Zorn!“

„Was hast Du gegen den Diener Gourgaud’s?“

„Ich will lieber sterben, als neben einem Spion sitzen. Alle Engländer, die sich an uns schleichen, sind Spione oder wollen uns zum Spioniren verführen.“

Und er erzählte, was ihm mit dem Offizier begegnet war.

Napoleon wurde nachdenklich, beruhigte sich allmälig und verzieh seinem Getreuen, der nun mit um so größerm Eifer seine Jagd auf die Schweine, die Ziegen, die Schafe und die Tauben fortsetzte.

Er ging noch weiter.

Er sah, daß der Anzug Napoleon’s schlechter und schäbiger wurde. Das griff dem enthusiastischen Verehrer seines Kaisers an’s Herz und trieb ihn an, Schneider zu werden. Er zerschnitt einen alten grauen Rock Napoleon’s und machte ihm einen Frack daraus. Er wurde Schuhmacher und verfertigte dem Kaiser aus alten Stiefeln ein Paar Schuhe mit Schnallen, die er mit weißem Atlas fütterte, welchen er sich von den Damen Bertrand und Montholon geben ließ.[1]

Santini endlich war es, welcher von Napoleon den Auftrag erhielt, weil es ihm an Geld fehlte, sein Silbergeschirr zu zerschlagen und zu verkaufen. „Meine Adler aber,“ setzte er hinzu, „sollen nicht mit auf den Markt wandern. Auch meinen Namenszug vertilge. In ganz kleine Stücke zerschlage es, damit man nichts erkennen kann.“

Alles dies nagte an Santini; er wurde schweigsam, mürrisch, wanderte einsam umher, ließ sich oft Tage lang nicht sehen und als Hudson Lowe verlangte, daß Jeder, der bei Napoleon bleiben wolle, sich schriftlich erklären müsse, er unterwerfe sich allen Anordnungen des Gouverneurs, wunderten sich Alle, daß Santini erklärte, er werde dies nicht unterschreiben.

Einige Tage vorher hatte er seinen Kaiser um eine Audienz gebeten und ihm gesagt: er sei entschlossen, ihn zu verlassen, weil er ihm in Europa besser zu dienen hoffe. „So klein ich bin,“ sagte er, „werde ich doch, da ich bei Ihnen war, die Aufmerksamkeit erregen und diese dann für Sie benützen; ich werde sagen, wie es hier zugeht und in den Zeitungen bekannt machen, was man Sie leiden läßt; ich werde den Unwillen Aller erregen und das englische Cabinet wird Ihnen endlich gewähren müssen, was Ihnen gebührt.“

„Dein Plan ist gut,“ antwortete der Kaiser. „Komm morgen wieder; ich habe mit Dir darüber zu sprechen.“

Als er am nächsten Tage wieder zu Napoleon kam, stand dieser am Kamin und hielt eine Papierrolle in der Hand.

„Da,“ sagte er; „beweise mir, daß Du lesen kannst; lies.“

Santini las einige Zeilen.

„Wie lange wirst Du brauchen, um das Alles auswendig zu lernen?“

„Zwei Tage.“

„So nimm das Papier und lerne auswendig was darauf steht.“

Es war die Protestation Napoleon’s, die er Montholon dictirt, an Hudson Lowe übergeben und an Lord Bathurst übersandt hatte, der sie allen Regierungen mittheilte, die aber alle schwiegen.

Bereits nach vierundzwanzig Stunden meldete sich Santini wieder und erklärte, die Aufgabe sei gelöset, er könne Alles auswendig.

