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Die Gartenlaube (1854)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1 bis 1 1/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Die neue Geisterwelt.

Eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert von Friedrich Gerstäcker.

Beim Maurermeister Brummhuber war Gesellschaft gewesen und es verstand sich von selbst, daß die Tische, als sie sonst ihre Dienste geleistet, und um ebenfalls etwas mit zur Unterhaltung beizutragen, sich drehen mußten zuletzt, wie es jetzt einmal Mode ist. Die Versuche mit den eben auftauchenden Klopfgeistern gelangen dabei so vollkommen, daß ein Theil der Gesellschaft, je mehr die Tische mit ihren Beinen klopften, desto mehr mit den Köpfen schüttelte und ein anderer Theil vor Staunen und innerem Grausen starr wirklich nicht wußte, was er sagen und denken sollte.

Nur einige junge Leute, besonders Anna, die Tochter vom Haus, die den schwersten Tisch blos zu berühren brauchte, um ihn ihrem Willen zu unterwerfen, waren übrigens wirklich aktiv bei dem ganzen Versuch geblieben, von dem alle Anderen bald als „störende Kräfte“ zurücktreten mußten.

Nur ein kleiner Spiegeltisch und ein Nähtisch ließen sich nicht, selbst durch sie, in Gang bringen, während dagegen ein schmaler, sehr elegant gearbeiteter Mahagoni-Theetisch mit einer Säule und vier unten auslaufenden Füßen ihrer leisesten Berührung auf unbegreifliche Weise folgte.

Die Aufregung der Gesellschaft stieg dadurch zu einem immer höhern Grad.

„Ich wollte, ich hätte jetzt den Geheimrath Nurnorden hier oben,“ rief der Maurermeister Brummhuber aus, „den könnten wir jetzt schön überführen mit seinem ewigen Schimpfen auf’s Tischrücken – aber wo’s Brei regnet, hat er gewiß keinen Löffel – jetzt könnt’ er sich überzeugen.“

Der Mann war ganz außer sich, so hatten ihn die unerwarteten Erfolge gepackt und er schwelgte in einem förmlichen Meer von unheimlicher Wonne.

Selbst die Dienstmädchen vergaßen fast Küche und Aufwartung, sich nur immer, wo sich die mindeste Gelegenheit bot, zur Thüre drängend, und Fanny, das Stubenmädchen, ein niedliches, blauäugiges Kind von siebzehn oder achtzehn Jahren, brannte ordentlich vor Verlangen, Theil mit nehmen zu dürfen an dem wunderlichen Spiel, und ihre Kraft zu versuchen an den Tischen. Aber das arme Mädchen durfte es nicht wagen, sich zwischen die Honoratioren zu drängen und nur verstohlen durfte sie zuschauen und sich mit hinanwünschen an den Tisch.

Bis um eilf Uhr etwa dauerte der Lärm, und wie die Leute endlich selber ermüdeten, schienen auch die Tische lässig zu werden und die Fragen lau zu beantworten. Hier und da brach schon Einer oder der Andere der Gäste nach Hause auf, und einmal begonnen, fanden bald Alle, daß es Zeit sei, zu Bette zu gehen.

Eine Viertelstunde später kam das Mädchen, das die Hausthüre hinter den Gästen geschlossen, langsam die Treppe herauf – unten auf dem ersten Absatz blieb sie stehen, setzte das Licht auf den Eckständer und zählte die Zwei- und Viergroschenstückchen, die sie eben eingenommen, schob, vorsichtig nach oben sehend, einen Theil in ihre Tasche, den Rest mit den Uebrigen zu theilen, und verschwand dann in der Küche, an die anschließend sich ihr Zimmer befand.




In dem großen, vor kaum einer halben Stunde noch so lebhaften Saale war es indessen gar still und öde geworden. Unordentlich standen noch die Tische und Stühle umher, wie sie von den Gästen verlassen worden – morgen früh mußte ja doch aufgeräumt werden, was sollte sich die Christel da noch heute Abend bemühen – nur der Mond stahl sich durch die nachlässig offen gelassenen Gardinen in den unheimlich öden Raum, und blitzte von der hellen Politur des Theetisches wider und blinzte nach dem breiten Spiegel hinüber, der ihm gerade gegenüber, über dem Sopha hing. –000000000000000000

„Ach,“ seufzte da eine leise feine Stimme, und sie klang klar und deutlich durch den ganzen Saal. Wohl eine halbe Stunde hatte tiefes, auch durch keinen Laut unterbrochenes Schweigen auf dem düstern Raum gelegen, und selbst dieser leise Seufzer schien sich zu scheuen, den fast unheimlichen Frieden zu stören, und stahl sich nach allen vier Ecken hinauf, einen heimlichen Schlupfwinkel zu finden und Niemandem ahnen zu lassen, daß er es gewesen, der eben solch einen entsetzlichen Spektakel in dem Heiligthum vollführt.

Alles war wieder ruhig geworden, und nur das regelmäßige Ticktack der großen Bronzeuhr und das leise Bohren eines Holzkäfers klangen durch die Nacht, und es war fast. als ob der Käfer nach dem Takt der Uhr seine Arbeit fortsetzte, so genau hielt er das Zeitmaaß nach den scharfen abgemessenen Tönen.

„Ach,“ tönte da noch einmal derselbe Seufzer, lauter fast als vorher, und der Ton kam augenscheinlich von dem schön polirten Theetisch her, der noch, wie ihn die Gesellschaft verlassen, mitten in der Stube stand.

„Na, was ist denn das für ein Gewinsel da drüben,“ brummte da plötzlich eine etwas derbere Stimme von dem Secretair herüber, „soll man denn heute Nacht auch nicht einen Augenblick Ruhe haben? Gebt’s jetzt einmal Frieden da unten!“

„Ach,“ seufzte es vom Tische aus wieder, dem Gebot zum Trotz, und im Mondenstrahl war es, als ob eine klare, wunderliche [60] Gestalt von kaum sechs Zoll Höhe auf der Platte säße, und das lockige Köpfchen gar schwermüthig in die Hand gestützt hielt.

„Und Sie haben ganz recht, Herr Secretair,“ sagte da die Chiffonniere, „das ist jetzt gerade zum Politur verlieren, was das seit den letzten sechs Wochen hier für eine Wirthschaft im Hause geworden“ – auf der Chiffonniere wurde eine runde winzige Frauengestalt in einem braunen Röckchen mit gelben Knöpfen, die an beiden Seiten wie Schubladenzieher saßen, sichtbar – „ich will nichts von mir selber sagen, ich weiß, zu welcher Klasse der Gesellschaft ich gehöre, und daß wir nicht „verrückt“ werden können, aber es ist auch schon ein Skandal, das nun in einem fort mit ansehen zu müssen, und der Schreibtisch sollte sich da alles Ernstes einmal hineinlegen und die alte Ordnung wieder herstellen.“

„Ganz Ihrer Meinung, Frau Base, ganz Ihrer Meinung,“ flüsterte der eine Rohrstuhl, der rechts neben ihr stand. „ich habe mich auch schon lange gewundert, daß der Herr Secretair, der so lange geduldig zugesehen hat, wie sie’s hier trieben und noch treiben; ich bin zwar nur ein Stuhl, aber die Galle ist mir wahrhaftig schon ein paar Mal übergelaufen, und ich genirte mich nur selber mit allen vier Beinen dagegen aufzutreten, so lange der Herr Secretair und die Frau Base zu dem ganzen Schwindel schwiegen.“

„Prosaische Gestelle!“ rief da endlich der Tisch, und das kleine Wesen sprang in der Erregung des Augenblicks empor, es war eine schlanke, zierliche Jünglingsgestalt mit braunem Teint wohl, aber lebendig blitzenden Augen und einem eigenen seelenvollen Ausdruck in den schönen, zartgeformten Zügen – „nüchterne Alltagsgebilde, die Ihr zürnt und grollt, daß die ertödtende Monotonie Eurer Existenz endlich einmal aufgerüttelt wurde zu That und Leben. Die Hand, die Euch hinsetzt, wohin es ihr beliebt, die Euch benutzt, wie sie es für gut findet, und Euch nur sauber und blank hält und vor Nässe oder Sonnenstrahlen bewahrt, duldet Ihr und lobt sie, lehnt Euch dann in starrem Hochmuth an die Tapete und blast aus allen Schlüssellöchern Eure Zufriedenheit heraus – aber dieselbe Hand, die Euch Gefühl und Seele geben will, die den Geist über Euch bringt, und Eure Poren mit zuckendem Leben füllt, die stoßt Ihr zurück, rümpft die Leisten und schreit über Revolution und Aufruhr.“

„Ei seht doch den Gelbschnabel,“ zürnte der Secretair, und auch auf ihm regte es sich, daß die dunklen Umrisse einer kleinen Figur in recht hochfahrender Stellung und mit sehr weißem Busenstreif und Manschette, mit Brille und Goldkette sichtbar wurden, „weil ihn jede neue Bewegung mit fortreißt, glaubt er sich das Recht herausnehmen zu dürfen über andere – vernünftigere Leute, die Gott sei Dank Gewicht in der Welt haben, loszuziehen, und ihnen am Ende gar vorzuwerfen, daß sie nicht auch seinen Tarantellewahnsinn theilen.“

„Das würde sich wohl von unser Einem schicken, wenn er mit den Beinen klopfte oder hinten ausscharrte,“ sagte die Chiffonniere.

„Ich bin überzeugt, ich bräche,“ lispelte der Glasschrank.

„Laß sie reden,“ wandte sich aber jetzt der Spieltisch, eine untersetzte breitkräftige Gestalt, zu seinem also plötzlich angegriffenen Kameraden, „sie verstehen uns doch nicht, wenn wir es ihnen auch erklären wollten, was für ein eigenes seliges Gefühl es ist, das neue kaum früher geahnte Wesen in sich überströmen zu fühlen, laß sie reden, sie sind doch nur arm, mit all ihrer Breite und Höhe, denn sie werden das nun und nimmer begreifen.“

„Ach geahnt hab’ ich es wohl schon in früherer Zeit,“ seufzte der Theetisch wieder, „wie eine Erinnerung an den alten rauschenden Wald ist es mir schon manchmal durch die Poren gezogen, wenn sie ihre Hand auf meine Fläche legte, oder ihr kleines Köpfchen sinnend gegen mich gelehnt, darin stützte.“

„Na nu bitte ich aber zu grüßen,“ knarrte ein dreiwinkliger Eckschrank, der sich zwischen zwei Blumentische eingezwängt hatte, und jedesmal, wenn er aufgemacht wurde, mit der linken Klappe – denn die rechte war festgeriegelt – nach den Epheuzweigen hinüberschlug, die an ihm hinaufranken wollten (er konnte die Blumen nicht leiden), „da möchte man ja wahrhaftig gleich aus dem Leime gehen über solchen Unsinn. Ich habe außerdem den schlechtesten Platz in der ganzen Gesellschaft und alle Klappen voll zu thun, das Schmarotzerzeug hier von mir abzuwehren, und dann auch noch solch ein langweiliges Geschmachte mit anhören zu müssen – es ist zum Verzweifeln.“

„Nein, die Arroganz ärgert mich nur, das Geschmachte möchte noch angehn,“ sagte die Chiffonniere, „ganz auf einmal klüger sein zu wollen als der Herr Secretair und selbst der Schreibtisch und andere ältere Stücken – der Schreibtisch hat doch eine Menge geheime Gefache und er sagt nichts; da sieht man’s, wie sich Leute zu verhalten haben, die etwas in der Welt gelten und auf ihre Würde zu sehen wissen.“

Jetzt nahm sich aber der Spieltisch wieder seines Nachbars an, denn dieser schien auf das Zanken der übrigen Meubeln gar nicht zu achten und wirklich ganz in seinem Schmerz versunken zu sein.

„Was Schreibtisch und Secretair,“ sagte er verächtlich, „leere Gefache sind’s, die er hat, höchstens mit der Weisheit Anderer gefüllt – der mag recht nützlich sein, etwas nachzuerzählen oder aufzubewahren, was man ihm aufgeschrieben hat, aber was um ihn her vorgeht und was in der Welt passirt, davon weiß er Nichts. Geht mir mit seinem gelehrten Meubel.“

„Das ist recht, der Grünschnabel muß auch sein Maul dabei verbrennen,“ sagte die Chiffonniere, „glaubt, weil er inwendig und auswendig polirt ist, sei er allein klug, aber die Fußbank selbst hat gelacht, wie Ihr Euch da im Kreise herumgedreht und geknarrt, geschnarrt und geklopft habt.“

„Als ob etwas daran läge, wenn eine Fußbank lacht,“ sagte der Spieltisch.

„Der Spieltisch thut jetzt auch so, als ob er prophezeihen könnte,“ ließ sich jetzt noch eine neue Stimme hören, „und dann verlangt er auch noch, daß man es glauben soll“ – es war der Spiegel, der über einem kleinen Säulentisch zwischen zwei Fenstern stand.

„Und hab’ ich Euch nicht den Beweis gegeben, daß ich es kann?“ rief der Spieltisch, ärgerlich zu ihm aufblickend.

„Ich habe gesehen, wie der eine Student gedrückt hat“ sagte der Spiegel.

„Wenn Du noch einmal solch eine Lüge weiter erzählst,“ brummte dieser aber, „so laufe ich das nächste Mal in Dich hinein.“

„Das ist die Art aller gemeinen Naturen, gleich mit Zerstörung zu droben,“ sagte der Glasschrank, „die Stärke thut’s freilich nicht; und wenn ich von Eisenblech wäre, ich würde keinem Schwächern drohen; alles Schwache ist edel.“

„Sein Sie nur ruhig, Jungfer Glasschrank,“ nahm aber hier ein kleines Pfeilertischchen die Partie des Spieltisches, „Ihr Edelmuth ist auch nicht so weit her, denn wie wir vor einem Jahr hier einzogen, und das Hausmädchen unten in der Flur eine arme entfernte Verwandte von Ihnen, die Stalllaterne, zu Ihnen hinsetzte, wollten Sie gar nichts von der wissen, und bließen sich so auf, daß zwei Scheiben sprangen.“

„Nun ich drehe mich nicht,“ sagte der Glasschrank.

„Ja, das glaub’ ich,“ lachte aber der kleine Pfeilertisch ein wenig boshaft zurück, „die Leute, bei denen der ganze Glanz und Flitter draußen sitzt – ich will auf Niemanden anspielen – und die hinten eben nur weißes Tannenholz haben, die drehen sich Alle nicht, so viel haben wir bis jetzt herausbekommen.“

„Es ist schändlich, einem sittsamen Frauenzimmer so etwas in’s Gesicht zu sagen,“ rief der Glasschrank.

„Sie sorgen wenigstens dafür, daß man nicht hinter Ihrem Rücken von Ihnen reden kann,“ sagte der Pfeilertisch.

„Laßt sie gehen,“ legte sich aber hier der Theetisch, der durch den Zank der Uebrigen erst auf den um ihn her immer lauter werdenden Lärm aufmerksam geworden war, in das Wort, „sie verstehen uns doch nicht, und es wäre deshalb auch vergeblich, ihnen das ganze Selige unserer Empfindung begreiflich machen zu wollen. Wir aber haben das Bewußtsein einer erstehenden Existenz in uns; nicht mehr nur die seelenlosen Träger der Lasten unserer Herren, sind wir plötzlich ihre Freunde, ihre Rathgeber geworden, von ihrer eigenen Kraft, ihrem Lebenstrieb theilen sie uns mit, die schon fast vertrockneten Poren saugen es gierig ein, und wir Geister des Waldes, die wir den liebgewordenen Aufenthalt unserer alten Stämme selbst dann nicht verlassen wollten, als wir niedergeworfen und verstümmelt in die Welt hinaus gestreut wurden, jauchzen in bebender Lust dem kaum mehr gehofften und doch o so heiß ersehnten neugewonnenen Dasein frisch und fröhlich entgegen“

„Es ist zum Verzweifeln.“ sagte der Secretair.

[61] „Warum nur der Spiegel- und Nähtisch sich nicht rühren wollten?“ frug der Pfeilertisch.