„Behalte jedes Wort davon,“ sagte Napoleon, „und wenn Du nach London kommst, laß es drucken. Du wirst Leute finden, die Dir behülflich sind. Dann gehst Du zu allen Mitgliedern meiner Familie und erzählst wie es hier ist etc.“

„Es ist mir noch etwas eingefallen,“ entgegnete Santini, indem er etwas von dem weißen Atlasse, den er übrig behalten hatte, aus der Tasche zog. „Wäre es nicht gut, wenn die Protestation ganz auf die Seide geschrieben würde, damit ich sie unter das Futter meines Rockes nähen und im Nothfalle Worte, die ich doch vergessen dürfte, wieder finden könnte?“

„Dein Einfall ist gut,“ antwortete Napoleon; „gieb her die Seide; ich werde die Protestation darauf schreiben lassen.“

Las Cases schrieb sie in ganz kleinen Buchstaben mit Tusche auf die Seidenstreifen, Santini nähete sie unter sein Rockfutter und am 19. Oct. 1816, ein Jahr nach der Ankunft auf Helena, segelte er nach der Capstadt. Dort wurde er in die Citadelle gesperrt und durfte mit Niemandem verkehren. Nach fünfzig Tagen brachte man ihn auf ein anderes Schiff, das am 16. December wieder an St. Helena beilegte und erst nach fünf Tagen weiter fuhr. Santini durfte nicht an das Land gehen.

Im Februar des nächsten Jahres kam er in England an und sogleich begab er sich nach London. Es würde viel zu weitläufig werden, wollten wir Alles erzählen, was er thun und vermeiden mußte, um seinen Zweck zu erreichen. Mit Hülfe Sir Robert Wilson’s und Lord Holland’s konnte er die Protestation Napoleon’s und eine Brochüre über dessen Aufenthalt auf Helena drucken lassen, welche das ungeheuerste Aufsehen machten, eine der stürmischesten Sitzungen des Unterhauses und die Absendung einer Commission nach St. Helena veranlaßten, die Vieles in der Stellung Napoleon’s verbesserte.

Nach einem dreimonatlichen Aufenthalte in London verließ Santini England, um trotz der aufmerksamen Polizei die Glieder der Napoleonischen Familie aufzusuchen. Er gelangte glücklich nach Karlsruhe, wo er von der edeln Stephanie Geld erhielt, an dem es ihm ganz fehlte. Von da ging er nach München und hatte eine Audienz bei dem Prinzen Eugen.

Am nächsten Tage sollte er mit demselben noch einmal sprechen, aber als er in den Palast trat, wurde er verhaftet, in einen Wagen gesetzt und unter Bedeckung nach Ulm gebracht. Hier gab man ihm seine Freiheit zwar, erklärte ihm aber, wenn er Baiern wieder beträte, werde man ihn an die französischen Behörden ausliefern.

Santini besann sich nicht lange. So wenig Geld er hatte, unternahm er es doch nach Rom zu wandern, am Comer-See jedoch wurde er wiederum angehalten, festgenommen und in ein Gefängniß nach Mailand, nach fünf Tagen aber in die Citadelle zu Mantua gebracht. Er galt für einen höchst gefährlichen Menschen: war er doch bei dem Gefangenen auf St. Helena gewesen, der ihm gewiß aufgetragen hatte, die – Welt aufzuwiegeln. Die Polizei gab sich alle erdenkliche Mühe ihn zum Gestehen zu bringen und benutzte endlich selbst ein hübsches Mädchen, das täglich in das Gefängniß Santini’s kam, scheinbar um da aufzuräumen, [627] eigentlich aber damit der Gefangene sich in sie verliebe und dann plaudere. Das Mädchen blieb Stunden, halbe Tage lang bei ihm und eines gelang: Santini verliebte sich in der That, aber auch der Geliebten vertraute er nichts, so daß diese endlich erkannte es sei Alles vergeblich und nicht wieder erschien.

Ein Paar Stunden nach ihrem letzten Weggange erschien ein Beamter, der dem Gefangenen meldete, er sei in so weit frei, daß er aus der Citadelle entlassen werden solle, er müsse sich aber irgendwo in Oesterreich oder England aufhalten; entscheide er sich für Oesterreich, so werde man ihm Brünn zum Aufenthaltsorte anweisen. Santini wählte Oesterreich, wurde nach Wien gebracht, dort drei Wochen gefangen gehalten trotz seiner fortwährenden Erklärungen, man möge ihn erschießen, wenn er schuldig sei oder ihn frei lassen, wenn er nichts verbrochen habe. Endlich begleitete ihn ein Beamter nach Brünn. Hier sollte er in der Stadt frei herumgehen können, er durfte aber selbst die Vorstadt nicht betreten und mußte einen Mann bei sich dulden, der für seinen Dollmetscher galt, aber ein Spion war, der ihn zu beobachten hatte. Er fand in Brünn überall die freundlichste Theilnahme und nur einmal tiefen Schmerz. In dem Kaffeehause, das er täglich besuchte, mieden ihn einst alle, die sonst freundlich gegen ihn gewesen waren, und sahen ihn mit Blicken der tiefsten Verachtung an. Ein Offizier warf ihm endlich ein Zeitungsblatt hin, in dem aus London berichtet war, ein gewisser Santini, der für Napoleon in Europa agitire, sei ein Betrüger, seines schlechten Wandels wegen von St. Helena verwiesen worden und speculire durch seine lügenhaften Schriften auf den Beutel des Publikums.

Santini war auf’s Tiefste verletzt und protestirte laut, aber was konnte er thun? Er verließ das Kaffeehaus und schloß sich in seiner Wohnung ein. Vierzehn Tage hatte er den Schmerz zu tragen; da kamen eines Morgens wohl zwanzig Offiziere und andere Personen zu ihm, baten ihn um Entschuldigung und zeigten ihm ein Zeitungsblatt, in welchem Graf Flahaut erklärte: was eine Zeitung über Santini gesagt, sei eine schändliche Verläumdung; Santini sei Einer der treuesten Diener, der seine Existenz und seine Zukunft geopfert habe um der Welt die traurigen Geheimnisse von St. Helena zu entschleiern etc.

Von da an wurde er unverändert mit der größten Achtung behandelt und verlebte drei Jahre in Brünn, die er drei glückliche nennt. Ja selbst der Kaiser Franz sandte ihm einmal fünfhundert Gulden.

Im Jahre 1821 endlich meldete man ihm, daß sein Kaiser todt, er aber frei sei. Was lag ihm nun an der Freiheit? Es dauerte lange, ehe er seine Energie wieder fand; als es geschehen war, trat er seine Wanderungen von neuem an. Er suchte alle Verwandten seines Kaisers auf und begab sich endlich nach Corsica, um da sein Leben zu beschließen; aber die Polizei ließ ihm keine Ruhe und er ging nach Paris, wo er von Unterstützungen der wohlhabenden Bonapartisten lebte, aber auch stets von der Polizei verfolgt wurde.

Erst die Julirevolution machte seinen Leiden ein Ende. Er kam als Diener in das Cabinet Ludwig Philipp’s und blieb da zwei Jahre, dann aber übernahm er sein früheres Amt wieder – er wurde Courier.

Als solchen traf ihn die Februarrevolution von 1848 und Santini wurde sofort Einer der thätigsten und unermüdlichsten Werber, die das Land zu Gunsten Ludwig Napoleon’s bearbeiteten.

Unterdeß nahete sich das prachtvolle Grabmal des Kaisers Napoleon im Invaliden-Dome der Vollendung und es mußte ein Aufseher und Hüter desselben ernannt werden. Der damalige Präsident Ludwig Napoleon konnte dazu gewiß keinen Geeigneteren finden als Santini, dem er denn auch das Kreuz der Ehrenlegion gab und die Obhut des Grabes jenes Kaisers anvertraute, für den er ausschließlich gelebt hat.

Wer nach Paris kommt und das Kaisergrab besucht, reiche dem treuen Santini die Hand!




Blätter und Blüthen.