„Der arme Nähtisch ist taubstumm,“ sagte der Theetisch, „ich kannte seine Aeltern in Mittel-Amerika, eine muthwillige Axt hatte ihn frühzeitig verstümmelt und er ist jetzt auch, trotz des glänzenden Aeußern, durch und durch wurmstichig, und der Spiegeltisch darf nicht,“ flüsterte er dann dem Pfeilertisch unter die Platte, „der Spiegel hat ihn einmal unter dem Daumen und läßt ihm seinen freien Willen nicht; aber ich bin darum dem Spiegel nicht gram, er ist zwar grob, aber doch ehrlich, und sagt’s frei vom Quecksilber heraus, wie es ihm gerade vor das Glas kommt.“

„Das eben ärgert mich so an dem Glasschrank,“ erwiederte der Pfeilertisch, „die Mamsell möchte am liebsten allen Andern Sand in die Augen streuen. Was sie hat, rückt sie vorn zur Schau und mit dem Spiegelglas dahinter thut sie, als ob’s gerade noch einmal so viel wäre, und faßt man sie nur an, so klirrt und klappert die ganze Bescheerung.“

„Ich bin furchtbar angegriffen heut’ Abend,“ sagte der Theetisch und knarrte, „ich fürchte fast, ich habe mir Schaden gethan.“

„Das geschieht Dir ganz recht, mit Deiner albernen Aufregung,“ brummte der Spiegel, „s’ist ja zum Zerspringen, nur so etwas mit ansehen zu müssen.“

„Ach, wenn es nur erst wieder Abend wäre,“ seufzte aber der Theetisch, ohne ihn weiter einer Antwort zu würdigen, „daß ich die weiche Hand wieder auf meiner Fläche fühle. Schon als Baum draußen kannte ich solch ein süßes liebes braunes Kind, das lag auch so gern in meinem Schatten, und ich flüsterte ihm aus den Zweigen manch holdes Liebeswort herunter und streute ihm Blüthen und Blätter über Stirn und Schläfe, es ist aber nun lange todt,“ setzte er seufzend hinzu, „und Jahre lang vorher, ehe der gierige Zahn der Axt meinen Stamm angriff, gruben sie ihm ein Grab zwischen meinen Wurzeln. O, die liebe, liebe Zeit!“

„Pst, da kommt Jemand!“ flüsterte der Pfeilertisch, der ein sehr feines Gehör hatte, und die Geister der Meubeln horchten einen Augenblick und glitten dann schweigend unter ihr Fournier zurück; nur der Mond lag auf den blitzenden Flächen und warf breite wunderliche Schatten in das stille Gemach.

Da öffnete sich leise und vorsichtig die Thür, und Fanny steckte schüchtern und ängstlich den Kopf herein. Die Tische standen noch alle wie sie verlassen worden. Kein Laut ließ sich hören und unschlüssig blieb sie auf der Schwelle stehen. Es sah auch gar so still und unheimlich aus in dem weiten Raum, und kein Wunder war’s, wenn das arme Kind den Ort zu betreten fürchtete, der noch vor kurzer Zeit der Schauplatz so geheimnißvollen, unbegreiflichen Lebens und Schaffens gewesen. Es ist wahr, nichts Feindseliges, Drohendes oder Gefährliches ließ sich irgendwo entdecken. Dort stand noch derselbe Theetisch auf allen vier Beinen, wie jeder andere harmlose Tisch auf der weiten Gotteswelt und nur die krankhaft erhitzte Einbildungskraft eines tollen Menschenkindes wäre im Stande gewesen, Unheimliches aus der blanken polirten Fläche des Mahagoni herauszulesen – und doch, doch lag eben jenes unheimliche Schweigen, jene sprechende Stille über dem Gemach, die das Herz des jungen Mädchens ängstlich klopfen machte. Endlich aber bezwang sie doch das Grauen, das ihr fast unwillkürlich die Brust beengen wollte, und mehr fast noch eine Ueberraschung von außen fürchtend, warf sie scheu den Blick über die Schulter zurück, den weiten, düstern Gang entlang, den sie eben gekommen, und dann, als sie dort alles ruhig sah, heimlich und still in’s Zimmer schlüpfend, drückte sie vorsichtig und geräuschlos die Thür wieder hinter sich in’s Schloß.

Es war, als ob das arme Mädchen etwas Böses begangen, und doch schaute das von der Angst wohl etwas gebleichte aber liebe und freundliche Gesichtchen so vertrauungsvoll und unschuldig in das milde Licht des Mondes auf; man hätte ihm, nicht um’s Leben, etwas Unrechtes zutrauen können.

Jetzt schien sie sich auch endlich von ihrer ersten Befangenheit erholt zu haben, denn plötzlich blieb sie stehen, strich sich das dunkelbraune volle Haar aus der Stirn und ging dann mit festem Schritt gerade auf den in der Mitte des Zimmers stehenden ovalen Theetisch zu.

Hier aber war es, als ob aufs Neue eine gewaltige innere Bewegung sie ergriff; scheu und zitternd stand sie noch einen vollen Schritt von dem Tisch entfernt, und wagte nicht, ihn zu berühren.

„Ob er mir denn aber auch wohl Rede und Antwort stehen wird, wie dem Fräulein?“ flüsterte sie da leise und wie zweifelnd vor sich hin: „ob er mir sagen wird, um was ich ihn so gerne fragen möchte?“

Hui, wie das plötzlich knisterte und knatterte in dem Holz. Sie schaute erschreckt empor, um sich her – aber Alles war ruhig, und nur Täuschung gewesen.

„Das Holz hat sich gezogen,“ sagte sie leise, wie um sich zu beruhigen, vor sich hin, „aber ich wag’s,“ setzte sie dann etwas lauter und entschlossener hinzu, „ich wag’s, und wenn ich ihn recht fest halte und warm, wird er mir ja auch wohl Kunde geben von dem, was er weiß, was er wissen muß, – wie ja fast jeder Tisch jetzt im ganzen Haus; er muß reden.“

Mit den Worten fast trat sie dicht hinan zu dem Tisch und ihre beiden warmen Hände flach und fest auf den blitzenden Mahagoni pressend, daß ein zarter Hauch unter dem Rand der Hand fort über die Fläche schoß, wie sich die Eisblumen in Winterzeit an den Fenstern bilden, stand sie und schaute still und lautlos vor sich nieder.

Da begann es wieder. Still wie festgewurzelt noch stand der Tisch, aber wie zu dem warmen Körper gehörig, der sich ihm anschmiegte, bebte er, bis in seine innersten Poren, und wie knitternde Funken sog sich der schimmernde Glanz in das Mondlicht ein.

„O mein Gott!“ stöhnte das erschreckte Kind, und in sich zusammenbrechend, sank sie auf einen daneben stehenden Stuhl und breitete die Arme aus, auf deren rechtem ihr Haupt ruhte, und Brust und Arme berührten die Platte.

Da regte und hob es sich in dem Holz, da quoll und drängte es in jenem eigenen geheimnißvollen, wunderbaren Leben durch die trockenen Fasertheile des Tisches, und des Mädchens Augen blitzten jetzt lebendiger in dem freudigen. Bewußtsein, die Kraft zu haben über jenes wunderbare Wesen, das in dem leblosen Tische da schaffe und treibe und zu dem Menschen in seiner eignen Sprache redet.

„Und willst Du mir eine Frage beantworten?“ flüsterte sie, „willst Du mir Rede stehen, jetzt, wie dem Fräulein Anna?“

„Frage nicht, frage nicht!“ tönte und zitterte es da um sie her, „tollkühnes Menschenkind, frage nicht! Du bist unser, Du bist unser, und wenn Du es wagst, und wie Du uns jetzt drängst und umspannst, umsponnen wir Dich in dem engen Haus, und Du schläfst tief, tief hinein in den sonstigen Tag.“

„Wie ist mir denn nur, träume ich denn oder wach’ ich?“ rief da das Mädchen, „das ganze Zimmer wird lebendig und regt sich und räuspert und knistert, mir fängt’s an zu grausen.“

„Frage nicht, frage nicht!“ rief’s da mit mürrischem, warnendem Ton vom Secretair nieder, und dem erstaunten Mädchen kam es vor, als ob es sich auch dort oben regte und hob, und der kleine wunderliche Geist lief auf und ab auf seinem Sims und schüttelte seinen kleinen Kopf und die Frackschöße, und rückte mit der Brille und scharrte mit den winzigen Füßen. „frage nicht, Unsinn. Tisch ist trunken, hat den ganzen Abend gesogen und gesogen, bis er toll und voll war und sich drehen mußte, frage nicht.“

„Warne Dich, warne Dich, Kind,“ knarrte es von der Chiffonniere, „hab Acht, hab Acht, bist hier in unserm Bereich, warne Dich, warne Dich, hab Acht.“

„Trauen Sie dem Tisch nicht, Liebwertheste,“ wisperte es aus dem Glasschrank herüber, „er ist falsch, er ist falsch. lange schon hat er sich um mich gedreht, aber er lügt, er lügt.“

„S’ist doch merkwürdig, wie Einem das bloße Handauflegen so durch die Nerven zuckt,“ flüsterte das Mädchen, sich ängstlich dabei nach allen Seiten umschauend, „in den Armen und Fingerspitzen kitzelt’s und dehnt’s, und vor den Ohren summt mir’s wie menschliche Stimmen und Worte, wenn er sich nicht bald dreht, lauf ich davon; aber wahrhaftig, er fängt an, ich fühl’s, ich fühl’s, er regt sich schon, er kommt.“

„Frage nur, frage nur!“ zischte und wisperte es da um sie hin, vom Spieltisch und Pfeilertisch her, „frage nur, furchtsames Kind, die Zeit ist günstig, die Geister sind wach, und wir Alle dienen Dir, helfen Dir, frage nur.“

Der Tisch fing sich jetzt mehr und mehr an zu regen und zu [62] drehen, und das Mädchen mit klopfendem Herzen und fliegenden Pulsen folgte seiner Bahn.