Wie erkennt man zu Anfange des Winters, ob dieser zu den strengen zählen werde oder nicht? – Der große Einfluß, den das Wetter auf die Verrichtungen und, wie schon Hippocrates bemerkt, auf das Wohlbefinden des Menschen ausübt, erklärt uns das Verlangen, das Wetter vorherzusagen. Bis jetzt aber besitzen wir die Mittel nicht, um mit Erfolg prophezeihen zu können, denn das Wetter wird in weiter Ferne – unter den Tropen für den ganzen Erdkreis gebraut. Nichts desto weniger mangelt es nicht an Wetterpropheten, wenn auch die Vorherverkündigungen sehr hinken. Diese Bestrebungen fingen an, sobald man gelernt hatte den Lauf der Wandelsterne mit Genauigkeit im Voraus zu berechnen. Sie sollten es sein, welche durch ihre verschiedenen Stellungen zur Erde die Vereinbarungen des Wetters veranlaßten. Ein sorgfältiges Studium des Mondes, des nächsten Gestirnes, das demnach den größten Einfluß ausüben mußte, hat die Nichtigkeit dieses Glaubens dargethan. 17jährige Beobachtungen, die der bekannte Astronom Mädler angestellt hat, lehren, daß die Unterschiede am Thermometer und Barometer in den verschiedenen Perioden des Mondes viel geringer sind als die, welche man bei diesen Instrumenten an zwei ganz nahe gelegenen Orten beobachtet. Zeigt nun das uns nächste Gestirn keine Beeinträchtigung, so dürfen wir sie auch für die unendlich weit entfernten nicht annehmen.

Es fällt uns daher nicht ein, hier die Temperatur der einzelnen Tage vorhersagen zu wollen, sondern nur ganz allgemein den Verlauf des Winters überhaupt. Da der von Vielen nicht gern gesehene Gast nicht lange auf sich wird warten lassen, so theilen wir dem Leser die Regeln mit, die man aus einer Vergleichuug der letzten 18 Winter in Berlin gezogen hat, damit er selbst prüfen könne, ob sie sich bewähren oder nicht. Man brachte die zu bestimmten Stunden eines jeden Tagen beobachteten Temperaturen in jedem Winter sorgfältig und übersichtlich zu Papier, um zu sehen, ob sich die Vertheilung der hohen und niedrigen Temperatur in den strengen Wintern charakteristisch von der in den nicht strengen unterscheide. Nach Verlauf von sieben Jahren will man nun folgende Unterschiede gefunden haben: 1) die strengen Winter haben wenige, die nicht strengen viele Kälteperioden; d. h. in den ersteren finden sich wenige Zwischentage, an denen das Thermometer über Null steigt, während dies bei den letzteren häufiger der Fall ist. 2) In den strengen Wintern sind die Kälteperioden lange anhaltend, in den nicht strengen umfassen sie nur wenige Tage. 3) Ist die Dauer eines strengen Wintern eine kürzere als die der nicht strengen.

Diese Beobachtungen hat der Leser wohl selbst schon gemacht, aber nicht die, daß man aus ihnen zu Anfange eines Winters den Verlauf desselben vorhersagen könne, wenigstens soll dies nach jenen sieben Jahren regelmäßig geschehen sein. Wie man dies anzufangen habe, wollen wir in Nachstehendem mittheilen. Sobald man sich den Wintermonaten nähert, beobachte man fleißig das Thermometer; täglich drei Mal, um 7 Uhr Morgens, Mittags und 10 Uhr Abends, zähle die beobachteten Grade zusammen und dividire die Summe durch die Zahl der Beobachtungen, so hat man die mittlere Temperatur des Tages. Sobald ein Frosttag eintritt, d. h. wenn die mittlere Temperatur des Tages entschieden unter Null bleibt, da heißt es aufgepaßt. Nachtfröste allein entscheiden hier nichts. Man wird nun finden, daß die ersten Frosttage nur unbedeutend sind; stellt sich aber größere Kälte ein und treten bald nach dem Beginn derselben Tage auf, an denen das Thermometer wesentlich und selbst bis über Null steigt, so aber, daß die Zahl und die Summe der Temperatur der kalten Tage die Zahl und die Summe der Temperatur der warmen Tage übertrifft, und nimmt dann die Kälte bald wieder entschieden zu, so kann man sicher schließen, daß der Winter zu den strengen gehören werde.

Die Betrachtung einzelner Winter wird dies näher erläutern. 1834 trat die erste, sehr unbedeutende Kälte am 13. und 14. Novbr. ein, dann blieb die mittlere Temperatur den Tagen bis zum 26. über Null und mit dem 27. trat eine lange anhaltende Kälteperiode ein. Während dieser stieg das Thermometer von – 4° am 29. Novbr. bis auf – 1° am 4., 9 und 11. Decbr. sank dann wieder bedeutend, so daß man am 18. Dec. den strengen Winter ankündete. 1817 konnten die unbedeutenden Wintertage im Novbr. nichts entscheiden. Am 1. Decbr. dagegen trat entschiedener Frost ein, am 11. stieg die mittlere Temperatur auf wenig über Null, ebenso am 21., 22. und 23. und nun trat wieder Frost ein, der die Entscheidung abgab. Nicht immer sind die Resultate sogleich ganz entschieden. 1835 fanden nach dem ersten Frost am 1[ ]. Decbr. verschiedene Wechsel statt, bevor die große Kälteperiode eintrat. Im Ganzen zählte man vor dem 27. Decbr. 9 Tage mit 19° Kälte und 7 Tage mit nur 15° Wärme. Erstere überwog daher und als am 27. Kälte eintrat, entschied man sich für einen strengen Winter. Der Leser darf auch nicht verzagen, wenn die Erfüllung seiner Prophezeihung sollte lange auf sich warten lassen. Der Winter von 1845 lehrt, daß man sich zuweilen mit Geduld auszurüsten habe. Der 20. Decbr. war hier der Tag der Entscheidung, aber der Januar war in seinem ganzen Verlaufe verhältnißmäßig gelinde; Februar und März holten jedoch reichlich wieder ein, was der Januar versäumt hatte.

Anders ist es nun bei gelinden Wintern. Hier treten entweder die Wechsel zwischen Kälte und Wärme häufiger ein oder es folgt einer anhaltenden Kälteperiode eine anhaltende Wärmeperiode. In beiden Fällen übertrifft die Zahl und die Summe der Temperatur der warmen Tage die der kalten. 1852 folgten den ersten 9 Frosttagen, zusammen mit 15° Kälte, nur 7 Tage mit 3° Wärme; hier hätte man der folgenden Kälte wegen auf einen strengen Winter schließen können. Aber die Kälte der ersten Periode war nur geringe und der zweiten (drei Tage mit 3° Kälte) folgten 10 Tage mit 50° Wärme. Entscheidend war die dritte Periode [628] (12 Tage mit 19° Kälte und 17 Tage mit 78° Wärme). Am 16. Dec. verkündete man daher, daß in diesem Winter keine bedeutende und anhaltende Kälte weiter eintreten werde. 1837 stellte sich zwar eine entschiedene Kälteperiode ein (drei Tage mit 12° Kälte) aber die nun folgende Wärmeperiode war ebenso entscheidend (26 Tage mit 113° Wärme), so daß man sich schon zu Anfange derselben für einen nicht strengen Winter entscheiden konnte. Hier kann die Entscheidung mitunter zweifelhaft sein. So trat 1840 am 2. Decbr. zuerst entschiedener Frost ein. Die Kälteperiode dauerte 11 Tage mit 29°, dann folgten zwei Tage mit zusammen 41/2° Wärme; bei Eintritt der dritten Kälteperiode (6 Tage mit 26°) hätte man sich für einen strengen Winter entscheiden können, aber die beiden früheren unbedeutenden Frosttage am 29. Octbr. und 22. Novbr. deuteten einen so häufigen Wechsel zwischen Kälte und Wärme an, wie er nur den nicht strengen Wintern eigenthümlich ist.

Man versichert, daß auch bereits an anderen Orten das angegebene Verfahren Anklang und Nachahmung gefunden habe. Vielleicht findet auch Mancher unter den Lesern ein Vergnügen daran, den Wetterpropheten zu spielen. Er möge dann versuchen, ob die gegebenen Regeln sich bewähren.