„Ich habe große Lust, mich da mitten hineinzuwerfen in den Unsinn,“ kreischte da der Eckschrank, und stieß seine eine Klappe auf, gegen den Epheu, „ich kann mich so oben abheben! Prahlhans von einem Tisch, Prahlhans!“

„Er geht,“ jubelte Fanny, „ich habe die Kraft,“ und sie fühlte dabei, wie die Platte unter ihrem Tisch Leben und Weiche gewann und sich hob und drängte. „Frage nur,“ knisterte und wisperte es dann wieder vor ihrem Ohr, „frage, wie alt Du bist und den Datum, die Hausnummer und die Bilder an den Wänden, frage uns nach Reisen und Wiederkehr, nach Namen und Ehen und Briefen, wir wissen Alles, Alles, frage nur, frage nur!“

„Jetzt aber hab’ ich’s satt,“ schrie der Secretair, und all seine Fugen knackten und knarrten und unter seinen Füßen stöhnte der Boden. Und in dem Glasschrank klirrte und klapperte es, von rechts und links herüber zischten und summten die Laute.

„Ach, ich fürchte mich wahrhaftig,“ flüsterte das junge Mädchen vor sich hin, „das ganze Zimmer ist wie lebendig, und der Tisch dreht sich, daß ich anfange schwindlig zu werden; ob ich ihn frage? Ich wag’s, ich versuch’s, der Augenblick kehrt im Leben nicht wieder. Wenn er nur nicht die Dielen aus einander reißt. Willst Du mir antworten, Tisch?“

Es war, als ob ein elektrischer Schlag durch die Platte zucke, denn mit einem plötzlichen Ruck, daß die Fugen knackten, blieb er stehen, und sich auf zwei seiner Beine hebend, klappte er wieder nieder und zwar so bestimmt, so zuversichtlich, als ob er hätte sagen wollen: „Na, das versteht sich doch jetzt wohl von selbst.“

So unerwartet kam dabei dem jungen Mädchen diese entschiedene Bewegung, daß sie mit einem leisen Schrei in die Knie sank.

„Ha ha ha ha,“ lachte da und schüttelte sich die kleine Gestalt auf dem Secretair. und winkte und nickte nach der Chiffonniere hinüber, „närrisch Ding, närrisch Ding, hab’s mir wohl gedacht, wie es kommen würde. So geht’s, wenn man sich einläßt mit den wahnsinnigen Tischen und dem Unsinn das Ohr leiht; tolles Zeug, tolles Zeug.“

„Sie wird nicht ruhen, bis ihr alle Schiebladen verklommen sind,“ sagte die Chiffonniere, „und die Tische tragen nachher die Schuld mit ihrer unzeitigen Bewegung. Das kommt von den Neuerungen, da lob ich mir meine Ruhe.“

„Der Tisch fängt wahrhaftig an sich wieder zu bewegen,“ sagte der Glasschrank – „wenn er nur nicht in mich hineinläuft.“

„Das geschieht ihr aber recht“ knurrte der Eckschrank – „jetzt freut mich erst mein Leben. Aber ich will den Unsinn auch gar nicht mehr mit ansehen – es wird überhaupt kalt hier im Zimmer.“

Und er schloß seine Klappe wieder, daß das Schloß einschnappte, und lehnte sich schweigend in die Ecke.

Aber nur der erste Schreck hatte die Fragende überrascht; scheu den Blick zurück über die Schulter werfend, richtete sie sich wieder auf und mit den mehr gehauchten als gesprochenen Worten – „so stehe mir Rede“ – hielt der Tisch regungslos an, und schien die Frage seht förmlich zu erwarten.

„Sage mir denn“ flüsterte das schüchterne Kind, und das Blut schoß ihr dabei in Stirn und Schläfe – „ob er bald Aktuar werden wird, wie wir es lang, ach lang erwartet?“

Der Tisch hob sich rasch und entschieden und schlug wieder nieder als „Ja!“

„In wie viel Jahren?“ drängte sie da, und die Augen blitzten ihr ordentlich in freudiger Erwartung.

„Eins, zwei, drei, vier, fünf!“

Halblaut zählte sie, immer ängstlicher werdend mit, und als der merkwürdige Antworter stehen blieb und sich, wie zum Zeichen, daß seine Rede beendet, ein klein wenig nach ihr hindrehte, seufzte sie wehmüthig und recht aus voller Brust.

„Ach, das ist gar so entsetzlich lang’ noch, Du böser, böser Tisch, und da gäbe es ja doch nur ein Mittel, dem zu begegnen auf der weiten Welt.“

Und die Platte unter ihr regte und drehte sich rasch jetzt und immer rascher, als ob sie ihre Bereitwilligkeit wolle zu erkennen geben, dabei zu helfen.

„Und weißt Du schon, was ich meine?“ flüsterte scheu und ängstlich das Mädchen.

Wieder stand der Tisch und hob sich rasch und entschieden zu einem „Ja.“

„Und willst Du mir helfen?“

Heftig hob sich der Tisch und stampfte bejahend, und wie von unten herauf klopfte es plötzlich noch eins, zwei, drei Mal, der Antwort gewissermaßen Bestätigung gebend, daß die Fragende erschreckt aufhorchte nach den fremden ungeahnten Lauten; aber diese verstummten wieder und das Mädchen flüsterte jetzt rasch und heimlich:

„Wenn Du denn weißt, was uns allein nur helfen kann, so nenne mir die Zahl – nenne mir die Nummer des Looses, das uns frei macht von jeder Noth – die Tausende erst, dann die Hunderte und die Einer nach, und nun klopf’ mein Tisch, klopf’ und antworte, antworte mir – ich frage Dich!“

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs,“ hob sich der Tisch in raschen bestimmten Schlägen, die beiden Füße sich nur immer wenige Zoll vom Boden hebend, aber genug, einen klaren Laut zu geben – „sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn“ – weiter, weiter und weiter und in ängstlicher, aufmerksamer Spannung lauschte und zählte da Fanny.

„Klopf, klopf, klopf!“ kam es von unten dazwischen, als ob die Geister der Tiefe dem Treiben zürnten, und Einspruch thun wollten in das kecke Begehr: „klopf, klopf, klopf!“

„Ich werde irr’“, flüsterte ängstlich die Zählende, „dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn.“

„Klopf, klopf, klopf, klopf, klopf –“

„Vier und zwanzig, fünf, sechs, sieben, achtundzwanzig – Heiliger Gott – mir schwindelt es schon von dem tollen doppelten Zählen“ – aber weiter klopfte der Tisch, immer weiter und unverdrossen fort, und das unheimliche Echo unten schwieg eine Zeitlang, wie besiegt von dem eisernen Willen der oben arbeitenden Kraft.

„Sieben und dreißig –“ und der Tisch drehte sich knarrend auf einem Bein, während es unter seinen Füßen wieder zu toben und rühren begann.

„Sieben und dreißig Tausend“ – jubelte Fanny, kaum im Stande, ihre laute Freude zu unterdrücken, und der Secretair knarrte und ächzte wieder, und in der Chiffonniere war es, als ob ihr der ganze Rücktheil geplatzt wäre vor lauter Aerger, aber sie sagte kein Wort mehr, und wenn sie sich hätte ein Schlüsselloch abbeißen sollen.

„Und nun die Hunderte“, bat das Mädchen mit dringender Stimme.

Und „eins, zwei, drei, vier, fünf“ – begann wieder der Tisch und drehte sich.

„Also fünfhundert, und nun die Einer!“ bat die fragende mit flehender Stimme, und wieder begann der Tisch:

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht“ – unten war es still und ruhig geworden, er hatte den Sieg davon getragen – neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn –“

„Himmel, was war das?“ – Draußen am Vorsaal riß es an der Klingel, als ob es die Glocke ausreißen wollte mit dem Drahte.

„Achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig“.