Elephanten als Gewerbtreibende. Ein Engländer bemerkte auf seinen Reisen über die Insel Ceylon nicht selten Elephanten als eben so kluge, als mächtige Handwerker und Arbeiter. Zunächst sah er einen bei Urbarmachung von Land beschäftigt. „Es war sehr interessant, das riesige, plumpe Ungeheuer in seiner Arbeit zu beobachten. Er riß ungeheure Baumwurzeln aus der Erde, vermittelst eines mächtigen Hakens, der mit einer Kette um seinen Hals befestigt war. Er riß und zerrte mit der Kraft von 100 Arbeitern in bestimmten, regelmäßigen Ansätzen, die er jedesmal mit einem tiefen, brausenden Grunzen begleitete. Mit der ganzen Masse seines Vorderkörpers bog er sich bis beinahe auf die Knieen nieder, um einem Menschen Gelegenheit zu geben, die Kette danach einzuhaken und abzukürzen, dann stämmte er sich aufwärts, daß die dicksten, tausendjährigen Wurzeln krachten und nach allen Seiten hin brachen und, Erde umherstiebend, aus dem festhaltenden Boden sprangen. Dabei trat er oft zurück, um sich die Fortschritte seiner Arbeit anzusehen, und dann mit neuen Kräften fortzufahren. Die Klugheit, welche der Elephant in seinem gezähmten Zustande entwickelt, erreicht beinahe den Verstand des Menschen. Ohne Zweifel denkt, urtheilt und schließt er und benutzt Erfahrungen oft besser, als der Mensch, dem, wie es scheint, alle großen Lehren der Geschichte nichts helfen. Auch macht der Elephant leicht Fortschritte in seiner geistigen Entwickelung. An einer andern Stelle sah ich einen Elephanten als Maurer bei einem Brückenbau beschäftigt. Die Genauigkeit und Ausdauer, die sie zeigen, die großen behauenen Quadersteine zu legen, zu rücken und nach dem Augenmaße mathematisch genau aneinander zu fügen, ist unglaublich, wenn man’s nicht selber sieht. Sie legen die Steine mit der Wissenschaft eines alten Maurergesellen und treten jedesmal zurück, um den Stein aus der Ferne und von allen Seiten zu besehen, und ihm dann die letzten, feinen Rucke zu geben, wenn sie finden, daß das Werk nicht ganz vollkommen ist. Und wie der Maurer dann dem Steine gleichsam einen leisen Schlag des Beifalls giebt, nimmt der Elephant seinen Rüssel und pocht leise drauf, als wollt’ er damit sagen: „so ist’s gut und so bleibst du liegen. „Wenn sie mehrere Steine auf diese Weise placirt und zurechtgeschoben haben, treten sie ziemlich weit zurück, um das Ganze einer allgemeinen Revue und Kritik zu unterwerfen. Dann wackeln sie mit ihren alten, klugen Ohren und drehen die Augen und den ganzen Kopf, um Alles genau zu prüfen und schließen bald das eine, bald das andere Auge, um jede leise Unregelmäßigkeit in ihren Anordnungen zu entdecken und danach Verbesserungen anzubringen. Freilich muß man sie zu behandeln wissen, denn als vernünftige, civilisirte Wesen wollen sie auch ehrlich und anständig behandelt sein und lassen sich durchaus nicht so viel gefallen, als mancher menschliche Arbeiter. In ihrer noblen Weise bringt sie nichts so sehr in Zorn, als wenn Menschen ihnen etwas versprechen, ohne es zu halten. Der Mensch muß sich das bekanntlich von Menschen sehr oft gefallen lassen: aber ein Elephant in Ninivelly, der den ganzen Tag Floßholz aus dem Wasser gezogen und am Lande aufgeschichtet hatte, riß sich die folgende Nacht aus seiner Schlafstelle los und warf alles Holz wieder in’s Wasser, weil ihm der Arbeitgeber zum Feierabend ein Fläschchen Rum versprochen und diese nicht gegeben hatte. Der buddhistisch-heidnische Herr des Elephanten war übrigens in diesem Falle vernünftiger und menschlicher, als sich in der Regel christliche Obrigkeit erweist. Er gab ihm jetzt den Rum zum Frühstück und versprach und gab ihm zum Abend die Quantität, welche ihm den Abend vorher versprochen worden war. Herr und Elephant standen jetzt wieder in dem besten Unterthanen-Verbande. Hätte Ersterer statt des Rums eine Tracht Prügel verabfolgt, wäre er zum Tyrannen und Wortbrecher, der Elephant aber ein tückischer Sklave geworden, als welcher er eben so viel von seiner Arbeitslust, als von seinem Talente und seiner Nützlichkeit für den Herrn verloren haben würde.




Als Thiers auf einer seiner letzten Reisen im Luxemburgischen durch das Dorf kam in dem er aufgewachsen und in die Schule gegangen war, suchte er seinen alten Schulmeister auf, der noch am Leben war.

„Kennt Ihr mich?“ fragte er ihn.

„Nein.“

„Wie, Ihr kennt den kleinen Adolph Thiers nicht mehr?“

„Ach, meint Ihr den kleinen Taugenichts?“

„Ja wohl, der bin ich.“

„So, so, nun es freut mich, Euch wieder zu sehen. Es geht Euch doch gut?“

„O ganz wohl, und wie steht es mit Euch?“

„Ja, mir geht es nicht besonders. Ich habe wenig Schüler und Mühe, durchzukommen.“

Thiers gab ihm darauf einige Goldstücke. Der Alte bedankte sich und sagte: „Verzeiht mir die Frage, aber sagt einmal, was seid Ihr? Banquier, Kaufmann oder sonst was?“

„Ich habe mich vom Geschäft zurückgezogen,“ erwiederte Thiers. „Ich war Minister.“

„So,“ meinte darauf der Alte. „Hoffentlich seid Ihr doch Protestant geblieben?“

Als ihn Thiers auch darüber beruhigt hatte, schieden sie freundschaftlichst und der Alte bot Thiers reichlichen Stoff, lachend über die Gebrechlichkeiten des menschlichen Ruhmes nachzudenken.

Der alte Schulmann erinnert lebhaft an die noch schlagendere Anekdote von der alten Hökerin, die vor dem Eingange in Sanssouci Aepfel feil hielt und mit der Friedrich der Große zu reden pflegte. Als er dies auch nach seiner Rückkehr aus dem siebenjährigen Kriege that, fragte ihn die Frau:

„Na, wo ist Er denn so lange gewesen?“

„Im Kriege, weiß Sie denn das nicht?“ erwiederte der König.

„Ach, wie soll ick det wissen,“ sagte darauf die Alte. „Pack schlägt sich und Pack verträgt sich.“

Die Frau sollte in Elihu Burrit’s „Olivenblättern“ als wahrste Repräsentantin der Friedenspartei paradiren.




Die Erfindung der Brücken. In den tropischen Ländern, in welche die Civilisation noch nicht so weit gedrungen ist, daß die Mittel der europäischen Baukunst in denselben angewandt werden können, erregen die Brücken, welche die Eingebornen aus Bambusstäben bauen, häufig die Bewunderung der Reisenden. Einer von diesen, welcher in jüngster Zeit Ceylon durchstreifte, der Engländer Sullivan, und dort ebenfalls Bambusbrücken fand, die von einem Baum zum andern über das Wasser liefen, macht dabei folgende Bemerkung: Die Eingebornen haben diese Baukunst offenbar von den Affen gelernt. Wenn diese an ein Wasser kommen, das ihre Jungen nicht überspringen können, so hängen sie sich an einen Baum herab mit den Schwänzen aneinander, bin sie eine lange Linie gebildet haben und setzen diese vor- und rückwärts schwingend in Bewegung, bin der letzte Affe im Stande ist, den Baum an dem andern Ufer zu erreichen. Dann gehen die Weibchen mit ihren Jungen über die so gebildete lebendige Brücke. Ist das Wasser für diese Weise zu breit, so bilden sie die Kette zu beiden Seiten und schwingen sich so lange, bin sie ihre Schwänze in der Mitte vereinigen können. In der gleichen Weise bilden auch die Ameisen Brücken für die Abgründe, die sich ihnen auf ihren Expeditionen darbieten.