„Tischchen dreh’ Dich, Tischchen dreh’ Dich!“ spottete es von der Chiffonniere herunter, „kommt Besuch, kommt Besuch!“ und der Glasschrank klirrte und klapperte wieder, und der Schmied, der auf der bronzenen Uhr stand, hob seinen Hammer und fing an drohend die Zeit zu schlagen auf dem silbernen Ambos – es war zwölf – und die Geister ringsum regten und reckten sich wieder und horchten hinüber nach dem noch immer wild und rastlos zählenden Tisch.

„Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfund –“

„Klingglinglinglingling!“

Das ganze Haus dröhnte von dem Reißen der Schelle, und Thüren klappten und Pantoffeln schlurrten über den Vorsaal, und das Mädchen ließ den Tisch los, barg ihr todtenbleiches Antlitz in den Händen und stöhnte verzweifelnd: „Vorbei – vorbei!“

Es war in diesem Augenblick todtenstill im Gemach, und geräuschlos glitten die Geister zurück in ihre Schlupfwinkel, nur der Schmied hämmerte ruhig und unbekümmert seine Schläge fort, [63] bis er den zwölften gethan – er hatte ein gutes Gewissen – und dann ließ er den Hammer wieder ruhen und horchte aufmerksam nach dem Räderwerk nieder, das unter ihm schnarrte und rollte, das Zeichen abzuwarten, das ihn nach einer halben Stunde zu neuer Thätigkeit rufen würde.

Jetzt öffnete sich draußen die Thür, und mit einem „Himmel Heiland Donnerwetter!“ wurde eine Stimme laut, der die nächtliche Tischrückerin mit ängstlich klopfendem Herzen lauschte, und dabei die Klinke der Nachbarkammer ergriff, sich durch die Flucht, sobald es nöthig sein sollte, jeder Entdeckung zu entziehen.

„Aber mein Gott, Herr Geheimrath?“ sagte draußen die Stimme des Maurermeister Brummbuber – „und verdank ich denn die unverhoffte –“

„Herr, zum Donnerwetter!“ unterbrach ihn aber in wildem Zorn der späte vornehme Besuch – „geben Sie denn die ganze Nacht keine Ruhe mit ihrem unseligen Tischklopfen und Rütteln und Scharren?“

„Aber ich begreife nicht“ – stotterte der Ueberraschte, der eben im ersten Schlafe gelegen.

„Ach was, begreifen – den ganzen Kalk habe ich mir unten von meiner Decke gestoßen, daß das verdammte Klopfen hier oben aufhören soll – aber Gott bewahre! Herr, das ist zum wahnsinnig werden, und gerade über meinem Schlafzimmer – je mehr ich klopfte, desto toller wurd’s.“

„Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –“

„Was hilft mir Ihr Ehrenwort, wenn mein ganzes Zimmer voll Kalk jetzt liegt, und der Teufel hier los ist halbe Nächte lang über die Polizeistunde hinaus?“

„Aber ich liege ja schon mit meiner ganzen Familie zwei Glockenstunden im Bette, und muß mir jetzt hier in dem dünnen Anzug den Tod holen vor Erkältung.“

„Ueber meinem Schlafzimmer war’s!“ trotzte aber der Geheimrath, in seinen warmen Schlafrock gehüllt, die Mütze halb über die Ohren gezogen – „und ich kündige meine ganze Etage morgen, wenn mir der Skandal noch einmal vorfällt.“

„Hier ist das Zimmer, das über ihrem Schlafzimmer liegt!“ rief jetzt der Steuerrevisor in allerdings noch immer respektvoller, aber doch auch gerechter, sich seiner Unschuld bewußter Entrüstung, und riß in dem nämlichen Augenblick die Thür auf, als Fanny durch die gegenüberliegende verschwand – „wenn hier ein Tisch geklopft hat, Herr Geheimrath, so hat er mit sich selber gesprochen – und nach den heutigen Vorgängen wäre das allerdings nicht unmöglich – aber ich versichere Sie –“

„Mit sich selber gesprochen!“ rief der Geheimrath in unbeschreiblicher Verachtung, und zog sich die Nachtmütze bis über die Ohren – „mit sich selber gesprochen –“ und über den Saal schlurrte er hin und warf die Saalthür hinter sich in’s Schloß, daß die Scheiben klirrten und brummte und knurrte die Treppe hinunter – „mit sich selber gesprochen – toll, toll, toll werden sie im Kopf oben, im Schädel und unten in den Tischen – toll, reine toll – mit sich selber gesprochen.“

Und die Schritte verhallten unten im Haus – man hörte eine Thür öffnen und schließen – der Maurermeister Brummhuber war schon lange wieder in sein Bett gekrochen und hatte über den brummigen Miethsmann geschimpft, der ihm den Tod werde angethan haben mit Rheumatismus und Schnupfen. –

Auf ihrem Bett aber, das thränenfeuchte Antlitz fest in das Kissen gedrückt, lag Fanny und seufzte und schluchzte still vor sich hin.

„Vorbei – vorbei – siebenunddreißig Tausend fünfhundert und Gott weiß, welche andere Zahl. – O, der unglückselige Geheimrath – und noch fünf Jahre warten, ehe er Aktuar wird.“

Und der Schmied auf der bronzenen Uhr im Zimmer hob wieder aus, ließ den Hammer einmal klingend auf den silbernen Ambos nieder schlagen und horchte bedächtig nach unten – aber kein Laut ließ sich hören weiter wie das regelmäßige Ticktack der Wanduhr und das leise Bohren des Holzkäfers, der nach dem Takt der Uhr seine Arbeit fortsetzte – so genau hielt er das Zeitmaß nach den scharfen, abgemessenen Tönen.




Das Parlament in London.

Das Parlamentshaus in London.

Nach mehrmaliger, immer durch den Stand der russisch-türkischen Streitfrage veranlaßter Vertagung des englischen Parlaments, hat die Königin Victoria dasselbe endlich für nächsten 31. Januar einberufen. Der Zusammentritt eines englischen Parlaments ist stets ein Ereigniß, ein doppelt wichtiges ist er heute, wo in beiden Lägern, die Europa spalten, bereits glühende Kugeln gegossen [64] werden, wo eine Stimme hüben oder drüben im Parlament über Krieg oder Frieden in der Welt entscheiden kann!

So führt uns die Zeitgeschichte von der Donau an die Themse, immer sind es aber dieselben Hoffnungen, Wünsche, Sympathien und Interessen, denen wir begegnen, und im englischen Parlament, von dessen Sitzungspalast wir heute eine Abbildung bringen, wird das Alles so laut besprochen werden, daß es von dem Tajo bis zur Neva vernehmlich und verständlich sein wird. –

Das Parlamentsgebäude erhebt sich in dem westlichen Theile Londons, welcher den Namen Westminster führt und an Pracht, Eleganz und geschmackvoller Anlage alle übrigen Theile der Riesenstadt weit übertrifft. Neben der altehrwürdigen Abtei und Halle von Westminster gehört das Parlamentsgebäude zu den hervorragendsten Zierden diesen Stadttheils; an die Themse gelehnt, neben der großen und prachtvollen Westminsterbrücke steht es, als würdige Behausung der Volksrepräsentation in würdiger Umgebung, großartig da. Ausgeführt nach dem Brande von 1834, welcher die Sitzungsräume des Unterhauses in Westminsterhall vernichtete, wurde bei dem Neubau durchgängig der eigentlich englisch-gothische Styl festgehalten, so daß auch die zahllosen Verzierungen, Wappenschilder, Spitzsäulen, Statuetten, Knäufe, Fensterbögen und Portale, kurz Alles im genauesten und sorgfältigsten Einklang steht. –

Es giebt in den Augen der Engländer keinen größern Ehrentitel als das M. P., das vor einem Namen steht, und womit die Eigenschaft als Mitglied des Unterhauses, Member of Parliament, angedeutet wird. Auch umschließt das Parlament die gesammten Illustrationen des Landes, die glanzvollsten Namen aus allen Ständen der Gesellschaft. Sie Alle drängen sich zur Politik, zur Führung der innern und äußern Staatsgeschäfte, und kein Volk der Erde hat zu keiner Zeit eine so ununterbrochene Folge großer Staatsmänner und Redner aufzuweisen gehabt wie das englische. Und jeder Lorbeer muß im Parlament erkämpft werden.

Die Anfänge der englischen Verfassung, mit ihnen das Parlament, fallen in die früheste Zeit zurück; das Unterhaus (das Haus der Gemeinen) entstand jedoch erst im 13. Jahrh., als die Städte mächtig zu werden begannen, und die Bürger sich neben den Rittern und Lords geltend machten. Bei den häufig ausbrechenden Zwisten zwischen den Königen und deren mächtigen adeligen Vasallen, verfehlte das Unterhaus nicht, je nachdem es zur Bewilligung von Geld und Mannschaften in Anspruch genommen wurde, seine Rechte beträchtlich zu erweitern. Blutige Verfassungskämpfe blieben dabei nicht aus, selbst Königsblut wurde vergossen, ehe die Zeit der ruhigen Reformen kam, durch welche sich jetzt England, vor allen Staaten Europa’s auszeichnet. Die letzte dieser Reformen fällt in’s Jahr 1831, und wird hauptsächlich dem Lord John Russel, der auch jetzt wieder Minister ist, verdankt. Sie wurde nicht ohne schweren und langjährigen Kampf gegen die aristokratischen Elemente des Parlaments errungen, und ein ähnlicher Kampf steht wiederum für unsere Tage bevor, wo abermals durch Erweiterung des Wahlrechts eine Parlamentsreform betrieben wird.

Das englische Parlament zerfällt in das Ober- und Unterhaus, und wird alljährlich vom Staatsoberhaupte einberufen. Das Oberhaus besteht aus etwas mehr als 400 Mitgliedern, geistlichen und weltlichen Peers; die geistlichen Peers sitzen kraft ihres Amtes darin; von den weltlichen sind die Engländer erbliche Peers, die Schotten und Irländer dagegen durch ihre Standesgenossen gewählte. Das Unterhaus besteht aus ca. 660 Abgeordneten. Bei der Achtung für alterworbene Rechte ist in der Zusammensetzung des Unterhauses das Mißverhältniß eingetreten, daß manche kleine im Laufe der Zeit herabgesunkene Ortschaften stärker vertreten sind, als die mächtigst aufgeblühten Städte des Landes. Auch gegen diesen Uebelstand sind die Reformbestrebungen gerichtet. Gegenwärtig ist das Unterhaus aus den Ritterschaftsdeputirten der Grafschaften, den Abgeordneten der Städte und denen der Flecken zusammengesetzt, zu deren durch direkte Wahl erfolgte Erwählung im Ganzen ungefähr eine Million Wähler mitwirken. Das Wahlrecht in den Grafschaften besitzen alle Freibesitzer, welche 10 Pfund Sterling reine Rente haben, ebenso alle Pächter auf 20 Jahre bei 50 Pfund Sterling reiner Rente. In den Städten ist Wähler, wer Haus-, Fenster- oder die gesetzliche Armensteuer zahlt, oder aus einem Hause die Rente von 10 Pfund Sterling bezieht.

Wie die ganze englische Verfassung, so ist auch das Parlament etwas durch die Zeit Gewordenes, daher nicht frei von sonderbaren Formen und Förmlichkeiten. Bei einem Besuche im Oberhause gewahrt man dies alsbald. Da sitzt der Lord Groß-Kanzler im schwarzen Talar und großer Perrücke auf dem Wollsack, wahrscheinlich um die Wichtigkeit dieses Naturprodukts für die Nation anzudeuten; vor ihm liegt der große goldene Scepter, ihm gegenüber sitzt der Sprecher ebenfalls mit mächtiger Perrücke. Die geistlichen Peers erscheinen in ihren Chorhemden, die weltlichen in gewöhnlicher Kleidung, dabei der nachlässige, ungenirte englische Zuschnitt, die Bequemlichkeit, das Phlegma, welche so weit gehen, nicht einmal das Haupt während der Sitzung zu entblößen. Der größte Theil der Peers ist von respektabelm Alter, sie können für sich durch Bevollmächtigte abstimmen lassen, sie können auch bei Anwesenheit von nur drei Mitgliedern gültige Beschlüsse fassen.

Das Unterhaus zeigt ein weit lebhafteres Bild, wozu die größere Mannigfaltigkeit der politischen Fraktionen wesentlich beiträgt! Der Wollsack für die Minister, die Perrücken sind auch hier vorhanden, daneben aber mehr Laune, mehr Lebhaftigkeit, mehr Feuer, stürmische Verhandlungen und Abstimmungen. Das Unterhaus hat das Recht, seinen Sprecher (Präsidenten) selbst zu wählen, ihm auch muß jede Geldbewilligung, ehe sie an das Oberhaus gelangt, vorgelegt werden; die Minister dürfen nur das Wort ergreifen, wenn sie zugleich Mitglieder des Unterhauses sind, so daß also ein Minister-Peer daselbst nie sprechen kann. Zum Abstimmen ist die Anwesenheit von mindestens 20 Mitgliedern erforderlich.

Die Sitzungen beider Häuser beginnen in der Regel erst gegen 5 Uhr Nachmittags, wie denn überhaupt das Leben in London eigentlich erst in den Nachmittagsstunden beginnt. Der späte Beginn dieser Sitzungen, die sich oft bis zur Mitternachtsstunde, je nach der Wichtigkeit des Gegenstandes bis zum grauenden Morgen verlängern, trägt zu deren eigenthümlichen Gepräge nicht wenig bei. Dem Herkommen, nicht aber der Verfassung nach, sind sie öffentlich, durch den Druck veröffentlicht werden die Verhandlungen erst seit 1771. Bis dahin war die Veröffentlichung bei schweren, selbst barbarischen Strafen untersagt, und wer da denkt, das englische Volk habe seine Freiheiten ohne langes und schweres Kämpfen und Ringen erobert, ist in starkem Irrthum befangen.

Jetzt ist die Oeffentlichkeit ein so gesichertes Gut, daß man sagen kann, das ganze englische Volk wohne stündlich den Verhandlungen seines Parlaments bei. Wenn die großen politischen Fraktionen, die Tories (konservative), die Whigs (gemäßigte Reformers), und die Radikalen, auch Chartisten genannt, (entschiedene Reformers), die so gut organisirt sind, daß jede immer unter einem in ihrem Namen handelnden und die Angriffe eröffnenden Führer steht. wenn diese großen Fraktionen im Parlamente aneinander gerathen oder den Kampf mit den Räthen der Krone beginnen, so sorgen die Stenographen, Reporters, Redacteure und Drucker, kurz alle Räder, die bei einer Zeitung ineinander greifen, dafür, daß ehe die Reden im Parlament kaum noch beendigt sind, sie außerhalb fast schon gelesen werden. Der verhängnißvolle Dampf spielt auch hier seine Hauptrolle. Dann überrascht uns vielleicht binnen Kurzem eine telegraphische Depesche: „Das Ministerium Aberdeen-Russel ist im Unterhause in der Minorität geblieben!“

Ein solcher Fall bedingt in England den unabweislichen Rücktritt eines Ministeriums, und müßte zur Stunde als die Erklärung der englischen Nation betrachtet werden: Die russisch-türkische Frage wird durch Kanonenschüsse gelöst!




[65]

Gesundheits-Regeln.

Das Mittags-Schläfchen. (Wohlmeinender Rath an einen gewissen Professor.)

Nach dem Essen sollst Du stehen oder tausend Schritt weit gehen, sagt eine alte Gesundheitsregel. Aber wie vieles Alte, so ist auch diese Regel aus Großmutters Handkörbchen nicht viel werth und umzuändern in „nach dem Essen sollst Du ruhn oder auch ein Schläfchen thun.“ Um die Wahrheit und Vortheile dieser neuen Regel sofort in das hellste Licht zu setzen, brauchte ich nur an das Gebahren der Thiere nach dem Fressen zu erinnern, die, was die Verdauung anbetrifft, wirklich nicht unvernünftiger als die Menschen sind und recht wohl wissen, was dabei nutzt. In welcher behaglichen Lage verdaut aber nicht Hund und Katze, Ochs und Schwein, und nach dem Trinken schläft da nicht gleich der Säugling ein? Auch giebt uns die Natur selbst einen Fingerzeig, indem sie nach dem Essen eine bisweilen kaum zu bezwingende Neigung zum Ruhen und Schlafen in uns erwachen läßt. Total geschlagen werden nun aber die Bewegungs-Fanatiker und Obstructions-Spaziergänger, welche für die alte Regel schwärmen, wenn ich von den Versuchen erzähle, welche Gelehrte, die wahrscheinlich auch gerne ein Mittagsschläfchen machten, deshalb unternahmen. Sie fütterten nämlich gesunde Jagdhunde von derselben Constitution gleich gut und erlaubten nun einigen das gewöhnliche Schläfchen, andere mußten sich dagegen mäßig bewegen und noch andere wurden tüchtig abgehetzt. Was war das Resultat, als man nach einiger Zeit die Magen dieser Hunde untersuchte? Die da geschlafen, hatten schon prächtig verdaut als bei denen, die zur Bewegung gezwungen worden waren, die Verdauung noch im Beginne war. Will man noch überzeugendere Beweise für den Nutzen des Mittagsschläfchens? Vielleicht sind einige von denen noch nicht ganz überzeugt, welche durch den Mittagsschlaf dumm (dämlich) im Kopfe zu werden behaupten. aber das kommt da wohl nicht vom Schlafen her. Die Spanier und Italiener befinden sich bei ihrer Siesta äußerst wohl.