Das Nervensystem des Hundes ist ungemein stark und fein ausgebildet und ist von dem größten Einfluß auf alle seine Handlungen. Das Hirn des Hundes ruht fast nie, selbst im Schlafe nicht, wo er bekanntlich oft durch Bewegungen und Laute beweist, daß er sich allerhand Gedanken macht. Kein Thier, vielleicht kein Mensch, hat eine so starke Einbildungskraft, als unser treues Hausthier. Wie oft irrt er sich im Dunkeln, von seiner Einbildungskraft getrieben, Freunde für Diebe, gewöhnliche Ratten oder Katzen für Gespenster zu halten? Vor seinem Tode wird er gewöhnlich fieberkrank und phantasirt. Nervöse Erregtheit begleitet fast alle Krankheiten, denen er unterworfen ist. Kein Thier verfällt so leicht in Gehirn- oder Rückgrat-Nervenkrankheiten, als der Hund. Die Art seines Bellens selbst ist schon Symbol seines Temperaments, und die Art seines Angriffs beweist energisch genug die Reizbarkeit seiner Natur. Die ihm eigenthümlichste Krankheit, Wasserscheu, ist durchaus nervöser Natur und eine Strafe für die Menschen, die den Hund wie einen – Hund behandelten. Der Hund wird unter denselben Umständen wahnsinnig, wie der Mensch, wenn man ihm mehr zumuthet, als sein fühlendes Herz, sein feines Nervensystem ertragen kann. Die Neigung zu Gehirnkrankheiten im Hunde sollte die Menschen, die sich als seinen Herrn ansehen, entsprechend menschlich gegen ihn machen. Namentlich sollte man gegen den Hund stets sanft verfahren. Um milde und human zu sein, muß man fest sein, von bestimmten Grundsätzen ausgehen und davon nicht abweichen. Wankelmüthigkeit und Launenhaftigkeit wird gegen jeden nervös-empfindsame Wesen, sei es Hund oder Mensch, leicht zur Tortur.




Kunstnotiz. Von dem ehrwürdigen Begründer der deutschen Naturwissenschaft, Alexander von Humboldt, ist so eben bei A. Dunker das ausgezeichnetste aller bisherigen Portraits erschienen. Ein Kupferstich in schwarzer Kunst und mit Radirnadel von P. Habelmann, nach einem Oelbild der berühmten Engländerin Gagirtti Richards, im Besitze des Königs von Preußen. – Die Züge des weisen Nestors, wie sie gerade jetzt in’s Leben schauen, – treten in außerordentlicher Ähnlichkeit und seelenvoller Tiefe daraus hervor.




Die größte eßbare Baumfrucht wächst auf der Insel Ceylon. Sie erreicht das Gewicht von 50–60 Pfund und wird nicht aus den Zweigen erzeugt, wie andere Baumfrüchte, sondern dicht an dem Stamm, mit dem sie ein kurzer, mit sehr starken Fasern versehener Stiel verbindet. Je älter der Baum wird, desto weiter wächst die Frucht nach unten, so daß man sie fünf Fuß über dem Erdboden findet. Durch diese weise Einrichtung der Natur wird der Baum nicht durch das Gewicht beschwert und die Gefahr des Herabfallens vermieden. Die Eingeborenen lieben den Geschmack der Frucht, den Europäern mißfällt er jedoch. Der in der Frucht enthaltene Saame hat, wenn er gekocht, viel Ähnlichkeit mit den Kartoffeln und die Frucht selbst bildet ein vortreffliches Fütterungsmittel für das Vieh. Der englische Reisende Sullivan nennt sie Brobdignagier-Frucht.


  1. Santini lebt heute noch und das Obige, das Vielen vielleicht unglaublich erscheint, erklärt er laut und öffentlich.