Obwohl ich jetzt schon diesen meinen Aufsatz schließen könnte, so will ich dem Leser trotzdem, daß ein späterer Aufsatz die Verdauung ausführlicher behandeln wird, doch noch einen Blick in einen Magen thun lassen, welcher der Verdauung obliegt.– So lange er nüchtern ist, hängt der dudelsackförmige und querliegende Magen (s. Gartenlaube Nr. 42. v. J.) im Bauche gerade herunter (wenn auch nicht bis auf die Schuhsohlen, wie man zu sagen pflegt); je mehr er sich aber mit Speisen füllt, desto mehr hebt und dreht sich derselbe nach vorn herum, so daß dadurch der Eintritt in die Magenhöhle erschwert und der untere Rand des Magens nach der vordern Bauchwand hin gekehrt wird. Daher kommt es denn auch, daß nach dem Essen die Magengegend aufschwillt und hier die Kleider zu enge werden. Die innere Haut des Magens füllt sich dabei in ihren Gefäßen mit einer größern Menge Blut, wird röther und sondert viel sauern Verdauungssaft, sowie Schleim ab. Dieser Magensaft dringt in die genossenen Nahrungsstoffe hinein und löst bestimmte Stoffe derselben (die Eiweißstoffe) auf, während der Schleim die Magenwand schlüpfrig macht und vor feindlichen Eingriffen zu schützen sucht. Während dieses Lösungsprocesses aber verhält sich der Mäzen ganz ruhig und erst wenn das Genossene in Speisebrei verwandelt worden ist, was nach der Verdaulichkeit der Nahrungsmittel in einigen (1–6) Stunden geschieht, fängt er an mit Hülfe seiner muskulösen Wand wurmförmige Bewegungen zu machen, um dadurch den Speisebrei aus seiner Höhle in den Darmkanal zu treiben. Ein Theil der flüssigen und der aufgelösten festen Nahrungsstoffe wird schon innerhalb des Magens von den Gefäßen aufgesogen und in das Blut geschafft. Die wurmförmigen (oder peristaltischen) Bewegungen können durch Bewegungen willkürlicher Muskeln unterstützt werden, weshalb auch Bewegung die Verdauung unterstützen kann, nur nicht gleich nach dem Essen, weil da der Magen Ruhe braucht.

Der Schlaf ist im gesunden Zustande ein vollkommnes Unthätigsein des Gehirns, also desjenigen Organs, durch welches wir Bewußtsein, Verstand, Gefühl und Willen besitzen und mit dessen Hülfe wir unsere Sinne gebrauchen, empfinden und Bewegungen nach unserm Willen ausführen können. Dieses Organ muß natürlich während des Wachens fortwährend in Thätigkeit sein und wird bei sogenannten Kopfarbeiten und starken gemüthlichen Eindrücken am meisten angestrengt. Es kann nun aber ein Organ seine Pflichten nur dann ordentlich erfüllen, wenn es für diejenigen Bestandtheile, die sich bei seinem Thätigsein abnutzten, durch das Blut neue zugeführt bekommt und sich durch diese gewissermaßen verjüngt. Diese Verjüngung ist jedoch blos bei der gehörigen Ruhe des Organs möglich und der Schlaf ist nun eben die Ruhe für das Gehirn, in welcher sich dieses verjüngt, von seinen Anstrengungen erholt, sowie für neues Thätigsein geschickt macht. Der Schlaf kommt also nur dem Gehirne zu und bietet demselben die nothwendige Erholung von seiner Thätigkeit dar. Diese Erholung durch den Schlaf ist aber um so nothwendiger, je mehr die Thätigkeit des Gehirns in Anspruch genommen wurde. Während des Schlafes geben die Funktionen aller der Organe, welche zur Ernährung des Körpers dienen, ruhig fort, denn diese brauchen nicht zu schlafen, weil ihr Thätigsein stets in Absätzen und nicht in ganz ununterbrochenem Gange, wie das des Gehirns beim Wachen, vor sich geht. – Das Träumen ist ein Thätigsein des Gehirns oder doch einzelner Partien desselben im Schlafe und muß also der Erholung dieses Organs stets etwas hinderlich sein.

Das Mittagsschläfchen bietet sonach einen doppelten Vortheil, einmal den einer bessern Verdauung, sodann den einer Erholung des Gehirns. Es wird deshalb ganz besonders solchen anzurathen sein, welche vor dem Essen geistig sehr thätig waren, gemüthlich angegriffen wurden, starke Sinneseindrücke erduldeten und anstrengende Muskelbewegungen vornahmen, sowie überhaupt solchen, die einen schwachen Körperbau haben und an Blutarmuth und sogen. Nervenschwäche (Nervosität) leiden. – Als heilsam kann nun aber das Mittagsschläfchen nur dann empfohlen werden, wenn es mit den gehörigen Einschränkungen geschlafen wird. Zuvörderst muß es ein Schläfchen bleiben und nicht in einen langen Schlaf ausarten; ein halbes bis ganzes Stündchen reicht vollständig dazu hin. Denn beim langen Schlafe wird die Verdauung gerade verzögert, weshalb es auch unzweckmäßig ist, kurz vor dem Nachtschlafen eine reichliche Mahlzeit zu halten. Sodann thut man auch gut, das Mittagsschläfchen mit etwas erhobenem Oberkörper (in einem sogen. Großvaterstuhle), nicht der Länge nach ausgestreckt, zu halten und, was vorzugsweise zu beachten ist, spirituöse Getränke, die beim Essen genossen wurden, vor dem Schläfchen erst etwas aus dem Körper verfliegen zu lassen. Es taugt gar nichts, sich mit einem Räuschchen schlafen zu legen. Ob man ein Täßchen Kaffee vor oder nach dem Mittagsschläfchen zu sich nehmen soll, erfährt der Leser ein anderes Mal.
(B.)  




Aus der Menschenheimath.

Briefe des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Neunzehnter Brief.
Die Insekten-Verwandlung.

Wenn man die Gleichgültigkeit wahrnimmt, mit welcher im gemeinen Leben die wunderbarsten Erscheinungen der Natur übersehen werden, weil sie allgewöhnliche sind, so fühlt man sich unwillkürlich an Lessing erinnert, indem er den Nathan sagen läßt: „Der Wunder größtes ist, daß uns die wahren, echten Wunder so alltäglich werden können, werden sollen.“

[66] Nur das „werden sollen“ in dieser scharfen Beobachtung hat mich immer überrascht, bedarf wenigstens einer Erläuterung; selbst hier, wo ich Dich einfach auf Lessing’s Fingerzeig hinweisen will.

– Die „wahren, echten Wunder,“ unter denen der große Dichter nur die überraschenden Erscheinungen im Natur- und Menschenleben meinen kann, sollen nun wohl deshalb „alltäglich“ werden, damit sie uns für unser Handeln den Gleichmuth und die klare Ruhe nicht beeinträchtigen. Wie nun werden sie uns alltäglich? Sie werden es entweder durch Nichtbeachtung und Unkenntniß, oder sie werden es, indem wir diese aufregenden Außendinge uns aneignen, in uns aufnehnen durch Kenntniß. Was wir uns innerlich gemacht haben, das kann uns nicht mehr Wunder nehmen.

Es kann bei Dir keine Frage sein, lieber Freund, daß wir den letztem Weg einschlagen müssen, an dessen Ziele die Heilung von Aberglauben jeder Art liegt.

Zu den „wahren, echten“ Wundern Lessing’s gehört unstreitig die Insectenverwandlung, die für das kenntnißlose Volk auf dem ersteren der beiden bezeichneten Wege, durch Nichtbeachtung und Unkenntniß, das Wunderbare verloren hat.

Wenn ich Dir jetzt sage, man habe auf einer neu entdeckten fernen Insel einen Vogel gefunden, der als zwölfäugige Schlange von ungeheurer Gefräßigkeit, die auch das Ekelhafteste nicht verschmähe, aus dem Ei krieche; dann monatelang mumienähnlich ohne Bewegung und ohne Nahrung zu sich zu nehmen tief im Erdboden vergraben liege, und erst im folgenden Jahre aus diesen sonderbaren Banden sich befreie, um als lustiger Vogel davon zu fliegen und nur von süßem Blumennektar lebe – was würdest Du da sagen?

Du würdest mir in’s Gesicht lachen. Aber Du würdest dazu nur halb Recht haben; denn ich würde sagen, warum lachst Du? Weil Dir eine Schlange und ein Vogel zu verschiedene Gestalten sind, als daß sie von einem und demselben Thiere in seinen Entwickelungsabschnitten getragen werden könnten? Und wenn ich Dir nun auf Naturforschungen die Wahrheit meiner Geschichte versichern würde – wie dann? Du würdest vor Staunen Dich nicht zu lassen wissen. Du würdest Wunder über Wunder schreien. Setze für Vogel – Schmetterling. Ja der – würdest Du gedehnt und enttäuscht aussprechen. Nun – der –; ist es bei ihm minder ein Wunder? Ist zwischen einem Schmetterlinge und einer Raupe eine geringere Unähnlichkeit als zwischen einem Vogel und einer Schlange?

Wie Wenigen wird es denn so recht tief und innerlich klar, wie wunderbar die Verwandlung einer Raupe in eine Puppe und dieser in den Schmetterling ist? Es ist uns aber „alltäglich“ geworden, und darin liegt das Wunderbare.

Nicht das ist wunderbar, was jenseit der Grenze menschlicher Erkenntniß liegt – (dort drüben liegt überhaupt für den Menschen nur das, was er selbst erst hingelegt hat) – sondern was diesseit liegt und sein Wunderbares eben nur in der ewigen Unerschöpflichkeit seiner wechselnden Erscheinungen hat.

Man hat die Insectenwelt schon oft eine Welt voll Wunder genannt, und man hat Recht, es zu thun; und dennoch liegt auch hier das Wunderbare nur in dem Ueberraschenden, dem flüchtigen Blicke scheinbar Unvermittelten.

Die Insectenverwandlung ist in dieser Hinsicht, wenigstens, um es so zu bezeichnen, der oberflächlichen Bekanntschaft nach, allgemein berühmt. Dennoch, mein Freund, fehlt noch viel, sehr viel, um sagen zu können, das Volk kenne die Wunder der Insectenverwandlung so, wie sie gekannt zu werden verdienen und lohnen.

Schon die Alten, die überhaupt tiefere Kenner der Natur waren, als unsere heutige Schul-Philosophie es sich träumen läßt, wählten den sich der Puppenhülle entwindenden Schmetterling als Sinnbild der Psyche. Unsere Zeit oder richtiger die neue Weltanschauung, innerhalb der dem Menschen gezogenen Schranken bleibend, kann das Bild eben so passend anwenden auf die den Banden der häßlichen Unwissenheit und des schändenden Aberglaubens sich entwindende Menschheit.

Ja das Sinnbild ist recht eigentlich bezeichnend. Sieh die Raupe an. Sie fröhnt in träger Gebundenheit auf ihrer Futterpflanze dem Bedürfniß des Magens, eine strotzende Fülle von Säften sammelnd. Dann webt sie sich ihr gemächliches Lager zur trägen Puppenruhe, wo sie die gesammelten Säfte behaglich verarbeitet. Dann aber wacht in ihr plötzlich der Drang nach etwas Edlerem auf; sie sprengt die alten Bande und fliegt als befreiter Falter dem Lichte der Sonne entgegen und besucht Blume auf Blume, um von ihnen ihr geläutertstes Erzeugniß, den süßen Nektar zu nippen. Wenn das Thier zum Schmetterling wird, ist es schon alt. Es erfreut sich erst im hohen Alter seines bessern Seins.

Sieh, mein Freund! ist’s heute nicht eben so mit den Menschen? Ich kenne Tausende, die erst jetzt aus der dumpfen Puppenruhe ihrer Spießbürgerlichkeit erwachen und in ihren alten Tagen noch in sich einen Drang zu etwas Höherem sich regen fühlen. Bücher sind ihnen Blumen, durchdrungen von dem Lichte der Wahrheit, erfüllt von dem Honig nützender Lehre.

Aber wo bin ich hingekommen! Ich wollte beschreiben und habe es nicht weiter, als bis zu Gedanken gebracht. Doch die Gedanken sind ja auch bunte Falter, oder wenn’s auch nur Eintagsfliegen wären; ja wirklich, das sind sie, mehr als andere, denn die Eintagsfliegen sind die einzigen Insecten, die sich als vollendete Insecten noch einmal häuten: so häuten sich auch oft unsere Gedanken, bis sie blank und hell vor uns stehen, nachdem sie das Unklare, Irrige abgestreift haben.

Wem die Natur Stoff zu sinnigem Denken ist, der ist ihr wahrer Jünger. Aber ich verspreche Dir, in meinem nächsten Briefe Dir mehr zu beschreiben als vorzudenken. Verzeihe nur, daß ich am Ende gar meinen heutigen mehr für mich, als für Dich geschrieben habe. Das geht Einem ja mit den Briefen oft so. Du wirst als Empfänger meines Briefes es um so lieber verzeihen, je näher wir uns stehen, so daß unsere Briefe so viele verknüpfende Bänder sind.




Blätter und Blüthen.

Der Milchbaum. Der Engländer Wallace fand auf seiner unlängst veröffentlichten Reise am Amazonenstrome und dem schwarzen Flusse (Rionegro), in Südamerika unweit Para zuerst einen Baum, der in Europa noch nicht bekannt ist und mehr Milch giebt, als eine neumelkende Kuh. Die Milch, die aus der geöffneten Rinde fließt (wie Gummi und Gutta Percha, dieses vegetabilische Eisen) gleicht guter Milch oder vielmehr junger Kaffee-Sahne und schmeckte auch zum Thee und Kaffee ganz vorzüglich.

Die Milch, welche bei uns von der Natur vermittelst der Kuh fabricirt wird, kommt dort also durch eine Baumart zur Welt. Dabei ist diese vegetabilische Milch nahrhafter, als die thierische und etwas verdickt so zähe, daß man damit ganz schön leimen kann. Die Pflanzensäfte – Gummi, Gutta Percha, diese Baummilch und andere, werden überhaupt eine immer bedeutendere Rolle spielen, und die neue Welt in ihrem Eifer, Glück und Geld zu machen, sehr unterstützen.


Tartaren-Bekehrung. Die russischen Tartaren, welche noch eine eigenthümlich heidnische Religion haben, werden seit Jahren auf Befehl des Kaisers bekehrt. Nach Haxthausen’s Buche über Rußland wird das so gemacht. Es werden verschiedene Priester von der Regierung ausgesandt, um diese Heiden zu bekehren, und fordern zu diesem Zweck von dem in’s Gebet genommenen Heiden zuerst drei Dinge. Erstens: Haar wachsen lassen; zweitens: kein Pferdefleisch mehr essen; drittens: Verehrung von Bildern und eines Kreuzes. Bilder und Kreuze zu verschiedenen Preisen haben die Evangelisators gleich bei sich. Hat der Heide die beiden ersten Dinge versprochen und Bilder und ein Kreuz gekauft, wird er getauft und als christlicher Unterthan zu Papiere gebracht.

Der weibliche Robinson. Die kalifornische Zeitung „Placer Times“ erzählt von einer Indianerin, die 18 Jahre lang auf einer Insel allein lebte. Im Jahre 1824 wurden fast alle Einwohner der Insel St. Nicolas, unweit der Insel Santa Barbara im stillen Meere, von russischen Matrosen ermordet. Nach etwa 10 Jahren wurden die wenigen Ueberlebenden auf ihren Wunsch von einem Schiffe auf eine andere Insel gebracht. Als sie alle an Bord waren, vermißte eine Indianerin ihr Kind und lief zurück, während das Schiff, von einem Sturmwindstoße gepackt, in’s Meer getrieben ward. Nach drei Monaten suchte dasselbe Schiff vergebens nach der Zurückgebliebenen und sie ward und blieb vergessen, bis ein amerikanisches Schiff auf der Otterjagd zufällig diese Insel berührte, menschliche Fußstapfen und endlich die Indianerin entdeckte. Sie nähte gerade Häute von Vögeln zu Kleidern zusammen mit Nadeln von Fischknochen und Zwirn von Wallfischflechsen. Ihr Kind hatte sie schon im ersten Jahre durch den Tod verloren und von da an 18 Jahre lang allein auf der Insel zugebracht. Genial waren ihre Angelhaken aus alten Nägeln gemacht, die sie in einem Brette gefunden hatte. Sie willigte gern ein, wieder unter Menschen zu kommen. Sie hatte während der ganzen 18 Jahre nicht nur keine menschliche Seele, sondern auch kein Feuer, dieses Sinnbild der Civilisation, gesehen.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.